Die Liebe Gottes

Konrad Eißler
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Im Verletzten sollen wir uns wiederfinden im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der von der Frage geplagt wird: Wo ist denn die Liebe Gottes? Konrad Eißler untersucht drei mögliche Antworten. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Zum Thema des Sonntags, das wir vorhin in der Epistel gehört haben, “Gott ist die Liebe”, lesen wir als Auslegung ausnahmsweise das Evangelium dieses Sonntags, nämlich die bekannte Geschichte vom barmherzigen Samariter in Luk. 10,30-37.

Zwischen Jerusalem und Jericho läuft jene gefährliche Serpentinenstraße durch die Steinschluchten, die auch durch unsere Häuserschluchten geht. Zwischen Jerusalem und Jericho lauert jene Räuberbande, die auch bei uns nicht ausgestorben ist. Zwischen Jerusalem und Jericho liegt jener todeinsame Platz, der auch uns blühen kann. Zwischen Jerusalem und Jericho regiert der blanke Hass, den auch wir zu spüren bekommen.

Denn irgendwo sind wir alle geschlagen worden, hart getroffen von solchen, die es nicht gut mit uns meinten. Diese Schläge tun weh und verursachen ständige Schmerzen. Und wenn es besonders wehtut, dann kommt die Frage: Wo ist denn die Liebe Gottes?

Irgendwie sind wir alle verletzt worden, einfach geschnitten von solchen, die zuvor unsere Freundlichkeit erfuhren. Diese Verletzungen brennen wir Feuer und können nicht abheilen. Und wenn es besonders brennt, dann kommt die Frage: Wo ist denn die Liebe Gottes?

Irgendwo sind wir verwundet worden, müde belächelt von solchen, die angeblich unsere Freunde waren. Diese Verwundungen gehen tief und belasten das Herz. Und wenn es besonders tief geht, dann kommt die Frage: Wo ist denn die Liebe Gottes?

Nicht im Priester sollen wir uns zuerst wiedererkennen, der seine Augen vor dem Elend niederschlägt, dann einen großen Bogen um das Elend herumschlägt und dann ganz schnell den Nachhauseweg einschlägt. Ganz so herzlos sind wir auch wieder nicht. Nicht im Samariter sollen wir uns zuerst wiedererkennen, der die notärztliche Versorgung realisiert, dann seinen Viehbeiner zum Rettungswagen umfunktioniert und dann noch den kompletten Pflegesatz finanziert. Ganz so großzügig sind wir nicht. Nicht im Gasthilfswirt sollen wir uns zuerst wiedererkennen, der den Notfall aufnimmt und dann noch gegen Vorauszahlung die Pflege übernimmt. Ganz so selbstverständlich liegt uns das nicht.

Nein, im Geschlagenen sollen wir uns zuerst sehen. Im Verletzten sollen wir uns wiederfinden. Im Verwundeten kommen wir in der Geschichte vor, also in jenem Menschen zwischen Jerusalem und Jericho, der von der Frage geplagt wird: Wo ist denn die Liebe Gottes?

Eine erste Antwort lautet: In mir. Eine zweite lautet: In dir, und eine dritte: In ihm. Hören wir gespannt hin.

1. In mir

Das ist die Hoffnung auf Tapferkeit. Zwischen Jeru­salem und Jericho liegt er also am Rand jenes Viehtriebes, der noch im 5. Jahrhundert der “rote, blutige Pfad” hieß, nieder­gemacht, zusammengehauen, weggeworfen. Eigentlich wirft man nur Zigarettenstummel oder Tempotaschentücher oder Colabüchsen weg. Aber der Mensch bringt es fertig, andere wie Müll zu kippen. Weh dem Menschen, der unter Menschen fällt! Seit Kain und Abel gilt diese grausige Urerfahrung. Halbtot ist er, nur noch ein Haufen Elend, über dem bereits die Geier kreisen. Sie warten, bis er sich nicht mehr regt. Sie warten, bis er ihnen zum Fraß vorliegt. Sie warten auf seinen Tod. Und er kann auch nichts anderes mehr erwarten, es sei denn, er mobilisiere seine innere Kraft.

Hat nicht jeder das Göttliche in sich? Trägt nicht jeder die göttliche Liebe als oft ungenützte Kraftquelle mit sich herum? Besitzt nicht jeder diese göttliche Energiezufuhr, die schon den alten Sophokles zum Jubel hinriss: “Viel Gewaltiges lebt, aber nichts ist gewaltiger als dieser gotterfüllte Mensch”, und deshalb muss ihm auch Gewaltiges möglich sein. Aus diesem Grund mag sich der auf der Strecke Gebliebene selbst kommandiert haben: “Gib nicht auf. Schöpf aus der Tiefe. Nütz die Power. Sei ein Mann und keine Memme!” Dann nahm er alle Kraft zusammen, rappelte sich hoch, versuchte auf die Beine zu kommen, aber die Glieder versagten und hart schlug er auf dem Boden auf. Doppelt verlassen dämmerte er seinem Ende entgegen.

Immer sind wir verlassen, wenn wir uns auf uns selbst verlassen. Wir kennen sie doch, diese Appelle an unsere Kraft. Dem Jungen, der vom Fahrrad gestürzt ist, wird gesagt: “Sei tapfer. Beiß’ die Zähne zusammen. Buben flennen nicht!” Wir kennen doch diese Aufrufe an unsere Energie. Dem Kranken, der ans Bett gefesselt ist, wird gesagt: “Nur nicht aufgeben. Sich nicht gehen lassen. Kopf hoch, alter Freund!” Wir kennen sie doch, diese Befehle an unsere Tapferkeit. Dem Alten, der im Sessel sitzt, wird gesagt: “Weitermachen. Weiterkämpfen. Da muss man durch!” All diese Parolen laufen auf den einen Satz hinaus: “Hilf dir selbst, dann hilf dir Gott.”

Aber wer es schon einmal mit diesem Do-it-yourself-Glauben versucht hat, weiß, dass er nichts bringt. Wir sind nun einmal keine Münchhausen, die sich am eigenen Schopfe aus dem Elend hieven könnten. Wir sind nun einmal keine Kraftmeier, die auf göttliche Ressourcen zurückgreifen könnten. Schwache und elende Figuren sind wir, deren Kraftreserven ganz schnell auf Null sind. Bei der Frage nach der Liebe Gottes ist der Hinweis auf unsere Tapferkeit keine Antwort. In mir ist sie nicht.

Deshalb die zweite Antwort:

2. In dir

Das ist die Hoffnung auf Mitmenschlichkeit. Zwischen Jerusalem und Jericho tritt nämlich eine völlig unerwartete Wende ein. Der todgeweihte Mann hört Schritte, zuerst leise, dann immer lauter und lauter, schließlich biegt eine Gestalt um die Ecke, eine Person, ein Mitmensch, sogar ein Priester, ein Levit, ein Gottesmann. Was für ein Geschenk des Himmels! Was für ein glücklicher Zufall an diesem Ort! Was für ein heller Lichtstrahl in diesem rabenschwarzen Tief! In dem Niedergestreckten streckte sich alles diesem Retter entgegen. Und der tut langsam, dreht den Kopf herüber, macht die Augen auf und sieht.

Aber was sieht er denn? Er sieht die Gefahr, die hinter den Büschen lauert. Vielleicht ist der Mann ein Köder, mit dem sie mich kassieren wollen. Wenn ich mich nicht spute, klatschen sie mich auch. Deshalb nichts wie weg aus dieser Gefahrenzone! Er sieht seine Familie, die drunten in Jericho wohnt. Was machen die Kinder ohne den Vater? Was macht die Frau ohne den Mann? Was macht die ganze Familie ohne den Ernährer? Ich muss doch an die Nächsten denken, deshalb nichts wie heim auf dem schnell­sten Weg! Er sieht die Bibel, 4.Mose11: “Wer einen toten Menschen anrührt, der wird unrein.” Unreinigkeit verwehrt den Zugang zum Tempel. Ich kann mich doch nicht selbst arbeitslos machen und meine Kollegen im Stich lassen! Deshalb nichts wie dünn gemacht und fort von der Bildfläche!

Der Priester und Levit sieht den fernen Nächsten und übersieht den Allernächsten. Er ist weitsichtig und rennt vorüber. Für das Elend vor seinen Augen hat er keinen Blick. Ina Seidel schreibt in ihrem Roman “Das Wunschkind”: “Er hatte keine Augen für arme Menschen in seiner Umgebung. Er übersah dergleichen Erscheinungen gar nicht etwa aus Hochmut, sondern einfach, weil er nicht auf sie einge­richtet war.”

Und wir sind auch nicht auf sie eingerichtet. Wir haben keine andere Augen. Wir sind von Natur aus weitsichtig. Deshalb wissen wir schon, wie dem Zulu oder Xosa im südafrikanischen Sowete geholfen werden könnte, deshalb wissen wir schon, wie dem Bosnier und Kroaten im umkämpften Sarajevo beigestanden werden könnte, deshalb wissen wir schon, wie dem Vietnamesen und Libanesen im Rostocker Asylantenheim zu helfen wäre, aber den Mieter im 1. Stock, die Kollegin am andern Schreibtisch, oft genug die eigene Frau oder den eigenen Sohn kommt erst gar nicht in Sicht.

Auf die Liebe anderer zu warten ist oft genug ein Warten auf Godot, ein vergebliches Warten. Im andern ist die Liebe auch nicht. Bei der Frage nach der Liebe Gottes ist der Hinweis auf die Mitmenschlichkeit auch keine Antwort. In mir und in dir ist sie nicht.

Deshalb die dritte Antwort:

3. In ihm

Das ist die Hoffnung auf Barmherzigkeit. Zwischen Jerusalem und Jericho ist die Lage für den Geschlagenen miserabel geworden. Mit den leiser werdenden Schritten erlosch der letzte Funke an Hoffnung. Wenn man sich selbst nicht helfen kann, wenn andere auch nicht helfen können, dann Gnade Gott. Der Tod bleibt der einzige Erlöser. Die Geier machen leichte Beute. Deshalb bringt auch das Eselsgetrappel, das plötzlich an das Ohr des Dahindämmernden dringt, keinen Ruck mehr in den matten Körper. Was soll dieser Mann auf dem Esel? Seine Armut blitzt aus allen Knopflöchern. Was will dieser Mann auf dem Esel? Samariter sind Ausgestoßene und Beschimpfte. Was kann dieser Mann auf dem Esel mehr, als andere können? Steig herab, aber du kannst ja gar nicht!

Und dann passiert es. Der Samariter kann. Er sieht dieses Elend. Er steigt herab zu dem Armen. Er gießt Öl auf die Wunde. Er gibt Wein zur Stärkung. Er hebt ihn. Er trägt ihn. Er sorgt für ihn. Er übernimmt die Kosten. Er zahlt mit seinem Geld. Er kommt wieder. Dieser Samariter ist der Lebensretter. Dieser Samariter ist der Liebesbringer. Dieser Samariter ist die Barmherzigkeit in Person.

Dieser barm­herzige Samariter ist Jesus. In dieser Gestalt und Uniform sollen wir ihn wiedererkennen. Als Eselsreiter kommt er auf dieser verfluchten Erde daher. Aber kein Ruck geht durch unsere matten Glieder. Was soll dieser Mann auf dem Esel? Arm ist er wie eine Kirchenmaus. Was will dieser Mann auf dem Esel? Nazarener sind Großsprecher und Wichtigtuer. Was kann dieser Mann auf dem Esel mehr, als andere können? Steig herab, so bist du Gott, aber du kannst ja gar nicht!

Und dann passiert es. Jesus kann. Freunde, Jesus kann. Er sieht unser Elend und unsere Not. Er steigt herab zu uns Armen und Kaputten. Er erfüllt den 23. Psalm: “Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.” Er hebt mich. Er trägt mich. Er sorgt für mich. Er übernimmt meine Kosten. Er zahlt mit seinem eigenen Leben. Er kommt wieder.

Dieser Jesus ist der Lebensretter. Dieser Jesus ist der Liebesbringer. Dieser Jesus ist die Barmherzigkeit in Person.

Liebe Gemeinde, mit der Hoffnung auf Tapferkeit kommen Sie nicht weit. Mit der Hoffnung auf Mitmenschlichkeit werden Sie bitter enttäuscht. Heute ist die Hoffnung auf Barm­herzigkeit angeboten. Hören Sie doch, wenn Sie heute morgen geschlagen sind, verstehen Sie doch, wenn Sie heute morgen verletzt sind, begreifen Sie doch, wenn Sie heute morgen verwun­det sind: In Jesus entdecken Sie die Liebe Gottes, denn “darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzigen Sohn gesandt hat in die Welt, dass wir durch ihn leben sollen.” Zwischen Jerusalem und Jericho muss keiner zugrundegehen.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]