Manche Menschen haben den Eindruck, dass die Bibel nur eine freie Erfindung ist. Irgendwo hätten sich Menschen, die wir heute nicht mehr genau kennen, hingesetzt und das aufgeschrieben, was ihnen über Gott in den Sinn kam.
Man kann das Ganze auch noch radikaler ausdrücken: Vielleicht waren es sogar Menschen, die damit ein bestimmtes finanzielles oder machtpolitisches Interesse verfolgten.
Manche behaupten – besonders in dem Bestseller von Dan Brown, „Das Sakrileg“ –, dass erst unter Konstantin dem Großen, vielleicht erst auf dem Konzil von Nicäa, das Neue Testament so zusammengestellt wurde, wie wir es heute kennen.
Wenn man bei Dan Brown und den dort entwickelten Ideen sowie in anderen heutigen Büchern weiterliest, wird gesagt, dass es in der Frühzeit des Christentums ganz unterschiedliche Berichte gab. Diese Berichte seien nach und nach von der großen Kirche unterdrückt worden. Man wollte sie also nicht akzeptieren, weil sie Dinge enthielten, die der Kirche nicht passten.
Und das klingt zunächst wirklich interessant. Gerade in unserer Zeit, in der Verschwörungstheorien florieren und viele Dinge als viel zu einfach angesehen werden, wird vor allem dem Vatikan und der katholischen Kirche jede Art von Fehlverhalten und Betrug zugetraut. Viele sind fast davon überzeugt, egal ob sie die Kirche kennen oder nicht, dass im Geheimarchiv des Vatikans irgendwelche Geheimnisse schlummern.
Es wird vermutet, dass es vielleicht irgendwann einmal eine Päpstin gegeben habe oder dass die Kirche insgeheim Geheimagenten beschäftigt, um die Politik zu beeinflussen. In jedem Fall wird ihr zugeschrieben, dass sie in der Frühzeit der Kirche etwas unterdrückt hätte.
Dieses Missverständnis sollte jedoch dadurch aufgeklärt werden, dass es in der Frühzeit der Kirche noch gar keine Machtinstitution der katholischen Kirche gab. Die katholische Kirche, wie sie heute existiert, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es gab keinen Papst, der nach neueren Dogmen unfehlbar sein soll. Viele der anderen katholischen Dogmen existierten noch nicht, es gab keinen Vatikan und keine riesigen, prächtigen Kirchengebäude.
Stattdessen gab es vor allem einzelne Menschen, die an Jesus Christus glaubten. Gerade in den ersten drei Jahrhunderten wurden sie verfolgt – von der breiten Bevölkerung, vom Staat, von verschiedenen religiösen Gruppierungen, von jüdischen Gruppen sowie von heidnischen, griechischen und römischen Gruppierungen, die die Christen als Konkurrenz ansahen.
In dieser Phase gab es niemanden, der Macht ausüben konnte, um die Entwicklung der Kirche zu beschleunigen oder überhaupt voranzubringen. Deshalb ist es absurd anzunehmen, dass damals solche Verschwörungen stattgefunden haben.
Die tatsächliche Entstehung der Bibel verlief ganz anders und ist wesentlich unspektakulärer.
Wenn apokryphe Evangelien oder apokryphe Schriften des Neuen Testaments erwähnt werden, kann man fast sicher davon ausgehen, dass sie erst im zweiten, viele sogar erst im dritten oder vierten Jahrhundert verfasst wurden. Diese Schriften haben natürlich keine Aussagekraft über das Leben Jesu.
Vor nicht allzu langer Zeit berichtete National Geographic darüber, dass das sogenannte Judas-Evangelium gefunden worden sei. In einer Titelstory wurde verkündet, dass das Judas-Evangelium entdeckt wurde und nun die Geschichte des Christentums umgeschrieben werden müsse.
Es wurde behauptet, Judas sei eigentlich der Lieblingsjünger Jesu gewesen. Jesus habe Judas seine tiefsten Geheimnisse anvertraut. Judas habe Jesus nur in Absprache mit ihm verraten, damit im Nachhinein gezeigt werden könne, wie göttlich und perfekt Jesus sei.
In dem Bericht von National Geographic stand außerdem, dass das Judas-Evangelium ein authentisches, altes und echtes Evangelium sei. Nur in einigen wenigen Fußnoten war zu lesen, dass die gefundene Version des Judas-Evangeliums wahrscheinlich aus dem späten dritten oder frühen vierten Jahrhundert stammt. Die Vorgängerversionen seien frühestens Ende des zweiten Jahrhunderts aufgeschrieben worden.
Und nun muss sich natürlich jeder fragen: Ende des zweiten Jahrhunderts, also rund 200 Jahre nach dem Leben Jesu, wer kann denn noch authentische Informationen über sein Leben liefern – 200 Jahre später?
Heute, da seit dem Leben Jesu bereits 2000 Jahre vergangen sind, haben wir den Eindruck, 200 Jahre seien nicht so viel. Doch 200 Jahre sind enorm viel Zeit. Das wäre vergleichbar damit, wenn ich jetzt plötzlich behaupten würde, ich habe eine neue Idee, wie Napoleon gelebt hat. Meine Idee wäre, dass Napoleon eigentlich ein russischer Spion war. Denn wie sonst könnte man erklären, dass er die große französische Armee nach Russland führte und kaum ein Mann zurückkehrte? Wahrscheinlich hatte er das alles schon vorher genau geplant, um Russland einen Vorteil zu verschaffen.
Zugegeben, das ist eine völlig absurde Verschwörungstheorie. Aber Napoleons Kriege in Europa, insbesondere in Russland, liegen nicht länger als 200 Jahre zurück. Nun könnten Sie oder jeder andere mich fragen: „Welche Quellen hast du denn? Worauf stützt du dich?“ Und ich müsste sagen, ich habe keine. Ich habe das plötzlich so erkannt. Und dann würde mir kein Mensch glauben.
Denn wie soll ich genau wissen, was damals passiert ist, wenn ich keine Quellen und Zeugenaussagen habe, die aus der Zeit stammen? Insofern ist ein Judas-Evangelium für die Überlieferung der Bibel vollkommen irrelevant. Wen interessiert, was 200 Jahre später über Jesus gedacht wurde, wenn man nur spekuliert, es könnte so gelaufen sein? Das hat wenig Aussagekraft.
Es wundert uns daher nicht, dass die frühen Christen das Judas-Evangelium zwar gelesen haben – eher als eine Art frommen Roman –, aber nicht ernsthaft darüber nachgedacht haben, es in die Bibel aufzunehmen.
Ein anderer Teil dieser apokryphen Schriften wurde von der Christenheit nie akzeptiert. Sie waren stets Schriften einer kleinen Minderheit, die sich als Sekte verstand. Das bedeutet, dass sie nicht die christlichen Überzeugungen vertraten, sondern sektiererische Ansichten.
Ein Beispiel dafür sind die Mormonen heute. Die allgemeine Christenheit akzeptiert das Buch Mormon nicht. Dies geschieht jedoch nicht aus bösen Gründen, sondern weil es gute Gründe gibt, die Glaubwürdigkeit des Buches Mormon infrage zu stellen.
Wenn wir nun zweitausend Jahre weiter in die Zukunft blicken und irgendwann das Buch Mormon finden würden, könnte es eine Verschwörungstheorie geben. Diese würde behaupten, dass damals die große Kirche das Buch unterdrückt hat, obwohl es eigentlich die Wahrheit über das Leben Jesu erzählt.
Hier müssen wir klarstellen: Das ist nicht der Fall. Das Buch Mormon wurde nämlich zweitausend Jahre nach der Zeit geschrieben, in der Jesus lebte.