Ich möchte alle ganz herzlich zu diesem Bibelstudientag heute Morgen begrüßen. Das Thema lautet: Welcher ist der ganz exakte Bibeltext? Mehrheitstext kontra Nestle-Aland.
Moderne Übersetzungen des Neuen Testaments weisen über fünf Unterschiede zu früheren Bibelübersetzungen aus der Zeit der Reformation auf. Dies liegt angeblich an viel besseren Handschriften, die erst in neuer Zeit entdeckt wurden, das heißt im 19. und 20. Jahrhundert.
Diese Handschriften sind nun in den modernen wissenschaftlichen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments von Nestle-Aland den heutigen Bibelübersetzern zur Verfügung gestellt worden.
In den vergangenen Jahren ist eine Diskussion über den richtigen Grundtext des Neuen Testaments entbrannt. Welche Textausgabe soll bei der Übersetzung verwendet werden? Der Textus Receptus, der Text von Nestle-Aland oder der Mehrheitstext?
Es stellt sich also die Frage, welche Textausgabe den Urtext mit höchster Genauigkeit widerspiegelt. Heute werden wir sehen, dass neuere Forschungsergebnisse den Nestle-Aland-Text gründlich in Frage stellen und die Zuverlässigkeit des traditionellen Mehrheitstextes belegen.
Wir schauen uns zusammen die wichtigsten wissenschaftlichen Argumente in dieser Frage an. Dabei werden wir umso deutlicher sehen, mit welcher erstaunlichen Präzision das Neue Testament bis in unsere Zeit überliefert worden ist. Ganz in Übereinstimmung mit dem prophetischen Wort des Sohnes Gottes in Lukas 21,33: „Der Himmel und die Erde werden vergehen. Meine Worte aber werden nicht vergehen.“
Einführung in die Debatte um den richtigen Bibeltext
Nun, bevor man überhaupt in diese Debatte einsteigt – ich spreche nicht gerne von einem Streit, denn wenn Gläubige über solche Fragen streiten, dann stimmt etwas nicht.
Im 2. Timotheus 2 werden wir ganz klar angewiesen: Ein Knecht des Herrn soll nicht streiten. Es geht also nicht um einen Streit, sondern um eine Debatte, eine sachliche Auseinandersetzung. Wir wollen herausfinden, was Fakt ist und was nicht.
Um bei dieser Frage mitreden und mitdenken zu können, braucht es ein gewisses Basiswissen. Dieses möchte ich im ersten Teil vermitteln. Es ist eine großartige, gute Botschaft.
Umfang und Bedeutung der Handschriftenüberlieferung
Heute gibt es etwa 5.760 griechische Manuskripte des Neuen Testaments. Diese stammen aus allen Jahrhunderten, vom ersten bis ins fünfzehnte oder sechzehnte Jahrhundert.
Dabei handelt es sich um 124 Papyri, also Handschriften, die auf Papyrus geschrieben wurden. Außerdem gibt es 318 Unzialen, das sind Handschriften, die ausschließlich mit griechischen Großbuchstaben verfasst wurden. Weiterhin existieren 2.882 Minuskelhandschriften, die nur mit griechischen Kleinbuchstaben geschrieben sind. Schließlich gibt es noch 2.436 Lektionarien, das sind Handschriften, die speziell für die Vorlesung im Gottesdienst vorbereitet und eingerichtet wurden.
Zusammen ergibt das eine beeindruckend große Zahl von Handschriften. Das ist besonders bemerkenswert im Vergleich zu griechischen und lateinischen Klassikern wie Cicero, Caesar oder Platon. Für deren Werke ist man oft schon dankbar, wenn man etwa zehn Handschriften vorfindet.
Beim Neuen Testament jedoch verfügen wir für diese 27 Bücher über weit mehr als 5.700 griechische Handschriften.
Die zeitliche Nähe der Handschriften zum Urtext
Zusätzlich gibt es eine bedeutende Entdeckung: Der Abstand zwischen der Originalhandschrift und den ältesten erhaltenen Abschriften beim Neuen Testament beträgt nur einige Jahre.
Im Gegensatz dazu ist es bei den griechischen und lateinischen Klassikern üblich, dass diese Abstände zwischen neunhundert und tausenddreihundert Jahren liegen.
Trotzdem, ich erinnere mich, dass wir zum Beispiel Ciceros Briefe im Schulunterricht auf Latein gelesen haben. Keiner meiner Mitschüler hat daran gezweifelt, dass wir tatsächlich die authentischen Briefe von Cicero lesen würden.
Beim Neuen Testament hingegen treten schnell Zweifel auf: Haben wir wirklich die ursprüngliche und damalige Bibel vorliegen? Warum gibt es bei den klassischen Texten keine Zweifel, aber beim Neuen Testament solche, obwohl diese Zweifel eigentlich unbegründet sind?
Bedeutende frühe Handschriften und ihre Datierung
Nun möchte ich besonders auf die ältesten Handschriften hinweisen, insbesondere auf den P46. Das ist die Abkürzung für Papyrus Nummer 46, wobei diese Papyrushandschriften schön durchnummeriert werden. Diese Handschrift umfasst fast alle Paulusbriefe, und der größte Teil davon ist noch erhalten.
Diese Handschrift wurde erstmals in den 1930er Jahren bekannt. Damals entschied ein Gelehrter aufgrund einer Seite und des Schriftbildes, dass diese Handschrift etwa um 200 nach Christus geschrieben wurde. Diese Datierung findet man heute in der wissenschaftlichen Literatur überall, P46 wird allgemein auf etwa 200 datiert.
Vor einigen Jahren jedoch hat ein koreanischer Forscher namens Kim, mit dem ich einmal telefoniert habe, eine gründliche Untersuchung durchgeführt. Er konnte kaum Deutsch, ist aber ein großer Spezialist für neutestamentliche Handschriften. Wir wissen genau, wie sich die Schrift im Lauf der Jahrzehnte verändert hat – ähnlich wie im Deutschen, wo unsere Großmütter anders geschrieben haben als wir heute. So verändert sich die Schrift in allen Sprachen. Aufgrund des Schriftbildes kann man daher schon ungefähr sagen, wann etwas geschrieben wurde.
Im Griechischen ist dies besonders detailliert möglich, da sich die Wissenschaft der Paläographie sehr entwickelt hat. Kim kam zu dem Schluss, dass diese Handschrift aus der Zeit zwischen 75 und 100 nach Christus stammt. Diese Erkenntnis veröffentlichte er auch in der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift Biblica.
Das bedeutet, dass es sich um eine Paulusbriefsammlung aus dem ersten Jahrhundert handelt, also aus den Jahren nach dem letzten Brief von Paulus. Dieser war der zweite Timotheusbrief, verfasst um 67 nach Christus. Es handelt sich also bereits im ersten Jahrhundert um eine Sammlung mit allen Paulusbriefen, gefunden in Ägypten. Paulus selbst hat dorthin keinen Brief geschrieben; seine Briefe gingen nach Italien, Griechenland und in die heutige Türkei.
Übrigens ist auch der Hebräerbrief in dieser Sammlung enthalten. Er ist nach dem Römerbrief und vor dem ersten Korintherbrief eingeordnet. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Christen im ersten Jahrhundert bereits wussten, dass dieser Brief von Paulus stammt.
So haben wir mit diesem Manuskript etwas ganz Bedeutendes.
Weiter möchte ich den P64 erwähnen, den sogenannten Jesuspapyrus. Er wurde vor einigen Jahren durch Carsten Peter Thiede bekannt, der eine gründliche Datierungsarbeit geleistet hat. Er kam zu dem Schluss, dass dieser Papyrus vor 66 nach Christus geschrieben wurde. Er enthält wenige Verse aus Matthäus 26.
Das ist ebenfalls sensationell, denn Bibelkritiker hatten behauptet, das Matthäusevangelium sei klar nach dem Jahr 70 nach Christus geschrieben worden. Das begründeten sie damit, dass Christus in Matthäus 24 die Zerstörung des Tempels voraussagt. Da es für Atheisten, Rationalisten und Agnostiker keine echte Prophetie geben könne, müsse das Matthäusevangelium nach 70 entstanden sein.
Doch dieser Papyrus stammt aus der Zeit vor 66 nach Christus und ist bereits eine Abschrift. Auch das ist sensationell.
Dann gibt es noch den berühmten P52. Dieses kleine Fragment ist hinten und vorne beschrieben und enthält Verse aus Johannes 18. Diese Handschrift wird heute allgemein auf etwa 115 nach Christus datiert. Auch das ist sensationell, denn das Johannes-Evangelium wurde etwa zwischen 95 und 98 geschrieben.
Das bedeutet, dass P52 eine Abschrift aus den Jahren nach dem Original ist. Das Original wurde in der heutigen Türkei verfasst, die Abschrift jedoch in Ägypten. Das zeigt, wie schnell sich diese Schriften verbreitet haben.
Das ist alles sehr eindrücklich. In der Bibelkritik etwa im 19. Jahrhundert wurde großspurig behauptet, das Johannesevangelium sei eine Fälschung aus dem zweiten Jahrhundert, genauer aus dem späteren zweiten Jahrhundert nach Christus. Nun haben wir aber eine Abschrift aus dem Jahr 115 nach Christus. Damit werden solche Theorien auf einen Schlag vollständig widerlegt und vom Tisch geworfen.
Zum Schluss möchte ich noch den P66 nennen. Diese Handschrift wird üblicherweise auf etwa 200 datiert. Herbert Hunger, einer der führenden Spezialisten für Handschriften in Europa, hat sie gründlich untersucht. Er teilte mir persönlich am Telefon mit, dass er P66 auf etwa 125 nach Christus datiert.
P66 ist quasi eine umfassende Handschrift des Johannesevangeliums. Das sind beeindruckende Erkenntnisse, die uns zeigen, wie zuverlässig das Neue Testament überliefert ist. Wir gelangen also sogar bis ins erste Jahrhundert nach Christus zurück.
Bedeutung der Handschriften für interreligiöse Diskussionen
Es ist wichtig, dies im Blick zu behalten, wenn man mit Muslimen spricht, die behaupten, dass Christen das Neue Testament verfälscht haben, so wie die Juden das Alte Testament. Dann stellt sich die Frage: Wann soll diese Verfälschung stattgefunden haben? War es zur Zeit Mohammeds im siebten Jahrhundert nach Christus oder vielleicht schon früher, im sechsten oder fünften Jahrhundert?
Wir verfügen über Handschriften aus dem siebten Jahrhundert, aber auch aus dem sechsten, fünften, vierten und dritten Jahrhundert bis hin zum ersten Jahrhundert. Damit können wir eindeutig zeigen, dass die Behauptungen des Islams nicht stimmen.
Darüber hinaus gibt es auch Handschriften aus dem achten, neunten, zehnten, elften, zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert. Anhand dieser Quellen lässt sich klar nachweisen, dass die Aussagen über eine Verfälschung nicht zutreffen.
Schon in den frühesten Handschriften ist belegt, dass Jesus Christus als Gott und als ewiger Sohn Gottes bezeugt wird. Diese Texte sind keine Fälschungen der Christen, sondern können eindeutig belegt werden.
Die Entstehung und Bedeutung des Mehrheitstextes
Aber dann dreht sich natürlich der Spieß um. Wenn man sagt, der Koran als das Wort Allahs behauptet, dass die Christen das Neue Testament verfälscht hätten und deshalb darin gesagt werde, dass Jesus Gott sei – was man widerlegen kann –, dann wird damit natürlich der Koran diskreditiert und als Wort Gottes widerlegt.
Es ist jedoch so, dass von den insgesamt 5.760 griechischen Handschriften etwa 80 eine ganz beeindruckende Einheit bilden. Diese stimmen einfach überwältigend exakt miteinander überein. Diese Gruppe nennt man den Mehrheitstext, abgekürzt mit MT.
Nun ist es so, dass Menschen beim Abschreiben immer Fehler machen. Wir dürfen also nicht annehmen, dass wir Abschriften hätten, die vollkommen und fehlerlos sind. Jeder Mensch macht beim Abschreiben Fehler, und das ist auch bei diesen Abschreibern geschehen.
Aber jetzt können wir diese Handschriften miteinander vergleichen und feststellen, wo ein Abschreibfehler vorliegt und wo nicht. Wenn wir tausend Handschriften haben, die denselben Satz buchstabengenau gleich überliefern, und eine Handschrift weicht davon ab, dann können wir eindeutig sagen, dass die abweichende Handschrift den Fehler enthält. Die anderen bilden ein eindeutiges Zeugnis.
Diese Unterschiede in Handschriften nennt man Lesarten. Ich erkläre das, weil oft so selbstverständlich von Lesarten gesprochen wird, aber es gibt immer wieder Bibellesende, die nicht wissen, was eine Lesart ist, obwohl es ein deutsches Wort ist.
Lesart bedeutet Folgendes: Ich möchte ein Beispiel geben. In Johannes 1,18 steht im Mehrheitstext: „Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgetan.“ Im Nestle-Aland-Text steht hingegen: „Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Gott, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgetan.“
Übrigens habe ich in der Fußnote vermerkt, dass in einem Fragment mit dem Titel „Auszüge von Theodotus“, einem alten Kirchenlehrer, berichtet wird, dass die Valentinianer – das waren Irrlehrer aus der Frühzeit der Christenheit, nämlich Gnostiker – die Lesart „eingeborene Gott“ benutzten. Genau diese Lesart findet sich in sechs Handschriften, auf die sich der Nestle-Aland-Text beruft.
Der Mehrheitstext beruft sich auf über 900 Handschriften, die „Sohn“ statt „Gott“ verwenden. Die Lesart ist also entweder „Sohn“ oder „Gott“.
Hier haben wir also gleich noch einen kirchengeschichtlichen Hinweis durch das Theodotus-Fragment, wie diese Lesart „Gott“ entstanden ist. Die Gnostiker, eine Irrlehre-Bewegung, die schon im ersten Jahrhundert begann, werden vom Apostel Paulus ausdrücklich erwähnt. In 1. Timotheus 6,20 warnt Paulus vor dieser Richtung als tödlicher Irrlehre. Dort heißt es:
„O Timotheus, bewahre das anvertraute Gut, indem du dich von den ungöttlichen, eitlen Reden und Widersprüchen der fälschlich so genannten Erkenntnis (griechisch: Gnosis) wegwendest, zu welcher sich bekennend etliche vom Glauben abgeirrt sind. Die Gnade sei mit dir!“
Bereits in den 60er Jahren warnt Paulus also vor der Gnosis, einer Irrlehre, die den Glauben zerstört. Diese Irrlehrer sagten, der Gläubige müsse immer mehr in höhere Erkenntnisse aufsteigen. Wenn er zum Glauben komme, sei das nur die unterste Stufe. Danach brauche es weitere Erlebnisse, um höher zu kommen.
Sie behaupteten außerdem, Jesus Christus sei nicht der ewige Gott. Er sei ein späteres Geschöpf Gottes, also von göttlichem Wesen, aber nicht der ewige Gott. Außerdem wurde er nicht wirklich Mensch, sondern habe nur einen Scheinkörper angenommen – und so weiter.
Diese Notiz zeigt also, dass es Irrlehren gab, die mit Johannes 1,18 argumentierten. Die Verszählung gab es damals natürlich noch nicht, aber am Anfang des Johannes-Evangeliums steht „der eingeborene Gott“. Damit konnte man behaupten: Jesus Christus ist zwar ein göttliches Wesen, aber nicht von Ewigkeit her. Er wurde geboren und wurde dann zu einem göttlichen Wesen.
In diesem Fall können wir also nachweisen, dass die Lesart „Gott“, die in sechs Handschriften vorkommt, einen direkten Zusammenhang mit dieser Irrlehre hat. Sie stammt aus der Gnosis.
Die überwältigende Mehrheit der Handschriften zeigt jedoch, dass dies nicht der richtige Text ist. Trotzdem hat der Nestle-Aland-Text diese Lesart aufgenommen, und sie wird als wissenschaftliche Errungenschaft der Neuzeit präsentiert.
Die Rolle des Textus Receptus in der Reformationszeit
Ja, jetzt haben wir schon einiges mehr erklärt. Ursprünglich wollte ich nur grundsätzlich erklären, was eine Lesart ist. Nun gehen wir weiter.
Die relativ wenigen Mehrheitstexthandschriften, die in der Reformation im sechzehnten Jahrhundert zur Verfügung standen, nennt man heute den Textus receptus, abgekürzt TR. Das bedeutet „der überlieferte Text“. Die katholische Kirche hatte über Jahrhunderte hinweg die Bibel in der lateinischen Übersetzung, der Vulgata, benutzt, die etwa ab 400 nach Christus entstand.
Die Reformatoren entdeckten die Bibel neu. Die Reformation begann am 31. Oktober 1517 mit den öffentlich angeschlagenen Thesen von Martin Luther. Die Reformatoren betonten unter anderem „sola scriptura“ – allein die Schrift. Für sie war es wichtig, dass der Glaube nur auf das Wort Gottes abgestützt wird, nicht auf die Entscheidungen von Konzilien, Päpsten oder Tradition – also auf das Wort allein.
Darum hat auch Luther in seinem Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ in einer weiteren Strophe gedichtet: „Sie sollen lassen stehen und keinen Dank dafür haben.“ Das bedeutet, man soll das Wort so stehen lassen, wie es da ist, ohne jemandem ein spezielles Dankeschön dafür zu schulden, dass die Bibel unangefochten erhalten bleibt.
Die Reformatoren sagten sich: Wichtig ist jetzt, dass die Bibel in Landessprachen übersetzt wird, damit auch einfache Leute die Bibel selbst lesen und verstehen können. Nicht mehr die lateinische Übersetzung, denn diese konnten nur Gelehrte lesen, nicht einmal alle einfachen Priester beherrschten Latein. Lateinisch war für sie fremd, wenn sie nicht entsprechend ausgebildet waren.
Also sollte die Bibel in die Landessprachen übersetzt werden. Aber welche Textgrundlage sollte man dafür benutzen? Die Reformatoren entschieden, wieder die Grundsprache zu verwenden. Sie übersetzten die Bibel aus griechischen Handschriften, nicht mehr aus einer Übersetzung eine weitere Übersetzung zu machen – das war nicht ideal.
Interessant ist Folgendes: Kurz davor, im Jahr 1453, wurde durch die Türken das Oströmische Reich zerstört. Die Türken überrannten alles. Das Oströmische Reich war zwar immer mehr geschrumpft, aber in diesem Reich sprach man noch Griechisch. Deshalb gab es dort viele griechische Handschriften.
Durch den Krieg und die Zerstörung des Oströmischen Reiches flohen viele Gelehrte mit griechischen Bibelhandschriften in den Westen. So kamen diese Handschriften in Kontakt mit den Reformatoren. Es war nicht unbedingt nötig, in den Vatikan zu gehen, um dort Handschriften zu erhalten – das war ohnehin schwierig für die Reformatoren.
Stattdessen hatten Gelehrte nun griechische Handschriften im Privatbesitz. Erasmus druckte dann das erste Neue Testament auf Griechisch. Danach erschienen weitere Drucke. So wurde das Neue Testament ab der Reformation in Landessprachen übersetzt, aber eben aus griechischen Handschriften.
Damals standen nicht fünf, sondern eine recht eingeschränkte Anzahl Handschriften zur Verfügung. Diese damals bekannten Mehrheitstext-Handschriften nennt man den Textus receptus.
Wir sehen also: Der Textus receptus ist eigentlich eine Spezialform des Mehrheitstextes. Man muss also nicht drei Lager machen, sondern kann sagen: Textus receptus und Mehrheitstext auf der einen Seite und den Nestle-Aland-Text auf der anderen Seite.
Übrigens sieht man hier auch die Führung Gottes: Im 15. Jahrhundert, gerade vor der Reformation, wurde die Druckerkunst erfunden. Dadurch konnte die Bibel in großer Auflage kopiert und verbreitet werden. Genau zur richtigen Zeit, als die Bibel unter das Volk kommen sollte, entstand diese Erfindung.
Es ist erstaunlich, wie die Weltgeschichte verlief: Der Untergang des Oströmischen Reiches durch die Türken, die Erfindung der Buchdruckerkunst und dann die Reformation mit der Rückkehr zum griechischen Text – das ist beachtlich.
Noch etwas: Die Türken, also die Muslime, schlugen das Oströmische Reich nieder und wurden im sechzehnten Jahrhundert zur Gefahr für Westeuropa. Sie kamen bis nach Wien. Dadurch stand der führende Kaiser Europas unter dem Druck der Muslime und konnte die aufkommende Reformation nicht sofort militärisch niederschlagen.
So waren die Muslime quasi die Bedrohung für Europa. Doch im Schatten dieser muslimischen Gefahr konnte sich die Reformation als Erweckungsbewegung entfalten. Das ist ebenfalls erstaunlich.
Die Entwicklung der Textgrundlage im 19. und 20. Jahrhundert
Und so kamen dann später die großen Religionskriege, nachdem die Reformation eigentlich schon richtig Fuß gefasst hatte.
Nun gehen wir im Skript einen Punkt weiter. In der Reformation wurde gesagt: Zurück zu den Quellen! Die Übersetzung des Neuen Testaments sollte aus dem griechischen Grundtext erfolgen. So wurde die Lutherbibel übersetzt, ebenso Zwingli und später die King-James-Bibel in England – alles auf der Basis des Textus receptus.
Erst im 19. Jahrhundert wurden der Forschung Manuskripte zugänglich, die aus der Zeit vor 400 nach Christus stammen. Besonders erwähnenswert ist der Codex Sinaiticus, auch kurz Codex Aleph genannt. Man verwendet das hebräische Aleph, um diese Handschrift zu kennzeichnen. Sie wird heute auf 330 bis 350 nach Christus datiert.
Der sogenannte Codex Vaticanus, kurz Codex B, stammt aus der Zeit 325 bis 315 nach Christus. Er befand sich schon lange in der Bibliothek des Vatikans, doch niemand hatte sich wirklich darum bemüht. Jetzt ist diese Handschrift bekannt geworden. Das war natürlich eine Sensation, denn bisher konnte man nur bis etwa 400 nach Christus mit Handschriften zurückgehen. Doch was geschah in der Zeit davor? Plötzlich fand man Handschriften, die noch älter sind.
Nun versteht man, warum der junge Tischendorf den Wunsch hatte, möglichst alte Handschriften zu finden, die uns nahe an die Urschriften heranführen sollten. Deshalb maß er der im Sinaitikoster entdeckten Handschrift eine so große Bedeutung bei. Er hoffte, diese Handschrift führe uns näher an das Original heran als alles, was man bisher hatte.
Diese beiden Handschriften, Sinaiticus und Vaticanus, bilden die wichtigsten Zeugen für den Nestle-Aland-Text. Wenn man einem Vertreter des Nestle-Aland-Textes das sagt, wird er entgegnen, dass es nicht nur diese beiden seien. Es gäbe noch viele Papyri, Minuskeln und andere Handschriften, die diesen Text ebenfalls gut überliefern. Dennoch ist die wichtigste Grundlage Sinaiticus und Vaticanus.
Das kann man leicht überprüfen: Man nimmt eine Ausgabe und schaut in den Fußnoten nach, welche Lesart gewählt wurde und welche nicht. Dabei erkennt man, dass Sinaiticus und Vaticanus eine führende Rolle bei der Wahl der Lesart spielen. Das müssen wir gut festhalten.
Im 20. Jahrhundert wurden weitere Entdeckungen gemacht. Immer mehr Handschriften wurden gefunden, darunter auch sehr alte. Die ältesten stammen aus Jahrhunderten vor Sinaitikus und Vatikanus. Diese Papyri, die im 20. Jahrhundert entdeckt wurden, stammen praktisch alle aus Ägypten.
Das hat einen guten Grund: Ägypten hat ein sehr spezielles Klima. Besonders Oberägypten ist so trocken und heiß, dass Papyrushandschriften dort Jahrtausende überdauern können. In feuchteren Gebieten, wie Italien oder Griechenland, können Handschriften nicht so lange erhalten bleiben. Deshalb findet man die ältesten Handschriften vor allem in Ägypten.
Diese Papyri bestätigten im 20. Jahrhundert, dass die Wahl von Sinaitikus und Vatikanus eine gute Wahl war. Sie bestätigten viele Einzelheiten und zahlreiche Lesarten, die in diesen beiden großen Handschriften gefunden wurden.
Wir können also festhalten: Die Wahl von Sinaitikus und Vatikanus war eine gute Entscheidung. Frühere Manuskripte aus Italien, Griechenland und Kleinasien sind aus klimatischen Gründen leider zerstört worden. Theoretisch könnte es sein, dass man dort etwas findet, doch es ist unwahrscheinlich, dass es so alte Handschriften gibt wie in Ägypten. Bisher hat man keine gefunden.
Man könnte jedoch behaupten, wenn man vom Mehrheitstext überzeugt ist, dass man in Griechenland oder Italien Handschriften aus früherer Zeit finden könnte, die mit dem Mehrheitstext übereinstimmen. Doch das ist nur eine Behauptung und wissenschaftlich bisher nicht bewiesen.
Die Kritik an Mehrheitstext und Textus Receptus durch Westkott und Hort
Ab dem neunzehnten Jahrhundert begannen viele Forscher, den ältesten Manuskripten aus Ägypten den Vorzug zu geben. Der Codex Sinaiticus stammt eindeutig aus Ägypten, und auch der Codex Vaticanus wird von vielen Gelehrten als ägyptischen Ursprungs betrachtet. Wichtige Persönlichkeiten in dieser Entwicklung waren zunächst Tischendorf sowie die beiden Gelehrten Westcott und Hort, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zusammenarbeiteten. Im zwanzigsten Jahrhundert bauten Nestle und Aland auf den Arbeiten von Westcott, Hort und Tischendorf auf.
Ganz wichtig ist, dass es Westcott und Hort gelang, den Mehrheitstext vollständig zu diskreditieren. Durch ihre Veröffentlichungen überzeugten sie die wissenschaftliche Welt davon, dass der Textus Receptus, also der Mehrheitstext, eigentlich eine sehr schlechte Überlieferung darstellt. Wenn man vom Mehrheitstext spricht und tausend Handschriften hat, sollte man sich das nicht so vorstellen, als ob tausend unabhängige Zeugen vorliegen. Vielmehr handelt es sich um tausendmal dieselbe Quelle beziehungsweise denselben Zeugen.
Sie erklärten, dass es sich um Kopien desselben Textes handelt, der an sich von schlechter Qualität ist und aus einer späteren Zeit stammt. Selbst wenn es viele Zeugen gibt, müssen diese nicht einzeln als unabhängige Belege gezählt werden, da sie inhaltlich identisch sind. Diese Erkenntnis schlug ein, und so wurde der Textus Receptus beziehungsweise Mehrheitstext in theologischen Ausbildungsstätten weitgehend beiseitegelegt.
Ich betone auch, dass dies in bibeltreuen Kreisen und in Europa allgemein gelehrt wird: Der wirklich wissenschaftlich vertretbare und exakte Text ist der Nestle-Aland-Text. Die Vorstellung, dass der Mehrheitstext etwas Gutes sei, ist überholt. Er ist im Grunde nur eine vielfache Kopie desselben Textes.
Diese Überlegung erinnert mich an eine Bemerkung des russischen Komponisten Strawinsky. Er sagte einmal über Vivaldi, dass dieser nicht hunderte verschiedener Konzerte geschrieben habe, sondern vielmehr hunderte Male dasselbe Konzert.
Mit den Mehrheitstexthandschriften verhält es sich jedoch anders, als man früher dachte. Wenn man tausend Handschriften hat, sind das tatsächlich tausend Zeugen. Warum das so ist, werde ich gleich noch erläutern.
Die Behauptung einer kirchlichen Rezension und ihre Widerlegung
Nun, wie gelang es Westcott und Hort, diesen Text wirklich als schlecht und verächtlich hinzustellen? Sie behaupteten, der Mehrheitstext sei das Ergebnis einer umfassenden Rezension des Neuen Testaments um 350 nach Christus. Die Kirche habe im vierten Jahrhundert eingegriffen und quasi festgelegt: „Das ist der Text, dem wir folgen.“ Alle Handschriften, die nicht damit übereinstimmen, hätten keine Bedeutung mehr.
Darum sei in den folgenden Jahrhunderten dieser Mehrheitstext so dominierend geworden, und alle anderen Lesarten seien immer mehr verschwunden – eben dank dieser Überarbeitung und gründlichen Veränderung des Neuen Testaments um 350 nach Christus.
Übrigens springen natürlich noch andere auf diesen Zug auf, zum Beispiel die New Ager. Sie sagen ebenfalls, dass im ursprünglichen Neuen Testament früher etwas von Reinkarnation gestanden habe. Doch die Kirche habe im vierten Jahrhundert – das war die Zeit, als das Christentum Staatsreligion wurde, die Zeit der konstantinischen Wende – die Bibel verändert und alle Stellen über Reinkarnation entfernt.
Bereits das, was ich bisher erklärt habe, reicht aus, um das zu widerlegen. Wir haben Handschriften, die bis ins dritte, zweite und erste Jahrhundert zurückreichen, und nirgends findet man etwas von Reinkarnation. Das ist völliger Unsinn!
Auf dieser Welle reitet auch der Film „Da Vinci Code“ von Dan Brown. Sogar Intellektuelle fallen darauf herein. Ein Bekannter von mir, der eine hohe Position als Ökonom in einer Bank hat, erzählte mir, dass seine Kollegen sagen: „Du hast doch auch schon das Buch gelesen? Jetzt weiß ich endlich, was mit dem Neuen Testament los ist.“ Dieses Buch behauptet, dass die Kirche im vierten Jahrhundert die Bibel vollkommen verfälscht habe und alles, was ihr nicht passte, verändert habe. Doch in diesem Buch, dem „Da Vinci Code“, finde man angeblich endlich die Wahrheit.
Das ist doch erstaunlich. Man müsste die Leute nur fragen: Was ist das für ein Buch? Ein Sachbuch? Nein, ein Roman. Aha. Wenn ich etwas Sachliches wissen will, lese ich keinen Roman, sondern ein Sachbuch. Und selbst bei Sachbüchern kann es fraglich sein, ob sie wirklich sachlich sind, aber doch eher als bei einem Roman, oder?
Und dennoch haben viele Leute das massenhaft geglaubt, weil solche Behauptungen einfach in die Welt gesetzt werden.
Ab jetzt haben wir schon die Argumente. In der Handschrift P46, einer Paulus-Handschrift aus dem ersten Jahrhundert nach der Datierung von Kim, findet sich nichts von Reinkarnation. Auch in Handschriften aus dem zweiten und dritten Jahrhundert gibt es keinerlei Hinweise darauf. Das ist überhaupt nicht wahr.
Oder die Behauptung, wie sie auch im „Da Vinci Code“ vorkommt: Jesus als Gott sei eine Erfindung des vierten Jahrhunderts. Darum habe es das Konzil von Nicäa 325 gegeben, wo beschlossen wurde, dass Jesus Gott sei und dem Vater gleichgestellt werde. Das sei eine spätere Erfindung, das Neue Testament habe das ursprünglich nicht enthalten.
Doch wir können das Gegenteil zeigen: In P46 und all den anderen Handschriften, die ich erwähnt habe, etwa P66, ist die Gottheit Christi ganz klar belegt.
Die Individualität der Mehrheitstexthandschriften
Westcott und Hort behaupteten, dass tausend Handschriften tausendmal dasselbe enthalten. Das ist jedoch nicht korrekt. Wenn ich einen Brief habe, der beweist, dass jemand etwas Bestimmtes getan hat, könnte ich diesen Brief tausendmal kopieren und sagen, ich habe tausend Zeugen. Doch das wäre nicht richtig, denn es handelt sich immer um denselben Zeugen, nur tausendfach kopiert.
Beim Mehrheitstext verhält es sich anders: Jede Handschrift ist individuell und weist ihre eigenen Schreibfehler auf. Wenn man tausend oder sogar dreitausend Handschriften betrachtet, oder sagen wir vier Mehrheits-Text-Handschriften, dann haben alle ihre eigenen Fehler. Es ist sogar so, dass man kaum Handschriften findet, bei denen man sagen könnte, dies sei die Mutterhandschrift und jene die Tochterhandschrift.
Das bedeutet, alle diese Handschriften sind eigentlich Waisenkinder, ohne Vorfahren und ohne Nachfahren. Sie stehen isoliert für sich. Einen Stammbaum kann man nicht erstellen. Mit wenigen Handschriften konnte man zwar eine Art Familie bilden, aber bei den meisten muss man sagen, sie sind alle Waisenkinder.
Jede Handschrift hat ihre eigenen Fehler, aber das Interessante ist: Diese Fehler konnten sich nie groß verbreiten. Man sieht, dass ein Fehler in einer Handschrift auftaucht und auch in einer anderen, aber die Verbreitung bleibt beschränkt. Die Mehrheit der Handschriften gibt ein klares Zeugnis ab. Man muss nicht denken: „Aha, hier ist ein Schreibfehler, den findet man 500-mal hier und 300-mal dort.“ Nein, die Einheit bleibt bestehen.
Trotzdem kann man sagen, dass jedes einzelne Manuskript ein unabhängiger Zeuge ist. Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass es keinen Einheitsbrei gibt, den man auf eine Musterhandschrift aus dem vierten Jahrhundert zurückführen könnte, von der alle späteren Abschriften wörtlich übernommen wurden.
Der Mehrheitstext besitzt trotz seiner erstaunlichen inneren Übereinstimmung genügend Unterschiede, die zeigen, dass er eine Vielzahl von verschiedenen Ursprungsquellen repräsentiert. Die große Übereinstimmung, die er dennoch enthält, ist ein wichtiges Argument für seine Authentizität, Ursprünglichkeit und Echtheit.
Die Einteilung der Handschriften in Textgruppen
Ab dem neunzehnten Jahrhundert versuchte man, die Handschriften in Gruppen zusammenzufassen. So bezeichnete man beispielsweise die Handschriften, die heute die Grundlage für den Nestle-Aland-Text bilden, wie den Codex Vaticanus und den Codex Sinaitikus sowie später auch die alten Papyri, als den alexandrinischen Text. Dieser Name leitet sich von der Stadt Alexandria in Ägypten ab.
Den Mehrheitstext nennt man den byzantinischen Text, weil viele dieser Handschriften aus dem Gebiet des alten byzantinischen Oströmischen Reiches stammen. Daneben gibt es noch eine kleine Minderheit von Handschriften, die man als den westlichen Text zusammenfasst. Berühmt als Zeuge dieser Richtung ist der sogenannte Kodex D. Dieser Kodex war bereits in der Reformationszeit bekannt. Der Reformator Beza hatte ihn in seiner Hand. Die Reformatoren erkannten jedoch schnell, dass es sich um eine sehr schlechte Handschrift mit merkwürdigen Erweiterungen und Zusätzen handelt. Obwohl dieser westliche Text bekannt war, wurde er in der Reformationszeit nicht für Übersetzungen verwendet.
Auch heute interessiert sich kaum jemand für diesen eigenartigen Text mit seinen vielen Hinzufügungen. So hat man also diese Handschriftengruppen gebildet.
Wichtig ist nun, dass man heute bei Argumentationen sagt: Diese Handschrift ist eine alexandrinische Handschrift, jene eine byzantinische. Die Mehrheit der byzantinischen Handschriften wird dabei einfach zusammengefasst und als ein Zeugnis, das byzantinische Zeugnis, betrachtet. Die Minderheit der Handschriften wird quasi als gleichwertiges Gegenüber dargestellt, nämlich als der alexandrinische Text.
Dieser Punkt ist wichtig: Die Einteilung in Textgruppen führt dazu, dass die verschiedenen Gruppen wie ebenbürtige Konkurrenten nebeneinanderstehen.
Die ökumenische Bedeutung des Nestle-Aland-Textes
Nun, ich habe gesagt, der Nestle-Aland-Text, der sich besonders auf den alexandrinischen Text beruft, wird im zwanzigsten Jahrhundert zur Textgrundlage der meisten Bibelübersetzungen. Und es ist tatsächlich so: Es wurde ein Abkommen zwischen den internationalen Bibelgesellschaften, die übrigens liberal-theologisch ausgerichtet sind, und dem Vatikan getroffen, dass Nestle-Aland der Text sein soll, der im Prinzip für alle Bibelübersetzungen verwendet wird.
Das ist schon interessant, dass dieser Nestle-Aland-Text in der ökumenischen Bewegung einen besonderen Platz erhalten hat. Nun, das ist noch kein Beweis dafür, dass dieser Text schlecht sein sollte. Aber man sollte zumindest überlegen, ob da nicht etwas faul sein könnte. Es ist genauso wie in der Politik: Wenn die Linken irgendetwas als Parole herausgeben, frage ich mich zuerst, was wohl dahinter steckt. Es ist nicht so, dass immer alles faul ist, aber wenn man nicht einfach blauäugig alles annimmt, merkt man beim zweiten Hinschauen: Aha, so ist das also.
Das gilt nicht nur in der Politik, sondern auch an anderen Orten. Einfach mal als Information. In den meisten theologischen Ausbildungsstätten gilt heute der Nestle-Aland-Text als das Beste, was es gibt. Ich kann einen Tipp geben, wie man seine wissenschaftliche Anerkennung schnell verlieren kann: Man muss sich für den Mehrheitstext einsetzen. Da braucht man gar nicht viel zu sagen, und schon bekommt man ein Etikett.
Das ist ähnlich wie bei einem Naturwissenschaftler, Biologen oder Geologen, der sagt: Ich glaube an die Schöpfung. Dann wird er sofort etikettiert. So kann man sich also garantiert schwere Steine in den Weg legen, falls man Karriere machen will. So ist es auch unter Theologen.
Dabei kommt die Ablehnung nicht nur von liberalen Theologen, sondern auch von bibeltreuen Theologen. Man wird sehr schnell abgetan. Aber wenn man sich umschaut, was die Leute schreiben, sieht man, wie der Nestle-Aland-Text verteidigt wird. Auch in bibeltreuen Zeitschriften wie zum Beispiel "Bibel und Gemeinde" ist das in den vergangenen Jahren wiederholt geschehen.
Ich bin jedes Mal frustriert: Warum bringen sie eigentlich nicht die wirklichen Argumente, die man für den Mehrheitstext verwenden kann, um diese dann zu zerreißen und zu zerpflücken? Sie dürfen das ja, wenn sie vom Gegenteil überzeugt sind. Man muss ja nicht streiten, aber man kann pointiert und scharf argumentieren. Bitte, nur her damit!
Ich staune immer wieder. Gerade vor kurzem habe ich wieder von einem bibeltreuen Mann gehört – ich nenne keinen Namen, weil ich niemandem in den Rücken fallen möchte – und dann muss ich sagen: Nein, das kann es nicht sein. Er zitiert sogar zum Teil meine Argumente für den Mehrheitstext. Und ich frage mich: Warum hat er diese wichtigen Argumente dann nicht selbst vorgebracht? Das ist wirklich ein Problem.
Darum wollen wir im nächsten Punkt nach diesen Grundlagen die Bedeutung des Mehrheitstextes und seine Argumente etwas genauer anschauen. Aber zuerst machen wir nun eine Viertelstunde Pause.
Wir haben jetzt in der ersten Stunde die Basis für die Thematik Mehrheitstext kontra Nestle-Aland gelegt. Nun gehen wir richtig ins Thema hinein.
Historische Forschung zur kirchlichen Rezension
Heute ist unter den meisten Kirchengeschichtlern klar: Es hat nie eine kirchliche Rezension des Neuen Testaments gegeben. Dafür gibt es keine Beweise aus der Kirchengeschichte. Deshalb vertreten auch die meisten Wissenschaftler, die den Nestle-Aland-Text unterstützen, diese Ansicht nicht mehr. Das ist eigentlich Schnee von gestern.
Die Behauptung von Westcott und Hort, die für viele Menschen den Todesstoß für den Textus receptus und den Mehrheitstext bedeutete, ist ein Mythos ohne geschichtliche Grundlage. Es ist interessant, manchmal herauszufinden, was dazu führt, dass ein Wissenschaftler seine Meinung ändert. Oft sind es gar nicht so sehr wissenschaftliche Gründe.
Gerade im Umgang mit Atheisten und Gnostikern merkt man, dass sie den Eindruck haben, sie seien die heutigen Wissenschaftler, während alle anderen eigentlich ziemlich unwissend seien. Sie halten sich selbst für wirklich wissenschaftlich. Doch es ist nicht so, dass Menschen im Allgemeinen durch Logik und zwingendes Denken geleitet werden.
Es gibt eine Untersuchung über rauchende Ärzte, die zeigte, dass etwa prozentual gleich viele Ärzte wie Nichtärzte rauchen. Das bedeutet, dass dieses Mehrwissen – und es ist ein riesiges Wissen darüber, wie schädlich Rauchen ist – nicht zwingend zu einer anderen Lebensführung führt. Das sollte zu denken geben. Oft entscheiden wir uns aufgrund anderer Faktoren für eine Sache und nicht so sehr wegen der eigentlichen logischen Argumente.
So kann man das auch hier feststellen. Das wichtigste Argument, das viele überzeugt hat, lautet: „Nestle, der Mehrheitstext, Textus receptus – das ist nun ein Mythos ohne geschichtliche Grundlage.“ Doch jetzt dreht sich der Spieß. Trotzdem gibt es den Mehrheitstext ohne Rezension.
Nun muss jemand erklären, wie das möglich ist: Wie kommt es zu einer so großen Übereinstimmung von Handschriften aus unterschiedlichen Ländern, sei es aus der Türkei, Griechenland, Rom oder Italien – und das alles ohne Rezension? Wie entsteht diese Einheit?
Heute ist unter Nestle-Aland-Anhängern die sogenannte Prozesstheorie populär. Diese besagt, dass es zwar nie eine offizielle, zentral gesteuerte Rezension gab, aber dass die Vereinheitlichung der Texte in einem Prozess geschah. Die Manuskripte wurden mit der Zeit immer mehr angeglichen. Man hat in verschiedenen Skriptorien abgeschrieben, und über die Zeit führte das zu einer Angleichung in einem längeren Prozess.
Das klingt plausibel, aber jetzt sollte man die Mathematik hinzuziehen. Mathematisch gesehen ist diese Behauptung Unsinn. Ohne zentrale Rezension können sich Texte, die immer wieder abgeschrieben werden, nicht allmählich angleichen. Man kann kein mathematisches oder statistisches Wahrscheinlichkeitsmodell aufstellen, das erklärt, wie eine solche Annäherung zustande kommt.
Durch Abschreiben entsteht immer mehr Divergenz, also ein immer größeres Auseinandergehen der Texte. Es muss eine zentrale Rezension geben, sonst nimmt die Divergenz zu. Mathematisch ist das nicht anders möglich.
Mathematische Untersuchungen mit Hilfe der statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung zeigen, dass die richtige Lesart aus dem Urtext immer in einem Mehrheitstext zu finden sein wird. Dabei wird angenommen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine falsche Lesart aus einer schlechten Handschrift in eine gute Handschrift gelangt, gleich groß ist wie die Wahrscheinlichkeit, dass eine gute Lesart in eine schlechte Handschrift gelangt.
Ich verweise hier auf Hodges und Hodges. Ganz am Schluss habe ich Literaturangaben; dort findet man unter Hodges und Hodges einen Aufsatz in einem Buch von Pickering mit dem Titel The Implication of Statistical Probability for the History of the Text. Ein Spezialist für statistische Wahrscheinlichkeitsrechnung hat dort die Handschriften mathematisch analysiert. Sie können das nachlesen. Er zeigt, dass die Behauptung der Nestlé-Anhänger mathematisch nicht haltbar ist.
Am Schluss habe ich versucht, ein Bild mit drei Generationen zu erstellen. Oben steht das Original, zum Beispiel das originale Johannesevangelium. In der zweiten Generation gibt es drei Handschriften, die abgeschrieben werden. Bei zweien steht „R“ (richtig), bei einer „F“ (falsch).
Sagen wir, in der zweiten Generation wurde anstatt „der eingeborene Sohn“ „der eingeborene Gott“ eingesetzt. Nun wird wieder von diesen Abschriften abgeschrieben, das ist die dritte Generation. Von der falschen Handschrift gibt es zwei falsche Abschriften.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Abschreiber eine andere Handschrift vergleicht und dort wieder „Sohn“ übernimmt, ist gegeben. Genauso ist es bei der richtigen Abschrift: Dort gibt es zwei richtige und eine falsche Abschrift, weil auch hier ein Abschreiber mit einer schlechten Handschrift vergleicht und sagt: „Oh, der hat das anders, ich nehme das mit rein.“
So kann man das über Generationen hinweg durchrechnen, über Jahrhunderte. Dabei sieht man: Je später ein Fehler hineinkommt, desto weniger gut kann er sich allgemein verbreiten. Wenn man einen Fehler ganz früh einbringt, können sich gewisse Varianten stärker durchsetzen. Die Gnostiker waren zum Beispiel schon im ersten Jahrhundert aktiv, wie wir aus 1. Timotheus 6,20 wissen.
Manche können sich in der Anfangszeit stark durchsetzen, weil sie so früh sind. Aber insgesamt sind sie mathematisch im Nachteil. Das Falsche findet sich schließlich immer nur in einer Minderheit der Handschriften, das Richtige in der Mehrheit. Dabei kann es natürlich Verschiebungen geben.
Das ist ein großer Schlag, denn die meisten Spezialisten für die Überlieferung des Neuen Testaments sind keine Mathematiker. Deshalb werden diese mathematischen Aspekte viel zu wenig berücksichtigt.
Ein Philologe kann schnell sagen: „Ja, man kann sich das als einen Prozess vorstellen, eine allmähliche Angleichung.“ Das ist typisch, wenn ein Philologe spricht. Aber wenn ein Mathematiker oder Naturwissenschaftler kommt, sagt er: „Nein, das funktioniert nicht. Man kann das Modell nachrechnen, und es funktioniert überhaupt nicht.“
Deshalb gibt es manchmal Probleme zwischen Philologen und Naturwissenschaftlern, weil sie ganz anders denken. Am besten ist es, wenn man beides kombiniert.
Es ist sehr hilfreich zu zeigen, dass die Prozesstheorie nicht funktioniert. Sie ist wissenschaftlich nicht nur schwach, sondern eigentlich nicht verantwortbar. Die Behauptung, es gebe keinen zentralen Rezensenten und die Angleichung erfolge durch einen Prozess, ist Wunschdenken. Faktisch und modellhaft ist das nicht nachvollziehbar.
Mehrheitstextlesarten in frühen Papyri
Aber es kommt noch besser. Wir haben über die frühen Papyri gesprochen, die im zwanzigsten Jahrhundert in Ägypten gefunden wurden. Diese Papyri stützen sehr deutlich die Handschriften Codex Vaticanus und Codex Sinaiticus. In Nestle-Aland werden sie immer wieder als wichtige Belege angeführt.
Nun ist Folgendes zu sagen: Man hat diese Papyri genau untersucht und festgestellt, dass in diesen frühen, sogenannten alexandrinischen Papyri auch Lesarten des Mehrheitstextes vorkommen. Das dürfte eigentlich nicht sein, wenn Westcott und Hort mit ihrer Rezension Recht gehabt hätten. Denn diese Lesarten stammen ursprünglich aus der Zeit um 350 nach Christus.
Doch man findet sie konkret in den Handschriften bereits in den frühen Jahrhunderten, bis ins erste Jahrhundert nach Christus. Insgesamt wurden dort 860 Mehrheitstextlesarten entdeckt.
Hinzu kommt, dass die Papyri insgesamt nur etwa dreißig Prozent des Neuen Testaments abdecken. Für viele Texte gibt es nur einen einzigen Papyrus als Beleg. Zum Beispiel beim Johannesevangelium gibt es Überschneidungen, aber für manche Texte gibt es nur eine einzige Bezeugung.
Wenn man diese Handschriften genauer untersucht, sieht man, dass mit jedem weiteren Papyrus die Zahl der neu entdeckten Mehrheitstextlesarten steigt. Jemand hat das mithilfe der Mathematik hochgerechnet. Statistisch gesehen würde man mit drei Papyri aus der Frühzeit Ägyptens für das gesamte Neue Testament etwa 5000 Mehrheitstextlesarten erwarten. Dann wäre im Prinzip alles abgedeckt.
Das ist eine verheerende Erkenntnis, aber ich habe dieses Argument bei Gegnern der Mehrheitstext-Theorie noch nie gelesen. Warum nicht? Dieses Argument muss man ernsthaft betrachten.
Es gibt noch weitere frühe Kirchenväter. Ich setze „Kirchenväter“ in Anführungszeichen, denn so bezeichnet man Bibellehrer aus den frühen Jahrhunderten der Christenheit. Ich habe allerdings ein bisschen Mühe mit dem Begriff „Väter“, weil Jesus seinen Aposteln in Matthäus 23 gesagt hat: „Lasst niemanden auf der Erde euren Vater nennen; denn einer ist euer Vater im Himmel.“ Das bedeutet natürlich nicht, dass Kinder ihre leiblichen Väter nicht Vater oder Papa nennen sollen. Jesus meint, dass wir uns als geistlichen Titel nicht Vater nennen lassen sollen.
Wenn man also von diesen Kirchenlehrern als „Kirchenvätern“ spricht, habe ich kein gutes Gefühl dabei. Aber es ist die übliche Bezeichnung für Schriftsteller und Bibellehrer aus den frühen Jahrhunderten.
Diese Kirchenväter haben Kommentare zur Bibel geschrieben und auch Bücher über aktuelle Themen ihrer Zeit. Das Schreiben über aktuelle Themen mit Bezug zur Bibel ist also keine neue Erscheinung unserer Zeit, sondern wurde schon damals praktiziert.
Natürlich zitieren sie oft die Bibel. Miller hat 76 Autoren aus der Zeit von 100 bis 400 nach Christus untersucht und ihre Zitate analysiert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass eine Mehrheit von ihnen den Mehrheitstext in ihren Bibelzitaten verwendet.
Das war schon länger bekannt. Das Gegenargument lautete immer, dass man sich das nicht so vorstellen dürfe, als sei das ursprünglich so gewesen. Vielmehr wurden diese Kirchenväter in späteren Jahrhunderten immer wieder gelesen. Dabei hätten die Benutzer des Mehrheitstextes die Bibelzitate als störend empfunden und sie in den Handschriften nachträglich so korrigiert, dass sie mit dem Mehrheitstext übereinstimmen.
Ein bekanntes Beispiel ist ein besonders beliebter Kirchenvater, der gerne in Klöstern vorgelesen wurde. Dort findet man tatsächlich einen deutlich höheren Anteil an Mehrheitstext-Lesarten als bei anderen Kirchenvätern. In diesem Fall kann man annehmen, dass eine solche nachträgliche Angleichung stattgefunden hat.
Miller berücksichtigt solche verdächtigen Beispiele jedoch nicht. Er arbeitet mit unverdächtigen Fällen und kommt dabei nicht einmal auf ein Verhältnis von 50 zu 50, sondern auf eine klare Mehrheit.
Interessant ist auch: Wenn wirklich nachträgliche Angleichungen stattgefunden hätten, müsste man erwarten, dass diese recht konsequent erfolgt wären. Man würde also eine fast vollständige Übereinstimmung mit dem Mehrheitstext sehen. Stattdessen findet man immer noch einen erheblichen Anteil von Texten, die nicht dem Mehrheitstext entsprechen.
Aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist zu erwarten, dass bei Fehlern, die sehr früh in die Abschriften gelangten, das Verhältnis von Fehlern zu korrektem Text in den frühen Generationen der Abschriften noch relativ ausgeglichen war. Mit zunehmenden Generationen wird der fehlerhafte Text jedoch immer mehr zu einem Minderheitstext.
Diese mathematische Erwartung passt gut zu den Beobachtungen.
Hinzu kommt, dass auch in den frühen Übersetzungen des Neuen Testaments zahlreiche Belege für den Mehrheitstext zu finden sind. Das Neue Testament wurde bereits sehr früh in andere Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Lateinische schon im zweiten Jahrhundert. Diese Übersetzung nennt man die altlateinische Übersetzung.
Ab etwa 400 nach Christus wurde die Vulgata erstellt, die zur Standardbibel der katholischen Kirche wurde. Außerdem wurde das Neue Testament sehr früh ins Syrische übersetzt, das dem Aramäischen entspricht. Ebenso gibt es Übersetzungen in verschiedene ägyptische Dialekte, also koptische Dialekte.
Kevin James hat die altlateinische Übersetzung systematisch untersucht. Für einen großen Textabschnitt hat er die altlateinische Übersetzung aus dem zweiten Jahrhundert, die syrische Peschitta und die mittelägyptische Übersetzung aus dem dritten Jahrhundert analysiert.
Dabei fand er in der altlateinischen Übersetzung und der syrischen Peschitta eine klare Mehrheit für den Mehrheitstext. Natürlich gab es auch eine Mischung, was zu erwarten war. Aber die Mehrheit lag beim Mehrheitstext.
Wenn man wieder behauptet, diese Übersetzungen seien später angepasst worden, ist das ein unbelegtes Vorurteil. Niemand kann das beweisen.
Schon allein die alten Papyri zeigen, dass es in den frühen Jahrhunderten eine Durchmischung mit dem Mehrheitstext gab. Bei den Übersetzungen könnte man noch argumentieren, dass später Veränderungen vorgenommen wurden. Aber im Licht der Papyri, die mit der Hochrechnung auf etwa 5000 Mehrheitstextlesarten kommen, ist diese Möglichkeit kaum haltbar.
Die Entwicklung der Lesarten und ihre Bedeutung für Irrlehren
Und nun eine wichtige Feststellung: Alle bedeutenden Lesarten, die vor etwa zweihundert nach Christus entstanden sind, blieben erhalten. Danach hatten falsche Lesarten keine Chance mehr, weil das Neue Testament bereits so oft abgeschrieben worden war, dass Varianten mit falschen Lesarten keine Möglichkeit mehr hatten, sich durchzusetzen.
Wir sehen also, dass in der ganz frühen Zeit auch Lehrer bewusst Änderungen vorgenommen haben, um ihre falschen Lehren zu stützen. Natürlich sind die meisten Unterschiede durch Abschreibfehler oder Ähnliches entstanden. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen eindeutig von bewusster Veränderung mit der Absicht, Irrlehren zu verbreiten, gesprochen werden kann. Ein Beispiel habe ich bereits erwähnt: Johannes 1,18 – „der eingeborene Gott“.
Ab etwa zweihundert nach Christus konnten die Irrlehrer auf dieser Schiene nicht mehr arbeiten. In der weiteren Zeit mussten sie den Mehrheitstext benutzen und versuchten damit, ihre Irrlehren zu beweisen. So haben es die Irrlehrer auch in späteren Jahrhunderten getan.
Die Rolle der Originalhandschriften als Korrektiv
Jetzt kommt aber noch etwas Wichtiges hinzu. Nach Ägypten wurden keine originalen Handschriften gesandt. Dort konnten die Abschriften deshalb nicht an perfekten Urtextvorlagen korrigiert werden.
In Italien gab es den Römerbrief, in Griechenland den ersten und zweiten Korintherbrief, den ersten und zweiten Thessalonicherbrief und so weiter. In der Türkei waren der Kolosserbrief, der Epheserbrief und die Offenbarung sowie der erste, zweite und dritte Johannesbrief als originale Schriften noch längere Zeit vorhanden, möglicherweise über mehrere Jahrhunderte. Denn so lange konnten Papyrushandschriften auch in diesen Ländern überleben.
Deshalb konnten die Abschriften dort über einen längeren Zeitraum immer wieder an solchen perfekten Urtextvorlagen geeicht werden. Der Urtext – ich sage jetzt nicht Grundtext, sondern Urtext – das sind die originalen Handschriften. Dieser Urtext wirkte als Korrektiv in Italien, Griechenland und in der Türkei. Aber in Ägypten hatte man das nicht.
Das ist noch interessant: Ein Standardwerk von Kurt Alland und seiner Frau Barbara Alland heißt „Der Text des Neuen Testaments“. Darin beschreiben sie alle wichtigen Dinge, die man kennen muss, um mit dem Nestle-Aland-Text arbeiten zu können. Sie schreiben über die frühen Papyri, die einen freien Text aufweisen – die meisten jedenfalls. Das heißt also einen Text, der erstaunlich fließend ist.
Warum bewegt sich dieser Text so? Und der Text aus anderen Ländern bewegt sich nicht so. Das liegt daran, dass diese keinen Korrektiv hatten. Wenn man nicht weiß, woran man sich korrigieren soll, korrigiert man sich an der Handschrift selbst. Aber das gibt keine Orientierung.
In Griechenland konnte man hingegen nach Korinth gehen und fragen: „Darf ich mal meine Handschrift mit dem originalen Brief von Paulus vergleichen?“ Ja, der war dort noch vorhanden. So konnten die Handschriften korrigiert werden. Das hatte natürlich eine einigende Wirkung auf die Handschriften, weil dort ein Korrektiv vorhanden war.
Übrigens, wie konnte man wissen, dass eine Handschrift wirklich von Paulus stammte? Die könnten ja irgendetwas erzählen. Paulus schreibt am Schluss des zweiten Thessalonicherbriefes: „Der Gruß mit meiner des Paulus Hand, welches das Zeichen ist in jedem meiner Briefe.“ Der Apostel Paulus diktierte die meisten Briefe, aber den Schluss mit der Begrüßung schrieb er immer eigenhändig.
Im zweiten Thessalonicherbrief war dieser Hinweis besonders wichtig. Denn in der Zwischenzeit, nach dem ersten Thessalonicherbrief, hatten die Empfänger einen gefälschten Brief bekommen, der vorgab, von Paulus zu sein. Im zweiten Thessalonicherbrief heißt es: „Lasst euch nicht erschrecken durch einen Brief, als wäre er von uns.“ Nun schreibt Paulus den zweiten Brief und sagt: „Das ist der Gruß mit meiner des Paulus Hand, welches das Zeichen ist in jedem meiner Briefe.“
So konnten die Thessalonicher den ersten Brief wieder hervorholen und feststellen: „Wow, das ist ja die gleiche Schrift wie im ersten!“ Dann konnten sie den gefälschten zweiten Brief vernichten. Von diesem gefälschten Brief haben wir keine Spur, nur vom ersten und zweiten echten Brief.
Auf diese Weise konnte man auch zwischen anderen Paulusbriefen vergleichen und beweisen: „Das ist genau die gleiche Schrift wie in Thessalonich, genauso in Korinth, genauso in Ephesus. Das ist das Original.“
Nun noch Folgendes: Tertullian, ein sogenannter Kirchenvater, schreibt um 208 nach Christus wörtlich: „Diejenigen apostolischen Gemeinden, in denen die wahrhaftige Herrschaft der Apostel in ihrer Stellung immer noch überragend sei, in denen ihre eigenen echten Schriften lateinisch authentique gelesen werden, in denen jede für sich die Stimme jedes einzelnen von ihnen verbreitet und das Angesicht jedes einzelnen von ihnen darstellt.“
Er fährt fort: „Wenn Achaia nahe bei euch ist, findet ihr Korinth.“ Nun merkt man, dass ich das Beispiel mit Korinth nicht einfach so aus der Luft gegriffen habe. Tertullian selbst sagt: „Dann geht doch bitte mal nach Korinth, wenn ihr schon mal in Achaia seid, in der Gegend. Findet ihr Korinth. Wenn ihr nicht weit entfernt seid von Mazedonien, habt ihr Philippi, den Philipperbrief. Ihr habt die Thessalonicher. Wenn ihr nach Asien hinüber gelangen könnt, findet ihr Ephesus. Wenn ihr überdies nahe bei Italien seid, habt ihr Rom, von wo auch in unsere Hände die wahre Autorität der Apostel selbst gelangt.“
Das schreibt er in seiner Schrift „Vorschriften gegen die Irrlehrer“. Diese Übersetzung geht zurück auf „The Ante-Nicene Fathers“ von Holmes, Band 3.
Wir sehen also, die Möglichkeit war wirklich da, in den frühen Jahrhunderten als Korrektiv die originalen Handschriften zu verwenden. Darum müsste man eigentlich aufhorchen, wenn nun diese Handschriften aus Ägypten stammen und von der Mehrheit abweichen. Das ist kein starkes Argument dafür, dass sie alt sind, weil dort der Text sehr schnell zu einem fließenden Text werden konnte.
Erhaltungszustand und Qualität der Handschriften
Und noch etwas Weiteres: Gute Handschriften wurden oft gebraucht und gingen dadurch schneller zugrunde. Schlechte Handschriften blieben besser erhalten.
Ich kann das sehr schön anhand meiner Bibel illustrieren. Es ist immer noch dieselbe Bibel, die ich mit 14 Jahren zu lesen begann. Ich liebe sie, weil ich dort alles habe, was ich brauche. Das heißt allerdings nicht mehr ganz alles. Deshalb muss ich mir eine zweite zulegen. Dann kann ich diese erste Bibel benutzen, wenn ich zum Beispiel das erste Timotheus Kapitel sechs nicht gerade zur Hand habe. Ich habe es vorhin aus dem Gedächtnis zitiert und dabei Lücken gehabt. Wenn ich diese Lücken nicht ausfüllen kann, nehme ich die zweite Bibel.
Die erste Bibel ist kaputt und zerschlissen, und es fallen Teile vom Text heraus. Ich kann aber sagen, dass ich zu Hause noch viel ältere Bibeln habe, die aus den 1950er Jahren stammen. Noch ältere Bibeln aus dem 19. Jahrhundert wären in einem wunderbaren Zustand. Warum? Weil ich sie nicht jeden Tag gebraucht habe oder gar nicht. Sie standen einfach schön in Bücherregalen.
Das heißt also, man kann in meiner Bibliothek herausfinden, welche Bücher ich viel benutze und welche wenig. Bei der Bibel ist das sehr gut zu erkennen.
Nun, wenn eine sehr alte Handschrift bis heute erhalten geblieben ist, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass sie von schlechter Qualität war. Das ist interessant, denn es wurden noch mehr Papyrusrollen gefunden, auch solche aus der Zeit nach 400 nach Christus. Diese späteren Papyri sind ebenfalls alexandrinisch.
Warum sind sie erhalten geblieben? Offensichtlich hat man gemerkt, dass es schlechte Handschriften waren. Deshalb wurden sie nicht so oft gebraucht und sind deshalb erhalten geblieben.
Jetzt versteht man auch, warum die Urtextschriften verloren gegangen sind. Diese musste man ständig benutzen, um sie zu korrigieren. Das Korrektiv waren die begehrtesten Schriften. Deshalb gingen sie verloren.
Gott hatte damit auch eine Absicht. Hätten wir diese Urtextschriften heute noch, wären sie Wallfahrtsorte für Götzendienst. So ist es ähnlich wie mit dem Grab von Mose: Niemand weiß bis heute, wo sein Grab ist (5. Mose 34).
Im Judasbrief wird beschrieben, dass Satan mit dem Engel Michael, der für Israel steht, um den Leib Mose gestritten hat. Warum wohl? Offensichtlich wollte Satan das Grab bekannt machen. Er wusste, wo Mose ist, und hätte Israel dadurch sofort in den ärgsten Götzendienst führen können. Doch der Engel Michael widerstand ihm. Das war nie möglich – bis heute nicht.
Das ist nur ein Beispiel, das zeigt, dass auch Gottes gute Hand darin liegt.
Qualität der wichtigsten Nestle-Aland-Handschriften
Jetzt kommt noch etwas: Sind die frühen Handschriften, auf die sich der Nestle-Aland-Text so stark stützt, qualitativ gut?
Nun, diejenigen, die ständig als die großen Zeugen angeführt werden, sind Sinaitikus und Vatikanus. Ich habe das schon viele Male erklärt. Ganz im Sinn der alten Römer: Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens.
Ein Wissenschaftler für Handschriften hat Aleph, also Sinaitikus, und Vatikanus, B, miteinander verglichen. Allein in den Evangelien fand er dreitausend wesentliche Unterschiede. Die Anzahl der Unterschiede in Rechtschreibung und ähnlichem war sogar noch viel höher. Aber dreitausend wesentliche Unterschiede allein in den Evangelien sind schon bemerkenswert.
Das heißt also, jede Handschrift ist mindestens, wenn sie gleichwertig sind, mit 1500 Fehlern versehen. Nur in den Evangelien wäre das eine schlechte Leistung, wenn wir die Evangelien abschreiben würden und dann 1500 wesentliche Fehler darin hätten.
Ich spreche hier nicht von den Abschreibfehlern, das ist sehr selbstredend. Dafür gibt es heute Korrekturprogramme, nicht wahr?
Wenn man das aber betrachtet, sind Aleph und B die wichtigste Grundlage für Nestle-Aland. Deshalb hätte ich nicht so ein tiefes Vertrauen in diesen Text.
Noch schlimmer wird es bei den Papyri. Viele der Papyri fallen durch ihre überaus zahlreichen offensichtlichen Fehler auf. Man erkennt sofort, dass der Schreiber gepfuscht hat oder nicht gut aufgepasst hat. Außerdem sind sie bekannt für eine große Uneinheitlichkeit untereinander.
Ich gebe ja immer wieder die Literatur in Klammern an, nicht immer erwähne ich sie dabei. Zum Beispiel Pickering, Seite 121 und folgende. Dort kann man dann nachschauen unter Literatur. Ich habe ja Bücher aufgeschrieben – pro Mehrheitstext, pro Nestle-Aland.
Bei pro Mehrheitstext habe ich Pickering auf dem zweitletzten Platz: The Identity of the New Testament Text, Revised Edition, Nashville 1980. Das ist dieses Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte.
Es gibt ja viele Bücher, aber es gibt schlechte und bessere. Dieses ist nun wirklich ein ganz, ganz entscheidendes Buch, und da muss man sich den Argumenten stellen.
Die Problematik der Texttypeneinteilung
Die Einteilung in Texttypen haben wir ja bereits besprochen: alexandrinischer Text, Mehrheitstext und dann den westlichen Text, für den sich eigentlich niemand oder fast niemand interessiert. Diese Einteilung ist eigentlich problematisch, weil es sich um eine theoretische Einteilung handelt. Es gibt keine Handschrift, bei der man sagen könnte: Das ist nun der alexandrinische Text oder das ist der Mehrheitstext.
Wir haben gesehen, dass bei den alten Papyri, die natürlich sehr stark sind, wie Vatikanus und Sinaitikus, auch Mehrheitstextlesarten vorkommen. Dann spricht man von Mischtexten, aber das gilt eigentlich für alle Handschriften, dass sie Mischtexte sind. In der Praxis gibt es also gar nicht wirklich einen rein alexandrinischen oder rein Mehrheitstext.
Denn auch Mehrheitstext-Handschriften haben Fehler und Abweichungen. Man könnte es für die Praxis so sagen: Hundert Prozent oder knapp hundert Prozent der Handschriften stimmen zu etwa achtzig Prozent überein. Über achtzig Prozent gibt es überhaupt keine Diskussion. Das ist so klar, weil eine so gewaltige Übereinstimmung besteht.
99 Prozent der Handschriften stimmen zu 90 Prozent oder noch mehr überein. 95 Prozent der Handschriften stimmen zu 94 Prozent überein. Und da ist ein Fehler reingekommen. Ja, ich glaube, das war es. 99 Prozent der Handschriften stimmen zu 97 Prozent überein. Was sage ich? Nein, doch, das stimmt ja natürlich. 90 Prozent der Handschriften stimmen zu 97 Prozent überein. Also nochmals: 80 Prozent Übereinstimmung, 99 Prozent 90 Prozent Übereinstimmung, 95 Prozent 94 Prozent Übereinstimmung, 90 Prozent der Handschriften stimmen zu 97 Prozent überein, und weniger als 90 Prozent der Handschriften stimmen zu 100 Prozent überein.
So kann man es sagen, und das ist doch überwältigend. Natürlich hängt es davon ab, wie man die Rechnung macht. Es ist manchmal schwierig, weil Unterschiede darin bestehen können, dass wirklich ein Wort fehlt, das an einer anderen Stelle aber vorhanden ist. Oder es steht nicht etwas fehlt, sondern es steht ein anderes Wort. Manchmal ist es eine Umstellung, die gleichen zwei Wörter, nur in einer anderen Reihenfolge.
So ist es natürlich ein bisschen schwierig, wie man das ganz genau prozentual rechnet, aber um eine Größenordnung zu bekommen, funktioniert das so. Es sind alles Mischtexte, und es gibt eine so gewaltige Übereinstimmung.
Nun kann man sagen, dass Nestle-Aland-Vertreter dem zustimmen, dass eigentlich 90 Prozent des Textes absolut sicher sind. Denn Nestle-Aland – ich habe hier den Nestle-Aland-Text – und die beste Mehrheitstextausgabe, The New Testament in the Original Greek von Robinson und Pierpont 2005 herausgegeben, wenn man die miteinander vergleicht, dann ist es so, dass 90 Prozent auf den Buchstaben genau gleich sind.
Das ist für mich interessant, weil ich sehe: Für 90 Prozent sind die Nestle-Aland-Vertreter eigentlich eine Art Mehrheitstextvertreter. Denn sie glauben, dass der richtige Text wirklich in der Mehrheit der Handschriften zu finden ist. Sie sagen nicht, wir sind Mehrheitstextvertreter, für uns ist nicht wichtig, wir zählen nicht die Zeugen, sondern wir wiegen die Qualität der Zeugen.
Praktisch gesehen sind sie ganz klar Mehrheitstextvertreter. Sie glauben, dass für 90 Prozent in der Mehrheit der Handschriften der richtige Text zu finden ist.
Jetzt kommt ein weiteres Argument: Die Nestle-Aland-Vertreter sagen oft, wir zählen nicht, sondern wir wiegen. Unsere Zeugen haben mehr Gewicht, weil sie so alt sind, und es gibt noch verschiedene andere Gründe, warum sie die anderen Lesarten besser erklären, wie diese später entstanden sind.
Gut, jetzt wollen wir mal Handschriften wiegen. Und das hat Kevin James auf ganz interessante Art gemacht. Wir haben gesehen, dass 90 Prozent des Textes ohne Diskussion feststehen und Nestle-Aland und Mehrheitstext völlig übereinstimmen.
Jetzt kann ich eine einzelne Handschrift nehmen und sehen, wie genau diese Handschrift die eindeutigen 90 Prozent wiedergibt. So haben wir einen objektiven Maßstab, um zu sehen, wie gut die Qualität ist.
Kevin James hat das für eine ganze Serie von Handschriften anhand des Matthäusevangeliums gemacht. Wir haben die 28 Kapitel durchgearbeitet für den Codex Vaticanus, Sinaitikus und dann ganz unverdächtig für die Minuskelhandschrift 962, die nicht besonders berühmt ist und aus dem Jahr 1498 nach Christus stammt. Dann hat er die Minuskel 461 aus dem Jahr 835 nach Christus genommen, die 1278 aus dem zwölften Jahrhundert, 440 ebenfalls aus dem zwölften Jahrhundert, und dann noch den Codex D, das ist diese besondere Handschrift mit dem westlichen Text.
Er hat gesehen: Die Vatikanushandschrift stimmt zu 87 Prozent mit dem eindeutigen Text überein, also weicht 13 Prozent davon ab. Der Sinaitikus ist deutlich schlechter mit 73 Prozent Übereinstimmung.
Jetzt nehmen wir die unverdächtige Handschrift, die ganz späte und tief verachtete Mehrheitstexthandschrift 962 aus dem Jahr 1498. Die hat 86 Prozent Übereinstimmung. Sie ist also deutlich besser, viel besser als der Sinaitikus, obwohl sie tausend Jahre jünger ist.
Mit dem Alter muss man sowieso aufpassen, denn eine Handschrift aus dem Jahr 900 kann eine Kopie von einer Vorlage aus dem Jahr 250 sein. So wurde auch gearbeitet. Es gibt Hinweise, dass Vorlagen mehrere Jahrhunderte älter sein konnten. Deshalb muss man gar nicht staunen, wie eine Handschrift, die tausend Jahre jünger ist als der Sinaitikus, so gut sein kann.
Die Handschrift 461 aus dem Jahr 835 zeigt 93 Prozent Übereinstimmung, das ist absolute Spitze. Die Handschrift 1278 aus dem zwölften Jahrhundert zeigt 89 Prozent Übereinstimmung, sie ist besser als Vatikanus und natürlich viel besser als Sinaitikus. Die Handschrift 440, ebenfalls aus dem zwölften Jahrhundert, hat ebenfalls 89 Prozent Übereinstimmung, auch viel besser als Vatikanus und Sinaitikus.
Er hat einfach ein paar Handschriften herausgegriffen. Man könnte tausende andere nehmen, für das ganze Neue Testament. Da sieht man, dass das Wiegen ganz anders aussieht, als es uns oft präsentiert wird.
Der Kodex D, der westliche Text, zeigt übrigens nur 44 Prozent Übereinstimmung. Das ist wirklich eine Katastrophe. Aber darin sind sich eigentlich alle einig. Er ist natürlich auch ein Minderheitstext. Die Katastrophe ist in einer ganz kleinen Minderheit von Handschriften zu finden.
Die eklektische Methode der Nestle-Aland-Textkritik
Nun, die heutigen Vertreter der Leslie-Allan-Schule, wenn man ihnen sagt, dass sie einfach auf Vatikanus und Sinaitikus aufbauen, würden antworten: „Oh, das ist aber gar nicht schön, diese Behauptung.“ Sie sehen sich als Eklektizisten. Ihre Methode ist der Eklektizismus, also die Na-Methode.
Das bedeutet nicht einfach: „Was sagt Vatikanus?“ und das wird übernommen. Stattdessen wählen sie die Lesart, die am besten zum Kontext, zum Autor und seinem Stil passt. Sie schauen also nicht nur das Ganze an, sondern gehen von einer Lesart zur anderen. Dabei überlegen sie in jedem Fall neu und wägen die Kriterien ab.
Erstens: Wähle die Lesart, die am besten zum Kontext, zum Autor und seinem Stil passt. Zweitens: Wähle die Lesart, die am besten die Entstehung der anderen Lesarten erklärt. Drittens: Wähle die Lesart, die möglichst durch alte Handschriften bezeugt ist. Viertens könnte man hinzufügen: Wähle die Lesart, die möglichst schwer verständlich ist. Denn man nimmt an, dass Abschreiber eher etwas vereinfachen und glätten wollten, als dass sie es schwieriger machten.
Es gibt noch weitere solcher Kriterien. So schaut man jede Lesart genau an.
Nehmen wir zum Beispiel den Ausdruck „der eingeborene Gott“. Wähle die Lesart, die am besten im Kontext zum Autor und seinem Stil passt. Johannes betont, dass Jesus Christus Gott ist. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“ Das passt gut.
Man könnte aber auch sagen: „eingeborener Gott“. Dann sagt jemand: Nein, man muss natürlich ein Komma denken. Nicht „der eingeborene Gott“, sondern „der eingeborene Gott, der im Schoß des Vaters ist“. Dann ist das nicht unbedingt eine Irrlehre.
Doch aus der Kirchengeschichte wissen wir, dass „der eingeborene Gott“ tatsächlich von Irrlehren vertreten wurde. Nun, was sagt das Kriterium „Wähle die Lesart, die am besten die Entstehung der anderen Lesarten erklärt“? Johannes 3,16 spricht vom „eingeborenen Sohn“. „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.“
Das kann man gut erklären: Ein Abschreiber, der diese Stelle kannte, hat diese Veränderung gemacht und „eingeborener Sohn“ eingefügt. So lässt sich erklären, warum diese Veränderung entstanden ist.
Kirchengeschichtlich wissen wir jedoch, dass das nicht so war. Auch das Kriterium „Wähle die Lesart, die möglichst durch alte Handschriften bezeugt ist“ trifft auf Johannes 1,18 zu. Trotzdem ist die Lesart falsch.
Außerdem widersprechen sich diese Kriterien oft. Gemäß dem einen Kriterium kommt man zu einem Schluss, gemäß einem anderen zu einem anderen. Aber man muss sich entscheiden.
Deshalb ist diese Methode sehr subjektiv. In der Praxis wirkt es so: Wenn man mit einem Vertreter von Nestle-Aland spricht, sagt er, dass Nestle-Aland nicht den absoluten Text vorgibt. Anhand der Fußnoten denkt man nochmals über die Kriterien nach und weicht manchmal von Nestle-Aland ab. So wird es sehr beliebig.
Wie haben sie das gemacht? Neben der Nestle-Aland-Ausgabe gibt es noch eine zweite Ausgabe, die ich am Schluss aufgeführt habe. Diese ist speziell für Bibelübersetzer von Aland, Black, Martini, Metzger und Wikgren.
Diese Ausgabe behandelt vor allem die wichtigen Lesarten ausführlich. Bei jeder Lesart steht: Wenn sie sich ganz sicher waren, dass sie richtig ist, dann ist das „A“. Wenn sie sich nicht ganz sicher waren, „B“. Sehr oft ist es „B“, aber auch oft „C“. Das bedeutet, dass das Komitee sich wirklich nicht sicher war, wie sie sich entscheiden sollten, aber sie haben sich entschieden.
Dann gibt es noch „D“. Das bedeutet, das Komitee lässt es offen, was richtig ist, hat sich aber trotzdem entschieden. Das Komitee hat also für jeden Fall eine Mehrheitsabstimmung gemacht – demokratisch. Wenn die Mehrheit für eine Lesart war, dann wurde sie gewählt. So entstehen die Kategorien B, C und D.
Das zeigt, wie subjektiv diese Entscheidungen sind. Das ist ein echtes Problem. Das Ganze wird dadurch subjektiver und nicht wissenschaftlicher.
Dazu gibt es einen Kommentar zu dieser Spezialausgabe für Bibelübersetzer, verfasst von Bruce Metzger: „A Textual Commentary on the Greek New Testament“. Dort werden die wichtigsten Abweichungen besprochen. Es wird genau erklärt, was das Komitee überlegt hat und welche Argumente für und gegen die Lesarten sprechen.
Man kann das anschauen und sieht, wie subjektiv es ist. Man kann nicht objektiv zu einem Schluss kommen. Letztlich gewinnen meist Vatikanus, Sinaitikus und die alten Papyri.
Ich habe bereits erklärt: Der Spruch „Die ältesten Handschriften sind die besten“ ist nicht korrekt. Eine Handschrift aus dem Jahr 900 kann eine direkte Kopie einer Handschrift aus dem Jahr 200 n. Chr. sein. Damit ist diese späte Handschrift nicht schlechter als eine andere Kopie derselben Vorlage aus dem Jahr 201 n. Chr.
So habe ich das jetzt formuliert: Die Abschrift aus dem Jahr 201 kann die gleiche Qualität haben wie die Abschrift aus dem Jahr 900. Das Alter allein ist also nicht automatisch ein Entscheidungskriterium.
Das Wägen anhand des eindeutigen Textes zeigt, dass das, was als vertrauenswürdig gilt, oft gar nicht vertrauenswürdig ist. Spätere Handschriften zeigen oft viel textgetreuere Überlieferungen.
Der Mehrheitstext ist nicht erst ab dem 4. Jahrhundert belegt, sondern lässt sich bis zu den frühen Papyri zurückverfolgen, sogar bis ins erste Jahrhundert. Das belegen neuere Datierungen von Kim und Carsten Peter Thiede.
Bedeutung der Unterschiede für die Glaubenslehre
Nun ist es natürlich so: Da kann jemand beschwichtigend sagen, ja, es geht ja meistens nur um kleinere Unterschiede. Und ich meine, auch wenn da jetzt steht „der eingeborene Gott“, kann man mit anderen Stellen im Neuen Testament klar beweisen, dass der Herr Jesus der ewige Gott ist und dass er nicht später entstanden ist, dass er der ewige Sohn Gottes ist usw. Ja, das ist so. Gott hat nicht zugelassen, dass durch diese Änderungen in wenigen Handschriften irgendwelche grundlegenden Lehren in Frage gestellt werden.
Aber wenn ich jetzt wählen könnte, ob ich eine Bibel mit dem ersten und zweiten Petrusbrief bekomme oder eine ohne, dann ist das schon ein Unterschied. „Ja, das kommt jetzt auch nicht so darauf an, weil da zwei Briefe nicht drin sind, und das meiste ist ja sowieso drin, oder?“ Ja, aber das wäre etwa der Unterschied. Wenn man alles zusammennimmt, unterschlagen uns so viel Text. Also sollten wir das nicht einfach so herunterspielen.
Dann kommt noch dazu: Der Nestle-Aland-Text markiert den Schluss von Markus. Die Verse neun bis zwanzig sind eine spätere Hinzufügung und nicht authentisch. Davon werde ich heute Nachmittag noch ein bisschen sprechen, das passt dann wieder zu einem ganz anderen Thema. Der Markus-Schluss wird einfach weggelassen.
Oder der Bericht von der Ehebrecherin in Johannes 7,3-53 bis 8,11 wird vom Nestle-Aland aufgrund von ganz wenigen Handschriften als nicht dazugehörig markiert. Weg! Natürlich haben die modernen Übersetzungen, die sich auf Nestle-Aland berufen, diesen Text drin, so wie Nestle-Aland ihn auch drin hat, aber in doppelten Klammern. Dort steht, dass das nicht ursprünglich ist. So findet man dann auch in modernen Übersetzungen die Angabe, dass dieser Schluss nur in späteren Handschriften vorkommt. Der Zweifel wird gesät, dass es wahrscheinlich nicht authentisch ist.
Aber zum Beispiel zur Sache mit der Ehebrecherin: Augustinus, ein Bibellehrer um 400 nach Christus, schreibt in seinem Kommentar: „Menschen mit wenig Glauben, wenn man überhaupt sagen kann, dass sie Glauben hätten – besser würde man sagen: Menschen ohne Glauben – haben diesen Abschnitt aus ihren Handschriften entfernt, weil sie meinten, dieser Abschnitt gebe Frauen die Rechtfertigung für Ehebruch.“
Ja, also ein Mann aus dieser frühen Zeit der Kirchengeschichte sagt, Leute haben das aus ganz bestimmten Motiven entfernt. Natürlich kann man mit dieser Stelle keinen Ehebruch rechtfertigen. Jesus sagt zu dieser Frau: „Hat dich niemand verurteilt?“ „Niemand, Herr.“ Und er sagt: „Gehe hin, sündige nicht mehr.“ Er gibt ihr die Möglichkeit, von null zu beginnen, aber mit einer radikalen Umkehr. Die Sünde wird dabei nicht irgendwie verharmlost.
Es ist wie in Johannes 5, wo der Herr Jesus zu dem Gelähmten, den er geheilt hatte, sagt: „Sündige nicht mehr, damit dir nichts Schlimmeres widerfahre.“ Vielleicht können wir heute Nachmittag noch über diese Stelle sprechen, Johannes 7, und welche internen starken Argumente es gibt, dass dieser Text absolut echt ist. Aber aufgrund von wenigen Handschriften reißen sie ihn heraus und machen den Text unsicher.
So ist zum Beispiel auch zu erwähnen 1. Timotheus 3,16. Dort heißt es anerkannt: „Groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist geoffenbart worden im Fleisch.“ Nun haben ganz wenige Handschriften – wirklich ganz, ganz wenige – die Lesart: „Anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit, welcher geoffenbart worden ist im Fleisch.“ Und Nestle-Aland sagt, das sei der richtige Text, Gott sei herausgenommen worden.
Auch da passt es zur Vermutung, dass eher Lehrer Änderungen vornahmen, um dieses Zeugnis für die Gottheit Christi zu vernichten. Zum Beispiel in Judas 4 haben wir noch ein Beispiel. Dort heißt es im Mehrheitstext: „Von Leuten, die sich eingeschlichen haben und den alleinigen Gebieter Gott und unseren Herrn Jesus Christus verleugnen.“ Im Mehrheitstext ist klar, dass der alleinige Gebieter, Gott und Herr die gleiche Person, Jesus Christus, ist. Hier wurde Gott herausgestrichen.
So merkt man nicht nur sehr viele Flüchtigkeitsfehler, sondern auch ganz bewusste Angriffe. Zum Beispiel Apostelgeschichte 13,20: Dort ist ein Fehler drin. Nestle-Aland sagt, Paulus hätte in der Synagoge gepredigt und gesagt, wie das Volk Israel aus Ägypten herausgezogen ist, 40 Jahre durch die Wüste zog, dann ins Land kam, 450 Jahre dort war und danach gab er ihnen Richter.
So ein Unsinn! Wenn man das Alte Testament durchrechnet mit den Zahlen, sieht man, die Richterzeit dauerte 450 Jahre. Nicht zuerst 450 Jahre und dann kamen die Richter. Nein, wenige Jahre nach dem Tod Josuas kam der erste Richter Othniel. Im Mehrheitstext ist es richtig. Also ein ganz klarer Fehler.
Natürlich könnten sie jetzt argumentieren, die schwierigere Lesart sei die richtige. Ja gut, wenn ein Fehler dann die ursprüngliche Lesart sein soll, haben wir ein Problem mit der Inspiration. So könnte man weitere Beispiele anführen, die zeigen: Natürlich ist das meiste ja alles völlig klar, aber das Ganze ist noch viel, viel klarer. Das ist auch wichtig in Bezug auf die Ungläubigen.
Wenn wir ganz klar von den Fakten ausgehen, können wir ihnen zeigen: Ja, wir können sogar vom ganzen Neuen Testament sagen, was der richtige Text ist. Es ist nicht so, dass zehn Prozent diskussionswürdig wären. Nein, der Mehrheitstext ist so klar für das ganze Wort. Dadurch ist natürlich die ganze Argumentation zur Überlieferung und Bewahrung der Bibel viel, viel stärker.
Wenn wir da mit Nestle-Aland operieren, schwächen wir die Überzeugungskraft. Im Zeugnis können wir nur viel überzeugender argumentieren für die Exaktheit des Neuen Testaments. Das macht Muslimen zum Beispiel echten Eindruck. Die freuen sich natürlich über die Argumentation eines Nestle-Aland-Anhängers: „Ja, Markus 16 Schluss, weiß er ja auch nicht, ob das dazugehört.“
Ein Muslim, ein geistlicher Führer in Lausanne, hat mir mal so ein Abwaschmittel als Brief geschickt und gesagt, ich solle das trinken. Ich hätte mich auf Markus 16 berufen. „Werden Sie etwas Giftiges trinken, und ihr glaubt ja nicht mal, was in der Bibel steht.“ Und dann der nächste Schritt wäre: „Und überhaupt, ihr wisst ja nicht mal, ob das wirklich in der Bibel steht oder nicht, Markus 16.“
Aber darüber können wir vielleicht heute Nachmittag sprechen. Ich will damit zeigen: Die Sache ist viel klarer, als sie oft dargestellt wird. Die Argumente für den Mehrheitstext müssen wir sachlich bringen und auch auf die Gegenargumente hören. Nicht streiten, sondern so miteinander sprechen: „Ja gut, hast du das auch mitberücksichtigt?“ So kann man miteinander weiterkommen.
Das gilt nicht nur in dieser Frage, sondern in allen möglichen Fragen, wo es etwas zu diskutieren gibt. Wir müssen auf brüderliche, liebevolle Art miteinander umgehen. Dabei müssen wir uns bemühen, korrekt, sachlich, biblisch und geistlich zu argumentieren.
Ja, wir machen jetzt Pause, Mittagspause.