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Ausgerechnet Hirten bekommen es mit dem Wort zu tun: Euch ist heute der Heiland geboren. Was bedeutet es ihnen? Sie sehen, sie sagen und sie singen das Wort. Es lebt sich anders, seit Jesus so nahe ist. - Weihnachtspredigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Ausgerechnet Hirten, liebe Gemeinde!

Wenn sie wenigstens einen Namen gehabt hätten wie anständige Bürger, Rufus oder Tertius oder Jakobus, aber ausgerechnet namenlose Beduinen vom letzten Weideland! Menschlich gesehen gehörten sie in die unterste Schublade der Gesellschaft, mit denen niemand etwas zu tun haben wollte. Hirten waren die Randsiedler ihrer Zeit.

Wenn sie wenigstens ein Gesetz gekannt hätten wie anständige Juden, Opfergesetz oder Reinheitsgesetz oder Heiligkeitsgesetz, aber ausgerechnet gesetz­lose Tierhüter vom letzten Hirtenfeld! Geistlich gehörten sie zum “am ha’arez”, zum Volk des Landes, mit denen niemand verwechselt werden wollte. Hirten waren die Randsiedler ihrer Kirche.

Wenn sie wenigstens das Zeugenrecht wahrgenommen hätten wie anständige Zeitgenossen, Augenzeuge oder Ohrenzeuge oder Schriftzeuge, aber ausgerechnet rechtlose Fellachen vom letzten Stoppelacker! Juristisch gehörten sie in die Kategorie der rechtsunfähigen Personen, mit denen niemand gemeinsame Sache machen wollte. Hirten waren die Randsiedler ihres Rechts- bzw. Unrechtsstaates.

Aber ausgerechnet mit diesen namenlosen, gesetzlosen, rechtlosen Hirten rechnet Gott. Schon immer hat dieser Berufsstand in seiner Rechnung eine wichtige Rolle gespielt. Abel der Hirt vor den Toren des Paradieses auf dem Dornen- und Distelfeld, Jakob der Hirt auf der Flucht vor seinem Bruder Esau, Mose der Hirt bei den Herden seines Schwiegervaters Jethro, David der Hirt als furchtloser Kämpfer gegen den Goliath, Amos der Hirt und Reservist von der Gemarkung Thekoa sind lauter Aktivposten auf der Haben-Seite einer göttlichen Bilanz.

Auch heute rechnet er mit solchen, die keinen großen Namen haben und deshalb in unseren Namenslisten gar nicht auftauchen. Auch heute rechnet er mit solchen, die keinen großen Wert besitzen und deshalb in unseren Kalkulationen als Nullen verrechnet werden. Auch heute rechnet er mit solchen, die keine große Bedeutung gewinnen und deshalb in unseren Überlegungen überhaupt keine Rolle spielen. Seit Weihnachten wird anders gerechnet. Be­nachteiligte werden Bevorzugte, Randfiguren werden Hauptfiguren, Verlierer werden Gewinner. Die Letzten werden die Ersten sein, so lautet der neue Rechensatz. Namenlose, Gesetzlose, Rechtlose, aber eben nicht Gottlose erhalten die Geburtsanzeige. Ihnen wird die große Freude übermittelt, die allem Volk widerfahren wird.

Ausgerechnet Hirten bekommen es mit dem Wort zu tun: Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Was fangen sie damit an? Was bedeutet es ihnen? Was tun sie damit? Mir sind drei Dinge aufgefallen: Sie sehen das Wort, sie sagen das Wort und sie singen das Wort. Ich möchte es Ihnen erklären.

1. Ausgerechnet Hirten sehen das Wort

… obwohl sie zuerst gar nichts mehr sehen. Nachdem Gott die Weihnachtsbeleuchtung über dem Feld abgeschaltet hat, ist wieder finster. Keine Spur mehr von gleißenden Lichtgestalten. Die Nacht ist dunkler als zuvor. Nachts macht man sich nicht auf die Füße, wenn keine Gefahr für Leib und Leben besteht. Nachts findet man keinen Säugling, wenn der Weg dorthin gar nicht bekannt ist. Nachts kriecht man unter sein Fell. Die Zeit verbietet zu gehen.

Dann haben die Hirten Bereitschaftsdienst. Der Feierabend ist ein Fremdwort. Von 38-Stunden-Woche keine Rede. Nachts entfernt man sich nicht vom Arbeitsplatz, wenn der Chef keine Erlaubnis gegeben hat. Nachts haut man nicht einfach ab, wenn kein zwingender Grund vorliegt. Nachts wird bei den Schafen geblieben. Die Pflicht verbietet zu gehen. Dann wissen die Hirten, was sich gehört. Niemand verwechsle sie üblen Stoffeln, rau, aber anständig sind sie. Nachts macht man keinen Geburtstagsbesuch, wenn man tagsüber kommen kann. Nachts stört man keine Wöchnerin, wenn sie ihre Ruhe braucht. Nachts bringt man keine Blumen. Der Anstand verbietet zu gehen. Doch, die Hirten sehen das alles, die Zeit, die Pflicht, den Anstand, aber sie sehen auch und vor allem die Notwendigkeit, diesem Wort gehorsam zu sein: Ihr werdet das Wickelkind finden! Weihnachten wird es nur bei der Krippe. Weihnachten ohne Krippe ist Krampf.

Weihnachten wird es nur bei der Krippe. Weihnachten ohne Krippe ist Krampf.

Deshalb rufen sie es einander zu: Lasst uns nun gehen! Wörtlich: Lasst uns jetzt hindurchgehen. Auch wenn es die Zeit verbietet, weil wir nach dem Stress der vergangenen Tage todmüde sind und uns am liebsten aufs Ohr hauen würden, um endlich in himmlischer Ruhe schlafen und träumen zu können: Lasst uns jetzt hindurchgehen! Auch wenn es die Pflicht verbietet, weil wir so viel andere Dinge er­ledigen und abhaken müssen, um es ja allen recht zu machen: Lasst uns jetzt hindurchgehen! Auch wenn es der Anstand verbietet, weil wir nach der Etikette leben und uns keinen faux-pas leisten können: Lasst uns jetzt hindurchgehen bis nach Bethlehem!

Dann brechen die Hirten auf. Ein paar Hunde bellen in der Nacht. Einsam ziehen sie ihres Weges. Wer zum Weihnachtsmarkt geht, muss sich durch den Besucherstrom kämpfen. Wer zum Weihnachtsoratorium geht, muss sich rechtzeitig die Karten besorgen. Wer aber zur Weihnachtskrippe geht, muss sich mit kleiner Reisegesellschaft begnügen. Genau die paar aber suchen den Weg, finden den Platz und sehen das Wort: Der Heiland ist da, der Retter ist geboren, die Hilfe ist hand­greiflich.

Und wer dies auch sehen will, weil er einen Heiland braucht, und wer dies auch entdecken will, weil er einen Retter nötig hat, und wer dies auch bestaunen will, weil er ohne Hilfe von außen nicht mehr weiterkommt, der gehe den Hirtenweg bis zu jenem Ort, an dem zwei oder drei zusammenkommen wie Maria und Joseph, bis zu jenem Platz, an dem eine Handvoll Leute die Hände falten wie die Hirten, bis zu jener, Stelle, an der auch Ochs und Esel Heimatrecht besitzen. Gemeinde Jesu ist der Stall, in dem das Wort Fleisch wird.

Und wem das zu ärmlich ist, der stößt sich an der Armut Jesu. Wäre er in einem Schloss zur Welt gekommen dann hätte ihn nur der Hochadel besuchen können. Nun aber ist er in einem Viehstall geboren worden und deshalb gilt es allen Abgerissenen und Abgestempelten, allen Ausgebrochenen und Ausgeschlossenen, allen Bedrängten und Bedrückten: “Sehet doch da, Gott will so freundlich und nah zu den Verlorenen sich kehren.” Ausgerechnet Hirten sehen das Wort.

2. Ausgerechnet Hirten sagen das Wort

… obwohl sie bestimmt nicht das Sagen haben. Nachdem sie vor dem Kinde gekniet, stehen sie wieder auf der Straße. Sonnenstrahlen blitzen über die judäischen Berge. Es ist Morgen geworden. Morgens streift man nicht durch das Land. Morgens klopft man nicht an fremde Türen. Morgens macht man sich an die Arbeit. Die Zeit gebietet zu schweigen. Dann haben die Hirten Tagdienst. Schafe kann man nicht sich selbst überlassen. Herden wollen gehütet sein. Morgens füttert man die Tiere. Morgens geht die Sache rund. Die Pflicht gebietet zu schweigen. Dann wissen Hirten, was sie nicht wissen. Theologie haben sie wahrlich nicht studiert. Mit Rhetorik haben sie nichts am Hut. Morgens predigen die Pharisäer. Morgens verkündigen die Schriftgelehrten. Morgens machen die Gottesgelehrten den Mund auf. Der Anstand gebietet zu schweigen.

Doch, die Hirten kennen das alles, aber sie kennen auch und vor allem die Selbstverständlichkeit, dieses Wort weiterzusagen: Euch ist heute der Heiland geboren! Weihnachten wird es nur mit diesem Heiland, Weihnachten ohne Heiland ist heillos. Deshalb sagen sie wie die Apostel: Wir können’s ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollen von dem, was wir gesehen haben. Auch wenn es die Zeit gebietet, unseren Beruf ganz ernst zu nehmen: Wir können’s ja nicht lassen! Auch wenn es die Pflicht gebietet, sich voll auf seine Aufgaben zu konzentrieren: Wir können’s ja nicht lassen! Auch wenn es der Anstand gebietet, theologisch den Mund zu voll zu nehmen: Wir können’s ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollen.

Wem das Kind von Bethlehem die umwerfende Neuigkeit ist, der behält sie nicht für sich. Wem das Kind im Stall die wichtigste Schlagzeile ist, der wird sich mit dem Gruß “Frohes Fest wünscht Familie Lehmann” nicht begnügen. Wem das Kind in der Krippe die unglaubliche Botschaft ist, der wird zum Briefträger der Liebe bei denen, die keine Liebe mehr finden können: “Sehet dies Wunder, wie tief sich der Höchste hier beuget, sehet die Liebe, die end­lich als Liebe sich zeiget, sehet dies Kind!” Der wird zum Post­boten des Trostes bei denen, die keinen Trost mehr finden können: “Die ihr schwebt in großem Leide, sehet hier ist die Tür zu der wahren Freude.” Der wird zum Zusteller der Vergebung bei denen, die keine Vergehung mehr finden können: “Meine Schuld kann mich nicht drücken, denn du hast, meine Last, alle auf dem Rücken.” Der wird zum Transporteur der Hoffnung für solche, die keine Hoffnung mehr finden können: “Dieser kann und will uns heben aus dem Leid ins Himmelsfreud.

Dann stapfen die Hirten los. Mit den Stöcken klopfen sie an Hütten und Häuser. Sie breiten das Wort aus, so wie ein Teppichverkäufer, der in die Wohnung stürmt. Gleich breitet er den Teppich aus und erklärt Farben, Linien und Knoten. Auch wenn es den Hirten nicht abgenommen wird, auch wenn es nur Verwunderung auslöst, auch wenn das große Kopfschütteln beginnt, das diesen Jesus von der Krippe bis zum Kreuz begleiten wird, trotzdem bleiben sie beim Sagen.

Und wir sollen auch dabei bleiben, weil es ohne diesen Heiland kein Heil in unseren oft heillos zerstrittenen Ehen und Familien mehr gibt, weil es ohne diesen Retter keine Rettung in unser rettungslos verlorenen Leben mehr gibt, weil es ohne diesen Friedensstifter keinen Frieden in unserer friedlosen Welt mehr gibt. Und wer immer noch meint, ihm fehle das theologische Zeug und die rhetorischen Kniffe für solchen Botendienst, der sei noch einmal daran erinnert: Ausgerechnet Hirten sagen das Wort. Und das Letzte:

3. Ausgerechnet Hirten singen das Wort

… obwohl sie heulen könnten. Nachdem sie die erreichbaren Häuser abgeklopft, kehren sie wieder um. Die Sonne steht hoch am Himmel. Es ist Mittag. Mittags wird kein Nickerchen eingelegt. Mittags halten sie keine Siesta unterm Feigenbaum. Mittags wird in brütender Hitze weiter geschuftet. Das Christkind bringt ihnen keine Arbeitszeitverkürzung, sondern nur dieselbe Tag- und Nachtschicht. Der Weihnachtsmann bringt ihnen kein 13. Monatsgehalt, sondern nur denselben Hungerlohn. Das Weihnachtsfest bringt ihnen keine Mitbestimmung, sondern nur die alte Abhängigkeit. Ihre Zelte und Pferche und Schafe, ihr ganzer Krempel ist derselbe geblieben, aber sie selbst sind wie umgekrempelt. Plötzlich ist Lob und Preis auf den Lippen, über die sonst nur Flüche und Zoten kamen. Plötzlich kommt Dank und Anbetung aus dem Mund, aus dem sonst nur Geschrei und Geheul zu hören war. Ein neues Lied hat die alte Leier abgelöst: “Lob, Preis und Ehr Herr Jesu Christ, sei dir von mir gesungen!”

Ich stelle mir solch einen Hirten vor, wie er 10, 20, 30 Jahre nichts mehr von diesem Kind hört und der doch dabeibleibt: Ich habe das Kind gesehen und ich glaube ihm! Ich stelle mir solch einen Hirten vor, wie er von seinem Chef aus Dienst und Brot gejagt, in das aschgraue Heer der Arbeitslosen gestoßen wird und der doch weiß: Ich habe das Kind gesehen und ich gehöre ihm. lch stelle mir solch einen Hirten vor, wie er vom Wolf angefallen im Angesicht seiner Frau und Kinder verblutet, aber im Sterben von der Gewissheit getragen ist: Ich habe das Kind gesehen und ich bleibe bei ihm. “Mit dir will ich endlich schweben, voller Freud, ohne Zeit, dort im andern Leben.” Christtag wandelt keine Verhältnisse, aber Menschen.

Christtag wandelt keine Verhältnisse, aber Menschen.

Liebe Freunde, mag unsere Erde die Alte bleiben, wir müssen nicht die Alten bleiben. Auch in unserer Wohnung, wo so viel Spannungen und Reibereien sind, auch in unseren Büros, wo sie viel Kämpfe und Gemeinheiten sind, auch in unserer Welt, wo so vieles zum Himmel schreit, dort soll sich dies weihnachtliche Singen hineinmischen und alles kontrapunktisch übertönen: “Freude Freude über Freude, Christus wehret allem Leide, Wonne, Wonne über Wonne, Christus ist die Gnadensonne!”

Es lebt sich anders, seit Jesus so nahe ist. Hirten lehren uns das, ausgerechnet Hirten!

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]