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Ausgerechnet dem namenlosen Mann, dem alle Lichter ausgingen, geht ein Licht an. Diese Frohbotschaft kann es auch bei dem hell machen kann, der mit dunkeln Schatten zu kämpfen hat. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Dunkel wurde es bei diesem Mann, als ihm die Ärzte erklärten: Nichts zu machen! Wohl hatte er schon als Kind nichts gesehen und tappte jahrelang mit tastenden Händen durch die Welt. Aber nie hat er die Hoffnung auf Heilung aufgegeben, vielleicht durch einen chirurgischen Eingriff, der den Star stechen könnte, vielleicht durch ein neues Medikament, das die Netzhaut regenerieren könnte, vielleicht durch eine geeignete Diät, die den Blutzuckerspiegel senken könnte. Wer gibt schon die Hoffnung auf bessere Tage vorschnell auf? Die ärztliche Diagnose jedoch war nun eindeutig: Fehlender Sehnerv, negative Erbanlage, starke Behinderung. Nichts zu machen!

Dunkel wurde es, schlimmer: Nacht wurde es bei diesem Mann, als ihm die Eltern erklärten: Selbst ist der Mann! Natürlich lebte er viele Jahre unter dem Dach seines Vaters und unter der Fürsorge seiner Mutter. Aber für immer konnte er ihnen doch nicht auf der Tasche liegen. Wenn Eltern selbst hilfsbedürftig werden, was dann? Weil es damals keine Sozialfürsorge gab, auch keine Blindenwerkstatt oder gar ein Behindertenzentrum, musste er zum Berufsbettler werden. Täglich saß er an der Tempeltreppe, hielt seine offene Hand den Gottesdienstbesuchern hin und bat um eine milde Gabe.

Nacht wurde es, schlimmer: finster wurde es bei diesem Mann, als ihm die Theologen erklärten: Selbst schuld! Jedem geht es so, wie er es verdient hat, und keinen Deut anders. Gute Taten werden belohnt und böse Taten werden bestraft. Der lebendige und gerechte Gott zahlt heim. Maß gegen Maß. Klag’ bitte nicht über deine Zeitgenossen, die dich an der Treppe hocken lassen. Klag’ bitte nicht deine Eltern an, die dich auf die Straße gesetzt haben. Klag’ bitte nicht Gott an, der solch erbärmliches Schicksal zumutet. Klag’ bitte dich selber an. Zieh dich an der eigenen Nase. Selber schuld!

Finster wurde es, so wie es bei vielen finster ist, obwohl sie gute Augen haben und sogar ohne Brille lesen und schreiben können. Diese Not hängt nicht unbedingt mit einem fehlenden Sehvermögen zusammen. Es gibt andere Erbanlagen, bei denen die Ärzte achselzuckend mit ihrem medizinischen Latein am Ende sind. Es gibt andere Behinderungen, bei denen die nächste Verwandtschaft keine soziale Unterstützung mehr konzediert. Es gibt andere Schmerzen, bei denen die Super­frommen auf den Zusammenhang von Sünde und Krankheit aufmerksam machen. Wem aber bestätigt wird: “nichts zu machen!”, wem aber erklärt wird: “selbst ist der Mann!”, wem aber an den Kopf geworfen wird: “selber schuld!”, bei dem wird es stockfinster, bei dem wird es kuh­nacht, bei dem wird es rabenschwarz, bei dem wird es wahr, was Max Frisch in seinem eindrücklichen Blindenroman “Mein Name sei Gantenbein” so geschrieben hat: “Ich vermisse die Helle der Sonne, das Blau des Himmels, das Grün der Bäume, das Rot und Gelb der Blumen, aber vor allem die Liebe der Leute.

Und ausgerechnet diesem namenlosen Mann, dem alle Lichter ausgingen, geht ein Licht an. Und ausgerechnet diesem hilflosen Menschen, dem nichts mehr einleuchten will, geht ein Licht auf. Und ausgerechnet diesem geschlagenen Bettler, dem kein Lichtfunke ins Innere dringt, geht ein Licht durch. Das ist die Frohbotschaft für diesen Sonntag, die es auch bei dem hell machen kann, der mit dunkeln Schatten zu kämpfen hat. Deshalb lesen wir genauer.

1. Ihm geht ein Licht an

… einfach deshalb, weil Jesus vorübergeht.

Viele Leute gingen tagsüber an ihm vorüber. Schließlich hatte er sich mitten in der Fußgängerzone platziert. Die Leute stolperten geradezu über seine Füße und seinen Stock. Da ging ein Geschäfts­mann vorüber und warf ihm einen Groschen in die umgestülpte Mütze. Mitleid in der Form einer Münze ist gut, sofern der Groschen nicht sofort in Alkohol umgesetzt wird und damit dem Beschenkten schwer schadet. “Seid allesamt gleichgesinnt und mitleidig“, hat der Apostel gesagt. Aber ein Groschen ist kein Licht und Geld lässt noch keinen Tag anbrechen. Da ging eine Hausfrau vorüber und legte ihm ein Brot in die offenen Hände. Barmherzigkeit in der Form eines Vespers hilft dem, der wirklich hungert und in echter Not ist. “Seid barm­herzig und brüderlich”, hat auch der Apostel gemahnt. Aber ein Brot ist kein Licht und Vesper lässt noch lange keinen Tag anbrechen. Da ging ein Tempelbesucher vorüber und sagte ihm ein freundliches Shalom. Nächstenliebe in der Form eines Grußes hat schon manchen gefreut, der sonst kein gutes Wort mehr zu hören bekam. “Seid unter­einander freundlich und herzlich”, hat der Apostel auch gesagt. Aber Shalom ist kein Licht und ein Gruß lässt noch lange keinen Tag anbrechen.

Damals aber ging Jesus vorüber, Jesus, der in Bethlehem geboren wurde, der im Hinterhaus zur Welt kam, der im Stall das Licht anmachte und von dem die Väter gesungen haben: “Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein neuen Schein”, Jesus, der in Galiläa und Judäa gelebt hat, der in den Elendsvierteln Quartier nahm, der in Kranken- und Altenstuben hell machte und von dem die Väter gedichtet haben: “Licht, das in die Welt gekommen, Sonne, voller Glanz und Pracht”, Jesus, der dann in Jerusalem gestorben ist, im Felsengrab bestattet wurde, aber am Ostermorgen alle Dunkelheit durchbrach und von dem die Väter gejubelt haben, “wie kommt nach großem Leiden nun ein so großes Licht”, dieser Jesus in seiner lichtvollen Hoheit ging vorüber. Deshalb ging dem Blinden ein Schlaglicht an, das ihn aus dem Dunkel der Vergessenheit heraus­holte. Deshalb ging dem Blinden ein Spotlicht an, das ihn in den Mittelpunkt des Geschehens rückte. Deshalb ging dem Blinden ein Flutlicht an, das ihm Farbe und Profil gab. Wo Jesus vorübergeht, wird es hell.

Warum sehnen wir uns immer wieder nach andern Kontakten? Wenn der an mir vorüberginge und mich sähe, dann würde es anders. Wenn die an mir nicht vorbeiginge und mich liebte, dann würde es Morgen. Wenn jene an mir nicht vorbeischauten und mich anschauten, dann würde es Tag.

Aber nur ein einziger kann es Tag machen, und das ist Jesus, der gesagt hat: “Ich bin das Licht”. Er ging an dem Bettler vorüber und sah ihn an. Er ging an den Kranken, Krüppeln und Kaputten vorüber und übersah sie nicht. Er will heute an uns vorübergehen und zu jedem hinsehen, der mit dunkeln Schatten zu kämpfen hat.

Der Blindgeborene ist kein glücklicher Einzelfall. Ihm geht ein Licht an.

2. Ihm geht ein Licht auf

… einfach deshalb, weil Jesus eine klare Antwort gibt.

Schon lange wird dieser Blinde von der quälenden Warum-Frage geplagt: Warum muss ausgerechnet ich meine Tage ohne Augenlicht verleben? Warum muss ausgerechnet ich das Leben ohne Sehvermögen meistern? Warum muss ausgerechnet ich ein solch herbes Schicksal tragen?

Diese quälende Warum-Frage kennen viele. Warum muss ausgerechnet ich solche Schmerzen leiden? Warum muss ausgerechnet ich diese unheilbare Krankheit bekommen? Warum muss ausgerechnet ich von so viel Lasten beschwert werden? Der ist gesund und der strotzt von Gesundheit und der freut sich seines Lebens, warum ausgerechnet ich?

Die Jünger rätseln herum: Vielleicht hat er Dreck am Stecken. Viel­leicht hat er viel auf dem Kerbholz. Vielleicht hat er einen ganz miesen Gentransport von seinen Vorfahren zu verkraften? Immer wieder wühlen wir in der Vergangenheit herum, aber Jesus weist mit einer klaren Antwort in die Zukunft hinaus: “Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden.” Damit ist der Zusammenhang von Sünde und Krankheit nicht ein für allemal vom Tisch. Es gibt eine Kettenreaktion der Schuld, die sich psychisch und physisch auswirkt. Weil Sünde ein ganzes Leben zerstören kann, deshalb gilt für manchen die seelsorgerliche Mahnung: Lass alte Schuld nicht unbereinigt. Bekenne sie vor einem andern. Nimm die Absolution in Anspruch.

Aber nun gilt es das Steuer herumzuwerfen. Jesus lässt sich hier auf die ganze Fragestellung nicht ein. Mit ihm muss die Warum-Frage in die Wozu-Frage umgewandelt werd­en.

Die Leute fragen: Warum ist das so? Jesus aber fragt: Wozu ist das so?
Die Leute fragen: Woher kommt das? Jesus aber fragt: Wohin führt das?
Die Leute fragen: Was ist die Ursache? Jesus aber fragt! Was ist das Ziel?

Die Blindheit ist zu etwas da. Die Behinderung hat etwas zu sagen. Die Krankheit hat einen Sinn, einen letzten, tiefen, unantastbaren Sinn: An ihr soll ihm Gott groß werden. Mit ihr soll ihm Gott begegnen. Durch sie soll bei ihm Gott zum Zuge kommen.

Liebe Freunde, auch für mich ist das nur schwer zu begreifen. Auch ich kann Gott nicht über die Schultern schauen. Seine Geheim­nisse sind auch von mir zu respektieren. Und niemandem werde ich seine Anfechtungen und Glaubensnöte über dieser Frage übelnehmen. Aber dies werde ihm weitersagen müssen, wenn auch stammelnd und stockend: Dein Schmerz ist zu etwas da. Dein Leiden hat etwas zu sagen. Deine Not hat einen letzten und tiefen Sinn. Deine Herz­schwäche, an ihr soll dir Gott groß werden. Deine Gemütslage, mit ihr soll dir Gott begegnen. Deine Einsamkeit, durch sie soll bei dir Gott zum Zuge kommen. Ich sehe vor mir ein unübersehbares Heer von Patienten im Spital dieser Erde. Und dann höre ich nicht: “An ihnen sollen sich die Werke des Teufels austoben”, sondern: “An ihn­en sollen die Werke Gottes offenbar werden”.

Dieses Licht muss uns aufgehen, so wie dem Blindgeborenen. Ihm geht ein Licht auf.

3. Ihm geht ein Licht durch

… einfach deshalb, weil Jesus einmal alles neu machen wird.

Damals rührte er einen Brei an, obwohl das Teigkneten zu den 39 verbotenen Arbeiten am Sabbat gehörte, strich ihm diesen als Arznei in die Augenhöhlen und verordnete ihm ein paar Waschungen am Teich Siloah. Und dann ging ihm ein Lichtstrahl durch das Auge. Und dann wurde der Mann sehend. Und dann kam Gott mit ihm an sein Ziel, so wie er mit allen Blinden ans Ziel kommen wird, wenn sie einmal die feinsten Strichzeichnungen eines Albrecht Dürers sehen können. So wie er mit allen Tauben zum Ziel kommen wird, wenn sie die zarten Pianissimos eines Wolfgang Amadeus Mozart hören können. So wie er mit allen Stummen ans Ziel kommen wird, wenn sie das große Hallelujah eines Georg Friedrich Händel mit­jubeln können. Wo Jesus ist, dauern alle Leiden nicht ewig. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er sich als der Heiland erweist. Wenige können es heute schon erfahren, aber einmal werden bei al­len die Qualen weg sein. Am Ende sind alle Klagelieder auf Dur gestimmt, und es gibt nur noch diese eine Melodie: “Kreuz und Elende, das nimmt ein Ende, nach Meeresbrausen und Windessausen leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht. Freude die Fülle und selige Stille hab ich zu warten im himmlischen Garten, dahin sind meine Gedanken gericht’.”

Schließlich ging unserem Blindgeborenen nicht nur ein Lichtstrahl durchs Auge, sondern auch noch durchs Herz. Jesus tut ein zweites Wunder. Zum Augenlicht kommt das Glaubenslicht dazu. Der Mann erkennt in dem, der ihn gesund gemacht hat, den Sohn Gottes. Vorher war es vielleicht ein Wunderdoktor, ein Heilungskünstler, ein Supermann. Jetzt ist es der, der gesagt hat: “Ich bin das Licht der Welt”.

Strahlemänner mit ihrem Glanz wollen die Welt beglücken. Revoluzzer mit ihren Brandfackeln wollen die Welt erhellen. Religionsführer mit ihren Geistesblitzen wollen die Welt in ein New Age versetzen. Aber, liebe Gemeinde, waren sie nicht alle miteinander wie Leuchtraketen an einem dunklen Horizont, deren Licht die Nacht wohl erhellte, aber die Nacht nicht vertrieb? Mit großen Worten und kühnen Hoffnungen begrüßt, haben gerade solche Leute nicht selten schlimmste Enttäuschungen und schreckliche Katastrophen herbeigeführt.

Jesus Christus allein ließ den Tag an­brechen. Sein Licht ging dem Blindgeborenen an, auf und durch. Jetzt soll es auch bei Ihnen hell werden.

Amen.


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]