Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Wir wollen noch einmal beten: Herr, zeig uns dein königliches Walten. Bring Angst und Zweifel selbst zur Ruh. Du wirst allein ganz Recht behalten. Herr, mach uns still und rede du. Amen.
Liebe Gemeinde hier vor Ort in Hannover und auch alle Lieben, die an anderen Stellen jetzt mit dabei sind:
Sobald jemand Macht über uns hat, ist die entscheidende Frage: Wer hat Macht über den Mächtigen? Wen erkennt derjenige, der Macht über uns hat, seinerseits als höchste Instanz an?
Macht ist hier ganz wertneutral gemeint, im Sinne von Überordnung und Unterordnung. Das gilt in der Politik, im Arbeitsleben und in der Familie. Macht kann Gutes bewirken, aber auch missbraucht werden.
Eltern zum Beispiel haben nach biblischem Verständnis Macht über ihre Kinder. Diese Macht müssen sie sehr sorgfältig einsetzen, damit die Kinder geborgen aufwachsen können. Für die Kinder ist dann entscheidend: Wer hat Macht über meine Eltern? Wem wissen meine Eltern sich verantwortlich? Wem gehorchen sie?
Es ist das Wesen christlicher Erziehung, dass Eltern sich bewusst der Gottesmacht, der Gottesautorität unterstellen und dass sie dies auch gegenüber ihren Kindern kommunizieren. Die Kinder wissen also, auch meine Eltern haben jemanden, dem sie ihrerseits gehorchen.
Welche Macht achtet der Mächtige über sich?
Der Schlüsselsatz unseres Predigttextes heute Morgen stammt von einem Herrscher, von einem mächtigen Mann. Wir lesen das in Vers 6 – und immer wenn ich nur den Vers nenne, meine ich Genesis 42, also dieses Kapitel, aus dem wir eben die Lesung gehört haben.
Da heißt es in Vers 6: „Joseph war der Regent im Lande und verkaufte Getreide an das ganze Volk im Lande.“ Er war also ein mächtiger Mann, ein Regent.
Und derselbe Joseph bekennt gegenüber seinen Brüdern, die ihn zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erkannt haben, dass sie seine Brüder sind. Er bekennt in dieser Begegnung, in der sie nur den mächtigen Verwaltungschef erkennen – den Chef, in dessen Händen jetzt ihr Schicksal liegt, von dem möglicherweise abhängt, ob sie verhaftet werden oder als freie Menschen wieder gehen können – er bekennt gegenüber diesen Brüdern in Vers 18: „Ich fürchte Gott.“
„Ich fürchte Gott“, sagt dieser Mächtige. Das heißt: Ich ehre Gott. Gott ist die Instanz, der ich mich unterordne. Gott ist derjenige, vor dem ich mich in Ehrfurcht beuge. Ich fürchte Gott.
Das bedeutet: Meine Entscheidungen erfolgen nicht aus Willkür. Sie erfolgen nicht nach Lust oder Laune oder Gutdünken. Ich stehe mit meinen Entscheidungen in der Verantwortung vor einem Höheren, dem ich Verantwortung schulde, dem ich Rechenschaft gebe und dessen Urteil über mein Leben entscheidet.
Sobald also ein Mensch Macht über uns hat, ist die entscheidende Frage: Wer hat Macht über den Mächtigen?
Genau das ist auch der Sinn des Amtseides, den jeder Bundeskanzler bei Amtsantritt ablegen muss – ebenso wie seine Minister.
Die Standardformel im Grundgesetz, also für unseren Kanzler und die Minister, lautet folgendermaßen:
„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde, so wahr mir Gott helfe.“
So wahr mir Gott helfe.
Auf Wunsch kann der Amtsinhaber die religiöse Formel, wie man sagt, auch weglassen. Was ich vorgelesen habe, ist der Standard. Und auf Wunsch kann der Amtsinhaber sie weglassen.
Der amtierende Bundeskanzler Scholz und sieben Bundesminister haben bei ihrer Vereidigung im Dezember 2021 von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Sie haben die Gottesformel streichen lassen.
Klar, wenn jemand diese Formel spricht, kann das auch eine traditionelle Floskel sein, die keine Folgen für seine politischen Entscheidungen hat. Man macht es dann eben, weil es so zum Standard gehört.
Man kann auf Gott schwören und dennoch seine Schöpfungsordnung mit den Gesetzen bekämpfen, die man anschließend erarbeitet.
Aber wenn sich jemand bewusst entscheidet, diese Formel wegzulassen – also den Standard zu ändern –, dann ist das ein Statement.
Dann heißt es: Ich lasse mich nicht binden an den biblischen Gott, mit dem die Präambel des Grundgesetzes beginnt.
Die Historikerin Hedwig Richter hat das im Dezember 2021 auch kritisiert, dass etliche Minister auf den Glaubenssatz verzichteten. Sie sagte: „Mir fehlt das ,so wahr mir Gott helfe‘. Es ist eine Geste der Selbstrelativierung“, schrieb sie auf Twitter. Eine Geste der Selbstrelativierung – also dass ich zugestehe, ich bin nicht die letzte Macht.
Es war daher nicht verwunderlich, dass die Zeit wenige Tage nach dem Amtseid – also auch noch im Dezember 2021 – auf ihrer Titelseite den Kernsatz eines Interviews mit dem neuen Kanzler in großen Lettern abdruckte.
Dieser Kernsatz lautete: „Für meine Regierung gibt es keine roten Linien mehr.“
Damals bezog sich das auf den Umgang mit den Corona-Maßnahmen.
Bei diesem Satz lief es vielen geschichtsbewussten Zeitgenossen eiskalt den Rücken hinunter, denn dieser Satz besagt im Kern: Ich erkenne keine Grenze an, die mir irgendjemand setzen könnte.
Soweit meine Macht reicht, kann ich handeln, weil ich es kann. Für mich gibt es keine roten Linien mehr.
Dazu passte, dass von da an ein Generalmajor Karsten Breuer eingesetzt wurde – also ein Militär –, um die Impfkampagne voranzutreiben.
Auch das stand schon im Konflikt mit dem Grundgesetz, Artikel 87a.
In unserem Predigttext formuliert Joseph ein Gegenprogramm. Dieses steht im Gegensatz zu dem Satz: „Für meine Regierung gibt es keine roten Linien mehr.“
Joseph sagt in unserem Predigttext zu Menschen, die ihm machttechnisch haushoch überlegen sind: „Ich fürchte Gott, ich fürchte Gott.“ Dieses Bekenntnis ist viel mehr als nur eine Geste der Selbstrelativierung. Es ist ein Bekenntnis, das das Leben dieses Mannes prägt. Joseph weiß sich von Gott abhängig, er fühlt sich ihm verantwortlich und sagt deshalb: „Ich fürchte Gott.“
Joseph bekennt diesen Satz mitten in einem persönlichen Drama, das sich zugleich in einer krisenhaften historischen Situation abspielt. Er steht seinen leiblichen Brüdern gegenüber, die ihn vor zwanzig Jahren in die Sklaverei nach Ägypten verkauft haben. Noch schlimmer: Sie hatten ihn ihrem Vater Jakob gegenüber für tot erklärt.
Zwischen diesen Männern – Joseph und seinen Brüdern – stehen alte Rechnungen. Es sind alte Rechnungen, die nie beglichen wurden, hartes Unrecht, das nie gesühnt wurde. Deshalb heißt der Titel dieser Predigt auch „Alte Rechnungen und neue Aussichten“.
Im Herbst haben wir hier gemeinsam erlebt, wie wir uns schrittweise durch die Kapitel gearbeitet haben. Sie können das auch noch einmal über unsere Homepage im Internet nachhören. Wir haben gesehen, wie Joseph in Ägypten eine biografische Achterbahnfahrt erlebt hat.
Der begabte junge Mann, nachdem er dorthin verkauft worden war, erzielte zunächst große Erfolge. Doch dann wurde er von Neidern und Intriganten zu Fall gebracht, jahrelang im Gefängnis festgehalten. Schließlich durfte er erleben, wie der lebendige Gott ihn erneut zu Ehren brachte. Gott rehabilitierte ihn so weit, dass Joseph schließlich zum mächtigsten politischen Gestalter des großen ägyptischen Reiches avancierte. Er genoss das hundertprozentige Vertrauen des fast allmächtigen Pharaos.
In dieser Machtposition steht er jetzt seinen Brüdern gegenüber.
Auf dem Weg zu dieser Macht hatte Gott in seiner Gnade Joseph, der ihm vertraute und ihm diente, weitreichende Kenntnisse offenbart. Es ging um die bevorstehenden extremen Epochen: sieben Jahre Überfluss an Nahrungsmitteln, gefolgt von sieben Jahren Dürrezeit und Hungergefahr. Wir hatten das alles gesehen.
Joseph hatte sich im Vertrauen auf den allmächtigen Herrn dieser Verantwortung gestellt, die aus diesem Wissen erwuchs. Mit Gottes Hilfe bewährte er sich als souveräner Krisenmanager.
Wir hatten das in 1. Mose 41,39 gelesen, als der Pharao zu Joseph sagte: „Weil dir Gott dies alles kundgetan hat, also mit den sieben mageren und sieben fetten Jahren, ist keiner so verständig und keiner so weise wie du. Du sollst über mein Haus sein, und deinem Wort soll ganz mein Volk gehorsam sein. Nur um den königlichen Thron will ich höher sein als du.“
So regierte Joseph gut in Ägypten. Dieser Entwicklung war es zu verdanken, dass Ägypten, als die Notzeit kam, besser dastand als alle anderen Länder in Nah und Fern. Ägypten wurde zu einer Oase der Hoffnung.
Das haben wir auch in 1. Mose 41,55 gesehen: Als ganz Ägypten Hunger litt – sie hatten länger durchgehalten als die anderen –, und als es sie dann auch erreichte, waren sie nicht hilflos. Das Volk schrie zum Pharao, und der Pharao sprach zu den Ägyptern: „Geht hin zu Joseph, was er euch sagt, das tut.“ Joseph öffnete alle Kornhäuser und verkaufte den Ägyptern das Getreide.
Er hatte also immer noch einen Pfeil im Köcher und konnte die Situation gut bewältigen.
Hochinteressant ist, dass selbst von Kanaan aus betrachtet – und wir wissen ja, Kanaan war das gelobte Land – nun Ägypten plötzlich als gelobtes Land galt. Es wurde zum Hoffnungsanker gegen den drohenden Hungertod.
Das verdankte Ägypten demselben Gott, der Kanaan zum gelobten Land machen würde.
Und damit rückt in unserem Bericht nun Josefs alte Heimat wieder in den Blick: sein Vater Jakob und die verbliebenen elf Brüder. Ich lese den Anfang unseres Textes noch einmal:
Als Jakob sah, dass in Ägypten Getreide zu haben war, sprach er zu seinen Söhnen: „Was seht ihr euch so lange an? Siehe, ich habe gehört, dass in Ägypten Getreide zu haben ist. Zieht hinab und kauft uns Getreide, damit wir leben und nicht sterben.“
Da zogen zehn Brüder Josefs nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Den Benjamin, Josefs Bruder, ließ Jakob jedoch nicht mit seinen Brüdern ziehen, denn er sprach: „Es könnte ihm ein Unglück begegnen.“
So kamen die Söhne Israels, um Getreide zu kaufen, zusammen mit anderen, die mit ihnen zogen. Es war also ein großer Zug nach Ägypten, denn auch im Land Kanaan herrschte Hungersnot.
Joseph war inzwischen der Regent im Land und verkaufte Getreide an das ganze Volk.
Als nun seine Brüder kamen, fielen sie vor ihm nieder zur Erde auf ihr Angesicht. Er sah sie an und erkannte sie, stellte sich ihnen jedoch fremd und redete hart mit ihnen. Er fragte sie: „Woher kommt ihr?“
Sie antworteten: „Aus dem Land Kanaan, um Getreide zu kaufen.“ Obwohl er sie erkannte, erkannten sie ihn nicht. Joseph dachte an die Träume, die er von ihnen geträumt hatte.
Jetzt kommt es zum Aufeinandertreffen – zum ersten Mal nach zwanzig Jahren. Das erklärt auch, warum die Brüder Joseph in seinem neuen Aussehen wahrscheinlich nicht erkannten: Er war glatt rasiert, im Gegensatz zu den Hebräern, und trug die imposante Amtskleidung eines Regenten.
Umso mehr, als er nicht in der vertrauten Muttersprache mit ihnen sprach, sondern sich durch einen Dolmetscher übersetzen ließ. Das erfahren wir in Vers 23: „Sie wussten aber nicht, dass Joseph verstand, was die Brüder untereinander redeten; denn er redete mit ihnen durch einen Dolmetscher.“
Dieser Kontrast kann uns nicht unberührt lassen. Man muss sich das wirklich bildlich vorstellen: Derjenige, den sie vor zwanzig Jahren höhnisch in die Zisterne geworfen und dann an Kaufleute verkauft hatten, steht ihnen jetzt als Regent einer Großmacht gegenüber – was sie nur noch nicht wissen.
Und ja, sie werfen sich vor ihm zur Erde nieder, wie wir in Vers 6 sehen. Das erinnert uns an den Satz aus 1. Samuel 2,3, wo Gott sagt: „Wer mich ehrt, den werde ich auch ehren.“
Das erfährt Joseph hier. Doch dass Joseph Gott ehrt, soll sich nun auch darin zeigen, wie er mit seinen Brüdern umgeht. Auch darin soll sich erweisen, dass er Gott ehrt. Dieser Grundsatz ist ihm so wichtig, dass er ihn gegenüber seinen Verwandten, die noch nicht wissen, dass sie seine Verwandten sind, ausdrücklich bekennt.
In Vers 18, dem Schlüsselvers dieses Textes, sagt er: „Ich fürchte Gott.“
Wollt ihr leben, so tut nun dies, was ich euch gesagt habe. Ihr könnt euch auf mein Wort verlassen. Ihr habt Sicherheit, wenn ihr mir vertraut, denn ich fürchte Gott, sagt er.
Hier liegt der Ansatzpunkt für das, was wir aus diesem Text lernen können und hoffentlich heute mitnehmen. Wie Joseph mit seinen Brüdern umgeht, entscheidet sich letztlich nicht an seinem natürlichen Charakter. Vielmehr bestimmt sein Verhältnis zu Gott sein Verhalten. Natürlich hat unser Verhältnis zu Gott mittelfristig auch Auswirkungen auf unseren Charakter. Aber die Entscheidung fällt nicht anhand seines natürlichen Charakters, sondern an seinem Verhältnis zu Gott.
An dieser Stelle muss ich eine kurze Erklärung einschieben: Das bedeutet nicht, dass Menschen, die Gott nicht fürchten, sich immer schlecht und gemein verhalten. Das ist nicht zwangsläufig so. Ebenso bedeutet es nicht, dass gläubige Menschen, also solche, die sich zum Gott der Bibel bekennen, immer edel und rücksichtsvoll reagieren. Leider ist das ebenfalls nicht immer der Fall.
Ein Grund, warum das nicht so einfach funktioniert, liegt darin, dass auch ungläubige Menschen Geschöpfe des heiligen Gottes sind. Sie tragen das Ebenbild Gottes, die Imago Dei, und können deshalb viel Gutes tun. Andererseits sind auch bekehrte Menschen, also solche, die zu Jesus gehören, weiterhin Sünder und können manchmal sehr viel Böses tun.
Deshalb wäre es niemals möglich, Menschen allein aufgrund ihres Verhaltens in Christen und Nichtchristen einzuteilen. Das geht nicht, weil wir niemandem ins Herz schauen können.
Wenn aber ein Mensch den Anspruch erhebt, dem Gott der Bibel zu gehören, und sagt: „Ja, ich will mit meinem Leben Gott dienen, ich vertraue Jesus als meinen Herrn und König, und das soll sich auch in meinem Leben zeigen“, dann sollte er das gleiche Ziel verfolgen, das Joseph in Vers 18 bekennt: „Ich fürchte Gott.“
Ihr könnt euch auf meine Worte verlassen, ihr sollt wissen, dass ich es ehrlich mit euch meine, dass ich im besten Sinne berechenbar bin, weil ich Gott fürchte. Das ist der Ausgangspunkt.
Nun müssen wir fragen, woran man bei Joseph erkennt, dass er Gott fürchtet. Wie zeigt sich die Furcht Gottes bei ihm? Woran könnten wir festmachen, dass Joseph Gott fürchtet? Und wie bestimmt diese Gottesfurcht sein Verhalten in der Konfliktsituation mit seinen Brüdern? Das wollen wir nun in diesem Text erkennen.
Und das Erste, was wir sehen, woran man erkennen kann, dass er Gott fürchtet, ist: Er rechnet mit Gottes Regie. Das ist der erste Punkt. Er rechnet mit Gottes Regie, und das hatten wir in Vers 9 gesehen. Dort heißt es in Vers 8: „Aber wiewohl er sie erkannte, die Brüder erkannten ihn doch nicht.“ Joseph dachte an die Träume, die er von ihnen geträumt hatte. Das ist die Kategorie.
Hochinteressant ist, dass Vers 9 uns die Gedanken von Joseph schildert. Das haben Sie gehört: „Joseph dachte an die Träume.“ Das lässt uns gewissermaßen hinter seine Stirn blicken. Im Alten Testament ist es ganz selten, dass Gedanken von Menschen in dieser Weise geschildert werden, und deswegen ist es auffällig.
Wir sehen hier: Als die Brüder Joseph gegenüberstanden, denkt er an diese Träume. Er ist überhaupt nicht geschockt und auch nicht sonderlich überrascht. Er schreibt das schon gar nicht dem Zufall zu, sondern sieht gleich den größeren Zusammenhang. Er denkt an seine Träume über sie. Er rechnet mit Gottes Regie.
Joseph hat also eine Kategorie, um das, was hier geschieht, einzuordnen und zu verstehen. Er denkt sofort an diese beiden Träume von vor zwanzig Jahren, die noch gut in Erinnerung waren. Ich lese das noch einmal vor. Wir haben das ja in Kapitel 37 gesehen, wo er von diesem Traum ganz frisch berichtet hat, damals vor zwanzig Jahren. In Kapitel 37, Vers 6 heißt es: „Denn er sprach zu ihnen: Hört doch, was mir geträumt hat! Siehe, wir banden Garben auf dem Feld, und meine Garbe richtete sich auf, und stand; aber eure Garben stellten sich ringsumher und verneigten sich vor meiner Garbe.“
Da sprachen seine Brüder zu ihm: „Willst du unser König werden und über uns herrschen?“ Und sie wurden ihm noch mehr Feind um seines Traums und seiner Worte willen. Er hatte noch einen zweiten Traum, der entscheidende, den erzählte er seinen Brüdern auch und sprach: „Ich habe noch einen Traum gehabt, siehe, die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir.“
Das sind die Träume. Und schon damals, vor zwanzig Jahren, hatte Joseph geahnt, dass das keine normalen Träume waren, sondern dass das mit Gott zu tun hatte. Gott gab ihm hier übernatürliche Informationen. Das ist eine starke Ausnahme auch in der Bibel selbst, dass Gott durch Träume Informationen gibt. Aber hier war es so, und darum hatte Joseph diese speziellen Träume nicht vergessen, trotz des inneren Abstands, den er ansonsten im Laufe der Jahre zu seiner alten Heimat gewonnen hatte.
Das hatten wir ja gesehen in Kapitel 41, Vers 51, wo er sagt: „Gott hat mich vergessen lassen, all mein Unglück und mein ganzes Vaterhaus.“ Er hat in diesen 20 Jahren einen gewissen Abstand zu dieser Vergangenheit gewonnen, aber die Träume hatte er nicht vergessen. Dinge, die uns wichtig sind, haben wir auch nach 20 Jahren noch gut in Erinnerung.
Da fällt mir jetzt jedenfalls etwas ein. Ich denke mal, vielleicht sind es dann 18 Jahre zurück, das Sommermärchen 2006 bei der Fußballweltmeisterschaft. Da ging über viele Gesichter ein Strahlen, und wir erinnern uns genau an manche Spiele. Ja, das ist 18 Jahre her.
Oder gehen wir mal ein Jahr zurück, 2005. Da haben wir als BEG erstmals eigene Räume gemietet, nachdem wir vorher in den Hörsälen der Universität gewesen waren, am alten Flughafen. Ich erinnere mich noch genau, wie wir das geplant haben, wie wir das eingerichtet haben, wie wir dann den ersten Gottesdienst in den neuen Räumen gefeiert haben, noch mit Second-Hand-Stühlen.
Ich erinnere mich noch genau an die Situation, wie meine kleine Tochter sagte: „Das ist doch bestimmt ein besonderer Moment für dich jetzt.“ Sie ahnte etwas von dem, was das für uns bedeutete. Daran erinnert man sich.
Oder gehen wir zurück ins Jahr 2000. Da war für mich im Dezember der Abschluss der Prüfung zu meiner wissenschaftlichen Arbeit in Erlangen, ein Tag vor Nikolaus. Ich habe das noch genau vor Augen und erinnere mich an so viel davon, auch wenn es deutlich mehr als zwanzig Jahre zurückliegt.
So hatten sich dem Josef diese Träume eingeprägt, zumal er in den letzten Jahren an zwei weiteren Punkten ähnliche Bestätigungen erlebt hatte, dass diese speziellen Träume sich erfüllt hatten. Denken wir an die beiden Träume von Pharaos Mitarbeitern, die er im Gefängnis gedeutet hatte und die so eingetroffen waren.
Und jetzt unmittelbar natürlich die Träume von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren, die sich gerade erst vor ihren Augen massiv bestätigten. Damals gab es noch keine Bibel, durch die Gott heute zu uns redet. Aber wie gesagt, auch damals waren Träume als Offenbarung große Ausnahmen.
Später warnt uns Gottes Wort gerade dazu, auf Träume zu bauen. Aber bei Joseph und in ganz wenigen anderen Ausnahmefällen hat Gott seinen Willen auf diese Weise gezeigt.
Und schauen Sie mal: Auch von diesem frühen Traum erfüllt sich ja ein Teil bereits in diesem Kapitel, in unserem Kapitel 42, Vers 6, wo gesagt wird: „Als nun seine Brüder kamen, fielen sie vor ihm nieder zur Erde und auf ihr Antlitz.“ So hat es der Traum gesagt.
Und das hat Joseph sicher in seiner Haltung bestärkt. Der ganze Streit wird sich noch einmal zum Guten wenden. Gottes Möglichkeiten sind unbegrenzt, das weiß die Gottesfurcht.
Die Gottesfurcht rechnet mit Gottes Regie, und das macht sie frei davon – und das ist jetzt ganz wichtig – auf die alten Rechnungen fixiert zu sein. Thema: Alte Rechnungen, neue Aussichten.
Ja, als die Brüder da vor ihm standen, dachte er an seinen Traum. Und er wusste, es ist kein Zufall, dass sie hier sind, und Gott wird es gut ausgehen lassen. Gottesfurcht rechnet mit Gottes Regie, und das ist die erste Auswirkung, die wir hier finden. Sie rechnet mit Gottes Regie auch in den praktischen Irrungen und Wirrungen deines und meines Lebens.
Wir haben keine Träume, durch die Gott uns bestimmte Wendungen unseres Lebens prophezeit. Aber wir haben die Basiszusage, dass Gott unseren Lebenslauf überblickt. Dass Gott unseren Lebenslauf sicher in seinen Händen hält.
Wir haben die Basiszusage, dass Gott sich um unser Leben kümmert. Jesaja 49,16 gilt auch für uns als Christen, wo Gott sagt: „In meine Hände habe ich dich gezeichnet, deine Mauern sind immer vor mir, ich habe dich im Blick.“
Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's gut machen.“
Römer 8,28, wo Paulus sagt, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen werden. Alle Dinge werden dann zum Besten dienen, weil Gott die Regie führt und weil er einen großen Plan und ein gutes Ziel für seine Leute hat.
Gottesfurcht rechnet mit Gottes Regie, und deswegen sind wir gut beraten, wenn wir in solche überraschenden Situationen geraten wie Joseph, dass wir den Herrn dann fragen: „Herr, was ist jetzt eigentlich dein Plan? Ich verstehe momentan gerade nicht, was geschieht. Warum hast du die Dinge so gefügt?“
Und: „Herr, wie soll ich mich jetzt verhalten, um deinem Plan am besten zu entsprechen? Was soll ich jetzt tun? Was ist richtig, um deinem Plan am besten zu entsprechen?“ Beten Sie so!
Und was er jetzt tun sollte, das war dem Josef im Traum ja auch nicht mitgeteilt worden. Also wie er dahin kommt, was dieser Traum sagt, das war ihm ja nicht vorgezeichnet worden von Gott.
Joseph konnte auch nicht einfach abwarten, was passiert, und die Hände in den Schoß legen. Er musste ja handeln. Er musste ja jetzt, da die Brüder da standen, diese Situation weiter klären.
Also das Rechnen mit Gottes Regie macht uns nicht passiv, macht uns überhaupt nicht passiv. Im Gegenteil.
Was Joseph hier sah, war ja ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber auch verglichen mit dem Traum fehlten ja noch zwei wichtige Punkte: Was war mit dem Vater? Der kam mir da auch vor, die Eltern. In dem Traum lebte der noch? Wie ging es dem alten Jakob?
Und hier vor ihm standen ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn Brüder. Im Traum waren es aber elf Sterne gewesen. Wo war die Nummer elf? Wo war der junge Benjamin?
Und der stand ja Joseph am nächsten, weil sie die beiden Jakobssöhne waren, die von Jakobs Lieblingsfrau Rahel geboren worden waren. Wo war Benjamin?
Das war ja alles noch nicht klar. Und das versucht Josef nun alles zu klären in einer Art Verhör, dem er die nichts ahnenden Brüder unterzieht.
Und auch in dem Verhör geht es Josef – Sie werden es jetzt gleich sehen – nicht um alte Rechnungen, sondern er versucht, neue Aussichten zu gewinnen.
Und das ist die zweite Auswirkung seiner Gottesfurcht: Er rechnet mit Gottes Regie und richtet zweitens den Blick beharrlich aufs Ziel.
Lesen wir weiter ab Vers 7:
„Und er sah sie an und erkannte sie, aber er stellte sich fremd gegen sie und redete hart mit ihnen und sprach zu ihnen: Wo kommt ihr her?“
Sie sprachen zu ihm: „Aus dem Land Kanaan, Getreide zu kaufen.“
Obwohl er sie erkannte, erkannten sie ihn noch nicht. Joseph dachte an die Träume, die er von ihnen geträumt hatte, und sprach zu ihnen: „Ihr seid Kundschafter, also Spione, und seid gekommen, zu sehen, wo das Land offen ist.“
Sie antworteten ihm: „Nein, mein Herr, deine Knechte sind gekommen, Getreide zu kaufen. Wir sind alle eines Mannes Söhne, wir sind redlich, und deine Knechte sind nie Kundschafter gewesen.“
Er sprach zu ihnen: „Nein, sondern ihr seid gekommen, zu sehen, wo das Land offen ist.“
Sie antworteten ihm: „Wir, deine Knechte, sind zwölf Brüder, eines Mannes Söhne im Lande Kanaan, und der Jüngste ist noch bei unserem Vater, aber der eine ist nicht mehr vorhanden.“
„Tja, gut gesagt, der eine ist nicht mehr vorhanden.“ Wird Josef auch kurz gestockt haben?
Josef sprach zu ihnen:
„Es ist, wie ich euch gesagt habe, Kundschafter seid ihr, und daran will ich euch prüfen. So wahr der Pharao lebt, ihr sollt nicht von hier wegkommen, es komme denn her euer jüngster Bruder. Sendet einen von euch hin, der euren Bruder hole, ihr aber sollt gefangen sein. Daran will ich eure Rede prüfen, ob ihr mit Wahrheit umgeht. Andernfalls, so wahr der Pharao lebt, seid ihr Kundschafter.“
Und er ließ sie zusammen in Gewahrsam legen, drei Tage lang.
Er richtet den Blick beharrlich aufs Ziel. Wir erleben ihn hier, das haben Sie gemerkt, sehr hartnäckig. Joseph befragt die Brüder wie einen Staatsanwalt in einem Strafverfahren. In Vers 7 ist das zusammengefasst, und dann wird es entfaltet.
Die Ausleger haben viel über die Motive nachgedacht. Warum tritt er hier so fest auf? Ob Joseph zunächst von seinem Ärger gepackt wird und dann erst allmählich das Mitleid mit den Brüdern die Oberhand gewinnt – so haben einige gerätselt. Aber der Kontext spricht eher dagegen.
Der Kontext spricht eher dagegen, als würden hier alte Rechnungen beglichen. Schon in Vers 7 wird Josephs Vorgehen als sehr kontrolliert und besonnen dargestellt: „Er sah sie an und erkannte sie und stellte sich fremd gegenüber ihnen und sprach hart mit ihnen.“ Das ist alles gezielt. Es ist offensichtlich keine Emotion, die sich hier Bahn bricht.
Ich stimme Karl Friedrich Keil zu, einem alten Ausleger, der es so beschrieben hat: Er sagt, Joseph habe mit seinen harten Aussagen durchaus nicht beabsichtigt, seinen Brüdern eine gerechte Strafe für den gegen ihn verübten Frevel zu geben. Von so niedriger Rache war sein Herz fern. Vielmehr wollte er damit nur über ihre Herzensstellung genauere Einsicht gewinnen.
Ich denke, das trifft den Vorgang gut. Er wollte sich Klarheit verschaffen: Wie denken sie? Wie ticken sie? Wie sieht es in ihrem Herzen aus?
Jetzt schauen wir genauer hin, wie Joseph die Brüder mit seinen Fragen nahezu einschnürt. Viermal konfrontiert er sie mit dem Vorwurf, Spione zu sein:
Sie müssen wissen, dieser Vorwurf war historisch nicht aus der Luft gegriffen. In der Tat hatte Ägypten in jenen Zeiten wiederholt genau dieses Problem, dass sie ihre Landesgrenzen nicht gut sichern konnten.
Deswegen in Vers 9 diese Formulierung: „Ihr seid gekommen, zu sehen, die Blöße des Landes.“ Das war die Sorge vor Nomadenstämmen, die immer wieder von der Wüste her in das Land eingedrungen sind – in Hungerszeiten natürlich erst recht.
Natürlich wusste Joseph, dass das bei seinen Brüdern nicht der Fall war, dass sie keine Spione sind. Und er weiß auch, dass sie im Grunde genommen die Wahrheit sagen. Aber Joseph nutzt diesen Vorwurf, um sie erst einmal zum Reden zu bringen – um die sehnlich begehrten Informationen über den Vater und den Bruder Benjamin zu erhalten, die ja auch zu diesem Traum noch gehörten und deren Existenz noch nicht so ganz klar war.
Auf diese Weise findet Joseph immer mehr heraus. Zunächst antworten sie in Vers 11: „Wir alle sind Brüder, Söhne eines Vaters, der erst noch lebt.“ Das wusste er.
Dann erfährt er in Vers 13: Sie sind insgesamt zwölf, einer ist noch zuhause, der andere ist nicht mehr vorhanden. Die Formulierung ist durchaus ambivalent. Sie kann bedeuten, er ist abwesend, oder auch, er ist verstorben.
So leicht lässt Joseph sie nicht davonkommen, weil er ja auch unbedingt seinen jüngeren Bruder wiedersehen will. Deswegen setzt er noch einmal nach in Vers 14 und sagt:
„Es ist, wie ich euch gesagt habe, Kundschafter seid ihr, und daran will ich euch prüfen. So wahr der Pharao lebt, ihr sollt nicht von hier wegkommen, es komme denn her euer jüngster Bruder. Sendet einen von euch hin, der euren Bruder hole, ihr aber sollt gefangen sein. Daran will ich eure Rede prüfen, ob ihr mit Wahrheit umgeht.“
Joseph sagt das hier ausdrücklich: Er will nicht nur Informationen, sondern er will die Herzenseinstellung seiner Brüder prüfen. Er will herausbekommen, was sich in den letzten zwanzig Jahren bei ihnen innerlich getan hat oder nicht.
Helmut Frey weist darauf hin, dass der Begriff „prüfen“, der hier zweimal steht – in Vers 15 und in Vers 16 –, auch das Prüfen des Edelmetalls im Schmelztiegel bezeichnen kann.
Bei diesem Prüfen geht es einmal um die Feststellung der Echtheit: Ist es echt?
Aber bei diesem Prüfen im Schmelztiegel geht es zweitens auch um einen Veränderungsprozess, darum, dass es gereinigt und abgeschliffen wird.
Helmut Frey schreibt das sehr treffend: „Der Abschnitt zeigt uns die Brüder im Schmelztiegel Gottes, darin wird nicht nur festgestellt, was in ihnen war, sondern auch etwas Neues in ihrem Glaubensleben entsteht, wächst und reift.“
Es ist Entscheidungszeit im Leben dieser Männer, Prüfungszeit.
Josephs Verhör – wenn Sie das genau lesen, und ich empfehle sehr, nehmen Sie sich heute Nachmittag dieses Kapitel noch einmal vor und bündeln Sie alles, was wir jetzt versuchen, in der Predigt zusammenzutragen – zielt letztlich auf eine seelsorgerliche Wirkung: Dass die Brüder zur Einsicht über ihre Missetat kommen, dass sie etwas von ihrer eigenen Boshaftigkeit verstehen und dass sie vielleicht noch einmal nachvollziehen können, was sie ihm damals angetan haben.
So steckt er sie jetzt in Untersuchungshaft für drei Tage mit der Aussicht, dass einer von ihnen zurückreist, um den jüngeren Bruder heranzuholen.
In Vers 16 sagt er: „Sendet einen von euch hin.“
Und in Vers 17: „Er ließ sie zusammen in Gewahrsam legen, drei Tage lang.“
Stellen Sie sich die Brüder diese drei Tage im Gefängnis vor. Sie werden wahrscheinlich gegrübelt haben: Wer von uns darf losziehen? Wen wird er wegschicken?
Doch der Text macht sofort deutlich, dass Joseph damit nicht sein Mütchen kühlen will, sondern dass er letztlich für alle die Situation vor Gott klären will. Darum verfolgt er so hartnäckig sein Ziel.
Er schont dabei weder sich noch die anderen, aber er versucht zugleich, den Brüdern einen Ausblick nach vorn zu öffnen.
Jetzt kommt dieser Satz in Vers 18 wieder:
„Am dritten Tag, nachdem sie drei Tage eingebuchtet waren, sprach er zu ihnen: ‚Wollt ihr leben, so tut nun dies, was ich euch sage.‘“
Dann kommt der entscheidende Satz: „Denn ich fürchte Gott. Ihr müsst keine Angst vor mir haben. Ihr könnt euch darauf verlassen, dass wir das hier auf eine faire, reelle Weise durchziehen, denn ich fürchte Gott.“
Dann fährt er fort:
„Seid ihr redlich, so lasst einen eurer Brüder gebunden liegen in eurem Gefängnis, ihr aber zieht hin und bringt heim, was ihr gekauft habt für den Hunger, und bringt euren jüngsten Bruder zu mir, so will ich euren Worten glauben, so dass ihr nicht sterben müsst.“
Sie gingen darauf ein.
Wenn Sie diese Verse 18 bis 20 lesen, dann spüren Sie förmlich, wie sich der Klammergriff langsam löst und wie auch die Bedingungen noch einmal deutlich erleichtert werden.
Vorher hieß es, einer darf nach Hause und die anderen bleiben hier. Jetzt hat sich das schon umgekehrt: Einer muss hierbleiben als Pfand vor Ort, aber alle anderen dürfen jetzt schon in die Heimat ziehen. Sie sollen auch unbedingt die erworbenen Nahrungsmittel mitnehmen.
Es wird heller.
Jetzt, allmählich – das werden Sie gleich ganz genau sehen – bahnt sich an, worauf Joseph offensichtlich gehofft hatte: dass sich nämlich im Herzen seiner Brüder etwas bewegt und verändert.
Was hier der Gottesfurcht geschenkt wird: Sie rechnet mit Gottes Regie, sie richtet ihren Blick beharrlich nach vorn und drittens rührt sie das Gewissen der Brüder.
Sie rührt das Gewissen der Brüder, und das lässt uns der Text jetzt miterleben. Sehen Sie Vers 21: „Sie sprachen aber untereinander: Das haben wir an unserem Bruder verschuldet, denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören. Darum kommt nun diese Trübsal über uns.“
Ruben antwortete ihnen und sprach: „Sagt’ ich’s euch nicht damals, als ich sprach: Versündigt euch nicht an dem Knaben? Doch ihr wolltet nicht hören. Nun wird sein Blut gefordert.“
Sie wussten aber nicht, dass Josef sie verstand, denn er redete mit ihnen durch einen Dolmetscher. Verstehen Sie, was hier passiert? Wir können miterleben, wie diese Männer angerührt werden, wie sie innerlich in Bewegung kommen. Sie reden ganz ungeschützt miteinander, da sie ja davon ausgehen, dass Josef davon nichts versteht. Die anderen wissen also immer noch nichts. Jetzt endlich beginnen sie, ihre Schuld einzusehen und auch voreinander zuzugeben.
Im Vers 21 sagen sie: Unsere bedrückende Situation haben wir uns selbst eingebrockt – wegen unserer Schuld. Wie wir damals Joseph gegenüber gehandelt haben, da haben wir Schuld auf uns geladen. Diese Rechnung ist bis heute offen, denn sie wurde nie geklärt oder bereinigt. Jetzt holt uns diese Schuld ein, und zwar bei einer Aktion, die für sich genommen völlig okay ist: hier nach Ägyptenland zu gehen, um Getreide zu kaufen. Das ist an sich völlig in Ordnung. Aber jetzt holt uns das ein. Gottes Mühlen mahlen langsam, und wir können seiner Gerechtigkeit nicht entkommen.
So finden wir das auch im Neuen Testament wieder, etwa in Matthäus 7,2, wo Jesus in der Bergpredigt sagt: „Mit welchem Maß ihr messt, mit solchem Maß wird auch euch gemessen werden.“ Oder die andere Formulierung bei Paulus in Galater 6,7: „Was der Mensch sät, das wird er ernten.“
Das begreifen Sie hier. Aber schauen Sie mal, wie interessant auch, dass Ruben sich noch daran erinnert, wie er seinerzeit vor zwanzig Jahren versucht hatte, den kleinen Bruder zu schützen. Doch letztlich nur halbherzig. Das hatten wir damals gesehen: Er hat es nicht wirklich durchgezogen, hat sich nicht dazwischengeworfen, sondern letztlich doch mitgemacht. Er war dann auch in der Szene damals zwischenzeitlich verschwunden. Deswegen weiß man nicht genau, was er mit dieser Formulierung meint: „Nun wird sein Blut gefordert“ am Ende von Vers 22. Glaubt er vielleicht auch die Lügengeschichte, die sie dem Vater erzählt hatten, dass Joseph nämlich damals durch ein wildes Tier umgebracht worden war? Sein Blut – oder meint er mit „Blut“ einfach dieses Kapitalverbrechen, das sie begangen haben, als sie Josef gekidnappt und dann als Sklaven verkauft haben? Das ist hier nicht ganz klar.
Was den Ruben ehrt, ist, dass er nicht versucht, sich aus dieser Verantwortungsgemeinschaft davonzustehlen oder sich irgendwie rauszureden. Er sagt: Leute, ich habe euch damals gewarnt. Aber er bekennt sich trotzdem hier eindeutig als Mitschuldiger, als einer, den die Strafe ebenfalls zu Recht trifft.
Und da sehen wir, welche segensreiche Wirkung Josefs Gottesfurcht hier bei seinen Brüdern auslöst. Sie beginnen selbst zu verstehen, dass der heilige Gott zu fürchten ist. Sie erwachen gewissermaßen zur Gottesfurcht. Sie begreifen allmählich: Wir können uns nicht versündigen und irgendwann vor den Konsequenzen davonlaufen. Diese Konsequenzen haben es mit Gott zu tun, und wir können ihm nicht entkommen. Es wird uns einholen, wir können uns nicht aus der Geschichte davonschleichen. Und dann: Was wird aus uns, wenn dieser heilige Gott uns richtet?
Gottesfurcht rührt das Gewissen der Brüder. Diese Sensibilisierung zeigt sich auch daran, dass sie für die Not ihres Opfers damals einen neuen Blick bekommen. Nach zwanzig Jahren erhalten sie einen neuen Blick für die Welt ihres Bruders. Sie erinnern sich an etwas von vor zwanzig Jahren, was bis dahin in ihren Gesprächen offensichtlich nie eine Rolle gespielt hatte.
Schauen Sie Vers 21: „Wir sahen die Angst seiner Seele, wie er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören.“ Jetzt erinnern sie sich daran. Auch wir als Leser erfahren dieses Detail über jene Szene von vor zwanzig Jahren. Bis dahin war es nie angesprochen worden.
Sie sahen die Angst seiner Seele, wie er sie anflehte, und sie wollten ihn nicht erhören. Das war ein Tabu gewesen – wie er gebeten, gebettelt und gejammert hatte, wahrscheinlich: Brüder, bitte macht es nicht, lasst mich frei, bitte! Und sie hatten das kalt übergangen. Dann hatten sie es zwanzig Jahre lang erfolgreich verdrängt und verschwiegen. Jetzt, nach zwanzig Jahren, kommt es hoch.
Für Josef ist es natürlich eine besondere Situation, die Gott ihm ermöglicht: dass er dieses unfreiwillige Geständnis mithören darf. Sie denken ja, er versteht nichts. Und er kann daran sehen, wie die Herzen seiner Brüder unter dem Druck der Situation langsam aufbrechen.
Josephs spontane Reaktion darauf verschweigt der Text nicht. Schauen Sie, wie es weitergeht: „Sie wussten aber nicht, dass es Josef verstand, denn er redete mit ihm durch einen Dolmetscher, und er wandte sich von ihnen ab und weinte.“
Das ist die Reaktion: Er wandte sich von ihnen ab und weinte. Warum er weint, wird hier nicht näher erklärt. Aber vom Zusammenhang her ist nachvollziehbar, dass sich in diesen Tränen von Joseph wahrscheinlich vieles mischte: Die Erinnerung an die damalige Not, die ihn seine Heimat kostete, die zwanzigjährige Trennung vom Vater und von der Familie.
Er weinte, aber da mischte sich sicher auch Dankbarkeit für die wunderbare Führung Gottes in seinem Leben hinein. Was war aus ihm geworden? Vor allem aber denke ich, ist es die Rührung über die Bewegung in den Herzen seiner Brüder. Er merkt, sie beginnen zu verstehen, was damals geschehen ist. Vor allem merkt er, dass sie anfangen, mit Gott zu rechnen. Sie fangen endlich an, ihre Verantwortung vor Gott zu erkennen und zu ahnen, dass sie Vergebung brauchen.
Karl Friedrich Keil sagt, Joseph weinte vor innerer Bewegung über die wunderbare Gnadenführung Gottes und über die Sinnesänderung seiner Brüder.
An dieser Reaktion, an diesem weinenden Joseph, sehen wir ein letztes Merkmal, das die Gottesfurcht hier in seinem Leben bewirkt und das die Gottesfurcht auch in deinem und meinem Leben bewirken will: Gottesfurcht rechnet mit Gottes Regie. Sie richtet ihren Blick beharrlich nach vorn. Sie rührt das Gewissen der Brüder und reagiert schließlich aus einem großen Herzen.
Gottesfurcht entspringt einem großen Herzen, und Joseph weinte. Wer Gott fürchtet, kommt irgendwann zu einem realistischen Verständnis seiner Schuld vor Gott. Es kann nicht anders sein, wenn jemand Gott wirklich fürchtet.
Dieser Mensch wird dann glücklich über die Vergebung durch Jesu Gnade. Er begreift: Wenn Gott mich auf meine Schuld behaftet hätte, wäre ich für immer sein Feind geblieben. Aber Gott hat sich über mich erbarmt, mich begnadigt und Jesus geschickt. Ich darf zu ihm kommen, um Vergebung bitten und das Versprechen empfangen: Dir sind deine Sünden vergeben.
Wer das erfährt, staunt über diese Führung. Wer Gottes Furcht und alle ihre Folgen erlebt, wie kann der auf Dauer engstirnig und kleinkariert bleiben? Wie kann er sich gegenüber der Not seiner Brüder verschließen, selbst wenn diese Not durch deren Schuld verursacht sein sollte?
Hier sehen wir hinter aller Hartnäckigkeit Josephs, hinter seiner Führungsstärke und Konsequenz, die wir bewundern, letztlich ein großes Herz. Es steckt ein im besten Sinne weiches Herz dahinter, und Joseph weinte. Das werden wir in den nächsten Kapiteln noch häufiger sehen. Schon jetzt, in Kapitel 43, zum Beispiel, als es zur Begegnung mit dem Bruder kommt, heißt es in 43,30: „Und Joseph eilte hinaus, denn sein Herz entbrannte ihm gegen seinen Bruder, und er suchte, wo er weinen könnte, und ging in seine Kammer und weinte daselbst.“
Es gibt noch weitere Stellen, die zeigen, dass er nicht hartherzig war. Joseph ist das Gegenteil eines machtversessenen Apparatschiks. Er ist auch nicht ein eiskalter Funktionär, denn er ist geprägt von der Güte und Liebe des heiligen Gottes – dieses Gottes, der ihm alles bedeutet und der sich über ihn erbarmt hat.
Vermutlich ist es etwas spekulativ, aber wahrscheinlich würde Joseph sich am liebsten sofort den Brüdern offenbaren und sagen: „Leute, kommt an mein Herz!“ Er tut das jedoch noch nicht, weil seine Mission noch nicht ganz abgeschlossen ist. Der Veränderungsprozess in seiner Familie hat gerade erst begonnen. Deshalb will Joseph die verabredete Prozedur so umsetzen, wie geplant. Er kann den Brüdern noch nicht zu viel auf einmal zumuten.
So gibt er sich – wie wir in diesem Vers sehen – nach dem Weinen einen Ruck. In Vers 24 heißt es: „Und er wandte sich von ihm und weinte, und als er sich nun wieder zu ihm wandte und mit ihnen redete, nahm er aus ihrer Mitte Simeon und ließ ihn binden vor ihren Augen.“ Das war die Geisel.
Joseph gab Befehl, ihre Säcke mit Getreide zu füllen und ihnen ihr Geld wiederzugeben, jedem seinen Sack. Dazu gab er auch Verpflegung für den Weg mit. So geschah es, und sie luden ihre Ware auf ihre Esel und zogen davon.
Als zwischenzeitliche Geisel wählte er Simeon aus, den Zweitältesten der Brüder. Als Ältester wäre eigentlich Ruben dran gewesen, aber den wollte er offenbar schonen – was man nach allem, was er gehört hatte, verstehen kann. Interessant für ihn war auch, dass Ruben sich damals wenigstens für ihn eingesetzt hatte.
So sagte Joseph, Simeon solle hierbleiben, und die anderen neun schickte er nach Hause, auch um den Vater mit Lebensmitteln zu versorgen und den kleinen Bruder so schnell wie möglich herzubringen.
Die Versorgung für den Rückweg erfolgte großzügig und wurde nicht knauserig berechnet. Das macht der Text deutlich: „Er gab Befehl, ihre Säcke mit Getreide zu füllen und ihnen ihr Geld wiederzugeben, jedem seinen Sack, dazu auch Verpflegung für den Weg.“ Sie luden alles auf und zogen weiter.
Gottesfurcht zeigt sich hier auch in Großherzigkeit im materiellen Bereich. Joseph wusste sicher, dass die heimliche Rückgabe des Geldes, wenn sie entdeckt würde, bei den Beschenkten nicht nur Freude, sondern erst einmal Schrecken auslösen würde.
Das sind die letzten beiden Verse, mit denen wir zum Schluss kommen: Als sie das Geld entdeckten, heißt es: „Als aber einer seinen Sack auftat, dass er seinem Esel Futter gäbe in der Herberge, sah er sein Geld, das oben im Sack lag, und sprach zu seinen Brüdern: Mein Geld ist wieder da, siehe, in meinem Sack ist es.“
Da entfiel ihnen ihr Herz, und sie blickten einander erschrocken an und sprachen: „Warum hat Gott uns das angetan?“
Das „Da entfiel ihnen das Herz“ steht hier wörtlich. Die Brüder stehen immer noch unter Bewährung, Simeon ist immer noch in Ägypten gefangen, und sie befürchten offenbar, man könnte sie des Diebstahls bezichtigen. Ob ihnen jemand übel mitgespielt hat, wissen sie nicht. Vor Schreck schauen sie in den anderen Säcken gar nicht nach, obwohl dort ebenfalls das Geld drin ist. Nur einer findet es, und sie sind ganz außer sich und ziehen weiter.
Vielleicht – das wird hier nicht aufgelöst – wollte Josef ihnen einerseits etwas Gutes tun, sicherlich, und sie zugleich noch ein bisschen durchschütteln, damit ihr Reflexionsprozess weitergeht und sie nicht wieder in ihre gefährliche Selbstsicherheit zurückfallen.
Immerhin zeigt ihre Reaktion – und das ist schön zu sehen – dass sie schon einiges begriffen haben. Sie haben verstanden, dass wir in allem, was uns widerfährt, es irgendwie mit Gott zu tun bekommen.
Das haben sie begriffen: In allem, was uns widerfährt, bekommen wir es mit Gott zu tun, weil er seine Hand auf unser Leben gelegt hat und wir ihm Rechenschaft schuldig sind. Deshalb fragen sie sich angesichts dieser aufwühlenden Entdeckung sofort – etwas, das sie früher nie getan hätten – warum Gott ihnen das angetan hat.
Das ist der letzte Satz in unserem Text heute: „Warum hat Gott uns das angetan?“ Das heißt, ihr Gewissen ist wach geworden. Sie fangen an, jetzt in allen Zusammenhängen mit Gott zu rechnen. Ihr Gewissen ist wach geworden, aber sie haben noch nicht verstanden, wie das Gewissen Frieden mit Gott finden kann.
Helmut Frey hat das großartig auf den Punkt gebracht: Diese Angst, die sie jetzt ausstehen, ist eine Angst, wie nur der sie vor Gott haben kann, der zum Schuldbewusstsein erwacht ist, aber noch keine Vergebung erfahren hat.
Diese Entdeckung steht den Brüdern noch bevor. Haben Sie diese Entdeckung schon gemacht? Sind Sie zum Schuldbewusstsein erwacht und haben Gottes Vergebung erfahren? Haben Sie erkannt, dass es für ein zu Recht aufgewachtes und aufgescheuchtes Gewissen nur eine einzige Rettung gibt, nur eine Medizin, nur einen Weg, Frieden mit Gott zu finden?
Das ist Gottes Erbarmen – Gottes unverdiente, totale Vergebung, zu der ich mich flüchten darf, in deren Arme ich mich werfen darf. Gott ist offenbarmt. Von Gottes Barmherzigkeit, Treue und Güte werden wir in Genesis noch lesen.
Aber 1800 Jahre später hat Gott diese Vergebung noch leichter zugänglich gemacht. Er hat sie zugänglich gemacht in einem einzigen Namen, in einer Person, an die wir uns wenden dürfen und müssen, wenn wir Frieden mit Gott erlangen wollen.
„So sehr hat Gott die Welt geliebt“ (Johannes 3,16), „dass er seinen eingeborenen Sohn für uns dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern ewiges Leben haben.“
Ich komme zum Schluss. Überlegen wir, wie anders die Begegnung zwischen Joseph und seiner Familie hätte verlaufen können, angesichts der alten offenen Rechnungen, die Joseph seinen Brüdern hätte entgegenhalten können. Er hätte das in höhnischer Schadenfreude sagen können, jetzt, wo sich die Machtverhältnisse umgekehrt hatten: „Das sind die alten unbezahlten Rechnungen, Brüder. Und jetzt wird Klartext geredet.“
Was aber hat die Brüder vor dem Bruder geschützt? Josephs Gottesfurcht. Möge Gott auch unsere Gottesfurcht stark machen. Dann rechnen wir mit Gottes Regie und richten unseren Blick beharrlich nach vorn. Dann rühren wir die Gewissen unserer Brüder und Schwestern, und wir reagieren aus einem großen Herzen – so wie jene alt gewordene Christin, die ihren Enkeln vorlebte, was Gottesfurcht bedeutet. Ihre Enkelin wurde von ihrem großen Herzen tief geprägt und beeinflusst.
Die Enkelin berichtete später von ihrer Großmutter, die ihr Leben lang eine treue Beterin war. Sie steckte in einer unglücklichen Ehe und ertrug unsagbare Nöte. Die Großmutter lebte an der Seite eines Mannes, der das Gegenteil von ihr war: hart, undankbar und ichsüchtig. Hatte er einen schlimmen Tag, mussten sie möglichst schnell das Haus verlassen. Dann sagte die Großmutter: „Kinderchen, geht schnell, der Nordwind weht. Betet für den Großvater, er geht sonst verloren.“
Oft verstanden sie die Großmutter nicht und sagten: „Ja, wenn er so ist, dann hat er es auch nicht anders verdient.“ Einmal sagte ich zu ihr: „Großmutter, gib doch dein Beten auf für den Großvater. Es hat doch keinen Sinn, er wird ja nur immer schlimmer.“ Da nahm sie mich mit in die Küche, stellte eine Küchenwaage auf den Tisch und sagte: „Schau dir diese beiden Waagschalen an. Stell dir vor, Gott hätte eine solche Waage für uns bereitgestellt. In der einen Waagschale sitzt dein schwer gebundener, hartherziger Großvater. Er bringt schon einiges auf die Waage mit seinem harten Herzen. In der anderen Schale liegen meine Gebete und die Gebete von euch Kindern.“
„Denk mal nach: So ein Gebet, vergleich das mal mit dem Gewicht eines Kalenderzettels. Im Vergleich zu deinem schweren Großvater ist das natürlich nichts. Aber nimmst du einen Jahreskalender mit 365 Zetteln, wird es schon etwas schwerer. Und jetzt denk mal an 50 ganze Kalender, die sind schon ganz schön schwer. So lange bete ich schon für deinen Großvater. Ich bin überzeugt, es fehlt nicht mehr viel, bis unsere Gebete mehr wiegen als er. Sie werden ihn zum Himmel emporziehen. Wäre es nicht schade, wenn wir jetzt müde würden mit unserem Beten? Wenn du täglich treu mitbetest, wird Gott uns erhören.“
Die Enkelin schrieb: Ja, so betete auch ich mit, noch sieben Jahre um die Errettung des Großvaters. Nachdem meine Oma 57 Jahre durchgehalten hatte, nahm der Herr Jesus sie zu sich. Ich starb, ohne Gewissheit darüber zu haben, was aus dem Großvater werden würde.
Erst am Sarg der Großmutter brach der hartherzige Großvater zusammen. Jetzt flehte er Jesus um Vergebung an und lieferte ihm sein Leben aus – unter unbeschreiblichen Reuetränen. Gerade ich, die vor sieben Jahren der Großmutter den Rat gegeben hatte, mit dem Beten aufzuhören, durfte mit dem dreiundachtzigjährigen Greis niederknien, mit ihm beten und seine Umkehr erleben.
Dann wurde der einst so gefürchtete Tyrann wirklich zu einem sanften, liebenden, treu betenden Großvater. Er ermahnte viele seiner Besucher unter Tränen, ihr Leben doch zu Christus zu bringen und um Vergebung zu bitten. Das Gewicht der Gebetswaagschalen hatte den alten Großvater doch noch nach oben gezogen, und die Großmutter darf ihm nun im Himmel dafür danken.
So zerreißt Gottes Vergebung die alten Rechnungen und schenkt uns neue Aussichten. Allmächtiger Gott, wir beugen uns in Ehrfurcht vor dir. Herr, wir danken dir für dein Erbarmen, das du auch mit uns gehabt hast und jeden Tag noch hast.
Bitte stärke unsere Gottesfurcht. Bitte mach unsere Herzen groß und weich durch deine Vergebung. Hilf denen, Herr, die die Gewissheit der Gnade und Vergebung noch nicht erfahren haben, dass sie bald zu dir kommen. Dass sie diesen einen einzigen Rettungsweg, den du uns so großzügig eröffnet hast, gehen: Herr Jesus, dass sie dir glauben als ihrem Retter und König. Amen.