Gewissen. Da Luther in seiner Bibelübersetzung dieses Wort öfters dem Sinn nach angewendet hat, wo im Grundtext ein anderer Ausdruck steht, so zählen wir die Stellen auf, in denen das entsprechende griechische Wort in der Bedeutung „Gewissen“ sich findet. Es sind: im Alten Testament nur Weish. 17,11; im Neuen Testament Apg. 23,1; 24,16; Röm. 2,15; 9,1; 13,5; 1 Kor. 8,7. 10. 12; 10,25-29; 2 Kor. 1,12; 4,2; 5,11; 1 Tim. 1,5. 19; 3,9; 4,2; 2 Tim. 1,3; Tit. 1,15; Hbr. 9,9. 14; 10,22; 13,18; 1 Pe. 3,16. 21. —
1) Jeder Mensch hat ein Gewissen (2 Kor. 4,2); das heißt jeder Mensch weiß, was es mit dem Unterschied von gut und bös auf sich hat. Das Wesen des Gewissen läßt sich am leichtesten beim bösen Gewissen erkennen. Wie der Mensch, wenn er einen Schlag erhält, unmittelbar Schmerz empfindet, so hat jeder, der wider besseres Wissen etwas Böses tut, unmittelbar die schmerzliche Empfindung, daß er damit eigentlich sich selbst einen Schlag versetzt, daß er seinen inneren Wert verscherzt hat, daß er nicht mehr ist, was er war und was er sein sollte. Diese niederbeugende Empfindung heißt ein böses Gewissen, Scham und Angst sind seine nächsten Begleiter, dürfen aber nicht mit ihm verwechselt werden. Oft ist dieses Gefühl in der Bibel anschaulich beschrieben, wenn auch der Ausdruck „böses Gewissen“ nur einmal (Hbr. 10,22) vorkommt. Es ist dem Menschen, als ob er sich in seinem inneren Unwert verbergen müßte, wie Adam; es kommt eine Unruhe über ihn, als ob er nirgends bleiben könnte, wie über Kain (vgl. auch Jes. 48,22: Die Gottlosen haben keinen Frieden); es preßt ihm bittere Tränen aus, wie Petrus. Und diese Empfindung geht nicht mit der bösen Handlung und ihren unmittelbaren Folgen vorüber, sondern dauert sort als das Bewußtsein, daß die böse Tat auf dem Menschen liegen bleibt als eine Schuld. Mögen auch andere Eindrücke das böse Gewissen übertäuben, es kann jederzeit mit erneuter Macht wieder hervorbrechen (vgl. die Brüder Josephs, 1 Mo. 42,21); Zeugnis davon gibt ja noch manches Sterbebett. Umgekehrt heißt ein gutes Gewissen der innere Friede und das innere Wohlsein, die uns begleiten, solange wir uns keiner bösen Tat, keiner Schuld bewußt sind (Hbr. 13,18), und die sich beim Bewußtsein einer guten Tat zum erhebenden Gefühl der Seligkeit steigern (Apg. 20,35: Geben ist seliger denn Nehmen). Zunächst wirkt also das Gewissen immer erst nach der Tat, das böse wie das gute. Aber mittelbar wirkt es darum doch als ein kräftiger Warner und Mahner für die Zukunft; es warnt jeden, der einmal die Qual eines bösen Gewissens durchlebt hat, sich ihr nicht wieder auszusetzen; es mahnt jeden, der einmal die Seligkeit des guten Gewissens gekostet, sie sich bleibend zu erwerben. Es sagt aber dabei auch jedem, daß er damit nicht mehr als seine Pflicht und Schuldigkeit erfüllt. —
2) Ihre klare Deutung erhält die Empfindung des bösen wie des guten Gewissens erst durch das Licht des Wortes Gottes, das uns sagt, daß wir mit jeder bösen Tat unserer göttlichen Bestimmung entgegengehandelt, uns der göttlichen Achtung und Liebe unwert gemacht, und dagegen Gottes Zorn verdient haben. Das gute Gewissen aber spiegelt die innere Gesundheit dessen, der gut handelt, und das auf ihm ruhende göttliche Wohlgefallen wieder. Und so ist denn das Gewissen eine ursprüngliche Mitgabe der menschlichen Natur, ein Stück des göttlichen Ebenbildes. Aber freilich äußert sich in der sündigen Menschheit weder das gute noch das böse Gewissen in seiner vollen Reinheit und Stärke. Das gute Gewissen nicht, weil eben alte und neue Schuld es gar nicht ungetrübt zur Geltung kommen lassen. Das böse Gewissen aber wird allmählich abgestumpft, wenn man die in seiner Sprache ursprünglich so vernehmlich ausgedrückte Warnung vor Wiederholung einer bösen Handlung mißachtet. Doch erkennt die Bibel an, daß auch in der Heidenwelt sowohl das gute als das böse Gewissen sich regt (Röm. 2,15). Das Evangelium aber stellt auch die Stimme des Gewissens in seiner Lauterkeit und Kräftigkeit wieder her, wobei es freilich nicht anders kann, als zuerst durch Schärfung des bösen Gewissens auch für bisher unerkannte Schuld den Menschen in die Tiefe führen (Luk. 15,18 f.), um dann erst durch Vergebung der Schuld in den Frieden eines guten Gewissens ihn einzusetzen (Hbr. 10,22). Dabei bleibt aber das Gewissen zart, selbst für Sünden in Gedanken; nur der Bann eines dauernden bösen Gewissens soll dem Christen fremd bleiben, weil er den Versühner kennt (1 Joh. 1,8 ff.; 2,1 f.). —
3) Das Gewissen gibt dem Menschen zu fühlen, was es mit guten und bösen Handlungen auf sich hat; aber es sagt dem Menschen nicht, welche einzelnen Handlungen an sich gut oder böse sind. Es richtet ihn, wenn er gegen seine Überzeugung gehandelt hat; es mahnt ihn damit aber nur, zu fragen: was ist recht und was ist unrecht? Diese Erkenntnis selbst setzt es voraus. Und es darf sie voraussetzen, denn jeder Mensch hat eine gewisse Erkenntnis des Guten und Bösen, auch abgesehen von der göttlichen Offenbarung des A. und N. Testaments. Er hat das auch den Heiden ins Herz geschriebene Gesetz, von dem Paulus Röm. 2,14 f. redet. Man sollte dies nicht auch eine Sprache des Gewissen nennen, wie es häufig geschieht: auch Paulus unterscheidet deutlich das „Mitzeugen“ des Gewissens von dem ins Herz geschriebenen Gesetz. Und wenn sich Paulus auf sein „gutes Gewissen“ beruft, so hat es immer den Sinn, daß er nach seiner Überzeugung von dem, was recht sei, nicht anders reden und handeln könne (zum Beispiel Apg. 23,1; 2 Kor. 1,12). Das gewissenhafte Handeln steht einem solchen gegenüber, das durch Menschengunst (Röm. 9,1) oder Menschenfurcht (Röm. 13,5) sich treiben läßt. Es kann darum auch jemand mit gutem Gewissen etwas Böses tun, weil er’s nicht besser weiß, wie Paulus, als er die Christen verfolgte; oder umgekehrt ein böses Gewissen haben, ohne daß er in Wahrheit etwas Verbotenes getan hat, wie die Korinther, die Götzenopferfleisch aßen, obwohl sie es eigentlich für Sünde hielten. Man bezeichnet dies oft als ein „irrendes Gewissen”: aber was irrt, ist nicht das Gewissen, sondern die Erkenntnis. Und die oberste Regel muß für jeden Christen bleiben, nur seine eigene Überzeugung zu fragen, was er tun und lassen soll (Röm. 14,23). Denn Gott wird auch im Gericht nur nach dem urteilen, was einer wußte und wissen konnte (Luk. 12,47; 23,34). Also darf man niemand, auch wenn man glaubt, daß er irrt, veranlassen, oder gar zwingen, gegen seine Überzeugung zu handeln (Röm. 14; 1 Kor. 8). Darauf ruht der wichtige Grundsatz der Gewissensfreiheit.