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Hohelied

Hohelied Salomos, eig. „Lied der Lieder“, will sagen das höchste, herrlichste Lied. Diese überschrift trägt ein in seiner Art einziges Buch der Bibel, welches von dieses Königs Liebe zur anmutigen Sulamith handelt und die beiden Liebenden in der Weise des morgenländ. Minnegesangs feiert. Jene Sulamith (wohl eigentlich Bewohnerin von Solam = Sunem, also = Sunamitin) erscheint bei ihrer vollendeten Schönheit in rührender Einfalt und Anspruchslosigkeit, bei ihrer innigen bräutlichen Liebe kindlich rein. Darum schätzt sie Salomo höher als alle seine übrigen Weiber; er erkennt sie als ebenbürtig durch ihren Seelenadel. Daß ein großer König eine schlichte, unschuldige Tochter aus seinem Volke zur höchsten Ehre erhebt und ihren tief innerlich wurzelnden Vorzügen huldigt, ist an sich schon eine bedeutsame Erscheinung. Bedenken wir aber, daß es der König Israels ist, der Gesalbte des Herrn, und daß man zweitens in diesem Volke von alters her gewöhnt war, in der menschl. Minne ein Abbild der göttl. zu sehen, das heißt des zwischen Gott und Israel bestehenden Liebesbundes, so erklärt sich, daß dieses Lied sväter allegorisch verstanden und in den h. Kanon aufgenommen zu werden würdig erachtet wurde. Jener Salomo wurde in seiner Liebe zu dem geringen, aber edeln Mädchen aus dem Volke von selbst zum Abbild des Gottes, den er als Gesalbter vertrat und der in seiner Liebe sich gleichfalls zu seinem Volke herabließ, um es wunderbar zu erhöhen. Infolge ähnlichen Zusammenhangs ist das königliche Hochzeitslied Psalm 45 in den Psalter aufgenommen worden.

Eine ganz andere Auffassung würde sich freilich ergeben, wenn die eine Zeitlang herrschend gewesene Annahme richtig wäre, daß das Lied einen Wettkampf des Königs Salomo mit einem einfachen Hirten um die Liebe der Sulamith darstelle, wobei der letztere den Sieg über den ersteren davontrüge, indem das Mädchen, ihren schlichten Volksgenossen treu bleibend, alle Bewerbungen des reichen Königs abweise. In diesem Falle wäre die Spitze des Ganzen gegen Salomo gerichtet, der mit all seinen Schätzen und ehrenvollen Huldigungen das Herz der treuen Hirtenbraut nicht erobern konnte. Die Überschrift freilich, die Salomo als Verfasser nennt, wäre aus seltsamem Mißverstand hervorgegangen, den die gesamte jüdische Überlieferung teilen würde. Entscheidend gegen diese Annahme ist aber, daß bei genauer Untersuchung ein solcher Zweikampf in dem Liede sich gar nicht findet, die Sulamith vielmehr dem König sich rückhaltlos hingibt. Dagegen verdient Beachtung die Hinweisung Neuerer auf die syrische Hochzeitssitte, Bräutigam und Braut sieben Tage lang als König und Königin zu feiern. Auf einem ländlichen Thronsitz nehmen sie die Huldigungen der Festgenossen entgegen. Es ist wahrscheinlich, daß diese Sitte ins Altertum zurückgeht und daß wir in diesem Liede ein Textbuch zu einer Hochzeit vor uns haben, wo in lose verbundenen Minneliedern der Bräutigam speziell als König Salomo und seine vielleicht anspruchslosem Stand angehörige Braut als dessen Perle, die schöne Sunamitin gefeiert wurde. Eine Tradition aus Salomos Leben mag dabei zu Grunde liegen. Aber jedenfalls ist das Lied nicht von diesem König gedichtet, sondern bedeutend jüngerer Herkunft.

Zum Verständnis des Liedes im einzelnen ist zu beachten, daß verschiedene Stimmen sich ablösen und verschiedene Szenen abwechseln. Es sind mehrfache Begegnungen der beiden Liebenden, die uns nach den Gefühlen, welche sie in denselben wachrufen, geschildert werden; dazwischen Stunden des Suchens und Sehnens, wo die Braut von heißem Verlangen nach ihrem Bräutigam erfüllt ist. Es lassen sich fünf Akte unterscheiden:

1) Die erste Einführung der Sulamith in ein Landhaus des Königs (der sie nach 8,5 entdeckte, als sie unter einem Apfelbaume ruhte), 1,2 bis 2,7. —

2) Zwei Stimmungsbilder, schildernd das Verlangen der Braut nach ihrem Geliebten, 2,8 bis 3,5. —

3) Die eigentliche Hochzeit zu Jerusalem, 3,6 bis 5,1. —

4) Neue Bilder des gegenseitigen Suchens des Bräutigams und der Braut, 5,2 bis 8,4. —

5) Der Schluß, welcher in der ländlichen Heimat der Sulamith spielt und die Besiegelung des Liebesbundes sowie seine Lehre enthält, 8,5-14. Die Ausführung ist ungemein anmutig und zart. Nur wer morgenländ. Poesie nicht versteht mit ihrer sinnlichen Darstellung des Geistigen, wobei aber das Sinnliche geistig verklärt ist, kann an einzelnen Schilderungen Anstoß nehmen. Die lenzliche Frische des Liedes geht freilich verloren, wenn man die einzelnen Züge allegorisch umdeutet, sei es mehr lehrhaft oder mehr historisierend, wie zum Beispiel die Rabbinen die verschiedenen Begebenheiten der israelit. Geschichte herauslesen wollten. Nur mittelbar ist das Lied eine Hinweisung auf die Wege Gottes mit seinem Volke oder seiner Gemeinde, sowie auch mit der einzelnen Seele. Letzteres, der mystische Liebesverkehr zwischen Christo und der Seele, wurde besonders im Mittelalter aus dem Liede entwickelt, zum Teil geistvoll und poetisch, wie in den Reden Bernhards von Clairvaux. Nach seinem nächsten und natürlichen Sinne schildert das Lied vielmehr die von Gott gepflanzte, reine Liebe zwischen Bräutigam und Braut mit ihrer alle trennende Kluft übersteigenden, alle Entfernung überwindenden Macht. Diese bräutliche Minne selbst aber ist, wie das Neue Testament gleich dem A. T. lehrt, ein Geheimnis, das auf etwas Höheres hinweist: auf jene wunderbare Liebe des Herrn zu seiner Gemeinde, um die er, sich selbst erniedrigend, geworben hat und die er als in seinen Augen rein erfundene Braut zu seiner Herrlichkeit erhöht, um sich aufs innigste mit ihr zu vereinigen. Auch hier in diesem rein geistlichen Verhältnis findet hienieden ein rastloses Suchen und Sehnen statt, ein Wechsel von seligem Besitz und schmerzlicher Entbehrung, ein Ringen nach immer völligerem Einswerden wie bei der menschlichen Minne. Wie daher die Gemeinde des A. B. ein Recht hatte, in dem salomon. Minnelied eine Darstellung des höchsten und heiligsten Liebesverhältnisses zu sehen, so wird die christliche Meditation und Dichtung stets diesem edeln, reinen Gesang die Worte und Bilder entnehmen, um den Empfindungen der Braut Christi im heil. Liebesverkehr mit ihrem Bräutigam Ausdruck zu geben. Siehe auch den Art. Dichtkunst.