Evangelien.
1) Namen. Das Wort „Evangelium“, welches ursprünglich die Predigt von Christo und seinem Reich bedeutet (s. Evangelium), wird schon Mk 1,1 auf die Erzählung von seiner Wirksamkeit und seinen Lebensumständen angewandt. In ältester Zeit wurde das Neue Testament in zwei Teile geteilt, deren erster, „das Evangelium“, die jetzt sogenannten vier Evangelien, deren zweiter, „der Apostel“, die übrigen Schriften umfasste. Die Überschrift der einzelnen Evangelien lautete nur: „Nach Matthäus“, „Nach Markus“ usw. Doch wird auch schon ca. 160 n. Chr. der Name Evangelium für dieselben gebraucht. Bald darauf erhielten sie auch ihre Sinnbilder, Matthäus den Engel, Markus den Löwen, Lukas den Ochsen, Johannes den Adler, entsprechend den vier Angesichtern der Cherubim (Hes 10,14), um anzudeuten, dass es Ein Evangelium in vierfacher Gestalt sei. —
2) Ursprung und Verfasser. Jesus selbst hat nichts geschrieben. Die Sorge für die Aufzeichnung dessen, was er geredet, getan und gelitten, hat er seinen Jüngern überlassen u. dem Geist der Wahrheit, der ihn verklären werde (Joh 16,14). Das Bedürfnis nach solcher Aufzeichnung musste sich in dem Maße regen, als das mündliche Wort der Ohren- u. Augenzeugen die ferneren Gemeinden, beziehungsweise das spätere Geschlecht nicht mehr erreichen konnte. Die großen Taten Gottes waren ja auch im Alten Bund immer aufgezeichnet worden, und die Liebe verlangte sichere Kunde von dem Herrn, dem sie, ohne ihn gesehen zu haben, sich ergeben hatte (1Pt 1,8; Luk 1,4). Noch mehr aber war die Christengemeinde für die Verkündigung ihrer Prediger wie für den Glauben der Hörer auf genaue Kunde von Wort und Leben Jesu angewiesen, da ja das „Zeugnis von Christo“ der Mittelpunkt für beides war (Apg. 1,21 f.; Joh. 15,27; 1 Kor. 15,1 ff; Joh. 20,31). Die Belehrung des von Christo verheißenen Geistes konnte eine geschichtliche Überlieferung nicht ersetzen, sondern sollte sich mit ihr verbinden; denn der Geist sollte ja die Jünger erinnern an alles das, was ihnen Christus gesagt hatte (Joh. 14,26). Auch Pauli Wort, er kenne Christus nicht mehr nach dem Fleisch (2 Kor. 5,16), sagt nicht, er wolle nichts von den Tatsachen des irdischen Lebens Jesu wissen, sondern er betrachte dieses Leben nicht mehr mit fleischlichen Augen, lasse sich nicht mehr von dem Eindruck seiner äußeren Niedrigkeit beherrschen.
Diesem bisher dargelegten Bedürfnis entsprachen denn auch frühzeitig viele Versuche, „die Rede von den Geschichten zu stellen, die unter uns ergangen sind“ (Luk. 1,1). Genaueres über dieselben wissen wir nicht mehr. Wahrscheinlich ist, dass namentlich Aussprüche und Reden Jesu frühe aufgezeichnet wurden, denn Paulus hat offenbar solche Aufzeichnungen gekannt, wenn er zum Beispiel die Einsetzungsworte des Abendmahls fast wörtlich gleich mit unsern Evangelien mitteilt (1 Kor. 11,23 ff.) Vgl. auch 1 Kor. 9,14 mit Mt. 10,10; 1 Th. 5,2 mit Mt. 24,43. Wie man noch aus unsern Evangelien sieht (s. namentlich Luk. 1,3 und Apg. 1,1), waren solche Aufzeichnungen zunächst nur für einen kleinen Leserkreis bestimmt, und so erklärt sich auch, dass sie, wenn ihnen eine weitere Verbreitung nicht zuteil wurde, bald wieder verloren gegangen sind. Es ist dies indes nicht so sehr zu bedauern, als es auf den ersten Blick scheint, denn solche Schriften konnten nur verloren gehen, wenn alles Wesentliche, was in ihnen stand, in den erhaltenen auch zu lesen war. In der Erhaltung unserer vier Evangelien selbst liegt die sichere Gewähr, dass sie sich im kirchlichen Gebrauch als die vollständigsten und besten bewährt hatten. Verloren gegangen sind auch die beiden ältesten derartigen Schriften, von denen wir eine bestimmtere Nachricht haben, obgleich sie denselben Verfassernamen tragen, wie unsere zwei ersten Evangelien. Der Bischof Papias von Hierapolis († ca. 165 n. Chr.) erzählt nämlich, Matthäus habe in hebräischer Sprache die Aussprüche Jesu zusammengestellt, Markus aber habe, was er aus den Vorträgen des Petrus von Jesu Worten und Taten im Gedächtnis behalten, niedergeschrieben, aber nicht der Ordnung nach, sondern nur mit dem Bedacht, nichts auszulassen und nichts zu fälschen. Diese Aussprüche passen trotz des Namens Matthäus und Markus nicht recht auf unsere zwei ersten Evangelien; denn das erste macht nicht den Eindruck einer aus dem Hebräischen übersetzten, sondern den einer ursprünglich griechisch geschriebenen Schrift, es ist auch nicht bloß eine Zusammenstellung von Reden Jesu. Das zweite aber zeigt klar die Absicht, die Geschichten und Worte Jesu der Zeitfolge nach zu erzählen, ist also nicht „ohne Ordnung“. Das Rätsel, wie nun doch unsere zwei ersten Evangelien zu den Namen des Matthäus und Markus gekommen sind, löst sich nach einer vielverbreiteten Annahme, der auch wir beipflichten, folgendermaßen: jene alten Schriften sind in den jetzigen gleichnamigen verarbeitet und darum — nur in etwas anderer Gestalt — doch noch erhalten. Im ersten Evangelium ist in den dasselbe kennzeichnenden längeren Reden (5-7. 10. 11. 13. 18. 23-25) der Hauptsache nach jene „Zusammenstellung von Aussprüchen Jesu“ verarbeitet und mit einer fortlaufenden Lebensbeschreibung Jesu verbunden. Im zweiten Evangelium sind jene auf Petri Mitteilung beruhenden Aufzeichnungen des Markus in geordnete Zeitfolge gebracht. Nach dieser Annahme sind also die Benennungen, die ja ursprünglich nicht „von“, sondern „nach“ Matthäus, Markus lauteten (s. oben), immerhin im Recht. Wer aber eigentlich die letzte Hand an diese Schriften gelegt hat, ist uns wiederum unbekannt. Wie wenig Wert überhaupt diese Männer auf Schriftstellernamen und Schriftstellerehre legten, ist daraus ersichtlich, dass keiner seinen Namen selbst seinem Werke einverleibt hat.
Anders ist es beim dritten und vierten Evangelium. Zwar den Namen ihrer Verfasser tragen auch sie nicht an der Stirne, aber die alte Überlieferung bezeugt einstimmig, dass jenes (samt seiner Fortsetzung, der Apostelgeschichte) von Lukas, dem Freund des Paulus, dieses von Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu, verfasst sei. Über ersteres s. Apostelgeschichte. Für letzteres ist das älteste Zeugnis im Evangelium selbst enthalten. Dieses schloss nämlich ursprünglich mit dem 20. Kap., wie aus 20,30 f. deutlich zu ersehen ist; Kap. 21 ist ein Nachtrag von anderer Hand, und wenn es nun da V. 24 heißt: „dies ist der Jünger, der von diesen Dingen zeuget, und hat dies geschrieben,“ so ist hiermit von den Freunden dieses Jüngers selbst (wahrscheinlich kurz nach seinem Tode) bezeugt, dass er dieses Buch geschrieben habe. Sein Name ist zwar auch hier nicht genannt, aber dass „der Jünger, welchen Jesus lieb hatte,“ kein anderer als Johannes war, kann im Ernst nicht bezweifelt werden.
Über die Abfassungszeit dieser vier Schriften, beziehungsweise ihrer Vorläufer, lässt sich nichts Sicheres sagen. Die drei ersten Evangelien werden auch in ihrer jetzigen Gestalt noch vor, beziehungsweise kurz nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben sein, und ihre Reihenfolge wird auch ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge ziemlich entsprechen. Das vierte Evangelium aber ist jedenfalls das letzte (s. Johannes). —
3) Verwandtschaft und Verschiedenheit der Evangelien. Die oberflächlichste Betrachtung zeigt die Verwandtschaft der drei ersten und ihre Verschiedenheit vom vierten Evangelium. Daher die Benennung jener als der „synoptischen”, das heißt zusammenschauenden Evangelien. Ihre Verwandtschaft zeigt sich nicht nur in der großen Menge gemeinschaftlichen Stoffs, in der fast wörtlich übereinstimmenden Wiedergabe mancher Erzählungen und Aussprüche, in der gleichartigen Anordnung mancher Erzählungsreihen, sondern auch in der überall sich gleichbleibenden Auffassungs- und Darstellungsweise, selbst wo ein Stoff nur in einem der drei Evangelien sich findet. Man hat diese Verwandtschaft oft aus einer stehend gewordenen Erzählungsweise der mündlichen Verkündigung hergeleitet, aber vollständig erklärt sie sich doch nur aus der Annahme schriftlicher Vorlagen, die von den Verfassern unserer Evangelien benützt wurden. Gehen auch die Aufstellungen der Gelehrten über diesen Punkt im einzelnen noch weit auseinander, so stimmen sie doch darin so ziemlich überein, dass sowohl das erste als das dritte Evangelium die verloren gegangene Redensammlung des Matthäus (s. oben) gekannt, und damit die Erzählung des Markusevangeliums oder eine ihm sehr ähnliche Schrift verbunden haben, was nicht ausschließt, dass sie außerdem noch andere, sei’s mündliche, sei’s schriftliche Quellen benützten. Einzigartig steht diesen dreien das vierte Evangelium gegenüber. Man merkt ihm sofort an, dass hier ein Mann, unabhängig von früheren Schriften und von mündlicher Überlieferung, den Stoff bearbeitete, und ihm den einheitlichen Stempel eines selbständigen Geistes aufdrückte. Überwiegend steht ihm neuer, von den drei ersten nicht berichteter Erzählungsstoff zu Gebot, aber auch wo er dasselbe wie jene erzählt, ist die Auffassungs- und Darstellungsweise ihm eigentümlich. Es stimmt dieser Sachverhalt damit zusammen, dass wir im vierten Evangelium die Schrift eines Apostels vor uns haben, dessen eigentümliche Geisteskraft sich nicht verleugnen konnte, auch wenn er nur als Erzähler die Feder ergriff, während die andern Evangelisten sich ganz darauf beschränkten, treu wiederzugeben, was sie von Jesus gehört und erfahren hatten. —
4) Geschichtliche Glaubwürdigkeit der Evangelien. Diese ist im allgemeinen schon durch das bisher über den Ursprung derselben Gesagte genügend gewährleistet. Sehen wir von dem vierten Evangelium vorerst ab, so reichen die drei anderen und namentlich die ihnen zugrunde liegenden Quellenschriften in eine Zeit zurück, da noch manche der Augen- und Ohrenzeugen des Lebens Jesu, noch manche der Zwölf und Jakobus, der Bruder des Herrn, am Leben waren. Damit ist soviel gesichert, dass ein wesentlich falsches oder getrübtes Bild von dem Herrn in der christlichen Gemeinde damals nicht entstehen, jedenfalls nicht zu Geltung gelangen konnte. Und welchen Wert ein wahres treues Bild des Herrn für die Gemeinde hatte, wurde schon oben angedeutet. Soweit geht freilich die Tragweite dieser Beweise nicht, dass auch die Richtigkeit alles Einzelnen in diesen Erzählungen gesichert wäre. Verwechselungen von Zeit und Umständen und dergleichen konnten selbst den Augenzeugen nach ca. 30 Jahren begegnen, noch mehr denen, die ihre Berichte aus zweiter Hand schöpften. Das derartige geschichtliche Verstöße, von denen einmal keine menschliche Geschichtsschreibung frei ist, auch in den Evangelien sich finden, zeigt eben die Vergleichung derselben miteinander, und wir dürfen nicht verlangen, der Heilige Geist hätte das verhindern sollen. Denn was wäre für unsern Glauben gewonnen, wenn wir zum Beispiel ganz sicher wüssten, ob Jesus bei Jericho zwei oder einen Blinden geheilt hat (Mt. 20,30, vgl. Mk. 10,46); ob diese Heilung beim Auszug oder beim Einzug vor sich ging (Mk. 10,46, vgl. Luk. 18,35) und dergleichen? Durch solche Dinge wird das ganze Bild Jesu — und darauf kommt es allein an — nicht getrübt. Was noch insbesondere die Worte Jesu anbelangt, so tragen sie die Gewähr ihrer Echtheit in sich selbst; so etwas lässt sich nicht erfinden, oder müsste der Erfinder größer gewesen sein als der Herr selbst. Womit natürlich wieder nicht ausgeschlossen ist, dass über die Veranlassung einzelner Worte oder die Zusammensetzung größerer Reden oder auch den Wortlaut einzelner Sprüche verschiedene Berichte in Umlauf kommen konnten.
Noch besonders zu besprechen ist die Glaubwürdigkeit des vierten Evangelium. Der Unterschied desselben von den drei ersten ist so groß, dass man manchmal glaubte, es könne nur entweder das Christusbild der drei ersten Evangelien oder das des vierten das Wahre sein. Die Waagschale neigte sich dann gewöhnlich zugunsten der drei ersten und man war geneigt, zu zweifeln, ob das vierte Evangelium wirklich von einem Augenzeugen und Apostel verfasst sei. Aber diese Zweifel lassen sich beim rechten Verständnis der ganzen Art des vierten Evangelium überwinden. Als Johannes in seinem Alter das vierte Evangelium schrieb, war es sicher nicht seine Absicht, die Erzählung der drei ersten, die er gewiss kannte, zu berichtigen (höchstens in 3,24 kann man gegenüber von Mt. 4,12 etwas derart finden), auch nicht bloß äußerlich dieselbe zu ergänzen durch Erzählung von noch unbekannten Vorgängen; denn er erzählt ja auch Geschichten, die dort schon zu lesen waren, wie die Speisung der 5000, Joh. 6, die Salbung in Bethanien, Joh. 12 usw. Seine Absicht war eine höhere. Er wollte das Bild Jesu, wie es durch den Heiligen Geist in seinem Herzen verklärt war (vgl. Joh. 16,14), zur Darstellung bringen; er wollte das tiefere Verständnis seiner Worte und seiner Person, das ihm erst nach dem Tode Jesu aufgegangen war, auch andern mitteilen. Öfters macht er ja darauf aufmerksam, dass die Worte Jesu noch einen tieferen Sinn hatten, als die Jünger zuerst verstanden (2,22: 7,39; 10,6; 12,33; 14,5. 8. 22; 16,17); ja er deutet an, dass Jesus bei seinen Lebzeiten eigentlich alles „durch Sprichwörter“ mit ihnen geredet habe, das heißt durch Worte, deren innerste Bedeutung erst erschlossen werden sollte (Joh. 16,25), und erst, als der h. Geist kam, habe er nicht mehr durch Sprichwörter mit ihnen geredet, das heißt habe der h. Geist ihnen das rechte Verständnis geöffnet. Es kann nun kaum einem Zweifel unterliegen, dass Johannes sich die Freiheit genommen hat, sein tieferes Verständnis der Worte Jesu so zur Darstellung zu bringen, dass er Jesu selbst das in den Mund legt, was ihm als der innerste Sinn von Jesu Gedanken gewiss geworden war. Ja man wird sagen müssen, dass ihm eine feste Scheidung zwischen dem, was noch als wörtliche Erinnerung in seinem Gedächtnis war, und dem, was ihm der Geist eingegeben, gar nicht mehr in allen Stücken möglich war. Dieser Sachverhalt erhellt aus der ganz eigentümlichen Darstellungsweise der johanneischen Christusreden, die ebenso von der der synoptischen verschieden ist, wie sie mit der Darstellungsweise des Johannes selbst in seinen eigenen Worten zusammenstimmt. Es lässt sich sogar an einigen Stellen des Evangeliums gar nicht sicher bestimmen, wo die Worte Christi aufhören und wo die Worte des Johannes anfangen (zum Beispiel 3,11-21). Eine solche Freiheit von dem Streben nach wörtlicher Genauigkeit lässt sich nur erklären aus der Sicherheit des Geistesbesitzes, aus dem Vertrauen auf des Geistes Leitung, die nichts Fremdes zu dem ursprünglich Echten hinzukommen lässt (Joh. 16,14: von dem Meinen wird er’s nehmen und Euch verkündigen). Und bei wem anders sollten wir eine solche Sicherheit und Freiheit des Geistes suchen dürfen, als bei einem Apostel? zumal die Erfahrung der ganzen christl. Kirche es bewährt hat, dass wirklich der Geist der Wahrheit den Verfasser des vierten Evangeliums geleitet und seine Schrift zu dem „zarten, rechten Hauptevangelium“ gemacht hat. Gilt nun das Bisherige hauptsächlich von den Reden Jesu im Johannesevangelium, so wird auch von dem erzählenden Inhalt das vorauszusetzen sein, dass die Auswahl und Zusammenstellung des Johannes nicht bezweckte, einen vollständigen Lebensabriss zu geben, sondern ein solches Bild von Jesu zu entwerfen, dass „die Herrlichkeit desselben als des eingeborenen Sohns vom Vater voller Gnade und Wahrheit“ daraus hervorleuchte (vgl. 20,30. 31). So haben wir denn das merkwürdige Ergebnis, das in Beziehung auf äußerlich geschichtliche Genauigkeit und Wörtlichkeit die drei ersten Evangelien, obgleich sie nicht von Augenzeugen geschrieben sind, uns mehr bieten, als das Evangelium des Augenzeugen und Apostels Johannes. Aber dieses Ergebnis mahnt uns nur daran, dass die Evangelien nicht in erster Linie Urkunden sein sollen, an denen die gelehrte geschichtlichen Forschung nichts auszusetzen finde, sondern Zeugnisse von Christo, an denen der Glaube an ihn immer aufs neue sich entzünde und stärke. Und diesen Beruf haben sie je und je in der christl. Kirche erfüllt, nicht am wenigsten das vierte Evangelium. Weiteres über die einzelnen Evangelien s. bei den Namen der Evangelisten. Über die apokryphen Evangelien s. Apokryphen.