Einleitung und Kontextualisierung der biblischen Geschichte
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Amen!
Wir wollen noch einmal beten. Herr, wir danken dir, dass du uns dieses Kapitel in deinem Wort gegeben hast. Bitte hilf uns, zu verstehen, was du uns damit sagen willst. Herr, heilige uns in der Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit! Amen!
Hier, Gemeinde, Dallas – Dallas war harmlos im Vergleich zu dem, was wir heute Morgen in unserem Predigttext aus Kanaan präsentiert bekommen. Und mit Dallas, Leute meiner Generation werden das wissen, meine ich diese erfolgreiche Fernsehserie, die in Dallas, Texas, spielte. Einige nicken, ich sehe es.
Die Serie kam 1981 aus den USA nach Deutschland. Sie startete 1978 in Amerika, und kurz bevor sie nach Deutschland kam, berichtete ein WDR-Reporter aus Texas Folgendes: 350 Millionen Menschen kennen diesen Auftakt einer Fernsehserie, die als erfolgreichste aller Zeiten gilt und noch ungezählte Folgen haben will. Intrigen und Inzest, Hass und Verblendung, Kain und Abel.
Aus den ursprünglich geplanten fünf Folgen wurden dann 357. Das Ganze zog sich über dreizehn Jahre hin. Im Mittelpunkt steht dort ein niederträchtiger Ölmulti namens J.R. Ewing, immer kurz nur J.R. genannt, der zusammen mit seiner skandalträchtigen Familiensippe das Leben aller gegenseitig schwer macht. Das Drammulett war plump konstruiert, und trotzdem – oder vielleicht sogar deshalb – sehr erfolgreich.
Wegen des Erfolgs haben sich später sogar Wissenschaftler mit dem Phänomen Dallas auseinandergesetzt. Einer schrieb: „Es ist eine Familiensaga, die extrem mit den Klischees spielt – von Kapitalismus, von Familienintrigen, die mit jeder Menge Tabus bricht. Es geht um Untreue, auch innerhalb der Familie. Es werden irrwitzige Geschäftspraktiken angewandt, Betrug. Es ist sehr, sehr extrem und das Gegenteil von dem, was man von familientauglichen Serien erwarten würde.“
Damals forderte sogar ein Bundestagsabgeordneter – was heute kaum noch vorstellbar wäre – von der Regierung, die Serie absetzen zu lassen. Jede Woche, sagte er, werde in Dallas menschliche Niedertracht und Egoismus vorgeführt.
Unser Predigttext heute Morgen ist Genesis 38. Dieser Predigttext kommt in unserer Predigtreihe einfach dran, weil wir letzten Sonntag Genesis 37 ausgelegt haben. Und jetzt kommt eben Genesis 38.
Dieser Text ist in gewisser Hinsicht schlimmer als Dallas. Und er ist schlimmer als Dallas, umso mehr, als es sich eben nicht um einen erfundenen Unterhaltungsstoff handelt, sondern um reale Geschichte hier in Genesis 38. Das ist der Anspruch.
Die Vorgeschichte: Familie Jakob und die Zwietracht unter den Brüdern
Letzten Sonntag hatten wir mit dieser neuen Predigtreihe begonnen. Es geht um die letzten 14 Kapitel der Genesis, die meist als Josefs Geschichte bezeichnet werden. Dieser Abschnitt ist ein wichtiger Teil der Entstehungsgeschichte des Volkes Israel. Dieses Volk steht bis heute im Mittelpunkt der Weltnachrichten und wir bangen mit ihm. Damals jedoch war es erst eine Familie.
Joseph war einer von zwölf Söhnen des Erzvaters Jakob. Das hatten wir letzten Sonntag gesehen, als wir Kapitel 37 gelesen haben: „Jakob aber wohnte im Lande, in dem sein Vater ein Fremdling gewesen war, im Lande Kanaan. Und dies ist die Geschichte von Jakobs Geschlecht.“ Dann folgen die zwölf Söhne, und Joseph wird zum Rechter seiner Familie, als die Hungersnot das Land Kanaan erfasst.
Aus Joseph und seinen elf Brüdern werden später die zwölf Stämme Israels hervorgehen, aus denen das ganze Volk Israel entsteht.
Letzten Sonntag sahen wir, wie der Vater der zwölf, also Jakob, den Samen der Zwietracht unter seinen Söhnen säte. Sicher nicht absichtlich, aber er tat es. Warum? Weil er Joseph einseitig und eindeutig bevorzugte. Wir hatten das gelesen in Kapitel 37,3: „Israel ist ein anderer Name für Jakob. Er aber hatte Josef lieber als alle seine Söhne, weil er der Sohn seines Alters war, und machte ihm einen bunten Rock. Und als nun seine Brüder sahen, dass ihnen ihr Vater lieber hatte als alle seine Brüder, wurden sie ihm feind und konnten ihm kein freundliches Wort sagen.“
Die Familienkonstellation war ohnehin schon schwierig: zwölf Söhne von vier verschiedenen Frauen. Damals war Polygamie noch nicht verboten. Doch Jakob goss noch zusätzlich Öl ins Feuer durch seine Ungleichbehandlung. Joseph machte dabei mit, und das trieb die ganze Zerrüttung weiter voran: ein parteiischer Vater, ein unreifer Teenager und eine in ihrer Seele verletzte, rachsüchtige Schar von Brüdern.
Als sich die Gelegenheit bot, sahen wir letzten Sonntag, wie die Brüder ihren väterlichen Günstling endlich aus dem Familienverband vertreiben wollten. Da griffen die Brüder zu. Sie verkauften Josef als Sklaven nach Ägypten. Damit hatten sie erst einmal Ruhe vor ihm. Den untröstlichen Vater ließen sie im Glauben, dass ihr Bruder von einem wilden Tier angefallen und getötet worden sei.
Seinen roten Rock, den ihm der Vater extra geschenkt hatte – dieser Stein des Anstoßes – tauchten sie in Ziegenblut und präsentierten ihn als Beweisstück: „Dein Sohn Josef ist leider getötet worden.“
Jetzt kommt die Überleitung zu unserem Kapitel. Die Idee zu dieser Aktion stammte von dem Viertältesten in der Brüdergalerie, nämlich Judah. Wir haben auch gesehen, wie Judah diesen Vorschlag macht und zu seinen Brüdern sagt: „Was hilft es, dass wir unseren Bruder töten und sein Blut verbergen? Kommt, lasst uns ihn lieber den Ismailitern verkaufen, damit sich unsere Hände nicht an ihm vergreifen, denn er ist unser Bruder.“ Sie gehorchten ihm.
So kam es zum Verkauf Josephs in die Sklaverei. Während Joseph nun erstmals auf Jahre hinaus in Ägypten verschwindet, geht zuhause in Kanaan die Geschichte scheinbar ganz normal weiter.
Eigentlich wollen wir gern wissen, was nun aus Joseph in Ägypten wird – mir ging es zumindest so. Doch der Bericht zwingt uns zunächst, unseren Blick auf seinen Bruder Judah zu richten. Mit Ägypten geht es nächsten Sonntag weiter.
Jetzt aber erst einmal Kapitel 38 – ein düsteres Kapitel. Die ersten elf Verse haben Sie eben schon gehört. Deshalb haben wir als Titel gewählt: Abwege, Irrwege, Umwege.
Die Glaubwürdigkeit und Bedeutung des Kapitels
Abwege, Irrwege, Umwege
Bitte beachten Sie zunächst, dass dies ein starkes Argument für die Glaubwürdigkeit dieser historischen Quellen ist. Diese Quellen wurden im Volk Israel über Jahrtausende hinweg bewahrt und tradiert. Eine so belastete Ursprungsgeschichte würde man sich nicht freiwillig ausdenken.
Das ist kein Anlass für Stolz, sondern für Scham. Es handelt sich nicht um einen romantischen Gründungsmythos für Israel, sondern um ein schonungsloses Protokoll dessen, was wirklich geschehen ist.
Und zwar bei dem von den zwölf Brüdern. Von diesem zwölf Brüder umfassenden Stamm wird am Schluss, wenn wir kurz weiterblättern zu Kapitel 49 gegen Ende, Folgendes gesagt: „Judah, du bist’s, dich werden deine Brüder preisen.“ Weiter heißt es: „Judah ist ein junger Löwe, das Zepter wird nicht von Judah weichen, noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen.“
Judah, du bist es! Das bedeutet, dass das Zepter von Judah nicht weichen wird. Du wirst derjenige sein, aus dessen Linie der Messias kommt. Unfassbar! Wir haben das ja kürzlich schon gesagt: Über Judah wird diese Segenslinie verlaufen. Judah ist ein Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Vorfahre unseres Herrn Jesus Christus, des Messias.
Das heißt nun – und machen Sie sich das bitte klar – wenn Gott den Messias auf die Erde schicken wird, dann wird Gott dafür sorgen, dass dieser einen menschlichen Stammbaum bekommt. Das haben wir auch zu Beginn der Evangelien gesehen.
In diesem Stammbaum Jesu wird dann von den zwölf Brüdern nicht etwa Joseph als Vertreter dieser Generation genannt, sondern Judah. Uns wäre sicherlich Joseph viel passender erschienen, aber es wird Judah sein, und zwar der Judah aus diesem Kapitel 38.
Wenn man dieses Kapitel liest, fragt man sich vielleicht: Muss dieses Schmutzige, Böse, Lieblose unbedingt so ungeschminkt gezeigt werden? Muss man es so schonungslos darstellen? Mit „ungeschminkt“ meine ich nicht grob oder plakativ, sondern eben schonungslos ehrlich.
Die Antwort darauf ist offensichtlich: Ja.
Schwierige Predigtbarkeit und theologische Bedeutung
Es gibt einen interessanten amerikanischen Genesis-Kommentar aus dem Jahr 1942 von H.C. Leupold, offensichtlich ein Amerikaner. Am Ende der einzelnen ausgelegten Kapitel gibt Leupold immer einige Hinweise, wie man über den Text predigen könnte. Er nennt das „homiletical suggestions“, also homiletische Vorschläge – wie könnte man jetzt predigen?
Zu unserem Text heißt es in der Kategorie „homiletical suggestions“ nur: „Völlig ungeeignet“, also wörtlich „entirely unsuited to homiletical use“. Das bedeutet, es ist völlig ungeeignet für den homiletischen Gebrauch. Leupold sagt quasi: „Bloß nicht darüber predigen, schnell weiterblättern!“
Aber wir haben natürlich im Hinterkopf, was der Apostel Paulus schreibt in 2. Timotheus 3,16, wo Paulus sagt, alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre. Da wir eher auf Paulus als auf Leupold hören, predigen wir über diesen Text.
Auch hier müssen wir unsere dauernde Frage stellen, die uns ja ständig begleitet, wenn wir uns mit den biblischen Texten auseinandersetzen: Warum hat der Heilige Geist dafür gesorgt, dass Genesis 38 in die Bibel hineinkommt? Das ist doch die entscheidende Frage.
Man hätte doch gleich mit Joseph in Ägypten fortsetzen können, mit Kapitel 39. Nein, hier kommen erst einmal diese Zeilen, deren erste Beispiele wir schon gehört haben:
„Es ergab sich aber um diese Zeit, dass Juda hinabzog von seinen Brüdern und sich zu einem Mann aus Adullam gesellte, der hieß Hira. Juda sah dort die Tochter eines Kanaanäers, der hieß Schua, und nahm sie zur Frau. Als er zu ihr einging, wurde sie schwanger und gebar einen Sohn, den er Er nannte. Sie wurde abermals schwanger und gebar einen Sohn, den sie Onan nannte. Sie gebar abermals einen Sohn, den sie Schela nannte. Sie war in Ketsib, als sie ihn gebar.“
Und dann geht die Tragödie los. Der erste Sohn wird von Gott gerichtet, weil er böse ist und gegen Gott vorgeht. Der zweite gehorcht nicht dem Auftrag, den er in der Ordnung Gottes damals gehabt hätte. Es geht rasant in den Abgrund.
Ein Ausleger, Dale R. Davis, hat es sehr gut gesagt: Er meinte, schon vom ersten Vers an beginnen hier die Alarmlämpchen aufzulampen. Und das müssen wir jetzt genau anschauen: Was ist daran so alarmierend?
Der Triumph der Gewöhnung: Judas Abkehr von Gottes Weg
Es begab sich um diese Zeit, dass Judah von seinen Brüdern hinabzog und sich einem Mann aus Adulam anschloss, der Hira hieß.
Was ist daran schon im ersten Vers alarmierend, sodass hier die Alarmglöckchen oder Alarmlämpchen aufblinken? Nun, Judah trennt sich gründlich von seinen Leuten, von seinem Volk. Es heißt, er zog „hinab“. Und „hinab“ ist zunächst geographisch gemeint. Er war ja zuvor in Hebron (vgl. Kapitel 37,14). Hebron war einer der höchsten Punkte in Südkanaan, etwa 920 Meter über dem Meeresspiegel. Nun geht es erst einmal geographisch „hinab“ nach Adulam, das nordwestlich von Hebron liegt.
Dort verbündet er sich mit diesem Kanaaniter, mit dem Heiden Hira. Auf diese Weise lernt er die Tochter eines anderen Kanaaniters kennen. Offensichtlich, wie die nächsten Verse zeigen, wird Judah in seiner Lebensweise und in seiner Welt zunehmend vom kanaanitischen Wesen geprägt. Er passt sich dieser Kultur immer weiter an, ohne jegliches Problembewusstsein. Judah flirtet unbeschwert mit dem Zeitgeist. Die Abwege, Irrwege und Umwege werden so zu einem Triumph der Gewöhnung.
Das ist unser erster Punkt: Triumph der Gewöhnung. Das sind die Verse 1 bis 11. Wenn man sie liest, sieht man, dass Judah geradezu von Kanaan verschlungen zu werden scheint. Das beginnt mit der Freundschaft zu Hira und setzt sich durch die Ehe mit der Tochter Schuhas fort. Dadurch tritt eine Welle los – eine Welle, die im Laufe dieses Kapitels immer höher und druckvoller wird, bis sie Judah schließlich unter sich begräbt.
Dann sucht er auch für seinen Erstgeborenen wieder eine Kanaaniterin als Frau, die Tama. Deshalb die Alarmlämpchen! Wer die vorherigen Berichte gelesen hat, kennt die Gefahr, die in einer zu engen und unkritischen Verbindung mit den heidnischen Völkern liegt. Große Gefahr! Alarmlämpchen!
Das Beispiel Sichem liegt noch nicht lange zurück (Kapitel 34). Dort hatte sich Dina, eine Schwester Judas, mit einem jungen Mann aus der dortigen Bevölkerung eingelassen – und es ging schlimm aus. Wir hatten das auch schon bei Lot gesehen (Kapitel 14). Lot war der Herausforderung von Sodom nicht gewachsen und ging mit seiner Familie unter.
Abraham hatte daraus gelernt und für seinen Sohn Isaak eine Frau aus einem frommen Umfeld gesucht, wenn man es so sagen kann. Das hatten wir in Kapitel 24 gelesen, wo Abraham den Eliezer als Brautwerber losschickt. Er sagt ihm Folgendes:
Genesis 24,3: „Und schwöre mir bei dem Herrn“, sagt er, „dem Gott des Himmels und der Erde, dass du meinem Sohn keine Frau von den Töchtern der Kanaaniter nimmst, unter denen ich wohne, sondern dass du in mein Vaterland und zu meiner Verwandtschaft ziehst und meinem Sohn Isaak dort eine Frau nimmst.“
Er hoffte, dass diese dort frommer waren und wirklich dem wahrhaftigen Gott dienten. Das war mit vielen Schwierigkeiten verbunden, doch das war seine Hoffnung.
Die nächste Generation, Isaak und Rebekka, suchte dann für ihren Sohn Jakob ebenfalls eine nicht heidnische Verbindung. Sie hatten gesehen, was bei seinem Zwillingsbruder Esau mit den beiden hethitischen Frauen geschah, die ihnen viele Probleme bereiteten.
Judah, eine Generation später, wusste all das. Er wusste es, und trotzdem riss er den unsichtbaren Schutzraum, den Gott aus Fürsorge errichtet hatte, einfach nieder. Damit verschaffte er dem Triumph der Gewöhnung freie Fahrt.
Im Römerbrief heißt es: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich“ (Römer 12). Bis ins Neue Testament hinein werden wir davor gewarnt, uns nicht vom Triumph der Gewöhnung überrollen zu lassen. Das heißt: Lasst euch nicht anpassen und plattmachen in eurem Denken, in euren Maßstäben, in euren Prioritäten und in den Kategorien, mit denen ihr dieses Leben bewertet und bewältigt.
Verstehen Sie: Das eigentliche Problem der Kanaaniter war nicht ihre Ethnie, sondern ihr Glaube. Das Problem war nicht, dass sie Ausländer waren, sondern dass sie einem anderen Gott oder Götzen folgten.
Das zeigt uns ein berührendes Gegenbeispiel aus dem Buch Ruth. Sie kennen die israelische Witwe Naemi, die mit ihrer Familie ins moabitische Land gegangen war, mit ihren Söhnen. Dort hatten ihre Söhne geheiratet. Dann starben die Söhne, und Ruth wollte wieder zurück in ihre alte Heimat. Sie gab ihren Schwiegertöchtern die Freiheit, neue Männer zu suchen.
Doch dann erhielt Naemi unerwarteten Beistand von ihrer Schwiegertochter Ruth. Ruth sagte zu ihr: „Nein, Naemi, ich lasse dich nicht im Stich.“ Ruth war eine Heidin, eine Moabiterin, aber das war der Unterschied: Ruth glaubte an den lebendigen Gott, an den Gott Israels, und sie bekannte das auch feierlich.
Sie sagt zu ihrer Schwiegermutter Naemi in Ruth 1,16: „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“
Das ist entscheidend: Nicht die Ethnie zählt, sondern der Glaube, besser gesagt, der Grund unseres Glaubens.
Judah irrt ab, wegen, um und durch sein Leben, weil er sich mit der Gewöhnung an Kanaan immer mehr vom wahren Gott Israels entfernte. Judah hat nicht die Kanaaniter zu Gott gebracht, sondern es lief genau umgekehrt: Nicht er missionierte sie, sondern sie ihn.
Vor genau dieser Gefahr warnt uns im Neuen Testament auch der Apostel Paulus, wenn er die Christen mahnt: „Zieht nicht am selben Joch mit den Ungläubigen“ (2. Korinther 6,14).
Deshalb ist es für uns Christen wichtig, schon unseren Kindern in der Familie, in der Jugend- und Kinderarbeit nahezubringen, dass es Gottes Wille für einen Christen ist, sich nur mit einem anderen Christen zu verbinden.
In den Augen Gottes ist es daher Sünde, wenn ein Christ ganz gezielt einen Nichtchristen heiratet oder sich mit ihm auf dem Weg zur Ehe befreundet. Das sagt die Bibel hier ganz eindeutig, und wir sehen, warum das so wichtig ist.
Bei Judah setzte sich dieser Triumph der Gewöhnung in der nächsten Generation fort. Man sieht es daran, dass er seinem Erstgeborenen ebenfalls eine kanaanitische Frau, die Tama, gab (Vers 6). Judah vermittelte das also weiter.
Onans Weigerung und die Schwagerehe
Und er rebelliert gegen den lebendigen Gott und wird schon bald von Gott gerichtet – das haben wir gehört. Er war böse vor dem Herrn, darum ließ ihn der Herr sterben. Tama wird Witwe. Und jetzt?
Jetzt greift eine Regelung, die man später in Israel, nachdem das Gesetz Moses etabliert worden war, Schwagerehe nannte. Diese Regelung war zu dem Zeitpunkt gewissermaßen eine Ordnung, die Gott für sein Volk festgelegt hatte, damit es miteinander lebt.
Also noch einmal: Zu dieser Zeit war Polygamie noch nicht verboten. Das bedeutete, wenn ein Mann starb, ohne einen eigenen Sohn zu haben, sollte einer seiner Brüder die Witwe zu seiner Frau nehmen. Er sollte der Familie nachträglich, wenn Gott das schenkt, einen Nachkommen verschaffen. Dieser Nachkomme galt dann erbtechnisch als Sohn des verstorbenen Bruders, sodass auch das Erbe der Familie gesichert blieb.
Auch zu Judas Zeit, einige hundert Jahre früher, gab es diese Regelung bereits. Offensichtlich war sie von Gott für diese Situation gewollt. Deshalb lag es jetzt in Onans Verantwortung, der Witwe seines Bruders, also Tama, zu Nachkommen zu verhelfen – zu einem Erben. Das war so vorgesehen, damit das Erbe nicht verloren ging.
Doch was macht Onan? Onan weigert sich, dieser Verpflichtung nachzukommen. Da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein Eigen sein sollten, ließ er das Samenerguss auf die Erde fallen und verderben. Daher stammt auch der Ausdruck „Onanie“. Wenn er zu seines Bruders Frau einging, sorgte er nicht dafür, dass sein Bruder Nachkommen bekam. Er verweigerte sich einfach seiner Aufgabe.
Der Text macht eindeutig klar, dass dies gegen Gottes Willen war. In Vers 10 heißt es, dass dem Herrn missfiel, was Onan tat, und er ließ ihn auch sterben.
Vielleicht sollte man hinzufügen, dass diese Stelle keine grundsätzliche Ablehnung von Empfängnisverhütung im Allgemeinen ausdrückt. Es geht vielmehr darum, dass Onan in der Ordnung, die Gott für jene Epoche vorgesehen hatte, die Schwagerehe hätte praktizieren müssen. Das war seine Aufgabe.
In Vers 8 versucht Juda auch seinen Sohn darauf hinzuweisen. Da sprach Juda zu Onan: „Geh zu deines Bruders Frau und nimm sie zur Schwagerehe.“ Er betont es extra noch einmal, doch Onan weigert sich und wird für seine Rebellion von Gott mit dem Tod bestraft.
Jetzt wäre es am dritten Sohn, nämlich Shelah, die Linie seines Bruders zu erhalten. Aber Shelah ist noch viel zu jung, das ist ganz offensichtlich. Dafür gibt Juda seiner Schwiegertochter ein festes Versprechen.
Zu Beginn von Vers 11 spricht Juda zu seiner Schwiegertochter Tama: „Bleibe eine Witwe in deines Vaters Hause, bis mein Sohn Shelah groß wird.“ Damit sagt er ihr, dass er seine Verpflichtung in der Schwagerehe wahrnehmen wird, sobald Shelah alt genug ist.
Doch vertraut Tama ihrem Schwiegervater? Sie lässt sich auf die Absprache ein. Sie versucht also als Witwe nicht, einen anderen Ehemann zu finden, sondern wartet. Am Ende von Vers 11 heißt es: „So ging Tama hin und blieb in ihres Vaters Haus.“
Zwischen dem ersten und dem letzten Satz von Vers 11 bekommen wir einen wichtigen Hinweis darauf, was in Judas Herzen vorgegangen ist. Dort steht: „Denn er dachte, vielleicht würde der auch sterben wie seine Brüder.“
Das ist eine ganz andere Begründung, warum er Tama wegschickt. Merken Sie es? Wörtlich steht hier, dass er dachte, vielleicht würde der Dritte auch sterben. Das heißt, in einer abergläubischen Sorge will Juda einfach auf Zeit spielen. Er hofft, dass sich das Problem biologisch löst – vielleicht stirbt sie oder Shelah –, weil er fürchtet, dass Shelah genauso sterben könnte wie vorher Onan.
Juda will gar nicht wirklich, dass seine Schwiegertochter und sein jüngster Sohn irgendwann zusammenkommen. Aber er sagt das nicht offen, sondern täuscht Tama über seine wahren Pläne und wiegt sie dadurch in Sicherheit. Das ist das Problem.
Juda muss gewusst haben, dass Gott etwas anderes wollte. Gott wollte, dass er etwas anderes tut. Doch die Frage nach dem Willen Gottes scheint in seinem Leben überhaupt keine Rolle zu spielen. Für Juda ist die Frage nach Gottes Willen inzwischen irrelevant.
Die Gefahr der Verzweiflung und das Schicksal der Familie
Dafür hat er umso mehr Angst vor dem Schicksal, das ihm vielleicht auch den dritten Sohn noch rauben könnte.
Und jetzt fragt man sich, wenn man sich das anguckt: Was wird übrig bleiben von jener Familie, von jenem Volk, mit dem Gott sein Rettungsprojekt aus Kapitel 3, Vers 15 verwirklichen will? Eine Welt verlorener Sünder von ihrer Schuld zu retten – das ist doch das Projekt, das seit Kapitel 3, Vers 15 läuft, wie wir ja letztes Mal gesehen haben.
Und jetzt fragt man sich: Wer rettet erst mal diese Familie? Ist sie überhaupt noch zu retten? Ein Ausleger hat dazu geschrieben: Jakobs Familie steht einmal mehr in der Gefahr, einfach nur eine weitere verwechselbare Größe auf der Landkarte des Heidentums zu werden.
Wie traurig ist es, wenn eine christliche Familie in der Gefahr steht, einfach nur eine weitere verwechselbare Größe auf der Landkarte des Heidentums zu werden. Der Triumph der Gewöhnung und damit auch der Triumph der Anpassung hat alle Hoffnung, so scheint es, unter sich begraben.
Aber damit sind Judas Abwege, Irrwege und Umwege noch lange nicht ausgeschlossen. Es kommt noch schlimmer, und das sehen wir in den nächsten Versen 12 bis 24.
Der Triumph der Gier: Judas Begegnung mit Tama
Als viele Tage vergangen waren, starb Judas Frau, die Tochter des Schur. Nachdem Judah getrauert hatte, ging er hinauf, um seine Schafe zu scheren, nach Timna. Er wurde begleitet von seinem Freund Jira aus Adulam.
Tama wurde gesagt: „Siehe, dein Schwiegervater geht hinauf nach Timna, um seine Schafe zu scheren.“ Daraufhin legte sie die Witwenkleider ab, die sie trug, deckte sich mit einem Schleier zu und verhüllte ihr Gesicht. Dann setzte sie sich vor das Tor von Enajim an dem Weg nach Timna. Denn sie hatte gesehen, dass Schela groß geworden war, doch sie wurde ihm nicht zur Frau gegeben.
Als Judah sie sah, hielt er sie für eine Hure, weil sie ihr Gesicht verdeckt hatte. Er näherte sich ihr am Weg und sprach: „Lass mich doch zu dir kommen.“ Dabei wusste er nicht, dass es seine Schwiegertochter war.
Sie antwortete: „Was willst du mir geben, wenn du zu mir kommst?“ Er sagte: „Ich will dir einen Ziegenbock von der Herde senden.“ Sie entgegnete: „Dann gib mir einen Pfand, bis du ihn mir sendest.“ Er fragte: „Was willst du für einen Pfand, den ich dir geben soll?“ Sie antwortete: „Dein Siegel, deine Schnur und deinen Stab, den du in der Hand hast.“
Da gab er es ihr, kam zu ihr, und sie wurde von ihm schwanger. Anschließend machte sie sich auf und ging hinweg, legte den Schleier ab und zog ihre Witwenkleider wieder an.
Die Schafschur war ein ausgelassenes Volksfest, bei dem meist auch reichlich Alkohol floss. Nun brechen die Dämme, und auf den Triumph der Gewöhnung folgt der Triumph der Gier. Das ist das zweite, was wir hier sehen: den Triumph der Gier.
Für Judah scheint es keine roten Linien mehr zu geben. Getrieben von seiner Gier nutzt er die Gelegenheit. Er hält diese Frau offensichtlich für eine Prostituierte. Es ist entlarvend, wie schnörkellos und bedenkenlos Judah sein Vorhaben mit dieser Frau aushandelt und sofort durchführt. Jegliche Gewissensregung wird niedergehalten. Der Text legt diese seelische Eiseskälte, die mit der Gier einhergeht, schonungslos offen.
In Vers 16 heißt es: „Er machte sich zu ihr am Wege, lass mich zu dir kommen.“ Dann wird das Geschäft ausgehandelt. Am Ende von Vers 18 steht: „Da gab er ihr das Pfand, sie bestand darauf, dass sie den Ziegenbock auch wirklich bekommt, und dann wurden sie handelseinig.“ Es heißt schlicht: „Da gab er ihr das Pfand und kam zu ihr, und sie wurde von ihm schwanger.“
Helmut Frey, ein Ausleger, schrieb sehr treffend: „Eine nähere Erklärung der Szene erübrigt sich. Er ganz Schwäche und Leidenschaft, sie ganz Berechnung und Wille.“ Das sieht man hier deutlich. Tama ist wild, entschlossen und fähig zu hinterhältigster Berechnung. Sie lockt den Schwiegervater in die Falle seiner Gier und nimmt billigend in Kauf, ihn moralisch zu zerstören.
Das ist ein trauriges Zeugnis für Judah, den Sohn Jakobs. Tama traut ihm das überhaupt zu. Sie muss schon vorher etwas gemerkt haben, sonst würde sie dieses Spiel nicht versuchen. Daraus sieht man, wie dubios Judas Zeugnis zu diesem Zeitpunkt schon gewesen sein muss. Die Gewöhnung hat ihre Spuren hinterlassen.
Jetzt folgt der Triumph der Gier.
Natürlich ist Tama enttäuscht und verbittert. Man kann verstehen, dass sie sich vom Schwiegervater hintergangen fühlt, der sie jetzt am langen Abend verhungern lässt. Er hatte ihr die Ehe mit dem Jüngsten versprochen, wenn es so weit sein würde. Darauf hatte sie ihre gesamte Zukunftsplanung ausgerichtet. Sie suchte nicht nach einem neuen Mann, sondern kehrte in ihre Familie zurück und wartete. Sie wartete lange, doch sie wurde nie gerufen.
Jetzt holt sie sich, was man ihr versprochen und dann verweigert hatte. Dabei kennt Tama, wenn man so sagen darf, keine Rücksicht auf Verwandtschaft. In Vers 14 heißt es: „Da legte sie die Witwenkleider von sich, die sie trug, deckte sich mit einem Schleier zu, verhüllte sich und setzte sich vor das Tor von Enajim an dem Wege nach Timna.“ Sie hatte gesehen, dass das, was man ihr versprochen hatte, nicht eingehalten wurde.
Sie holt sich das Kind auf eigene Faust. Sie sichert es sogar rechtlich ab und überlässt nichts dem Zufall. Deshalb lässt sie sich diese Pfandgegenstände geben. Damit bekommt sie Judah unter ihre Kontrolle. Sie fordert einen Pfand, mit dem sie ihn jederzeit erpressen kann: Siegel, Schnur und Stab.
Das Siegel wurde an einer Schnur um den Hals getragen und diente als Unterschrift. Es wurde gehütet wie eine Scheckkarte und nur den engsten Vertrauten gegeben. Der Stab war Zeichen der Würde und trug wahrscheinlich das Symbol des Stammes. Man könnte heute sagen: Personalausweis und Scheckkarte.
Judah gibt das her – für ein kleines Böckchen. Überlegen Sie mal, wie absurd das ist.
Man könnte erwarten, dass Judah dieser Frau antwortet: „Das geht nun wirklich zu weit. Es ist absurd, was du von mir forderst.“ Doch wie reagiert Judah wirklich?
Ende von Vers 18 heißt es: „Da gab er ihr das Pfand, kam zu ihr, und sie wurde von ihm schwanger.“ Auch darin zeigt der Text den Triumph der Gier. Judah lässt alle Vernunft fahren, gibt seine Würde, seine Insignien, seinen Ruf und seine ganze Integrität in die Hände einer Prostituierten – nur für diesen Moment.
Ironischerweise wird Judah durch ein Kleidungsstück getäuscht, durch diese Vermummung. So wie Tama und er selbst ihren trauernden Vater mit einem Kleidungsstück getäuscht hatten – mit dem blutdurchtränkten Rock von Josef.
In Vers 16 steht: „Er wusste nicht, dass sie es war.“ Und in Vers 14 die Begründung: „Sie hatte sich mit einem Schleier verhüllt.“ Als sie dann auseinandergehen, fragt Judah nicht einmal nach ihrem Namen. Er weiß nicht einmal, wie sie heißt. Das ist ihm gleichgültig.
Es geht weiter in Vers 19: „Sie machte sich auf, ging hinweg, legte den Schleier ab und zog ihre Witwenkleider wieder an.“ Judah aber sandte den Ziegenbock durch seinen Freund aus Adulam, damit dieser das Pfand von der Frau zurückholte. Doch er fand sie nicht.
Er fragte die Leute des Ortes: „Wo ist die Hure, die zu Enajim am Wege saß?“ Sie antworteten: „Es ist keine Hure da gewesen.“ Er kam zurück zu Judah und sagte: „Ich habe sie nicht gefunden.“
Die Leute des Ortes behaupteten, es sei keine Hure da gewesen. Judah sagte: „Sie mag es behalten.“ Also Personalausweis und Scheckkarte weg – sie soll es behalten, damit wir nicht in Verruf geraten. Er sagte: „Siehe, ich habe den Bock gesandt, und du hast sie nicht gefunden.“
Nach drei Monaten wurde Judah berichtet: „Deine Schwiegertochter Tama hat Hurerei getrieben, und siehe, sie ist davon schwanger geworden.“ Judah sprach: „Führt sie hinaus, damit sie verbrannt wird.“
Was für eine Doppelmoral! Sich selbst hat er diese Unzucht quasi genehmigt, doch für seine Schwiegertochter, die rechtlich noch seinen Schutz genießt und zu seinem Clan gehört, fordert er eine extreme Bestrafung. Diese Strafe wird im mosaischen Gesetz nur für Priestertöchter vorgesehen – eine wirklich extreme Maßnahme.
Mehr Heuchelei und Doppelbödigkeit ist kaum denkbar. Vielleicht unterdrückt er damit auch sein eigenes schlechtes Gewissen.
Wissen Sie, woran mich diese Szene erinnert? An David. An David, als der Prophet Nathan Jahrhunderte später ihn mit einer Beispielgeschichte vom reichen Mann konfrontierte, der dem Armen sein letztes Schaf wegnahm. David rief im Brustton der Überzeugung: „Wer ist dieser Mann? Der muss hart bestraft werden!“ Nathan entgegnete streng und ruhig: „Du bist der Mann! Du bist der Mann, weil du Uriahs Frau gestohlen und ihn getötet hast.“
In unserem Fall ist es Tama selbst, die den Patriarchen der Familie überführt. Sie bringt ihm die Beweisstücke, die er in seinem Getriebensein so leichtsinnig aus der Hand gegeben hatte: Siegel, Schnur und Stab.
Vers 25: Als man sie hinausführte, um sie zu bestrafen, schickte sie zu ihrem Schwiegervater und sprach: „Von dem Mann bin ich schwanger, dem dies gehört.“ Sie fragte ihn: „Erkennst du auch, wem dieses Siegel, diese Schnur und dieser Stab gehören?“
Triumph der Gier!
Erkenntnis und Gnade: Judas Umkehr und Gottes Wirken
Und jetzt wird Judah schlagartig klar, dass er sich nicht nur der Unzucht, sondern auch des Inzests schuldig gemacht hat. Endlich beginnt ihm die Einsicht zu dämmern. In Vers 26 heißt es: „Judah erkannte es und sprach: Sie ist gerechter als ich, denn ich habe sie meinem Sohn Shelah nicht gegeben.“ Jetzt gibt er das noch einmal zu, doch wohnte er ihr nicht mehr bei. „Sie ist gerechter als ich.“
Nun dämmert es ihm. Auch für uns als Leser ist das Ergebnis schockierend. Denn der Junge, der auf diesem Wege gezeugt wird, kommt in den Stammbaum unseres Herrn Jesus Christus hinein. Er wird einer seiner Vorfahren. Das bedeutet, als Gott 1800 Jahre später in die Welt hineinkommt, steigt er in die Geschichte dieser verkommenen Familie aus Genesis 38 ein.
Wir haben letzten Sonntag schon gesehen, wie Gott letztlich die Geschichte führt und zu seinem Ziel kommt. Das relativiert jedoch nicht die Verantwortung der handelnden Personen. Sie werden für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen.
Doch schauen Sie: Sogar durch Judas Inzest und durch Tamas eigensinnige Berechnung, mit der sie den Schwiegervater moralisch zur Strecke bringt – und das wird mit keiner Silbe verharmlost, schon gar nicht entschuldigt, sondern vielmehr entlarvt in diesem Kapitel – setzt Gott seinen Willen durch.
Auf diesen dunklen Wegen baut Gott den Stammbaum für seinen Sohn und Messias. Der von seiner Sünde überführte Judah wird zum Träger der messianischen Linie. Dale Ralph Davis schreibt in seinem Kommentar: „Herrliche Nachrichten und verdorbenes Zeug Seite an Seite, und Gott lässt das Verdorbene dem Herrlichen dienen.“
Gott macht das Verdorbene dem Herrlichen dienstbar. Das heißt, Gott kann aus allem Gutes entstehen lassen. Darum müssen wir, solange wir in der Hand dieses Herrn sind, niemals resignieren oder verzweifeln. Auch diese Botschaft steckt hier drin.
Auch dann nicht, wenn sich in unseren Angelegenheiten scheinbar das Schlechte, das Böse oder das Falsche durchzusetzen scheint und wir machtlos danebenstehen. Wenn Dinge schiefgehen, Pläne nicht aufgehen und gehegte Hoffnungen zerschellen wie chinesisches Porzellan, das beim Umzug auf die Straße kracht – so wie es der Theologe Helmut Thielicke mit seiner Familie erlebt hat.
Während des Zweiten Weltkrieges in Stuttgart zog er mit der ganzen Familie wegen der Bombenangriffe in einen nahegelegenen kleineren Ort. Ihren überschaubaren Hausstand hatten sie auf einen klapprigen Transportwagen geladen, nur mühsam gesichert, erzählt er. Kurz vor einem Bahnübergang fiel der Kasten mit dem China-Porzellan von der Ladefläche herunter und alles lag in Scherben da.
Thielicke blieb nichts anderes übrig, als herauszuspringen und die Scherben mit den Füßen an die Seite zu scharren. Das dauerte eine Weile, damit nicht die Reifen der folgenden Fahrzeuge aufgeschlitzt würden. In dem Moment, als er fast fertig war, explodierte eine Bombe nur wenige hundert Meter weiter die Straße entlang und hinterließ einen Krater.
Wäre das Porzellan nicht zerbrochen, wäre die Familie wahrscheinlich gerade an der Stelle gewesen, wo die Bombe explodierte. Das ist oftmals Gottes Logik: Er lässt das Porzellan zerbrechen, rettet aber das Leben – sogar dadurch, dass das Porzellan zerbrochen ist. Alles wurde gut gemacht und gut.
So ist es auch hier. In diesem dunklen Kapitel Genesis 38 gibt es doch ein sehr helles Ende. Ein Ende, das in seiner Helligkeit den unmittelbar Beteiligten im ersten Moment wahrscheinlich gar nicht so klar war. Aber wir können es sehr deutlich sehen.
Die Geburt der Zwillinge und Gottes Durchbruch
Und nun hören Sie zum Schluss, wie es weitergeht, ab Vers 27.
Als sie gebären sollte, die Tama, wurden Zwillinge in ihrem Leib gefunden. Und als sie gebar, streckte sich eine Hand heraus. Da nahm die Wehmutter, also die Hebamme, einen roten Faden und band ihn darum und sprach: „Der ist zuerst herausgekommen.“
Als aber der seine Hand wieder hineinzog – ein geheimnisvoller Vorgang –, kam sein Bruder heraus. Sie sprach: „Warum hast du um deinetwillen solchen Riss gerissen?“ Man nannte ihn Peres, das heißt „Riss“. Danach kam sein Bruder heraus, der den roten Faden um seine Hand hatte, und man nannte ihn Zerach.
Auf den ersten Blick scheint das keine aufregende Geschichte zu sein – eine krisenhafte Zwillingsgeburt. Doch in Wirklichkeit geschieht zum Schluss viel mehr. Zunächst scheint nach Einschätzung der Hebamme Serach der Erstgeborene zu werden. Sie bekommt irgendwie sein Händchen zu fassen und markiert den Kleinen mit einem roten Faden.
Doch dann wird es doch sein Bruder, der sich quasi durchsetzt – ein Kämpfer schon im Mutterleib. So etwas gibt es auch heute bei Geburten. Mütter erzählen manchmal, dass sich ein Kind noch einmal dreht und irgendwie mitarbeitet – ein Kämpfer schon bei der Geburt.
Darum geben sie ihm, der sich durchsetzt und entgegen der Erwartung als Erster herauskommt, den Namen Peres, diesem Erstgeborenen: „Riss“ oder „Durchbruch“. Diese Reihenfolge, dass er der Erstgeborene ist, wurde durchgesetzt – gegen die Erwartung und gegen alle Widerstände. Das macht dieser Text deutlich, weil Gott es so wollte: durchgerissen, durchgezogen.
So ist in diesem Peres und in seinem Namen für immer festgehalten und dokumentiert: Gott reist durch, Gott setzt seinen Willen durch, wenn nötig gegen alle menschlichen Umstände. Gott reist durch – Peres.
Und jetzt kommen Sie zum Schluss bitte noch einmal mit an den Anfang des Neuen Testaments, Matthäus 1. Dort wird alles klar.
Sie wissen, Matthäus 1 ist der Stammbaum unseres Herrn. Matthäus bringt die rechtliche Linie durch den Adoptivvater Joseph, Lukas dagegen die biologische Linie durch die leibliche Mutter Maria – beide aus dem Stamm Juda.
Nun hören Sie, wie der Stammbaum bei Matthäus beginnt, Vers 2: „Abraham ...“ Also Vers 1: „Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams. Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob, Jakob zeugte Judah und seine Brüder, Judah zeugte Peres und Serach mit der Tama, Peres zeugte Hezron, Hezron zeugte Rahm ...“ und so weiter.
Haben Sie es gemerkt? Serach wird ausdrücklich mit erwähnt, obwohl das hier gar nicht nötig wäre, weil die Genealogie ja über Peres laufen wird.
Der Zwillingsbruder müsste nicht mitgenannt werden. Der Esau von Jakob wird auch nicht erwähnt. Warum wird Serach hier eigens genannt, am Beginn des Neuen Testaments? Offensichtlich will der Heilige Geist ausdrücklich an die gesamte Geschichte erinnern. Das ist auffällig.
Es ist so, als ob Matthäus uns sagen wollte: Lies noch einmal Genesis 38, lies noch einmal über Peres, Serach und Tama.
Leupold hat gesagt, das sei homiletisch nicht geeignet. Matthäus sagt: homiletisch unbedingt geeignet. Nicht weiterblättern, unbedingt lesen!
Schauen Sie: Dieses dunkle Kapitel wird nicht peinlich verschwiegen, sondern zu Beginn des Evangeliums voll ins Licht des Evangeliums gestellt. Darüber stolpert man doch direkt.
Deshalb wird sogar Tama namentlich mit erwähnt in diesem Stammbaum. Überlegen Sie mal: Diese Ehre widerfährt nicht der Sarah von Abraham. Diese Ehre widerfährt nicht der Rebekka von Isaak. Diese Ehre widerfährt auch nicht der Rahel von Jakob. Aber Tama, Tama, die Heidin, die Frau von diesem zwielichtigen Judah, der widerfährt die Ehre, hier zu Beginn dieses Stammbaums eigens genannt zu werden.
Das heißt, der Heilige Geist tut alles, um die Einzelheiten dieser Historie festzuhalten. Das ist auffällig. Und das heißt auch, Gott hat alles kontrolliert. Da war das Händchen von Serach, da war der rote Faden drum, und sogar Serach taucht hier auf.
Aber Gott wollte den Peres in dieser Linie haben. Schließlich kommt Gott selbst hinein in diese dunkle Geschichte. Aus dem Triumph der Gewöhnung und dem Triumph der Gier macht er am Ende den Triumph der Gnade.
Der Triumph der Gnade: Gottes Erbarmen und unsere Rettung
Am Ende steht der Triumph der Gnade. Das ist das dritte und letzte Thema. Gnade bedeutet, dass Gott sich erbarmt. Gnade heißt, dass Gott uns nicht auf das festlegt, was wir uns selbst eingebrockt haben und was wir selbst verdient haben.
Gnade bedeutet, dass Gott mit der Wucht seiner Vergebung die Wucht unserer Sünde überlebt. Das ist Gnade: Gott überlebt mit der Wucht seiner Vergebung die Wucht unserer Sünde. Peres! Gott reißt durch, gegen alle Widerstände. Auch gegen jene, die unsere Schuld ihm entgegensetzen.
Darum will Gott, dass du diese Geschichte genau kennst. Deshalb weist Gott dich in Matthäus 1 noch einmal extra darauf hin: Lies Genesis 38, damit du verstehst, was Gnade ist. Dazu müssen wir unsere Verlorenheit erkennen – eine Verlorenheit, die uns aus diesem Kapitel geradezu anstarrt.
Wenn wir diese Verlorenheit nicht erkennen, machen wir aus dem Triumph der Gnade ein Lüftchen. Dann wird der Triumph der Gnade zu einem Billigartikel, den ein harmloser Gott, in Anführungszeichen, den Sündern hinterherschmeißt.
Auch das haben wir hier gesehen: Gott muss nicht begnadigen. In Vers 7 steht: „Aber er war böse vor dem Herrn, darum ließ der Herr ihn sterben.“ Gott muss nicht begnadigen. In Vers 10 lesen wir: „Dem Herrn missfiel aber, was Onan tat, und er ließ ihn auch sterben.“ Gott muss nicht begnadigen.
Mancher Besserwisser mag gefragt haben: Hätte Gott sich nicht eine anständigere Familie aussuchen können, um in die Welt zu kommen? Hätte er das nicht machen können? Die schlichte Antwort lautet: Nein, denn sonst wäre er gar nicht gekommen.
Vor Gott, vor seinem heiligen Maßstab, gibt es keine anständige Familie – nicht in dieser Welt und auch nicht in diesem Raum. Denkst du, dass du vor Gottes heiliger Instanz besser dastehst? Wahrscheinlich haben die meisten von uns nicht genau das nachgemacht, was wir hier bei Juda, Tamar und den anderen Protagonisten gesehen haben. Einige vielleicht doch.
Aber das ist vor Gott nicht der entscheidende Punkt. Und das hat Paulus im Römerbrief überdeutlich herausgearbeitet. Paulus sagt, wenn du mit deinem anständigen Leben vor Gott gerecht sein willst und damit durchkommen willst, dann muss deine Weste tadellos, blütenweiß sein, ohne den leisesten Punkt.
Paulus war natürlich realistisch genug zu wissen, dass das nicht geht. Deshalb kam er bei diesem Argumentationsgang in Römer 3,23 zu dem klaren Ergebnis: „Denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes.“ Sie sind alle Sünder, allesamt. Sie haben die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hat.
Das heißt: Hätte Gott eine anständige Familie gesucht, um hineinzukommen, hätte er nicht kommen können. Darum ist unsere einzige Chance, dass Gottes Gnade triumphiert.
Deshalb hat Martin Luther dieses Kapitel so geliebt. Er war überzeugt, dass dieses Kapitel mit seiner ganzen Finsternis zu den köstlichsten und tröstlichsten Kapiteln der ganzen Bibel zählt. Gott hilft uns hier liebevoll, unsere Lage zu erkennen und daran nicht zu verzweifeln.
Helmut Frey hat den Ertrag dieses Kapitels noch einmal großartig auf den Punkt gebracht. Er schreibt: „Das Kapitel ist so köstlich, weil es allen falschen Scheinen zerstört, mit denen wir so gern unser schwaches Fleisch, das heißt unser selbstverliebtes, dickes Ich, umkleiden. Es zerstört alle Scheine, die Wahrheit aber über unser Fleisch, dass bei den größten Heiligen das Gleiche ist.“
Diese Wahrheit lehrt uns, dass wir Gnade brauchen. Darum ist sie so köstlich, diese Wahrheit. Und wissen Sie, das ist der beste Schutz dagegen, uns zu unserem Heil, zu unserer Rettung auf Menschen zu verlassen – geschweige denn auf uns selbst.
Indem Gott durch solche Leute, durch Juda und Tamar, seinen Plan durchsetzt, zieht er jeglicher menschlichen Anmaßung, jeder menschlichen Illusion und jeder menschlichen Mitwirkung den Teppich unter den Füßen weg.
Dann bleibt uns als einziger Ausweg nur, uns zu Christus zu flüchten – zu unserem Herrn Jesus Christus. Er ist in den Schmutz dieser Ahnengalerie hineingekommen. Er ist in den Schmutz und in die Schuld meines Lebens hineingekommen und deines Lebens, wenn du Christ geworden bist.
Er ist der eine einzige vollkommene, reine Sohn Gottes. Deshalb ist Jesus der Einzige, der die Macht hat, mich vor meiner Sünde zu retten, indem er mich hinein nimmt in den Triumph der Gnade.
Das ist deine einzige Chance: dass du Jesus darum bittest, dich mit in seinen Triumph der Gnade zu nehmen. Lass für dich gelten, was er am Kreuz von Golgatha getan hat, um deine Schuld zu sühnen.
Er ist der einzige reine, heilige, vollkommene, ewige Sohn Gottes. Und Jesus reißt mich mit. Peres! Er reißt mich mit gegen alle Widerstände. So wie es Paul Gerhardt in seinem Lied bejubelt, mit dem ich schließe – bezeichnenderweise in dem Lied unter dem Titel „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“.
In der sechsten Strophe jubelt Gerhardt: „Ich häng und bleib auch hangen an Christo als ein Glied. Wo mein Haupt durch ist gegangen, da nimmt er mich auch mit. Er reißt durch Tod, durch Welt, durch Sünd, durch Not, er reißt durch die Hölle, ich bin stets sein Gesell.“
Das heißt: Ich darf zu ihm gehören, mich kann nichts mehr von ihm trennen. Bist du es auch? Bist du auch der Gesell des heiligen Gottes geworden durch seinen geliebten Sohn Jesus Christus? Amen.
Schlussgebet
Ach Herr, wir danken dir dafür, dass du nicht zurückschreckst vor unserer menschlichen Bösartigkeit und Schuldverfallenheit. Du bist in diese Geschichte, in diese Genealogie hineingekommen, um alles gutzumachen.
Herr, gib, dass unser Herz beschützt und gereinigt wird von jedem Stolz, mit dem wir meinen, wir könnten irgendetwas beitragen. Herr, wir können es nicht, aber wir wollen uns zu dir flüchten.
Wir danken dir, dass dort wirklich Frieden ist und der Fels zum Leben und zum Sterben herunthilft. Durch dieses Kapitel möge manchem Menschen, der sich noch einbildet, er könne anders bestehen als durch Jesus, das Licht aufgehen. Lass ihn erkennen, wie sehr wir dich brauchen, du lieber, guter Herr! Amen!