Liebe als verbindendes Element in Gemeinschaft und Sport
Wenn man über Liebe predigen möchte, finde ich, dass das im Moment nicht nur deshalb leicht ist, weil wir gerade gesehen haben, wie Menschen voller Liebe für Kinder uns noch einmal Anteil an ihrem Herzen gegeben haben. Ich finde auch, dass die Fußballweltmeisterschaft irgendwie etwas mit Liebe zu tun hat. Bestimmte Elemente bei dieser Mannschaft und wie man mit ihr umgeht, lassen sich eigentlich nur mit Begriffen beschreiben, die wir auch in der Reihe, die wir gerade miteinander betrachten, über praktische Liebe wiederfinden.
Ich finde Deutschland immer merkwürdig. Alle vier Jahre holen sie ihre Wimpelchen raus, machen ein Auto dran und denken: „Boah, wir sind wirklich ein Volk.“ Und dann vergessen wir das wieder für vier Jahre, und dann geht es wieder von vorne los. Ich finde das schon bemerkenswert. Aber ich glaube, dass dahinter ein tiefer Wunsch steckt – ein tiefer Wunsch nach Gemeinschaft, nach etwas Verbindendem und, wenn du mich fragst, eigentlich nach Liebe. Ich glaube, dass das an dieser Stelle einfach durchbricht.
Für die Gäste: Wir stecken ganz am Ende, der letzten Predigt heute, einer Reihe über Liebe. Ich habe in den letzten drei Malen versucht, etwas für den einen oder anderen völlig Abstruses zu tun, nämlich ein alttestamentliches Buch zu nehmen, ein Liebeslied, das Hohelied. Ich habe dieses Buch aus der Vogelperspektive betrachtet. Es geht darum, dass Salomo beschreibt, wie er bis über beide Ohren verliebt ist in Sulamit und wie das mit den beiden funktioniert. Die schwärmen sich da gegenseitig an.
Mein Ansatz war, dieses Buch zu nehmen und zu sagen: Kann ich aus diesem Buch Prinzipien herausziehen, Prinzipien, die für uns als Gemeinde wichtig sind? Ich war davon recht überzeugt und bin es immer noch. Ich habe schon – also heute machen wir die letzten drei – sieben Prinzipien genannt.
Wir haben uns am Anfang angeschaut, dass das, was im Zentrum dieses Liebesliedes steht, Bewunderung ist, also dass ich den anderen wertschätze. Wir haben gesehen, dass diese Bewunderung nur gelebt werden kann, wenn ich bereit bin, Nähe zu leben. Wenn ich auf Distanz gehe, kann ich den anderen vielleicht wertschätzen, aber es wird keine Liebe daraus.
Wir haben uns angeschaut, dass da, wo diese Nähe gelebt werden will, ein Raum gebraucht wird, in dem wir sicher sind, wo wir mit unseren eigenen Grenzen und Ängsten angenommen sind und wo man vorsichtig mit uns umgeht. Auch das gehört zur Liebe.
Wir sind einen Schritt weitergegangen und haben gesehen, dass Liebe sich die Frage stellt: Wie kann ich einem anderen helfen? Wie kann ich fürsorglich sein? Wie kann ich die Probleme des Nächsten nehmen und zu meinen eigenen machen? Irgendwo so ein kleines Stückchen Lastenträger sein, meine Schulter drunter stellen und ein bisschen anheben, damit es für den anderen leichter wird.
Letztes Mal war es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass wahre Liebe nicht naiv ist, sondern sehr realistisch. Das findet sich auch im Hohelied, da, wo die beiden sehr früh darum bitten, dass man ihnen hilft, diese Beziehung zu erhalten, weil sie sich selbst in ihrer Menschlichkeit als Risikofaktor begreifen.
Die Balance von Mut und Selbstbeherrschung in der Liebe
Und als ich einmal begriffen habe, dass ich nicht perfekt bin, hat sich vieles verändert. Vielleicht ist der Begriff Risikofaktor etwas zu stark, aber ich habe erkannt, dass ich von meiner Art her entweder oft zu ängstlich bin oder manchmal eine regelrechte Dampfwalzenmentalität habe und alles plattwalzen möchte.
Ein wichtiger Punkt, den ich beim letzten Mal gelernt habe, ist, dass Liebe nur dann zum Genuss werden kann, wenn ich mich sowohl traue, aus einer ängstlichen Grundhaltung herauszukommen und mich ein wenig motivieren lasse, als auch in der anderen Situation, wenn ich immer derjenige bin, der vorneweggeht. Oft bin ich derjenige, der sich alles zutraut und manchmal ein bisschen zu schnell handelt. In solchen Momenten muss ich mir selbst ein Stoppschild setzen. Es geht darum, dass Mut auf der einen Seite und Selbstbeherrschung auf der anderen Seite zusammenkommen.
Ein weiterer Punkt, den ich beim letzten Mal verstanden habe, betrifft den Streit. Wenn wir Liebe leben wollen, müssen wir lernen, ohne Streit auszukommen. Dabei meine ich nicht, dass es keine Meinungsverschiedenheiten geben darf. Wir müssen lernen, miteinander zu reden und unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen. Aber es darf nicht zum Streit führen. Warum nicht? Weil dort, wo Liebe herrscht, auch Friede ist.
Wesentliche Merkmale wahrer Liebe
Heute möchte ich zum Abschluss drei ganz kurze Punkte anführen. Was macht wahre Liebe aus? Vielleicht denkst du, dass das eigentlich Unterpunkte dessen sind, was wir schon besprochen haben. Ja, das stimmt manchmal, wenn man ein Buch nimmt und versucht, Prinzipien daraus zu extrahieren. Trotzdem sind mir diese drei Punkte jeder für sich sehr wertvoll.
Zum einen ist da der Punkt, dass wir das Hohelied nicht lesen können, ohne von der Art, wie die beiden miteinander sprechen, hin und weg zu sein. Vielleicht sagst du, das hatten wir schon – das ist Bewunderung. Stimmt, aber ich möchte es trotzdem noch einmal als eigenen Punkt hervorheben. Dort, wo Liebe geschieht, finde ich Worte des Lobes. Es gibt eine Bewunderung, die im Herzen stattfindet.
Vielleicht sagst du: „Wow, das ist Bewunderung, die im Herzen stattfindet.“ Diese Art von Bewunderung wird Bastian und Co. nie erreichen. Sie werden niemals wissen, wie du fühlst. Die Gefahr besteht darin, dass wir diese Art von Bewunderung auch als die höchste Form der Bewunderung ansehen – zum Beispiel in der Gemeinde oder in der Ehe. Dann denken wir: „Im Herzen ist doch irgendwie alles in Ordnung.“
Selbst ich, der ich ein echter Fußballmuffel bin, muss zugeben, ich ging davon aus, England gegen Deutschland, da ist Schluss. Und ich war echt erstaunt. Dann dachte ich mir: Argentinien gegen Deutschland, jetzt ist es wirklich vorbei. Doch wenn du da sitzt, traust deinen Augen kaum und denkst dir: Na ja. Selbst ich komme zu dem Schluss, dass es eine positive, messbare Wahrscheinlichkeit gibt, dass wir am Ende gewinnen.
Wenn du mich nach dem Serbien-Spiel gefragt hättest, wie hoch ich die Chancen einschätze, hätte ich gesagt: Standfußball, Freunde, das schaffen wir nicht. Aber jetzt kommt in mir so etwas wie Bewunderung auf. Die Gefahr ist, dass wir sagen: „Ja, Bewunderung ist gut.“ Aber den Sprung schaffen wir nicht, dieser Bewunderung Worte zu geben, sie aus der Ferne in eine für den anderen spürbare Bewunderung in der Nähe zu verwandeln.
Ich gebe gerne zu, ich habe das Hohelied studiert. Dabei stellte sich für mich die Frage: Jürgen, wie oft sagst du eigentlich deiner Frau, dass du sie liebst und dass sie schön ist? Wenn du dieses Buch liest, sagt Salomo jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, ihr, wie schön sie ist. Beim ersten Mal denkst du: Super! Beim zweiten Mal ist es noch okay. Beim dritten Mal denkst du: Du wiederholst dich. Und spätestens beim sechsten Mal denkst du: Man, hast du nichts anderes zu sagen? Aber er sagt es immer wieder.
Die Quintessenz ist: Manchmal ist Theologie ganz simpel. Er sagt es einfach. Dort, wo ehrliche Liebe ist, kommt auch ein Wort hinterher. Wenn du sagst: „Ich habe Liebe zu meiner Frau nur im Herzen und habe ihr doch beim Standesamt gesagt, dass ich nur sie will, ich habe ja gesagt, das müsste doch eigentlich reichen, weil ich zu meinem Wort stehe und ein zuverlässiger Typ bin“, dann sage ich dir: Nein, das ist nicht ausreichend.
Dort, wo wirkliche Liebe ist, da findet auch Lob statt – und es findet noch mehr statt.
Liebe zeigt sich in Aufmerksamkeit und Geschenken
Das Hohelied spricht davon, dass ich die Bedürfnisse des anderen wahrnehme und ihn beschenke.
Eigentlich ist das ein ungewöhnlicher Punkt, aber Salomo schwärmt im Hohelied 1,11 von ihr. Diese Stelle ist im Deutschen schwer vorlesbar, weil man eigentlich eine Viertelstunde erklären müsste, was das Bild bedeutet. Dort sagt er: „Einer Stute an dem Prachtwagen des Pharao vergleiche ich dich, meine Freundin.“
Das ist sicherlich schwer zu verstehen, es sei denn, man weiß, dass eine Stute am Prachtwagen des Fahrers, heutzutage mit Männerfantasien gesprochen, etwa der rote Ferrari ist. Das ist einfach das Edelste, Schnellste und Spritzigste. In diesem Bild kommen Power und Eleganz zusammen. Das ist einfach der „state of the art“ von dem, wovon man träumt. Das sieht er in ihr.
Dann fährt er fort: „Anmutig sind deine Wangen zwischen den Schmuckkettchen, dein Hals mit der Muschelkette.“ Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass eine Frau eher Angst hat, nicht zu dunkel in ihrem Teint zu sein – das ist eher ihre Problemzone. Er sagt aber: „Hey, genau da, wo du vielleicht denkst, dass du dir nicht gefällst, wo du nicht ins allgemeine Schönheitsideal passt, genau an dieser Stelle möchte ich dir sagen: Du gefällst mir.“
Und jetzt kommt der Vers, auf den es mir ankommt: „Goldene Schmuckkettchen wollen wir dir machen mit Perlen aus Silber.“
Also nicht nur: Du bist schön, sondern auch: Ich werde dich beschenken. Ich werde dich mit etwas beschenken, das deine Schönheit aufgreift und dich noch schöner macht.
Da fängt Liebe an. Ja, nicht nur: Ich bewundere dich aus der Entfernung für das, was du bist. Nein, ich gehe auf dich zu. Ich sage dir: Du bist schön – und noch mehr, weil ich dich liebe. Deshalb möchte ich dich beschenken. Ich möchte dich mit etwas beschenken, damit du weißt, dass du schön bist. Und ich möchte dich schöner machen.
Liebe als persönliches Investment
Und der letzte Punkt zum Thema Liebe: Das war also Lob, ein Punkt, Geschenke der letzte Punkt, und das ist der abschließende Punkt, der „Investment“ heißt.
Wir können Liebe nicht leben, ohne uns zu verschenken. Mehrfach finden wir im Hohen Lied Sätze, die sich ungefähr so anhören: Hohelied 2,16 – „Mein Geliebter ist mein und ich bin sein.“
Liebe, wirklich Liebe, passiert an der Stelle, wo ich nicht mehr sage: „Du bist du und ich bin ich“, sondern wo ich sage: „Ich gehöre dir und du gehörst mir.“ Mit anderen Worten: Du bist mir näher, als ich mir selbst nahe bin, weil ich mich dir geschenkt habe.
Liebe ist eine Frage des persönlichen Investments, eine Frage, wie ich mich auf Beziehungen einlasse. Hohelied 6,3 sagt: „Ich gehöre meinem Geliebten und mein Geliebter gehört mir.“
Was das bei mir auslöst, wenn ich das lese, sind solche Gedanken, dass ich merke: Hier wird mir ein Ideal vor Augen gemalt, und das trägt in sich zwei Chancen – eine positive und eine negative.
Die negative ist, dass ich sage: Wenn das Liebe ist, wow, das werde ich nie schaffen. Wenn Liebe so viel zu tun hat mit Bewunderung, mit Nähe, mit Fürsorge, mit Sicherheit, wenn ich mutig oder selbstbeherrscht sein muss, wenn ich nicht streiten darf, wenn ich Hilfe suchen soll, wenn ich loben soll, wenn ich mich und noch mehr verschenken soll – wenn das Liebe ist, weißt du was? Lieber nicht. Das ist mir einfach zu anstrengend, das will ich nicht.
Und ich glaube, dass wir diese Entscheidung ganz schnell treffen, weil Liebe, bevor sie zur Tat wird, erst einmal eine Sache ist, die meine Einstellung betrifft.
Die Bedeutung der Einstellung für die Liebe
Ich habe einige Einwände zu dieser Predigtreihe erhalten, insbesondere drei Stück. Es sind Einwände, von denen ich denke, dass sie berechtigt sind. Es sind Anfragen, ob man das, was ich predige, eigentlich so sagen darf.
Du nimmst Mann und Frau, ziehst deine Liebesprinzipien heraus und stülpst sie der Gemeinde über. Dann sagst du: „Jetzt macht mal was damit. Lasst uns alle lieben, wie Salomo liebt.“ Die Männer denken sich dabei: „Na, ich probiere mal, so mit meiner Frau umzugehen, bevor ich die ganze Gemeinde so liebe.“ Darf man das eigentlich? Solche Prinzipien nehmen und sagen, das ist Liebe? Und wenn wir in Liebe miteinander umgehen wollen, dann bitte so?
Ein Einwand war: „Jürgen, mit so einer Predigt machst du nur noch mehr Druck. Wir schaffen eh schon nicht mehr die Dinge, die wir zu tun haben. Das Leben wird uns zu schwer. Du haust nur noch eins oben drauf. Aha, jetzt sollen wir auch noch lieben.“
Deshalb möchte ich von vorne beginnen und klarstellen: Darum geht es mir gar nicht. Es geht mir nicht darum zu sagen: „Jetzt streng dich bitte an, noch ein bisschen lieber zu sein.“ Worum es mir geht – und deswegen bin ich auf diesem Punkt „Bewunderung“ so herumgesprungen, bis das Brett fast geknackt wäre – ist, dass wir uns, bevor wir überlegen, was ich tun muss, zuerst die Frage stellen: Wie stehe ich zum Menschen?
Von mir aus könnt ihr alles vergessen, was ich gepredigt habe, an der Stelle, wo ihr denkt: „Jetzt soll ich etwas tun.“ Wenn ihr die eine Sache verstanden habt, dann ist das wichtig: Liebe ist eine Frage der persönlichen Einstellung. Ich will das nochmal sagen, damit es nicht falsch verstanden wird: Liebe ist eine Einstellungsfrage. Wie sehe ich den anderen? Was ist er für mich?
Wenn an dieser Stelle Dinge hochkommen, bei denen du merkst, der andere hat für mich einen komischen Wert, ich mag mich gar nicht so mit ihm beschäftigen, wie diese Liebespunkte hier es eigentlich von mir erwarten würden, dann müssen wir unsere Einstellung ändern. Das kostet dich erst einmal noch gar nichts.
Wir können hier in die Gemeinde kommen, oder ich kann das auf jede beliebige Gruppe von Menschen übertragen. Das gilt für die Ehe, für die Familie, für die Gemeinde, und auch für die Situation, wenn du auf der Fennmeile stehst und neben dir jemand ist. Wie sehe ich diese Person? Will ich sie lieben? Will ich ihr begegnen, so wie Gott ihr begegnet? Will ich das sehen, was Gott in sie hineingelegt hat?
Oder interessiert mich ein anderer vielleicht gar nicht so sehr? Vielleicht bin ich ganz froh, dass er mit seinen Problemen mir nicht so nahekommt. Vielleicht definiere ich mich gerade darüber, dass ich nicht so bin, wie er ist, und brauche diese Projektionsfläche, damit ich mit meinem Leben stehenbleiben kann. Vielleicht will ich gar nicht lieben.
Deshalb ist der wichtige Punkt die Frage: Was will ich? Was ist meine Einstellung?
Ein Beispiel für gelebte Bewunderung in der Gemeinde
Christian, darf ich dich als Beispiel bringen? Du hast mir eine Mail geschrieben, die ich gerne nur als Prinzip erwähnen möchte, ohne auf Details einzugehen. Ich habe einfach Christian genommen, weil ich überlegt habe, welches Beispiel ich bringen könnte, das zu dem passt, worum es mir geht. Ihr kennt alle Christian, oder?
Ich weiß nicht, wie ihr über Christian denkt und welche Rolle er in eurem persönlichen Wertesystem spielt. Wenn du bei Christian etwas Negatives finden willst, dann öffnet er dir die Türen dazu ganz leicht. Es ist nicht schwer. Und wenn ich dir sage, du sollst ihn bewundern, dann wirst du vielleicht fragen: Wofür? Vielleicht würdest du sogar sagen, dass dich das überhaupt nicht interessiert. Vielleicht würdest du nicht mehr für ihn beten.
Ich bewundere ihn. Ich bewundere ihn, weil er mir letzte Woche eine Mail geschrieben hat. Eine Mail, in der er mir einen Blick in sein Herz erlaubt hat. Letzten Sonntag habe ich mit ihm gesprochen, und wir haben gesagt: Christian, ich merke, du bist mir an einer Stelle total überlegen. Du hast ein Herz für die Jugendlichen, so zwischen zwölf und vierzehn Jahren, vor allem die Jungen. Das ist genau die Gruppe, die wir im Moment in der Jugendarbeit komplett zu verlieren drohen. Es fällt uns sehr schwer, auch nur einen von ihnen zu halten, und wir haben sie schon teilweise verloren.
Ich habe Christian als jemanden erlebt, der für diese Gruppe ein unglaubliches Herz hat. Er hat gesagt: „Hey, schick mir mal eine Mail, ich möchte anfangen, für diese Gruppe zu beten.“ Und er hat mir zwei Seiten geschrieben, mit Namen. Er hat mir einen tiefen Einblick in sein Herz gegeben, wie er um diese Menschen ringt, wie er mit seinen Möglichkeiten versucht, ihnen zu helfen, ihnen nahe zu sein und ihnen Gott, das Evangelium und die Jugend lieb zu machen.
Ich stand da und war zutiefst beschämt. Es ist so leicht, dachte ich mir, jemanden nur nach seiner äußeren Fassade zu beurteilen, ihn abzulehnen und zu sagen: „Was für ein Typ ist das denn?“ Aber es ist so faszinierend, in das Herz eines Menschen hineinzublicken und plötzlich festzustellen: Da ist jemand, der an einer Stelle eine Leidenschaft hat, die Gott ihm geschenkt hat – für Menschen. Da sehe ich so klein dagegen aus. Da ist er der Riese, und ich bin der Zwerg. Ich bin derjenige, der von ihm lernen muss. Ich bin derjenige, der ihn fragen muss: „Hast du Ideen, was wir an dieser Stelle tun können? Denn ich habe keine.“ Ich bin derjenige, der sagen muss: „Ich habe mich nicht investiert, um diese Jungs zu erreichen, er aber schon.“
Versteht ihr, was ich meine? Das ist Bewunderung. Wie schaue ich auf den, der in dieser Gemeinde neben mir sitzt? Ich glaube, ich könnte das, was ich jetzt mit Christian tun darf, auf jeden hier übertragen: Ihn einfach mal herausstellen als ein Vorbild, als jemanden, von dem ich mir ein Stück abschneiden möchte.
Ich glaube, dass wir das mit jedem Einzelnen tun könnten, der hier sitzt. Denn jeder ist von Gott begabt, beschenkt und in diese Gemeinschaft hineingestellt worden, damit wir ihn lieben. Der Punkt ist nicht, ob der andere liebenswert ist. Die Frage ist, ob ich bereit bin, in meiner Einstellung zu dem anderen all das, was mich von ihm trennt, all das, was mich dazu bringt, mich nicht wirklich um ihn zu kümmern, ihn nicht als Geschenk zu sehen, sondern vielleicht als Belastung – ob ich bereit bin, das mal wegzutun und zu sagen: Ich möchte Liebe leben.
Die Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe
Ein zweiter Einwand kam: Jürgen, wenn du immer betonst, dass wir einander lieb haben sollen, wäre es dann nicht viel wichtiger, zu betonen, dass wir Gott lieb haben sollen? Ist der Blick nach oben nicht wichtiger als der Blick zur Seite?
Ich weiß nicht, ob man an dieser Stelle wirklich sagen kann, dass das eine wichtiger ist als das andere. Ich möchte das auch gar nicht gegeneinander ausspielen. Vielleicht ist ein „sowohl als auch“ hier eine sehr intelligente Lösung.
Was mir jedoch von der Bibel her auffällt, ist, dass der Apostel Johannes im ersten Johannesbrief etwas schreibt, das sich in meinem Leben tatsächlich bewährt hat. Er sagt:
1. Johannes 4,20: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott und hasst seinen Bruder, ist er ein Lügner.“
Überleg mal! Johannes verwendet im ersten Johannesbrief eine sehr klare, fast schwarz-weiße Sprachwahl. Wenn er von „hassen“ spricht, meint er nicht hassen im Sinne von „Ich würde dir jetzt am liebsten mit einem Pickel die Birne einschlagen“. Vielmehr verwendet er „hassen“ so, wie es Jesus gebraucht – als weniger lieben oder mehr lieben.
Wenn jemand seinen Bruder hasst – und im Zusammenhang geht es darum, sich nicht um die Bedürfnisse seines Bruders zu kümmern –, wenn jemand sagt: „Andere Menschen in der Gemeinde sind mir egal. Eigentlich habe ich gar kein Interesse, mich auf sie einzustellen. Ich bin mit meinem Solo-Christsein oder meiner kleinen Clique ganz zufrieden.“ Wenn jemand seinen Bruder hasst, sich nicht um ihn kümmert und sagt: „Ja, ja, aber Gott habe ich lieb“, dann sagt Johannes, ist dieser Mensch ein Lügner.
Der Grund ist einfach, und der Vers geht weiter: „Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat...“ Also, da, wo ich Menschen vor mir habe, aus Fleisch und Blut, und ich liebe sie nicht, lasse ich es an den Dingen einfach mangeln. Sie interessieren mich einfach nicht. Ich will mit ihnen nichts zu tun haben. Ich will mich nicht um sie kümmern, sie bewundern oder in die Beziehung investieren. Ich will keinen Streit schlichten. Ich will das einfach nicht.
Wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, kann nicht Gott lieben, den er nicht gesehen hat.
Es ist einfach: Wir sollen einander lieben. Ich sehe dich. Ich sehe dich. Da steht Felix am Straßenrand. Wo ist er denn? Da, da steht er am Straßenrand am Sonntag, und ich fahre an der Bushaltestelle vorbei, wo er steht. Ich sehe ihn. Es ist urig simpel. Ich kann ihn kaum übersehen. Er steht da. Er kennt mein Auto noch nicht, deswegen braucht er ein bisschen, bis er einsteigt. Aber ansonsten: Ich sehe ihn.
Es ist ganz einfach. Ihn zu lieben heißt, ich halte an und nehme ihn mit. Das ist nicht schwierig.
Gott ist unsichtbar. Gott zu lieben ist die Herausforderung. Oft denken wir, Gott lieben sei das Leichte. Gott zu lieben sei irgendwie so ein Schnippen, dass es einfach passiert. Ich sage dir, das stimmt nicht. Nicht, weil ich das denke, sondern weil es hier steht:
Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, kann nicht Gott lieben, den er nicht gesehen hat.
Wenn ich meine Geschwister in der Gemeinde nicht liebe, wenn ich vorbeifahre und sage: „Lass ihn doch da stehen, er hätte ja früher losgehen können zu Hause.“ Oder wenn ich sage: „Der Bus kommt ja eh irgendwann.“ Wenn ich nicht liebe, dann kann ich Gott nicht lieben. Nicht, dann werde ich irgendwie Gott auch lieben, und das wird schon irgendwie gut sein, weil ich das einfach trenne: Hier ist meine Liebe zu Gott, hier ist meine Liebe zu Menschen, und vielleicht ist das noch nicht so dolle, aber das ist immer gut.
Nein, Johannes bringt es auf den Punkt und verbindet, was zusammengehört. Wir sind als Menschen nicht getrennt. Hier ist mein Kopf, ja, nochmal hier ein Schnitt, ja, und der Kopf gehört irgendwie Gott und das Herz naja, das wollen wir mal sehen.
Wir sind eins.
Das, was ich praktisch liebe im Miteinander, in der Gemeinde – die Bibel nennt das Bruderliebe – ist das Potenzial, das ich habe, um Gott zu lieben.
Gemeinde, Familie, von mir aus auch Gesellschaft, da wo wir auf Menschen treffen, ist das Trainingscamp, um die Liebe zu lernen. Um den Umgang mit einer Person zu lernen, um den liebevollen Umgang mit einer Person zu lernen.
Das, was ich da an Erfahrungen gesammelt habe, wie man eine Person liebt, kann ich nehmen. Denn es lässt sich im Umgang mit Menschen in mir erst zur Gewohnheit und dann zum Charakter werden.
Ich kann das nehmen und sagen: Jetzt gehe ich mit dieser Liebesfähigkeit, mit diesem Potenzial – weil ich weiß, wie man mit anderen Personen umgeht – mit diesem Potenzial in meine Gottesbeziehung hinein.
Deshalb war das mein Ansatz zu sagen: Lasst uns auf dieser horizontalen Mensch-Mensch-Ebene mal ein bisschen nachdenken und lasst uns mal, ich sage mal, die „Salomosula“ mit Beziehung anschauen. Da, wo zwei einfach ja sagen, wo es ständig knistert und knackt und man sagt: Boah, die sind schon ein bisschen zu schnell unterwegs. Das ist einfach ein Liebeslied.
Das kann doch nicht mal die glücklichste Ehe widerspiegeln, was die da so haben. Es ist wie beim Walzer. Ich weiß nicht, ob ihr Walzer tanzen könnt, aber wenn du richtig gut Walzer tanzen kannst, macht das schon unglaublich Spaß. Weil du einfach in Halbdrehungen mal einen Gang runterschaltest. Das ist einfach – oh ja, es muss flutschen.
Und genau das ist es, was Salomosula mitmacht: Die zwei wirbeln umeinander, da funkt es, und du denkst: Hu! Ich möchte das aufgreifen und sagen, in ähnlicher Weise will Gott, dass wir diese Prinzipien nehmen und verstehen als Anreize, einander in der Gemeinde zu lieben.
Die Liebesbeziehung zwischen Vater und Sohn als Vorbild
Jürgen hat mir noch eine Mail geschrieben und möchte auch deinen Einwand einbringen. Er hat gefragt, ob es nicht wichtig wäre, wenn wir uns schon eine Liebesbeziehung anschauen, auch die Liebesbeziehung zwischen Vater und Sohn zu betrachten. Ist das nicht die tiefere Form von Liebe?
Ich glaube, ich habe dich ermutigt, darüber eine Predigt zu halten. Ich hoffe, sie kommt. Ich freue mich darauf.
Trotzdem habe ich mir persönlich überlegt, ob ich jetzt noch etwas zu dieser Liebesbeziehung Vater und Sohn sagen soll. Dabei habe ich mich eigentlich dagegen entschieden. Erstens würde ich dir damit den ganzen Stoff für deine Predigt wegnehmen. Zweitens möchte ich dir vorwegnehmen, dass wir feststellen werden, wenn ich mir das Zentrum dieser Liebesbeziehung anschaue, was im Mittelpunkt steht.
Wisst ihr, was im Zentrum dieser Liebesbeziehung steht? Bewunderung. Denn dreimal spricht Gott vom Himmel, als Jesus sich taufen lässt. Was passiert? Die Himmel reißen auf, und Gott sagt: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“
Wow, das ist doch beeindruckend, oder? Gott spricht das erste Mal, und er sagt: „Schaut ihn euch an.“ Das ist wirklich bemerkenswert.
Wir werden ähnliche Prinzipien wiederfinden, und deshalb bin ich ganz zuversichtlich, dass wir, wenn wir vom Hohelied ausgehen, kaum etwas anderes finden werden.
Abschluss und Einladung zur Entscheidung für Liebe
Ich bin mit meiner Reihe an dieser Stelle fertig. Ich kann niemanden von euch zwingen, mit mir diese Reise anzutreten. Ganz am Anfang hatte ich gesagt, es ist wie ein Abenteuerurlaub. Man studiert ein Buch, man untersucht, wie zwei Menschen aufeinander bezogen sind. Man versucht, Liebe zu begreifen und zu verstehen, wie Liebe funktioniert. Dabei versucht man, 1. Korinther 13 wirklich zu durchdringen, ins Herz vorzustoßen und sich die Frage zu stellen: Will ich den anderen lieben? Bin ich bereit, mich so auf ihn einzulassen, dass ich alles, was passiert ist, alles, was an Vorurteilen da ist, alles, was an Verletzungen, negativen Gedanken und Desinteresse vorhanden ist, einfach hinter mir lasse?
Man sagt: Okay, das ist der Ballast, den muss ich loswerden. Solange das in meinem Herzen da ist, kann ich nicht lieben. Deshalb schaue ich bewusst nach vorne, schaue auf den anderen und sage: Ich wundere mich. Ich konzentriere mich auf die Dinge, bei denen der andere von Gott in einem Maß beschenkt ist, wie ich es einfach nicht bin. So wird der andere mir zum Gegenüber, zur Bereicherung. Der andere und ich zusammen – und damit ein letztes Mal – unsere Fußballmannschaft.
Wenn du versuchst herauszufinden, warum die gewonnen haben, dann weiß ich das bis heute nicht. Ich habe nur einen einzigen Verdacht: Sie spielen tatsächlich zusammen. Sie spielen tatsächlich zusammen. Da ist nicht irgendwie ein Star, bei dem du sagst, 250 Millionen Euro Ablösesumme. Nein, der ist nicht dabei. Dann siehst du plötzlich einen Stürmer, der hinten aushilft. Andere Stürmer sieht man nicht so weit hinten. Ja, genau.
Ich denke, die Mannschaft lebt davon, dass jeder jeden – und jetzt verzeiht mir dieses Wort, aber es passt einfach – liebt. Wo ich sehe, dass einer in Bedrängnis gerät, sprintet der andere hin. Wir spielen zusammen, jeder spielt seine Rolle. Das begeistert mich, selbst wenn einer daneben schießt, was bei unseren Leuten relativ oft vorkommt – erschreckend oft, muss man ehrlich sagen. Dann regt sich auf dem Platz keiner auf, sondern sie bleiben als Team beieinander.
Ich finde das total spannend. Das ist es, was mich eigentlich beeindruckt: nicht die Höhe der Siege, sondern dass da eine Mannschaft auftritt, die etwas im Kern verstanden zu haben scheint – etwas, das jede Gemeinde verstanden haben muss. Wir sind ein Team, wir spielen zusammen. Und das, was uns zusammenhalten muss, ist Liebe.
Ich wünsche uns – ich werde morgen Abend nicht bei der Gemeindestunde dabei sein – dass wir einen Weg finden, diesen Blick der Liebe füreinander zu entdecken, vielleicht neu zu entdecken oder Liebe neu zu buchstabieren. Und dann einen gemeinsamen Weg zu gehen.
Da ist der Zyklus schon mal aufgemalt, den uns Johannes Reimer vorgestellt hat. Vielleicht ist es das, wir werden sehen. Aber es ist ein Weg, der uns die Chance gibt, diese Liebe zu leben.
Und wo fängt das an? Es fängt bei der Entscheidung an, die du treffen musst: Wie möchte ich den anderen sehen? Wie möchte ich auf den anderen zugehen?