Einleitung: Das Gebot der Bergpredigt als Lebensregel
Wir wollen beten und uns erheben vor dem Wort Gottes.
Der Predigttext ist ein weiterer Abschnitt, ein Schaltvers der Bergpredigt an einer Schnittstelle. Dort sagt uns Jesus: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Matthäus 7,12)
Herr Jesus Christus, lass uns nun erkennen, in welche Richtung dein Wort uns bringen will. Lass uns erkennen, Herr, was wir brauchen, und zeig uns den Weg, den du mit uns vorhast.
Gib uns jetzt Ruhe zum Hören und Reden, Herr, und bitte, sei uns nah. Amen!
Nehmen Sie bitte wieder Platz, liebe Gemeinde. Jeder hat sie: Mancher hat sie ganz bewusst, ein anderer wendet sie unbewusst an – ich meine Lebensregeln.
Das sind bestimmte Grundsätze, nach denen wir unser Leben gestalten und mit denen wir unsere Angelegenheiten regeln. Das gilt besonders für das Zusammenleben mit anderen Menschen.
Lebensregeln im Alltag: Verschiedene Grundsätze im Umgang miteinander
Dem fällt das Zusammenleben mit anderen Menschen heute Morgen etwas schwer. Besonders deshalb brauchen wir Regeln – in unserer Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, im Geschäftsleben und in der Gemeinde.
Nach welchen Regeln gestalten Sie Ihre Beziehungen zu anderen Menschen? Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten. Einige schwören auf die Vorteilsregel. Ich meine jetzt nicht die Vorteilsregel beim Fußball.
Also, wenn ein Stürmer gefoult wird und trotzdem noch eine große Chance hat und am Ball bleibt, dann darf der Schiedsrichter nicht abpfeifen, sondern muss die Vorteilsregel beachten und das Spiel weiterlaufen lassen. Diese Regel meine ich nicht, sondern die zwischenmenschliche Vorteilsregel. Sie ist viel älter als das Fußballspiel.
Sie ist so alt, dass es dafür sogar einen lateinischen Ausdruck gibt: „do ut des“. Frei übersetzt bedeutet das „ich gebe dir etwas, damit du mir etwas gibst“. Noch freier übersetzt: Eine Hand wäscht die andere.
Sie kennen diese Vorteilsregel: Ich tue dem anderen etwas Gutes, damit er mir zu gegebener Zeit eine Gegenleistung erbringt. Die Vorteilsregel arbeitet mit Berechnung. Je höher der andere in meiner Schuld steht, umso mehr ist er mir verpflichtet.
Also, liebe Leute, lasst uns Gutes tun, aber achtet auch darauf, dass wir uns nicht in die Hand nehmen, dass unser beglückter Mitmensch ja nicht vergisst, was wir ihm Gutes getan haben. Sonst fühlt er sich nicht mehr verpflichtet, und dann hätten wir nichts mehr von unseren guten Taten. Das ist die Vorteilsregel.
Dann gibt es eine zweite Lebensregel im Umgang mit den lieben Mitmenschen, die auch weit verbreitet ist. Sie lässt sich mitunter sogar gut mit der Vorteilsregel kombinieren. Das ist die Drei-Chancen-Regel.
Kennen Sie die? Wie sie funktioniert, können wir kurz und knapp an einem frisch verheirateten Ehemann aus dem Wilden Westen studieren. Er wollte mit seiner jungen Frau mit einer Kutsche zusammen die Hochzeitsreise beginnen.
So steigen die beiden in den Pferdewagen. Das Pferd soll antreten, aber es geht durch und stürzt. Der Ehemann grollt und sagt: „Zum Ersten!“ Dann holt er seine Peitsche raus, schlägt das Pferd und versucht es ein zweites Mal.
Wieder geht das Pferd durch und stürzt. Der Ehemann wird zorniger und sagt: „Zum Zweiten!“ Dann macht er einen dritten Versuch, lässt das Pferd anlaufen, aber es ist mittlerweile so aufgeregt, dass es wieder stürzt und hinfällt.
Nun reicht es dem Ehemann. „Zum Dritten!“, sagt er. Er nimmt sein Gewehr, stellt sich vor das Pferd und schießt es ab. Seine Frau neben ihm ist völlig entsetzt und schreit: „Das arme Tier, wie konntest du das tun?“
Darauf brüllt und brummt der Mann: „Zum Ersten!“ Das ist die Drei-Chancen-Regel. Wenn du es beim dritten Mal nicht kapiert hast, dann bist du für mich gestorben. Wenn du mich zum dritten Mal enttäuschst, dann ist Schluss.
Vorteilsregel, Drei-Chancen-Regel – ihm fällt sicherlich noch eine weitere Regel ein, und das ist die Rückschlag-Regel. Der Volksmund sagt: „Wie du mir, so ich dir.“
Das ist also die negative Form der Vorteilsregel. Wenn du mich haust, dann haue ich dich. Dazu wird gern ein Satz aus dem Alten Testament angeführt: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, obwohl dieser Satz im biblischen Zusammenhang eine ganz andere Absicht hat.
Also, mit diesen Lebensregeln…
Weitere Lebensregeln: Rückschlagregel und ihre Grenzen
Vorteilsregel, Drei-Chancen-Regel, Rückschlagregel – man kann sich recht und schlecht durchs Leben schlagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Man kann seinen Vorteil herausschlagen, man kann dem anderen nach dem dritten Mal die Tür vor der Nase zuschlagen oder eben in angemessener Weise zurückschlagen. Die Bibel nimmt hier kein Blatt vor den Mund: Sie sagt, das ist der Normalfall im Zusammenleben zwischen Mensch und Mensch. Das läuft mal offensichtlicher, mal verdeckter ab. Das begann schon mit der zweiten Generation der Menschheit, als ein Bruder den anderen totgeschlagen hat. Seitdem gab es immer wieder Philosophen, Menschenfreunde und Humanisten, die gesagt haben: Es kann doch nicht nur diese Lebensregeln geben. Es muss doch möglich sein, mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen, vorsichtiger miteinander umzugehen, den anderen nicht auszunutzen und ihm möglichst keinen Schaden zuzufügen.
So wurde eine andere Lebensregel formuliert, die der Bergpredigt schon ziemlich nahekommt. Ich nenne sie deswegen die silberne Regel. Mit Silber ist das so wie bei der Olympiade: Silber ist noch nicht die absolute Spitze, aber schon ziemlich gut. Deshalb ist das die erste Regel, die wir als eigenen Punkt festhalten. Ein kurzer Blick auf die silberne Regel: Sie wurde von verschiedenen Leuten formuliert, zum Beispiel vom Rabbi Hillel, der sagte: „Was du selbst verabscheust, das tu auch keinem anderen an; darin liegt das ganze göttliche Gesetz, alles Weitere folgt daraus.“ Ähnlich drückte es der Religionsstifter Konfuzius aus: „Was man dir nicht antun soll, das tue auch keinem anderen zu.“ Der griechische Denker Epiktet formulierte es so: „Was du selbst nicht erleiden willst, das füge anderen ebenfalls nicht zu.“
Man könnte sagen: Das kenne ich auch ohne die Klassiker. Wir können es sogar reimen: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Das ist die silberne Regel. Sie sagt uns, was wir auf alle Fälle vermeiden wollen. Die große Stärke der silbernen Regel liegt darin, dass sie eine Verbindung herstellt zwischen mir selbst und meinen Mitmenschen. Sie sagt: Denk nicht nur an dich selbst. Lass dein Gefühl nicht einfach freien Lauf! Mensch, versetz dich doch mal in die Lage des Anderen! Würde es dir gefallen, wenn … und dann kommen all die Dinge, die uns nicht gefallen.
Die silberne Regel will einen Damm bauen gegen unseren schlagfertigen Egoismus. Sie sagt: Junge, du bist nicht allein auf der Welt. Du kannst mit den anderen nicht einfach umgehen, wie es dir passt. Du darfst nicht nur auf deinen Vorteil aus sein. Halt dich wenigstens so weit zurück, dass du dem anderen nicht zumutest, was dir selber wehtun würde. Wenn du nicht beraubt werden willst, dann lass anderen ihr Eigentum. Wenn du weißt, wie sehr es schmerzt, ausgelacht zu werden, dann lach auch andere bitte nicht aus. Wenn du verabscheust, belogen zu werden, dann hör auf, andere zu belügen. Und wenn es dich stört, dass andere sich immer in den Mittelpunkt stellen, dann stell dich selbst nicht so in den Mittelpunkt.
Ich denke, mit der silbernen Regel kommen wir schon ziemlich weit. Wenn wir uns daran halten, wird das manchen Krach und Streit vermeiden. Aber Jesus reicht das noch lange nicht. Über all diese silbernen Regeln setzt Jesus nun seine goldene Regel. Damit sind wir bei unserem Predigttext, der sogenannten goldenen Regel. Jesus sagt dort: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten.“
Man hat diesen Satz den Mount Everest der Ethik genannt, also den Gipfel des guten Verhaltens. Der Feldherr Alexander Severus soll diesen Satz, den Sie auf Ihrem Predigtzettel haben, in goldenen Buchstaben buchstäblich als goldene Regel an eine Wand geschrieben haben. Ob er sich immer daran gehalten hat, ist eine andere Frage.
Wir fragen uns: Was ist nun so golden an dieser Regel? Gibt es überhaupt einen großen Unterschied zur silbernen Regel? Ist das nicht eigentlich dasselbe? Lehnen wir genau hin. Den Unterschied kann man mit einem Satz beschreiben: Lassen ist Silber, Tun ist Gold. Merken Sie? Die silberne Regel fordert, lass das Böse; die goldene Regel fordert, tu das Gute. Die silberne Regel setzt ein Stoppschild: Sie sagt „Stopp mit deinen Gemeinheiten! Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu.“ Die goldene Regel setzt kein Stoppzeichen, sondern ein Vorfahrtsschild – Vorfahrt für Wohltaten.
Auf den ersten Blick liegt zwischen der silbernen und der goldenen Regel nur eine kleine Veränderung. Aber im Endergebnis ist das ein riesiger Unterschied. Das kann man sich klar machen am Unterschied zwischen Spinett und Klavier. Lange Zeit, etwa vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert, war das Spinett eines der wichtigsten Musikinstrumente. Aber im letzten Teil des achtzehnten Jahrhunderts entwickelte ein unbekannter Musiker eine ganz andere Anschlagtechnik. Die Saiten wurden nicht mehr gezupft, sondern man baute kleine Hämmerchen ein, die die Saiten schlugen. So entstand das Klavier mit seinen viel größeren musikalischen Möglichkeiten – durch eine kleine, aber entscheidende Veränderung: kleine Ursache, große Wirkung.
Ganz ähnlich ist es mit dem Unterschied zwischen der silbernen und der goldenen Regel. Auf den ersten Blick ist das nur ein Akzentunterschied, aber auf den zweiten eröffnet die goldene Regel eine völlig neue Dimension. Die silberne Regel schaltet die Ampel auf Rot. Wenn du dabei bist, etwas zu tun, was dir selber nicht schmeckt, dann stopp, bleib stehen. Die goldene Regel schaltet die Ampel auf Grün. Wenn dir etwas einfällt, worüber du dich selbst freuen würdest und du kannst davon ausgehen, dein Mitmensch wird sich wahrscheinlich auch sehr darüber freuen, dann geh los und tu es.
Liebe in Aktion – das ist der Kern der goldenen Regel. Ein paar Kapitel später hat Jesus diese Regel noch einmal mit anderen Worten wiederholt. Er sagt: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ Und Sie wissen, was jetzt kommt: so selbstverständlich, wie du das Beste für dich selbst willst, mit der gleichen Kraft und Intensität sollst du auch das Beste für dein Gegenüber suchen.
Du sehnst dich nach Ermutigung? Dann geh hin und ermutige den anderen. Du brauchst es, dass dir jemand zuhört? Dann werde selbst ein guter Zuhörer. Du bist froh, wenn sich jemand nach dir erkundigt, mal anruft und sagt: „Mensch, wir vermissen dich, wo bist du denn in den letzten Wochen gewesen?“ Nach wem solltest du dich erkundigen? Wen solltest du vielleicht heute Nachmittag anrufen? Du bist dankbar, wenn dir jemand seine Hilfe im Haushalt oder im Garten anbietet? Wem könntest du mit deiner Zeit und deinen Möglichkeiten helfen?
Merken Sie: Die goldene Regel ist viel mehr als eine äußere Regel, die man ausprobiert. Sie ist eine Grundhaltung, ein Lebensstil, ein way of life. Die silberne Regel kann ich größtenteils dadurch einhalten, dass ich den anderen in Ruhe lasse und grobe Versäumnisse vermeide. Gut, wenn ich nicht will, dass jemand meinen Geburtstag vergisst, dann muss ich mich auch nach der silbernen Regel dazu aufraffen, den anderen Geburtstag nicht zu vergessen und mal anzurufen. Aber insgesamt geht es der silbernen Regel darum, das Unschöne, das Unerfreuliche, das Schädliche zu vermeiden.
Der goldenen Regel geht es aber um ein beständiges Tun. Die goldene Regel macht mich unruhig. Jesus stößt mich auf die Frage, Nestvogel, überleg dir, wobei würdest du dich freuen? Und dann fällt mir eine Menge ein. Was würde dich weiterbringen? Womit könnten andere dir etwas Gutes tun? Wenn man will, kann man ja mal eine Liste mit den Dingen anlegen. Aber wenn die Liste erst einmal steht und ich denke, es fällt uns nicht schwer, sie vollzukriegen, dann kann diese Liste uns ganz schön unruhig machen. Denn dann haben wir eine ganze Latte von guten Dingen, die wir anderen tun, geben, schenken, zukommen lassen sollen, soweit unsere Möglichkeiten reichen.
Die goldene Regel ist also das Gegenstück zum goldenen Mittelweg. Sie kennen den goldenen Mittelweg: das ist so eine wohltemperierte Mitmenschlichkeit, nur nicht zu extrem, damit man den anderen nicht verpflichtet, Hauptsache man hält die Anstandsregeln ein und ist einigermaßen nett zueinander. Die goldene Regel ist anders. Sie fordert selbst Hingabe, ein Leben der Selbsthingabe.
Ich las in einem Bericht über einen Pfarrer: Nach dreißig Jahren Ehe erkrankte seine Frau. Sie hatte einen Tumor im Gehirn, was bedeutete, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Nun bekam sie einen ganz seltsamen Drang, von zu Hause abzuhauen, immer wieder mal ganz unberechenbar. Ihr Mann musste Tag und Nacht praktisch auf sie achten. Je mehr die Krankheit fortschritt, umso schwerer fiel ihr das Gehen und Sprechen. Beim Essen, beim Waschen, beim Ankleiden musste der Mann immer helfen. Das dauerte fünfzehn Jahre. Seine Freunde schlugen ihm oft vor: „Mensch, such dir doch ein Heim für sie!“ Aber er weigerte sich und sagte: „Sie ist meine Frau und die Mutter meiner sieben Kinder, ich werde sie nie fortgeben.“ Kurz vor ihrem Tod wurde diese Frau noch einmal von einer ihrer Freundinnen besucht. Sie sagte zu dieser Freundin: „Weißt du, mein Mann liebt mich heute immer noch genauso, wie er mich als Braut geliebt hat.“
Das ist die innere Haltung, von der die goldene Regel spricht. Ich soll mich gewissermaßen in die Schuhe des Anderen stellen und mir klarmachen: Der braucht von seinen Grundbedürfnissen her dasselbe wie ich. Der oder die ist ein zerbrechlicher Mensch wie ich. Und wenn ich jetzt in seiner Situation wäre, was würde ich wohl dann am meisten brauchen?
Hier in der goldenen Regel geht es eben nicht um Nützlichkeitsdenken: Was hilft mir, wenn ich es dem anderen tue? Das wäre nicht der Mount Everest der Ethik, das wäre das tiefe Tal des Egoismus. Das müsste Jesus uns nicht extra beibringen. Die Betonung in diesem Vers liegt auf dem, was wir tun sollen. Unsere Wünsche und Erwartungen sind nicht das Ziel, um das es hier geht, sondern lediglich ein Hilfsmittel, damit wir besser verstehen können, was der andere braucht.
Deshalb schickt Jesus dann diesen letzten Satz noch hinterher: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten.“ Verstehen Sie? Jesus sagt nicht: Wenn ihr nach dieser goldenen Regel lebt, dann kommt ihr bestens durchs Leben und könnt mit der Dankbarkeit der Leute rechnen. Sondern Jesus sagt – im Griechischen steht hier wörtlich ein „Denn“ zwischen diesen beiden Sätzen: Denn wenn du dich nach dieser goldenen Regel richtest, dann erfüllst du damit das Gesetz und die Propheten.
Gesetz und Propheten – das ist ein feststehender Ausdruck für Gottes aufgeschriebenes Wort. Gesetz und Propheten waren zur Zeit Jesu das Alte Testament. Für uns ist das die gesamte Bibel, die wir letztlich aus den Händen Jesu und seiner Apostel empfangen. Und das meint Jesus hier: Wenn du zu dieser Liebe in Aktion bereit bist, wenn du mit aller Kraft das Wohl des Anderen suchst, wenn du ihm das schenkst, wonach du dich selbst sehnst, dann strebst du genau das an, was Gott in seinem aufgeschriebenen Wort als Leitlinie gegeben hat.
Damit macht Jesus deutlich: Die goldene Regel ist nicht schwärmerische Gefühlssache, so nach dem Motto: Alles, was dir gerade Spaß macht, das lass auch dem anderen zukommen. Die falschen Dinge, die ich will, die soll ich dem anderen natürlich nicht geben. Ganz extrem: Wenn ich will, dass mir jemand Heroin gibt, dann soll ich nicht den anderen mit Heroin versorgen, das ist klar. Oder wenn ich will, dass ich in Ruhe gelassen werde, wenn ich vom Gottesdienst wegbleibe über Wochen und mich in Schuld verstricke, dann soll ich nicht umgekehrt mit meinem Mitchristen das Gleiche machen, dass ich ihn auch laufen lasse, wenn er sich vom Gottesdienst entfernt und sich in Schuld verstrickt. Gottes Wort sagt mir, ich soll ihm nachgehen, ich soll versuchen, ihn zurückzugewinnen.
Verstehen Sie: Wenn jemand das Falsche von mir will, soll ich trotzdem das Richtige tun. Nur wo kann ich nachprüfen, was das Richtige ist? Im Gesetz und den Propheten, also im geschriebenen Wort Gottes. Was das Richtige ist, lese ich meistens nicht an meinen eigenen Wünschen ab, mit denen kann ich mich ja kolossal irren und fehlgehen. Hier sehen wir: Jesus spielt die goldene Regel nicht gegen die Gebote aus. Er sagt nicht: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihr, dann braucht ihr das Gesetz und die Propheten nicht mehr.“ Das sagt er nicht. Sondern er sagt: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten.“
Daran sehen wir: Die goldene Regel ist keine Gefühlsduselei, sondern zugleich – und das ist unser dritter Punkt – die gründliche Regel. Die goldene Regel ist gewissermaßen eingebunden in das Gesetz und die Propheten, also das niedergeschriebene Wort Gottes. Sie ist keine Wischiwaschi-Regel nach dem Motto: „Es ist alles erlaubt, solange du dem anderen damit eine Freude machen willst. Höre auf die Stimme deines Herzens, alles, was ihr wollt, das tut den Leuten, Hauptsache es geschieht in Liebe.“
So sagt Jesus das nicht. Er weiß, was für Leute er vor sich hat. Er weiß, wem er diese Regel gibt, nämlich uns. Er weiß, dass wir begrenzte Menschen sind, die oft selbst gar nicht einschätzen können, was gut ist für uns und für andere. Deshalb stellt Jesus die goldene Regel und die schriftlichen Gebote Gottes nebeneinander, damit sie sich gegenseitig erklären und Licht aufeinander werfen können. Jesus setzt ein Gleichheitszeichen dazwischen: Goldene Regel ist Gesetz und Propheten.
Das ist enorm hilfreich. Denn schauen Sie: Die goldene Regel zeigt uns den Wesen der Gebote, den Herzschlag von Gottes Geboten, die Richtung, in die das gehen soll. Gott hat sie uns aufs Herz gegeben, damit wir bekommen, was wir brauchen, und damit unser Nächster bekommt, was er braucht. Und wer weiß besser, was wir brauchen, als Gott? Die goldene Regel zeigt uns den Herzschlag der Gebote. Gott engt uns damit nicht ein, sondern er will uns damit aufbauen und schützen.
„Alles, was ihr wollt“, sagt Jesus, „dass euch die Leute tun, das tut ihnen. Seid aktiv, tut ihnen Gutes, helft, wo sie es brauchen, denn das ist das Gebot, denn das ist das Gesetz und die Propheten, denn dazu hat Gott seine Gebote gegeben, damit wir die Hilfe bekommen, die wir brauchen.“ Also noch einmal: Die goldene Regel zeigt uns das Wesen der Gebote. Sie wollen uns aufbauen, uns stark machen, uns Halt geben, Sicherheit und Geborgenheit.
Die Gebote zeigen uns gewissermaßen die Ausführungsbestimmungen für die goldene Regel. So hängt es zusammen: Die goldene Regel zeigt uns, mit welcher inneren Haltung wir die Gebote befolgen sollen. Nicht um uns selbst auf die Schulter zu klopfen oder um abhaken zu können: „Wieder ein Gebot, das du befolgt hast“, sondern um dem anderen wirklich zu helfen, um ihm zu dienen. Das ist das Gesetz und die Propheten, das ich dem anderen gebe, was er so dringend braucht.
Die Einzelbestimmungen in den Geboten zeigen uns nun an praktischen Beispielen, wie die goldene Regel in den Alltag übersetzt wird. Halten Sie das bitte unbedingt fest: Die goldene Regel ist eine gründliche Regel. Das ist keine schwammige Parole der menschlichen Gutherzigkeit, sondern die goldene Regel ist gründlich eingebunden in das Wort Gottes, in das geschriebene, feststehende Wort Gottes. Die goldene Regel ist gegründet auf die gesamte Bibel.
Deshalb hat derselbe Jesus in derselben Werkpredigt in Kapitel 5, einige Verse vorher, Folgendes gesagt: Kapitel 5, Vers 19: „Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst, was Jesus uns gegeben hat, und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.“ Das ist wichtig.
Wenn wir mit der goldenen Regel leben wollen, wenn wir sie anwenden wollen, dann werden wir das Gesetz und die Propheten nicht als Hindernis sehen, sondern als Hilfe. Dann werden wir Gottes Gesetz, Gottes Gebot nicht verunglimpfen als gesetzlich, einengend, knöchern oder kalt. Wer mit der goldenen Regel leben will, wird sie nicht gegen Gottes Willen ausspielen, nicht gegen Gottes Wort ausspielen. Er wird die goldene Regel nicht missbrauchen als ein Hintertürchen, um Gottes Gebote zu umgehen, sondern er wird zusammenlassen, was Jesus uns zusammengegeben hat, was wir aus derselben liebenden Hand bekommen: die goldene Regel und das Gebot, das Gesetz, das umfassende Wort Gottes.
Am Schluss zwingt sich uns wieder die Frage auf, die uns schon so oft bei der Bergpredigt begegnet ist: Wie soll man das umsetzen? Wie soll man das schaffen? Gebote halten ist schon schwer genug, aber diese innere Einstellung der goldenen Regel, dass ich alles daran setze, um dem anderen Gutes zu tun, dass mich das treibt – wie soll das gehen? Kein Wunder, dass die meisten Menschen nicht nach der goldenen Regel leben, selbst wenn sie sie bewundern.
Es gibt nur eine Chance, auf den Weg dieser goldenen und gründlichen Regel zu kommen: Wir müssen ernst machen damit, dass es eine göttliche Regel ist. Und das ist das Letzte und Entscheidende: die göttliche Regel. Das Leben, das Jesus hier beschreibt, ist keine normalmenschliche Möglichkeit. Es ist Leben auf einem göttlichen Level.
Die goldene Regel ist eine göttliche Regel. Das kann man uns sterblichen Menschen normalerweise nicht zumuten, geschweige denn zutrauen. Wir kennen uns doch. Das liegt nicht in unseren Möglichkeiten. Unsere Selbstbezogenheit ist einfach zu stark. Wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt, so wie jener Narzissus aus der griechischen Sage, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, sein Spiegelbild im Wasser zu bewundern. Das ist eine dolle Beschäftigung für ein Leben.
Die Bibel sagt es mit anderen Worten: In jedem von uns steckt so ein kleiner Narzissus. Selbstumkreisung, eigener Vorteil – das ist menschlich. Die goldene Regel aber ist eine göttliche Regel. Sie beschreibt einen göttlichen Lebensstil, und dieser göttliche Lebensstil erfordert einfach göttliche Kraft.
Göttlicher Lebensstil bedeutet nicht, dass ein Mensch vollkommen wird auf dieser Welt. Göttlicher Lebensstil bedeutet nicht, dass der Christ seinem Nächsten nicht schuldig bleibt. Aber göttlicher Lebensstil bedeutet, dass jemand den Wunsch hat: Herr, so will ich leben! Gestalte mein Leben doch so um, dass mich das treibt. Schenke mir diese goldene Regel ins Herz!
Sehen Sie, wir können mit dieser göttlichen Regel nur leben, wenn wir in einer persönlichen Verbindung mit dem lebendigen Gott stehen. Das ist der Angelpunkt.
Zeit nach der Bergpredigt hat Jesus diese goldene Regel noch einmal mit anderen Worten umschrieben, in Matthäus 22. Dort sagt er: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Matthäus 22,39). Und wissen Sie, was er unmittelbar vorher gesagt hat? Er sagt: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit deinem ganzen Verstand“ (Matthäus 22,37). Dann kommt das andere: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Hier hat Jesus ganz ausdrücklich das göttliche Fundament genannt, auf dem Nächstenliebe nur wachsen kann. Hier hat Jesus die Quelle benannt, aus der Nächstenliebe nur sprudeln kann. Und das ist die Liebe Gottes. Gibt es keine echte Nächstenliebe ohne Gottes Liebe.
Dazu hat Frau Kaes, die Gattin unseres Organisten, vor einiger Zeit ein Gedicht vorgetragen, das das wunderbar ausdrückt. Es heißt „Der alte Brunnen“ und vergleicht uns mit einem alten Brunnen:
Der alte Brunnen spendet leise sein Wasser täglich gleicherweise.
Wie segensreich ist doch solch Leben nur: immer geben, geben, geben, geben.
Mein Leben soll dem Brunnen gleichen, ich leb, um anderen da zu reichen.
Doch geben, geben alle Tage, sag Brunnen, wird's dir nicht zur Plage?
Da sagt er mir als Jochgeselle: Ich bin ja Brunnen nur, nicht Quelle.
Mir fließt es zu, ich geb es weiter, drum klingt mein Plätschern froh und heiter.
Nun leb ich nach des Brunnens Weise, zieh fröhlich meine Lebenskreise,
was mir von Christus fließt ins Leben, das kann ich mühelos weitergeben.
Das ist das Geheimnis: Die göttliche Regel kann man nur mit göttlicher Anbindung leben. Auch Nichtchristen können moralisch ein anspruchsvolles Leben führen. Sie können uns Christen damit manchmal beschämen. Aber sehen Sie, diesen göttlichen Pulsschlag, der in der goldenen Regel mitschwingt, den können nur Christen haben. Wir sagen: Ja, wir wissen, dass wir vieles schuldig bleiben und es uns leidtut. Aber unser Leben wird gespeist aus einer anderen Kraftquelle, nämlich von Jesus. Deshalb wollen wir alles daransetzen, dieses Lebenswasser euch weiterzugeben, weil Gott es uns geschenkt hat.
Merken Sie den Unterschied: Christen haben nicht einfach nur Moral pur oder Menschlichkeit pur. Bei Christen schwingt immer wieder dieser Hinweis auf den Vater im Himmel mit. Christen tun das Gute nicht um des Guten Willen, sondern um Gottes Willen. Wir sagen: Wir leben für ihn, wir leben von ihm. Deshalb wollen wir dir helfen, weil er es mir aufgetragen hat und weil wir so viel von ihm bekommen haben. Und weißt du am besten? Du lernst ihn selbst gleich kennen, du schließt dich selbst persönlich an diese Quelle an, dann kannst du es genauso weitergeben und wirst nicht verdursten.
Nehmen Sie das bitte mit: Die goldene Regel beschreibt nicht eine allgemeine menschlich-moralische Regel, an die sich jeder halten soll, sondern sie ist eine göttliche Regel, mit der nur Gotteskinder etwas anfangen können. Deshalb bedeutet christliche Erziehung, über die wir gerade heute am Tauftag gesprochen haben, eben nicht in erster Linie, dass Kinder zu moralisch braven Bürgern erzogen werden, die sich christlich verhalten, wie man das so sagt. Das soll am Ende auch dabei herauskommen. Aber das Wichtigste ist nicht die moralische Erziehung, sondern die missionarische Erziehung.
Das Wichtigste ist, dass die Kinder Hilfe bekommen, Jesus kennenzulernen. Dass sie bald begreifen: Ich stehe vor dem lebendigen Gott, als einer, der ihm nicht gerecht wird und immer wieder Schuld auf sich lädt. Ich brauche es, dass Jesus für meine Schuld gestorben ist. Dieser Retter Jesus Christus ist für mich da. Darauf wird es ankommen, dass sie ihren Kindern helfen, Jesus kennenzulernen und liebzugewinnen. Dass ihre Kinder den Anschluss an die Quelle bekommen. Und von da aus kann es dann in ihr Leben hineinwachsen, dass sie, weil Jesus bei ihnen ist, sie prägt, nährt, schützt und schiebt, immer mehr nach dieser göttlichen goldenen Regel leben können.
Wenn wir das wollen – und das wollen wir zum Schluss für uns alle festhalten – wenn wir das wollen, dass die göttliche Regel unser Leben stärker prägt, wo müssen wir anfangen? Bei Gott, bei unserem Verhältnis zu ihm. Das gilt auch für langjährige Christen, das gilt für ganze Gemeinden. Denken Sie noch mal an den Brunnen: Wenn das Wasser nicht quillt, dann ist der Brunnen verstopft. Dann ist die Verbindung zur Quelle blockiert oder zumindest beeinträchtigt. Dann nützt es nichts, ständig wieder mit dem Eimer im trockenen Brunnen herumzufischen und zu sagen: Da muss doch mal ein bisschen frisches Wasser reinkommen. Das hilft nichts.
Wenn der Brunnen verstopft ist, dann hilft nur eins: Wir brauchen Gott, wir brauchen Gottes Nähe, wir brauchen Gottes Eingreifen. Ihn müssen wir bitten – seinen großen Brunnenreiniger, nämlich seinen Sohn Jesus Christus. Jesus Christus allein hat die Macht und das Können, unseren verstopften Brunnen wieder zu säubern von aller Schuld, von aller Gleichgültigkeit, von allen Kompromissen, die wir gegenüber dem Wort Gottes gemacht haben. Der große Brunnenreiniger Jesus allein hat die Macht und die Fähigkeit, den Weg zur Quelle wieder freizulegen. Dann kann die Quelle wieder sprudeln, hinein in unseren Brunnen. Dann kann unser Brunnen wieder Wasser weitergeben, frisch aus der göttlichen Quelle.
Die göttliche Regel ist die goldene Regel. Und die goldene Regel ist die göttliche Regel. Deshalb können wir so nur leben in einer persönlichen Verbindung mit Jesus Christus. Er ist für uns nicht nur ein Vorbild aus ferner Vergangenheit, sondern wir beten zu ihm, hören seine Stimme hier in seinem Wort und vertrauen ihm unser ganzes Leben persönlich an.
Er selbst hat uns diese Lebensregel vermacht. Er selbst hat es gesagt: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten.“ Aber Jesus gibt uns diese Regel nicht wie ein unparteiischer Schiedsrichter, der beobachtet und bei Verstößen pfeift und gelbe oder rote Karten verteilt. So ist Jesus nicht.
Jesus gibt uns diese goldene Regel als unseren Trainer, der uns stützt, der uns unter die Arme greift, der uns coacht, der uns wieder aufrichtet, wenn wir gescheitert sind, der uns unsere Fehler klarmacht und der uns dahin führt, dass diese Regel mehr und mehr unser Leben durchdringt. Die goldene Regel treibt uns in die Arme von Jesus – und das ist der beste Dienst, den sie uns leisten kann.
Amen.
Die Wirkung und Bedeutung der silbernen Regel
Und wissen Sie, die große Stärke der silbernen Regel liegt darin, dass sie eine Verbindung herstellt zwischen mir selbst und meinen Mitmenschen.
Sie sagt: Denk nicht nur an dich selbst. Lass dein Gefühl nicht einfach freien Lauf! Mensch, versetz dich doch mal in die Lage des Anderen! Würde es dir gefallen, wenn ... und dann folgen all die Dinge, die uns nicht gefallen.
Merken Sie, die silberne Regel will einen Damm bauen gegen unseren schlagfertigen Egoismus. Sie sagt uns: Junge, du bist nicht allein auf der Welt. Du kannst mit den anderen nicht einfach umgehen, wie es dir passt.
Du darfst nicht nur auf deinen Vorteil aus sein. Halt dich wenigstens so weit zurück, dass du dem anderen nicht zumutest, was dir selber wehtun würde. Wenn du nicht beraubt werden willst, dann lass anderen ihr Eigentum. Wenn du weißt, wie sehr es schmerzt, ausgelacht zu werden, dann lach auch andere bitte nicht aus.
Wenn du verabscheust, belogen zu werden, dann hör auf, andere zu belügen. Und wenn es dich stört, dass andere sich immer in den Mittelpunkt stellen, dann stell dich selbst nicht so in den Mittelpunkt.
Ich denke, mit der silbernen Regel kommen wir schon ziemlich weit. Wenn wir uns daran halten, wird das manchen Krach und manchen Streit vermeiden.
Die goldene Regel als Weiterführung und Herausforderung
Aber Jesus reicht das noch lange nicht. Über all diese silbernen Regeln setzt er nun seine goldene Regel.
Damit sind wir bei unserem Predigttext, der sogenannten goldenen Regel. Jesus sagt: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten.“
Man hat diesen Satz den Mount Everest der Ethik genannt, also den Gipfel des guten Verhaltens. Der Feldherr Alexander Severus soll diesen Satz, den Sie auf Ihrem Predigtzettel haben, buchstäblich in goldenen Buchstaben als goldene Regel an eine Wand geschrieben haben. Ob er sich immer daran gehalten hat, ist eine andere Frage.
Nun fragen wir: Was ist so golden an dieser Regel? Gibt es überhaupt einen großen Unterschied zur silbernen Regel? Ist das nicht eigentlich das Gleiche? Schauen wir genau hin.
Den Unterschied kann man mit einem Satz beschreiben: Lassen ist Silber, Tun ist Gold. Merken Sie? Die silberne Regel fordert, lass das Böse. Die goldene Regel fordert, tu das Gute.
Die silberne Regel setzt ein Stoppschild. Sie sagt: Stopp mit deinen Gemeinheiten! Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu.
Die goldene Regel hingegen setzt kein Stoppzeichen, sondern ein Vorfahrtsschild: Vorfahrt für Wohltaten.
Die Bedeutung des Unterschieds zwischen silberner und goldener Regel
Merken Sie: Auf den ersten Blick liegt zwischen der silbernen und der goldenen Regel nur eine kleine Veränderung. Doch im Endergebnis ist das ein riesiger Unterschied.
Das lässt sich gut am Unterschied zwischen Spinett und Klavier verdeutlichen. Lange Zeit, ich denke vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert, war das Spinett eines der wichtigsten Musikinstrumente. Im letzten Teil des achtzehnten Jahrhunderts entwickelte jedoch ein unbekannter Musiker eine ganz andere Anschlagtechnik.
Jetzt wurden die Saiten – ich sage das mal ganz laienhaft – nicht mehr gezupft, sondern man baute kleine Hämmerchen ein, die die Saiten schlugen. So kam es zur Entwicklung des Klaviers mit seinen viel, viel größeren musikalischen Möglichkeiten. Durch eine kleine, aber entscheidende Veränderung entstand eine große Wirkung.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Unterschied zwischen der silbernen und der goldenen Regel. Auf den ersten Blick ist das nur ein Akzentunterschied. Doch auf den zweiten Blick eröffnet die goldene Regel eine völlig neue Dimension.
Die silberne Regel schaltet die Ampel auf Rot. Wenn du dabei bist, etwas zu tun, das dir selbst nicht gefällt, dann stopp! Bleib stehen. Die goldene Regel hingegen schaltet die Ampel auf Grün. Wenn dir etwas einfällt, worüber du dich selbst freuen würdest und du davon ausgehen kannst, dass dein Mitmensch sich wahrscheinlich auch sehr darüber freuen wird, dann geh los und tu es!
Liebe in Aktion – das ist der Kern der goldenen Regel.
Die goldene Regel als Lebensstil und praktische Anwendung
Ein paar Kapitel später hat Jesus diese Regel noch einmal mit anderen Worten wiederholt. Er sagt: Du sollst deinen Nächsten lieben, und du weißt, was jetzt kommt – wie dich selbst. Das bedeutet, so selbstverständlich, wie du das Beste für dich selbst willst, sollst du mit der gleichen Kraft und Intensität auch das Beste für dein Gegenüber suchen.
Du sehnst dich nach Ermutigung? Dann geh hin und ermutige den anderen. Du brauchst es, dass dir jemand zuhört? Also werde selbst ein guter Zuhörer. Du bist froh, wenn sich jemand nach dir erkundigt, dich anruft und sagt: „Mensch, wir vermissen dich, wo bist du denn in den letzten Wochen gewesen?“ Nach wem solltest du dich erkundigen? Wen solltest du vielleicht heute Nachmittag anrufen?
Du bist dankbar, wenn dir jemand seine Hilfe im Haushalt oder im Garten anbietet? Wem könntest du mit deiner Zeit und deinen Möglichkeiten helfen? Merken Sie, die goldene Regel ist viel mehr als eine äußere Regel, die man ausprobiert. Sie ist eine Grundhaltung, ein Lebensstil, ein way of life.
Die silberne Regel kann ich größtenteils dadurch einhalten, dass ich den anderen in Ruhe lasse und grobe Versäumnisse vermeide. Wenn ich zum Beispiel nicht will, dass jemand meinen Geburtstag vergisst, dann muss ich mich auch nach der silbernen Regel dazu aufraffen, den Geburtstag des anderen nicht zu vergessen und ihn mal anzurufen. Insgesamt geht es bei der silbernen Regel darum, das Unschöne, das Unerfreuliche, das Schädliche zu vermeiden.
Der goldenen Regel geht es jedoch um ein beständiges Tun. Die goldene Regel macht mich unruhig. Jesus bringt mich dazu, mich zu fragen: Nestvogel, überlege dir, wobei würdest du dich freuen? Dann fallen mir viele Dinge ein. Was würde dich weiterbringen? Womit könnten andere dir etwas Gutes tun?
Wenn man will, kann man ja mal eine Liste mit diesen Dingen anlegen. Aber wenn die Liste erst einmal steht und ich denke, es fällt uns nicht schwer, sie vollzukriegen, dann kann diese Liste uns ganz schön unruhig machen. Denn dann haben wir eine ganze Latte von guten Dingen, die wir anderen tun, geben, schenken und zukommen lassen sollen – soweit unsere Möglichkeiten reichen.
Die goldene Regel als Herausforderung zum selbstlosen Leben
Die goldene Regel ist also das Gegenstück zum goldenen Mittelweg.
Der goldene Mittelweg steht für eine wohltemperierte Mitmenschlichkeit – nicht zu extrem, damit man den anderen nicht verpflichtet. Hauptsache, man hält die Anstandsregeln ein und ist einigermaßen nett zueinander.
Die goldene Regel ist anders. Sie fordert selbst Hingabe. Ein Leben der Selbsthingabe, so wie ich es in einem Bericht über einen Pfarrer gelesen habe: Nach dreißig Jahren Ehe erkrankte seine Frau. Sie hatte einen Tumor im Gehirn, was bedeutete, dass sie nicht mehr klar denken konnte.
Nun bekam sie einen ganz seltsamen Drang, von zu Hause abzuhauen – immer wieder ganz unberechenbar. Ihr Mann musste Tag und Nacht praktisch auf sie achten. Je mehr die Krankheit fortschritt, desto schwerer fiel ihr das Gehen und Sprechen. Beim Essen, beim Waschen und beim Ankleiden musste der Mann immer helfen. Das dauerte fünfzehn Jahre.
Seine Freunde haben ihm oft vorgeschlagen: „Mensch, such dir doch ein Heim für sie.“ Aber er hat sich immer geweigert. Er sagte: „Sie ist meine Frau und die Mutter meiner sieben Kinder. Ich werde sie nie fortgeben.“
Kurz vor ihrem Tod wurde diese Frau noch einmal von einer ihrer Freundinnen besucht. Sie sagte zu dieser Freundin: „Weißt du, mein Mann liebt mich heute immer noch genauso, wie er mich als Braut geliebt hat.“
Das ist die innere Haltung, von der die goldene Regel spricht.
Die goldene Regel als göttliche Lebenshaltung
Ich soll mich gewissermaßen in die Schuhe des anderen stellen und mir klarmachen, dass dieser von seinen Grundbedürfnissen her dasselbe braucht wie ich. Der oder die andere ist ein zerbrechlicher Mensch wie ich. Wenn ich jetzt in seiner Situation wäre, was würde ich wohl am meisten brauchen?
Hier in der goldenen Regel geht es eben nicht um Nützlichkeitsdenken. Die Frage „Was hilft mir, wenn ich es dem anderen tue?“ wäre nicht der Mount Everest der Ethik, sondern das tiefe Tal des Egoismus. Das müsste Jesus uns nicht extra beibringen.
Die Betonung in diesem Vers liegt auf dem, was wir tun sollen. Unsere Wünsche und Erwartungen sind nicht das Ziel, um das es hier geht, sondern lediglich ein Hilfsmittel, damit wir besser verstehen können, was der andere braucht.
Deswegen schickt Jesus dann diesen letzten Satz noch hinterher: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten.“ Verstehen Sie: Jesus sagt nicht, wenn ihr nach dieser goldenen Regel lebt, dann kommt ihr bestens durchs Leben und könnt mit der Dankbarkeit der Leute rechnen.
Stattdessen sagt Jesus – und im Griechischen steht hier wörtlich ein „Denn“ zwischen diesen beiden Sätzen: „Denn wenn du dich nach dieser goldenen Regel richtest, dann erfüllst du damit das Gesetz und die Propheten.“
„Gesetz und die Propheten“ ist ein feststehender Ausdruck für Gottes aufgeschriebenes Wort. Zur Zeit Jesu war das das Alte Testament. Für uns ist das die gesamte Bibel, die wir letztlich aus den Händen Jesu und seiner Apostel empfangen.
Die goldene Regel als Erfüllung des Gesetzes und der Propheten
Und das meint Jesus hier: Wenn du zu dieser Liebe in Aktion bereit bist, wenn du mit aller Kraft das Wohl des Anderen suchst und ihm das schenkst, wonach du dich selbst sehnst, dann strebst du genau das an, was Gott in seinem aufgeschriebenen Wort als Leitlinie gegeben hat.
Damit macht Jesus deutlich: Die goldene Regel ist keine schwärmerische Gefühlssache, nicht einfach nach dem Motto: Alles, was dir gerade Spaß macht, das lass auch dem anderen zukommen. Die falschen Dinge, die ich will, soll ich dem anderen natürlich nicht geben.
Das bedeutet ganz konkret: Wenn ich zum Beispiel einen starken Wunsch habe, dass mir jemand Heroin gibt, dann soll ich nicht den anderen mit Heroin versorgen – das ist klar. Oder wenn ich möchte, dass ich in Ruhe gelassen werde, weil ich zum Beispiel über Wochen dem Gottesdienst fernbleibe und mich in Schuld verstricke, dann soll ich nicht umgekehrt meinem Mitchristen das Gleiche antun. Ich soll ihn nicht einfach laufen lassen, wenn er sich vom Gottesdienst entfernt und sich in Schuld verstrickt.
Stattdessen sagt Gottes Wort mir, ich soll ihm nachgehen und versuchen, ihn zurückzugewinnen. Verstehen Sie: Wenn jemand das Falsche von mir will, soll ich trotzdem das Richtige tun. Aber wo kann ich nachprüfen, was das Richtige ist? Im Gesetz und den Propheten, also im geschriebenen Wort Gottes.
Was das Richtige ist, lese ich meistens nicht an meinen eigenen Wünschen ab. Denn mit meinen eigenen Wünschen kann ich mich kolossal irren und fehlgehen.
Die goldene Regel und das Gesetz Gottes: Keine Gegensätze, sondern Einheit
Hier sehen wir, dass Jesus die goldene Regel nicht gegen die Gebote ausspielt. Er sagt nicht: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihr, dann braucht ihr das Gesetz und die Propheten nicht mehr.“ Das sagt er nicht.
Vielmehr sagt Jesus: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Das ist das Gesetz und die Propheten.
Daran erkennen wir, dass die goldene Regel keine Gefühlsduselei ist. Sie ist zugleich – und das ist unser dritter Punkt – eine gründliche Regel. Die goldene Regel ist gewissermaßen eingebunden in das Gesetz und die Propheten, also in das niedergeschriebene Wort Gottes.
Die goldene Regel ist keine Wischiwaschi-Regel nach dem Motto: „Es ist alles erlaubt, solange du dem anderen damit eine Freude machen willst, höre auf die Stimme deines Herzens, alles, was ihr wollt, das tut den Leuten, Hauptsache es geschieht in Liebe.“ So sagt Jesus das nicht.
Denn Jesus weiß, was für Leute er vor sich hat. Er weiß, wem er diese Regel gibt, nämlich uns. Er weiß, dass wir begrenzte Menschen sind und oft selbst gar nicht einschätzen können, was gut ist für uns und für andere.
Deshalb stellt Jesus die goldene Regel und die schriftlichen Gebote Gottes nebeneinander, damit sie sich gegenseitig erklären und Licht aufeinander werfen können. Jesus setzt ein Gleichheitszeichen dazwischen: Goldene Regel ist Gesetz und Propheten.
Die goldene Regel als Herzschlag der Gebote
Und das ist enorm hilfreich. Denn die goldene Regel zeigt uns jetzt das Wesen der Gebote, den Herzschlag von Gottes Geboten und die Richtung, in die das gehen soll. Gott hat sie uns gegeben, damit wir bekommen, was wir brauchen, und damit unser Nächster bekommt, was er braucht. Wer weiß besser, was wir brauchen, als Gott?
Die goldene Regel zeigt uns den Herzschlag der Gebote. Gott engt uns damit nicht ein, sondern er will uns aufbauen und schützen. Jesus sagt: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen.“ Seid aktiv, tut ihnen Gutes und helft, wo sie es brauchen. Denn das ist das Gebot, das Gesetz und die Propheten. Gott hat seine Gebote gegeben, damit wir die Hilfe bekommen, die wir brauchen.
Also noch einmal: Die goldene Regel zeigt uns das Wesen der Gebote. Sie wollen uns aufbauen, stark machen, Halt geben sowie Sicherheit und Geborgenheit schenken. Die Gebote zeigen uns gewissermaßen die Ausführungsbestimmungen für die goldene Regel. So hängt alles zusammen.
Die goldene Regel zeigt uns, mit welcher inneren Haltung wir die Gebote befolgen sollen. Nicht um uns selbst auf die Schulter zu klopfen oder um abhaken zu können, dass wir wieder ein Gebot befolgt haben, sondern um dem anderen wirklich zu helfen und ihm zu dienen. Das ist das Gesetz und die Propheten: dem anderen das zu geben, was er so dringend braucht.
Die Einzelbestimmungen in den Geboten zeigen uns nun an praktischen Beispielen, wie die goldene Regel im Alltag umgesetzt wird. Halten Sie das bitte unbedingt fest: Die goldene Regel ist eine gründliche Regel. Sie ist keine schwammige Parole menschlicher Gutherzigkeit, sondern gründlich eingebunden in das Wort Gottes, in das geschriebene, feststehende Wort Gottes.
Die goldene Regel ist gegründet auf die gesamte Bibel.
Die Bedeutung der Gesetzestreue für die goldene Regel
Und deswegen hat derselbe Jesus in derselben Werkpredigt, einige Verse vorher, in Kapitel 5 Folgendes gesagt:
In Kapitel 5, Vers 19 heißt es: Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten, die Jesus uns gegeben hat, auflöst und die Leute so lehrt, der wird der Kleinste im Himmelreich heißen. Wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
Das ist wichtig. Wenn wir mit der goldenen Regel leben und sie anwenden wollen, dann werden wir das Gesetz und die Propheten nicht als Hindernis sehen, sondern als Hilfe.
Dann werden wir Gottes Gesetz, Gottes Gebot nicht verunglimpfen als gesetzlich, als einengend, als knöchern oder als kalt. Wer mit der goldenen Regel leben will, wird sie nicht gegen Gottes Willen oder gegen Gottes Wort ausspielen.
Er wird die goldene Regel nicht missbrauchen als ein Hintertürchen, um Gottes Gebote zu umgehen. Stattdessen wird er zusammenhalten, was Jesus uns zusammengegeben hat, was wir aus derselben liebenden Hand bekommen haben: die goldene Regel und das Gebot, das Gesetz, das umfassende Wort Gottes.
Die Herausforderung der Umsetzung und die göttliche Kraftquelle
Am Schluss drängt sich uns wieder die Frage auf: Haben wir erneut dieses massive Problem, das uns schon so oft bei der Bergpredigt begegnet ist? Wie soll man das umsetzen? Wie soll man das schaffen? Gebote zu halten ist schon schwer genug, aber diese innere Einstellung der goldenen Regel – dass ich alles daran setze, dem anderen Gutes zu tun und dass mich das antreibt – wie soll das gehen?
Kein Wunder, dass die meisten Menschen nicht nach der goldenen Regel leben, selbst wenn sie sie bewundern. Es gibt nur eine Chance, auf den Weg dieser goldenen und gründlichen Regel zu kommen. Wir müssen es ernst nehmen, dass es eine göttliche Regel ist. Und das ist das Letzte und Entscheidende: die göttliche Regel.
Das Leben, das Jesus hier in diesem Vers beschreibt, ist keine normalmenschliche Möglichkeit. Es ist, wenn Sie so wollen, Leben auf einem göttlichen Level. Die goldene Regel ist eine göttliche Regel. Das kann uns sterblichen Menschen normalerweise nicht zugemutet werden, geschweige denn zugetraut.
Wir kennen uns doch: Das liegt nicht in unseren Möglichkeiten. Unsere Selbstbezogenheit ist einfach zu stark. Wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt, so wie jener Narzissus aus der griechischen Sage, der sein ganzes Leben damit verbrachte, sein Spiegelbild im Wasser zu bewundern. Das ist eine intensive Beschäftigung für ein Leben.
Die Bibel sagt es mit anderen Worten: In jedem von uns steckt so ein kleiner Narzissus. Selbstumkreisung und eigener Vorteil sind menschlich. Die goldene Regel aber ist eine göttliche Regel. Sie beschreibt einen göttlichen Lebensstil, und dieser göttliche Lebensstil erfordert göttliche Kraft.
Göttlicher Lebensstil bedeutet nicht, dass ein Mensch auf dieser Welt vollkommen wird. Göttlicher Lebensstil bedeutet nicht, dass der Christ seinem Nächsten nicht schuldig bleibt. Aber göttlicher Lebensstil bedeutet, dass jemand den Wunsch hat: Herr, so will ich leben! Gestalte mein Leben doch so um, dass mich das antreibt. Schenke mir diese goldene Regel ins Herz!
Die Quelle der Kraft: Persönliche Verbindung mit Gott
Sehen Sie, wir können nach dieser göttlichen Regel nur leben, wenn wir in einer persönlichen Verbindung mit dem lebendigen Gott stehen. Das ist der Angelpunkt.
Zur Zeit nach der Bergpredigt hat Jesus diese goldene Regel noch einmal mit anderen Worten umschrieben. In Matthäus 22 sagt er: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Matthäus 22,39).
Wissen Sie, was er unmittelbar davor gesagt hat? Er sagt: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit deinem ganzen Verstand“ (Matthäus 22,37). Und dann fügt er hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Matthäus 22,39).
Hier hat Jesus ganz ausdrücklich das göttliche Fundament genannt, auf dem die Nächstenliebe nur wachsen kann. Er hat die Quelle benannt, aus der die Nächstenliebe nur sprudeln kann. Und das ist die Liebe zu Gott. Ohne diese Liebe gibt es keine echte Nächstenliebe.
Das Bild vom Brunnen als Sinnbild für das Leben in Gott
Und dazu hat Frau Kaes, die Gattin unseres Organisten, vor einiger Zeit ein Gedicht vorgetragen, das das ganz wunderbar ausdrückt. Es heißt „Der alte Brunnen“ und vergleicht uns mit einem alten Brunnen.
Der alte Brunnen spendet leise sein Wasser täglich gleicherweise.
Wie segensreich ist doch solch Leben, nur immer geben, geben, geben, geben.
Mein Leben soll dem Brunnen gleichen,
ich leb, um anderen da zu reichen.
Doch geben, geben alle Tage – sag, Brunnen, wird's dir nicht zur Plage?
Da sagt er mir als Jochgeselle:
Ich bin ja Brunnen nur, nicht Quelle.
Mir fließt es zu, ich geb es weiter,
drum klingt mein Plätschern froh und heiter.
Nun leb ich nach des Brunnens Weise,
zieh fröhlich meine Lebenskreise.
Was mir von Christus fließt ins Leben,
das kann ich mühelos weitergeben.
Das ist das Geheimnis. Göttliche Regel kann man nur mit göttlicher Anbindung leben.
Die Besonderheit christlicher Moral und Erziehung
Auch Nichtchristen können ein moralisch anspruchsvolles Leben führen. Manchmal können sie uns Christen damit sogar beschämen.
Aber sehen Sie, diesen göttlichen Pulsschlag, der in der goldenen Regel mitschwingt, können nur Christen haben. Wir sagen: Ja, Leute, wir wissen, dass wir vieles schuldig bleiben, und es tut uns leid. Doch unser Leben wird aus einer anderen Kraftquelle gespeist – nämlich von Jesus. Deshalb setzen wir alles daran, dieses Lebenswasser weiterzugeben, weil Gott es uns geschenkt hat.
Merken Sie den Unterschied: Christen haben nicht einfach nur Moral oder Menschlichkeit pur. Bei Christen schwingt immer wieder der Hinweis auf den Vater im Himmel mit.
Christen tun das Gute nicht um des Guten Willens, sondern um Gottes Willen. Wir sagen: Leute, wir leben für ihn und von ihm. Deshalb wollen wir dir helfen, weil er es uns aufgetragen hat und weil wir so viel von ihm bekommen haben.
Und weißt du was? Am besten lernst du ihn selbst gleich kennen. Schließe dich persönlich an diese Quelle an, dann kannst du es genauso weitergeben. So wirst du nicht verdursten.
Die goldene Regel als göttliche Lebensregel für Christen
Nehmen Sie das bitte mit. Die Goldene Regel beschreibt nicht einfach eine allgemeine menschlich-moralische Regel, an die sich jeder halten soll. Vielmehr ist sie eine göttliche Regel, mit der nur Gotteskinder etwas anfangen können.
Deshalb bedeutet christliche Erziehung, über die wir heute am Tauftag gesprochen haben, nicht in erster Linie, dass Kinder zu moralisch braven Bürgern erzogen werden, die sich christlich verhalten – so wie man das oft sagt. Das soll zwar am Ende dabei herauskommen, aber es ist nicht das Wichtigste.
Das Wichtigste ist nicht die moralische Erziehung, sondern die missionarische Erziehung. Entscheidend ist, dass die Kinder Hilfe bekommen, Jesus kennenzulernen. Die Kinder sollen bald begreifen: Ich stehe vor dem lebendigen Gott da, als jemand, der ihm nicht gerecht wird, der immer wieder Schuld auf sich lädt. Ich brauche es, dass Jesus für meine Schuld gestorben ist. Dieser Retter Jesus Christus ist für mich da.
Darauf kommt es an: den Kindern zu helfen, Jesus kennenzulernen und Jesus liebzugewinnen. So bekommen sie den Anschluss an die Quelle. Von dort aus kann es in ihr Leben hineinwachsen, dass sie – weil Jesus bei ihnen ist, sie prägt, nährt, schützt und schiebt – immer mehr nach dieser göttlichen Goldenen Regel leben können.
Der Anfang der Veränderung: Gottes Nähe als Voraussetzung
Wenn wir das wollen – und das wollen wir zum Schluss für uns alle festhalten –, dass die göttliche Regel unser Leben stärker prägt, wo müssen wir dann anfangen? Bei Gott, bei unserem Verhältnis zu ihm. Das gilt auch für langjährige Christen und für ganze Gemeinden.
Denken Sie noch einmal an den Brunnen: Wenn das Wasser nicht quillt, dann ist der Brunnen verstopft. Seine Verbindung zur Quelle ist blockiert oder zumindest beeinträchtigt. Dann nützt es nichts, ständig mit dem Eimer im trockenen Brunnen herumzufischen und zu sagen: „Da muss doch wohl mal ein bisschen frisches Wasser reinkommen.“ Das hilft nicht.
Wenn der Brunnen verstopft ist, dann nützen keine menschlichen Appelle wie „Seid mal liebevoller, selbstloser und fürsorglicher“ etwas. Wenn der Brunnen verstopft ist, dann hilft nur eins: Wir brauchen Gott, wir brauchen Gottes Nähe, wir brauchen Gottes Eingreifen. Ihn müssen wir bitten, und wir brauchen seinen großen Brunnenreiniger, nämlich seinen Sohn Jesus Christus.
Jesus Christus allein hat die Macht und das Können, unseren verstopften Brunnen wieder zu säubern – von aller Schuld, von aller Gleichgültigkeit, von allen Kompromissen, die wir gegenüber dem Wort Gottes gemacht haben. Der große Brunnenreiniger Jesus allein hat die Macht und die Fähigkeit, den Weg zur Quelle wieder freizulegen.
Dann kann die Quelle wieder sprudeln, hinein in unseren Brunnen. Und unser Brunnen kann wieder Wasser weitergeben, frisch aus der göttlichen Quelle.
Schluss: Die goldene Regel als göttliche Lebensregel mit Jesus als Trainer
Die göttliche Regel ist die goldene Regel. Und die goldene Regel ist die göttliche Regel. Deshalb können wir nur so leben, nämlich in einer persönlichen Verbindung mit Jesus Christus. Er ist für uns nicht nur ein Vorbild aus ferner Vergangenheit, sondern jemand, zu dem wir beten, dessen Stimme wir in seinem Wort hören und dem wir unser ganzes Leben persönlich anvertrauen.
Er selbst hat uns diese Lebensregel vermacht. Er hat gesagt: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7,12).
Doch Jesus gibt seinen Leuten diese Regel nicht wie ein unparteiischer Schiedsrichter. Er ist nicht jemand, der nur beobachtet und bei einem Verstoß abpfeift. Wenn mehrere Verstöße passieren, gibt es nicht einfach eine gelbe oder rote Karte.
Jesus ist nicht wie ein Schiedsrichter. Er gibt uns die goldene Regel als unser Trainer – als jemand, der uns stützt, der uns unter die Arme greift und uns coacht. Er richtet uns wieder auf, wenn wir gescheitert sind, macht uns unsere Fehler klar und führt uns dahin, dass diese Regel immer mehr unser Leben durchdringt.
Die goldene Regel treibt uns in die Arme von Jesus – und das ist der beste Dienst, den sie uns leisten kann. Amen.