Einführung und Kontextualisierung des Jesaja-Kapitels
Guten Abend, ich möchte alle ganz herzlich begrüßen. Wir wollen uns mit Jesaja 53 auseinandersetzen, Vers für Vers. Eigentlich beginnt dieses wunderbare Kapitel, das auf den Messias hinweist, nicht erst in Kapitel 53, Vers 1, sondern bereits in 52, Vers 13.
Eigentlich hätte man damals, als die Kapiteleinteilung eingeführt wurde, Kapitel 53 dort beginnen lassen. Ich lese einige Verse:
„Siehe, mein Knecht wird einsichtig handeln, er wird erhoben und erhöht werden und sehr hoch sein. Gleich wie sich viele über dich entsetzt haben, so entstellt war sein Aussehen, mehr als irgendeines Mannes und seine Gestalt mehr als der Menschen Kinder. Ebenso wird er viele Nationen in Staunen setzen. Über ihn werden Könige ihren Mund verschließen, denn sie werden sehen, was ihnen nicht erzählt worden war, und was sie nicht gehört hatten, werden sie wahrnehmen. Wer hat unserer Verkündigung geglaubt, und wem ist der Arm des Herrn offenbar geworden? Und er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Pracht, und als wir ihn sahen, da hatte er kein Ansehen, dass wir seiner begehrt hätten. Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann, der Schmerzen und mit Leiden vertraut ist. Und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt, war er verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet.“
Zunächst einmal bis hierhin. Man hat Jesaja 52, Vers 13 bis Kapitel 53, Vers 12 auch schon das „Evangelium nach Jesaja“ genannt, die frohe Botschaft nach Jesaja.
Das Jesajabuch, die Jesajarolle, wurde um circa 700 vor Christus geschrieben. Damit stammt auch diese Prophetie, die sich in Jesus Christus so wunderbar erfüllt hat, aus dieser Zeit. Sie wurde etwa 700 Jahre vor der Zeitenwende verfasst.
Die Echtheit dieser Prophetie ist durch die vollständige Jesajarolle aus Qumran erwiesen. Sie ist sieben Meter vierunddreißig lang, fast dreißig Zentimeter hoch und auf siebzehn Ziegenhäuten geschrieben. Gefunden wurde sie in Höhle eins von Qumran. Sie wurde auf 125 vor Christus datiert.
Mit zwei ganz unterschiedlichen Datierungsmethoden kommt man auf dasselbe Ergebnis: das zweite Jahrhundert vor Christus. Zum einen die Paläographie, also die Datierung aufgrund der Buchstabenformen, die sich von Generation zu Generation ändern. Damit kann man sehr genau datieren. Zum anderen wurde mit C14 ein Stück dieser Rolle untersucht.
Das ist übrigens nicht das Original, sondern eine Kopie in Originalgröße. Selbst im Schrein des Buches im Israel Museum im Zentrum findet man nur eine Kopie. Das Original wird anderswo aufbewahrt.
Ein Stück davon wurde an der ETH Zürich verbrannt und ergab das Datum 125 vor Christus. Die Paläographie bestätigt diese Datierung, sogar noch genauer. C14 ist ungenauer und datiert das Stück auf einen Zeitraum zwischen 200 und 100 vor Christus.
Das ganze Kapitel habe ich kontrolliert und nachgelesen: Jeder Vers ist in dieser Rolle enthalten. Niemand kann also sagen, dass es später in die Bibel eingefügt wurde, nachdem alles bereits erfüllt war, gewissermaßen als Jesus Christus am Kreuz gestorben war.
Das ist noch wichtig: Ein Bekannter von mir, Jacques Gabisson, wuchs als orthodoxer Jude in Casablanca, Nordafrika, auf. Er erzählt, dass er beim ersten Mal, als er Jesaja gelesen hat, dachte, das hätten die Christen in unsere Bibel hineingeschmuggelt. Das könne nicht sein, das könne nicht altes Testament sein.
Also als er dieses Kapitel zum ersten Mal las, war es für ihn so klar: Das ist natürlich Jesus von Nazareth. Aber der Beweis ist klar: Nein, das ist nicht später hineingeschmuggelt worden, das ist wirklich original altes Testament.
Was auch noch eindrücklich ist: In der Jesajarolle von Qumran ist diese Stelle von Jesaja 53 gerade so aufgeschrieben, dass Kapitel 52, Vers 13 oben mit einer neuen Zeile beginnt.
Also genau so, wie die Kapiteleinteilung in unseren Bibeln es vorsieht – obwohl es damals noch keine solche Einteilung gab. Schön ist, dass dort eine neue Zeile, eine neue Kolumne von oben her ab 52, Vers 13 beginnt.
Verdrängung des Kapitels im Judentum und seine Bedeutung
Das Tragische ist, dass dieses Kapitel im Judentum, insbesondere unter den orthodoxen Juden, die die Bibel lesen, kaum bekannt ist. Das liegt daran, dass es im Haftarah-Verzeichnis fehlt. Einmal im Jahr werden die gesamten fünf Bücher Mose gelesen – alle Kapitel und alle Verse. Weltweit ist für jeden Sabbat im Jahresablauf genau festgelegt, welcher Abschnitt gelesen werden muss.
Nach dem Haftarah-Verzeichnis wird dann hinzugefügt, bei welcher Toralesung welcher Abschnitt aus den Propheten vorgelesen werden soll. Wenn man beispielsweise bei 5. Mose 16 angekommen ist, also schon weit im Jahresablauf, wird vorgeschrieben, aus Jesaja 52 zu lesen. Bei den sephardischen und askenasischen Juden umfasst die Lesung sogar Kapitel 52, Vers 12.
Am nächsten Sabbat, wenn der nächste Abschnitt ansteht, geht es dann mit Jesaja 54,1 weiter. Genau der Abschnitt von 52,13 bis 53,12 wird ausgelassen. So wird dieses Kapitel von keinem Juden je in der Synagoge vorgelesen.
Natürlich kann man sagen, dass sowieso nicht alle Prophetenabschnitte gelesen werden – es ist eine Auswahl. Auch werden nicht alle Abschnitte aus den fünf Büchern Mose vorgelesen. Aber es fällt dennoch auf, dass Jesaja sukzessiv gelesen wird, und genau dort, wo das entscheidende Kapitel über den leidenden Messias stünde, wird es ausgeblendet.
Deshalb lernt ein Jude dieses Kapitel normalerweise nur durch persönliches Bibellesen kennen. Das Problem ist, dass orthodoxe Juden eher im Talmud lesen, dem wichtigsten jüdischen Kommentar, als in der Heiligen Schrift selbst. Deshalb ist das Kapitel auch durch persönliches Lesen unter ihnen kaum bekannt.
Besonders eindrücklich ist, dass in jeder Rabbinerbibel – ich habe hier meine Rabbinerbibel in acht Bänden mitgebracht – dieses Kapitel enthalten ist. Man nennt diese Ausgabe „Mikra'ot Gedolot“. Dort ist der hebräische Text mit großen Buchstaben abgebildet, daneben in etwas kleineren Buchstaben die aramäische Übersetzung. In noch kleineren Buchstaben sind verschiedene Kommentare aus dem Mittelalter überliefert. Wichtige Kommentatoren sind mit größeren Buchstaben, weniger wichtige mit kleineren Buchstaben dargestellt.
Das Zweitwichtigste nach dem hebräischen Text ist also die aramäische Übersetzung. In jeder Rabbinerbibel steht bei Jesaja 52,13: „Siehe, mein Knecht wird einsichtig handeln“ – auf Hebräisch „Hinej Yaskil Avdi“. In der aramäischen Übersetzung heißt es: „Siehe, mein Knecht, der Messias, wird einsichtig handeln.“ Das Wort „Meschicha“ (Messias) ist in den Text eingefügt, weil es sich nicht um eine ganz wörtliche Übersetzung handelt, sondern um eine Übersetzung mit erklärenden Zusätzen.
Das bedeutet, dass in jeder orthodoxen Bibel – und diese Mikra'ot Gedolot-Ausgabe ist in jeder orthodoxen Familie zu finden – ausdrücklich steht, dass es sich um den Messias handelt. Dieses Wort wurde also nicht ausgemerzt, es ist da. Trotzdem wird das Kapitel verdrängt.
Deshalb hat es eine so starke Wirkung, wenn ein Jude, der davon vorher noch nie gehört hat, dieses Kapitel zum ersten Mal mit dieser Botschaft liest. Der allgemeine Eindruck ist sofort klar: Das passt genau auf den Herrn Jesus Christus.
Die erste Verse: Beschreibung des Messias und seiner Weisheit
Nun sehen wir uns Vers für Vers an. Das beginnt mit einer Beschreibung in Vers 13. Unsere Augen werden auf den Messias gerichtet, der als Gottesknecht bezeichnet wird. Gott spricht über ihn und sagt: „Mein Knecht, siehe...“
Das Wort „siehe“ ist im Hebräischen sehr wichtig. Es ist ähnlich wie im Französischen, wo man oft „voilà“ sagt. Es ist ein Wort, das eingefügt wird, um in besonderen Momenten die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Auf Deutsch ist das ungewöhnlich, nicht wahr? Wir schreiben keine Texte und sagen „siehe da“ oder „siehe da“, das ist nicht deutsch, sondern französisch und eben auch hebräisch.
Hier benutzt der Heilige Geist dieses Wort, um unsere Aufmerksamkeit auf den Messias zu lenken. Es heißt, er wird einsichtig handeln. Das hebräische Wort „hiskil“ bedeutet drei Dinge, die alle zutreffen: einsichtig sein, einsichtig handeln und einsichtig machen. Alles ist korrekt.
„Siehe, mein Knecht wird einsichtig sein.“ Jesus hat in den Evangelien seine Weisheit immer wieder auf wunderbare Weise offenbart, wenn er mit den verschiedenen Gruppen des Judentums gesprochen hat – mit den Sadduzäern, den Pharisäern, den Herodianern und so weiter. Diese Weisheit, wie er das Wort Gottes anwendet, ist einfach wunderbar.
Er wird einsichtig sein, aber noch mehr: Man kann auch übersetzen: „Siehe, mein Knecht wird einsichtig handeln.“ Jesus hat alles, was im Wort Gottes steht, auch in seinem Leben umgesetzt. Darum kann er in Matthäus 5,17 sagen: „Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen; ich bin gekommen, um zu erfüllen.“
Man kann auch übersetzen: „in seiner ganzen Fülle darzustellen.“ Sein Leben hat dem Wort Gottes, dem Gesetz und all den Gedanken Gottes in der Bibel vollkommen entsprochen. Er hat es als Einziger wirklich umgesetzt, er hat einsichtig gehandelt.
Drittens hat er Menschen, die töricht waren – wie wir alle – und die auf ihn gehört haben, einsichtig gemacht. Dann heißt es, er wird erhoben und erhöht werden und sehr hoch sein. Man beachte diese drei Stufen.
Der Geist Gottes beschreibt, bevor er die schrecklichen Leiden des Messias deutlich macht, zuerst den Sieg. „Erhoben“ bedeutet, er sollte erhoben werden aus dem Grab am dritten Tag. „Erhöht werden“ bedeutet, er sollte in den Himmel fahren, wie es vierzig Tage nach der Auferstehung bei der Himmelfahrt geschehen ist.
„Sehr hoch sein“ bedeutet das Sitzen zur Rechten Gottes. Das ist die Erfüllung von Psalm 110,1: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße gemacht habe.“
Die Leiden und das entstellte Aussehen des Messias
Und dann werden unsere Augen vom Sieg weg auf die tiefen Leiden gelenkt, ebenso wie sich viele über dich entsetzt haben. So entstellt war sein Aussehen, mehr als das irgendeines Mannes, und seine Gestalt mehr als die der Menschenkinder.
Wir sehen das eindrücklich beschrieben in Lukas 23. Als der Herr Jesus hinausging nach Golgatha, entsetzten sich viele Frauen aus Jerusalem. Sie weinten und klagten über ihn. Doch er, der Herr, sagt: „Jammert nicht über mich, sondern jammert über euch selbst und eure Kinder.“
Sie waren entsetzt, ihn so zu sehen, in der Art und Weise, wie er durch die römischen Soldaten verunstaltet worden war, als er hinausging nach Golgatha. Sein Aussehen war nicht mehr menschlich. So entstellt war sein Gesicht, und auch seine Gestalt mehr als die eines Menschenkindes. Damit ist sein ganzer menschlicher Körper gemeint.
Wenn wir uns überlegen, was da geschehen ist, denken wir allein schon an die Peinigung durch Pilatus. Die Peitschen der römischen Soldaten hatten an den Lederriemen oft spitze Gegenstände oder sogar Widerhaken angebracht, die den ganzen Rücken in eine Fleischmasse verwandelten. Viele, die auf diese Weise behandelt wurden, starben bereits, bevor sie gekreuzigt wurden. So unvorstellbar!
Und dann denken wir an die Dornenkrone, die dem Herrn zum Spott aufgesetzt wurde (Matthäus 27). In biblischen Ländern sind diese Dornen gewöhnlich drei bis sieben Zentimeter lang. Sie durchbohrten die Haut überall, so dass das Blut in Rinnsalen herunterlief und sich mit den Haaren verfilzte. Ein schreckliches Aussehen.
Erstaunlicherweise wird dies in den Evangelien nur mit Zurückhaltung beschrieben. Hier haben wir eine noch weitergehende Beschreibung, doch nicht, um falsche natürliche Gefühle zu erwecken. Es wird einfach das gesagt, was gesagt werden muss.
Die Wirkung des leidenden Messias auf die Nationen
Und dann steht aber in Vers 15, nachdem gezeigt wird, wie man sich über ihn entsetzt hat – über sein Aussehen, sein verunstaltetes Aussehen – ebenso wird er viele Nationen in Staunen setzen. Über ihn werden Könige ihren Mund verschließen, denn sie werden sehen, was ihnen nicht erzählt worden war, und was sie nicht gehört hatten, werden sie wahrnehmen.
Hier geht es um die Nationen, nicht um die jüdischen Völker. Diese sollen von der Botschaft des leidenden Messias erfahren, der bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet worden war. Diese Botschaft sollten sie hören – und zwar nicht nur einige Nationen, sondern viele Nationen. Sie werden in Staunen versetzt werden. Man kann es auch so übersetzen: In der alten Elberfelder Bibel wird in der Fußnote hinzugefügt, dass sie aufbeben, verschrecken oder erschüttert werden, wenn sie das hören.
Effektiv wurde diese Botschaft vom Herrn Jesus und seinen Leiden in den vergangenen zweitausend Jahren weltweit unter den Nationen verkündigt. Millionen von Menschen sind durch das berührt worden, was der Herr Jesus für uns getan hat, wie er für unsere Sünden nach Golgatha ging – er, der Gerechte und Vollkommene. Dass sich das so erfüllt hat, wird er viele Nationen in Staunen versetzen oder aufbeben lassen. Schließlich werden über ihn Könige ihren Mund verschließen.
Dabei denke ich gerne an die erste Aufführung von Händels Messias in England. Das geschah ganz spontan im Zusammenhang mit der Aufführung des Halleluja-Chors, der übrigens nicht am Schluss des Oratoriums steht, sondern im Zentrum. Dort ist der König von England spontan aufgestanden, und alle im Konzertsaal folgten seinem Beispiel. Von da an ist es in England üblich geworden – nicht unbedingt bei uns –, dass man bei jeder Aufführung von Händels Messias beim Halleluja-Chor aufsteht. Der König hat gemerkt, dass seine königliche Würde versagt, und dass er als König aufstehen muss.
Hier wird gesagt: Über ihn werden Könige ihren Mund verschließen. Jesaja erzählt: „Denn sie werden sehen, was euch nicht erzählt worden war, und was ihr nicht gehört habt, werden sie wahrnehmen.“ Diese Botschaft sollte also zu den Völkern gebracht werden, die gar nichts von der Bibel wussten. Und genau das hat sich in den letzten zweitausend Jahren so eindrücklich erfüllt.
Millionen von Menschen haben eine Umkehr erlebt, indem sie ihre persönliche Schuld dem Herrn Jesus bekannt haben und ihn als persönlichen Retter in ihr Leben aufgenommen haben. Das sind die vielen Nationen, die dieser Botschaft mit offenem Herzen begegnen.
Ablehnung des Messias im jüdischen Volk
Und dann kommt der Kontrast in Jesaja 53,1: „Wer hat unserer Verkündigung geglaubt, und wem ist der Arm des Herrn offenbar geworden?“
Hier beschreibt Jesaja, dass es im Gegensatz zu den Nationen unter dem jüdischen Volk so sein würde, dass diese Botschaft auf große Ablehnung stoßen würde.
In Johannes 12 zitiert Johannes als messiasgläubiger Jude Jesaja 53,1. Es heißt in Johannes 12,37: „Wiewohl er aber so viele Zeichen vor ihnen getan hatte, glaubten sie nicht an ihn, auf dass das Wort Jesajas des Propheten erfüllt würde, welches er sprach: Herr, wer hat unserer Verkündigung geglaubt, und wem ist der Arm des Herrn offenbar geworden?“
Das ist genau dieser Vers. Johannes bringt diesen Vers, um zu zeigen, warum die Masse damals aus dem jüdischen Volk den Messias, Jesus, abgelehnt hatte. Das war vorausgesagt. Die Botschaft würde auf Unglauben stoßen.
Weiter schreibt Johannes, dass sie deshalb nicht glauben konnten, weil Jesaja wiederum sagt – und Johannes zitiert hier Jesaja 6 – dass Gott ihre Augen verblendet und ihr Herz verstockt hat. Diese Verblendung kam als Folge davon, dass eine große Masse nicht glauben wollte. Daraufhin hat Gott als Folge ihre Herzen verstockt.
In den vergangenen zweitausend Jahren sind prozentual sehr wenige Juden zum Glauben an den Messias gekommen, trotz Jesaja 53. Eine Wende gab es seit dem 19. Jahrhundert. Dort gab es eine richtige Erweckung, die bis heute anhält.
Weltweit rechnen wir, wenn wir die Zahlen nüchtern betrachten, mit etwa 150 bekehrten Juden, die glauben, dass der Herr Jesus der Messias ist. Viele von ihnen würden erzählen, wie Jesaja 53 eine ganz wichtige Rolle auf ihrem Weg gespielt hat, um den Messias zu erkennen.
Symbolik des Reis und des Wurzelsprosses
Also eine großartige Wende. Es gibt solche, die von 400 bis 500 sprechen, aber diese Zahl ist offensichtlich übertrieben.
Ja, so hat sich also Jesaja 53 erfüllt. Doch dann heißt es: „Und er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich.“ Interessant ist, dass das Wort „Reis“ einen Schössling meint. Das hebräische Wort „Yonek“ wird im Alten Testament jedoch auch für einen Säugling verwendet. Wie kommt das?
Dieser Zweig oder Spross – eben der Reis – drückt aus, dass es ein Zweig ist, der Wasser aus dem Boden zieht. Darum ist es dasselbe Wort wie für Säugling. Diese Doppelbedeutung ist natürlich interessant. Es bedeutet: „Reis – er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen, wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich.“ Es ist ein biologischer Ausdruck für Pflanzen.
Bezogen auf den Herrn Jesus hat es jedoch eine doppelte Bedeutung. Er kam in diese Welt und wuchs als Säugling auf, wie uns das Lukas-Evangelium so eindrücklich und detailliert beschreibt. Das Besondere ist hier: „Und er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen“ – in Gemeinschaft mit Gott.
Das ist ungewöhnlich, denn kein Mensch von uns könnte sagen, dass er von Anfang an, vom Säuglingsalter an, in Gemeinschaft mit Gott war. Unsere Erfahrung ist: Wir werden geboren, wachsen auf und stellen fest, dass wir keine Beziehung zu Gott haben. Natürlich kann eine Beziehung erst durch eine bewusste Umkehr und Bekehrung entstehen.
Der Herr Jesus jedoch war von Anfang an vollkommen. So war er als Mensch vom Säuglingsalter an in vollkommener Gemeinschaft mit dem Vater. Er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich.
Aus dürrem Erdreich würde man erwarten, dass dort nichts wächst. Doch das hat auch eine besondere Bedeutung, wenn wir das Judentum vor zweitausend Jahren betrachten – geistlich gesehen war es effektiv vertrocknet.
Das Pharisäertum, das im zweiten Jahrhundert vor Christus als Erweckungsbewegung zurück zur Bibel begonnen hatte, war völlig verkommen. Es war weitgehend eine Bewegung, die durch Heuchelei und äußere Gesetzeserfüllung geprägt war.
Die Sadduzäer, die führenden Priester, gehörten normalerweise zu einer liberalen Partei. Diese war so liberal, dass sie nur die fünf Bücher Mose als inspiriert anerkannten. Das gesamte Alte Testament lehnten sie als Menschenwort ab. Sie lebten im Luxus, und das war ihnen wichtig.
Dann gab es die Herodianer, die sich mit der Besatzungsmacht arrangierten – als Verräter. Was war das für ein Zustand? Es war wirklich ein dürres Erdreich.
Die Hohenpriester waren meist illegal im Amt und keine Nachkommen mehr von Zadok, wie es die Bibel verlangt. Es herrschte ein Durcheinander. Deshalb haben sich die Leute von Qumran seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus abgesondert, als illegale Hohenpriester an die Macht kamen.
In dieses Judentum hinein wurde Jesus geboren – genau wie es hier heißt: ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich.
Das unscheinbare Aussehen und die Ablehnung des Messias
Und dann: Er hatte keine Gestalt, keine Pracht. Als wir ihn sahen, hatte er kein Ansehen, das wir begehrt hätten.
Hier wird nicht ein Herrscher beschrieben, kein König, der die Macht übernehmen und das Joch der Römer abschütteln würde. Das war damals das Problem im Judentum. Die meisten stützten sich auf all die Prophezeiungen über den Messias, die von einem König sprechen, der in Macht und Herrlichkeit kommen wird.
Man beachtete jedoch nicht, dass es zwei Beschreibungen gibt: die des leidenden Messias, wie hier, und die des herrschenden Messias. Beide waren bekannt, doch man hatte Schwierigkeiten, sie miteinander zu verbinden.
Was tat man stattdessen? Man konzentrierte sich einfach auf das, was einem besser gefiel. Die Idee war, dass einer als Freiheitskämpfer kommt, der die Römer vertreibt und Israel wieder in die Freiheit führt. Das war ihre Erwartung – und deshalb die Enttäuschung.
Der Herr Jesus entsprach überhaupt nicht dieser Vorstellung. Er wuchs in dem verachteten Ort Nazareth auf. Er kam nicht in königlicher Herrlichkeit, Majestät und Pracht. So erfüllte sich wortwörtlich, was hier steht: Er hatte keine Gestalt und keine Pracht, und als wir ihn sahen, da hatte er kein Ansehen, das wir begehrt hätten.
Man hätte auch anhand des alttestamentlichen Textes, besonders Jesaja 53, erkennen können, dass der Messias zweimal kommen sollte: einmal als der Leidende und einmal als der herrschende Messias.
Man konnte sehen – und das werden wir am Ende von Jesaja 53 noch genauer betrachten –, dass er zuerst kommen sollte, um das Problem der Sünde zu lösen, und erst beim zweiten Mal, um zu herrschen. Doch man wollte das nicht wahrhaben.
Jetzt versteht man auch, warum dieses Kapitel in Vergangenheitsform geschrieben ist. All die Juden, die zu einer späteren Zeit erkennen sollten, dass dieser verachtete Nazaräer doch der von Gott gesandte Retter war, können dieses Kapitel so beten, wie es hier steht.
Rückblickend: Er hatte keine Gestalt und keine Pracht, und als wir ihn sahen, da hatte er kein Ansehen, das wir begehrt hätten. Er war verachtet und verlassen.
Das ist ein Grund, warum es in Vergangenheitsform geschrieben ist, obwohl es eine Prophetie ist. So kann man es als Bußgebet beten – als Umkehr zu dem damals verworfenen Messias.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund. In der hebräischen Grammatik lernt man den Begriff des prophetischen Perfekts kennen. Viele Prophezeiungen im Alten Testament sind in einer Zeitform geschrieben, die abgeschlossen ist. Man kann sie mit Vergangenheitsform übersetzen, obwohl sie von etwas Zukünftigem sprechen.
Dieses prophetische Perfekt hat den Sinn, etwas Zukünftiges auszudrücken und gleichzeitig zu betonen, wie sicher die Erfüllung ist. Deshalb wird es beschrieben, als sei es bereits eingetreten.
Diese zwei Bedeutungen muss man unterscheiden – und beide haben ihre Bedeutung.
Ablehnung durch die Führer und Verachtung des Messias
Nun heißt es in Vers 3 weiter: Er war verachtet und verlassen von den Menschen. Dabei steht hier das Wort „Ischim“. Normalerweise würde man im Hebräischen für Menschen in der Mehrzahl „Anaschim“ sagen, aber hier steht „Ischim“. Das ist eine ganz seltene Form, die jedoch eine besondere Nuance hat. „Ischim“ meint ganz speziell hochgestellte Männer, hochgestellte Menschen.
Diese Prophezeiung sagt also, dass der Messias ganz besonders von den Führern seines Volkes verworfen und abgelehnt werden sollte. Genau das belegen die Augenzeugenberichte der Evangelien. Besonders die Führerschicht – die Pharisäer, Sadduzäer, die führenden Priester und sogar der Hohepriester – lehnten den Herrn Jesus massiv ab und verworfen ihn.
Das wird hier so ausgedrückt: Er war verachtet und verlassen von den hochgestellten Menschen. Ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt. Er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet.
Diese Verachtung zeigte sich über die Jahrhunderte hinweg bei vielen in seinem eigenen Volk auf diese Weise. Wenn man heute mit Juden über Jesus Christus spricht – auf Hebräisch sagt man nicht Jesus, sondern Jeshua – dann sagen sie oft „Jeschu“. Das muss man korrigieren: Nein, er hieß nicht und heißt nicht „Jeschu“, sondern „Jeshua“. Das ist derselbe Name wie Joshua, der das Volk ins verheißene Land geführt hatte, Jehoshua oder kurz Jeshua.
Warum sagen sie „Jeschu“? „Jeschu“ wird von den Rabbinern als Abkürzung für drei Wörter erklärt: „Jemach“ für das „J“ (Jod), dann „sch“ für „Schmo“ (sein Name) und das „u“, geschrieben als „Vav“, stehe für „und sein Gedächtnis“ – „u sichrno“. Also ist es ein Fluch. „Jeschu“ bedeutet: „Möge sein Name und sein Gedenken ausgelöscht werden.“
So hat sich das erfüllt: Wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt, war er verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet – höchstens für einen, der den Fluch verdient hätte.
Die Leiden des Messias und ihre Bedeutung
Aber dann kommt die Erkenntnis in Vers 4: „Fürwahr, was ist die Wirklichkeit?“ Auf Hebräisch ist das besonders betont. Deshalb hat die alte Elberfelder Übersetzung gedruckt: „Er hat unsere Leiden getragen und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen.“
Jetzt wird betont: „Er, kein anderer, er war es, der unsere Leiden getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen hat.“ Dieser Satz bezieht sich nicht auf das Kreuz von Golgatha. Der Heilige Geist erklärt uns im Neuen Testament, wie man diesen Satz auslegen muss.
In Matthäus 8, Vers 16 heißt es: „Als es aber Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm, und er trieb die Geister aus mit einem Wort und heilte alle Leidenden.“ Damit erfüllte sich, was durch Jesaja, den Propheten, geredet ist, welcher spricht: „Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten.“
Wir sind hier noch in der Lebenszeit des Herrn Jesus. Es geht darum, wie er sich gegenüber den leidenden Menschen verhielt. Er hat innerlich mitgelitten und mitgetragen. Das Wort „tragen“ in Matthäus 8, Vers 17 kann wörtlich bedeuten, eine Last auf den Schultern zu tragen oder innerlich, seelisch etwas mitzutragen.
Hier wird durch den Heiligen Geist selbst erklärt: Als der Herr Jesus diese Menschen, die so litten als Folge des Sündenfalls, sah, hat er innerlich mitgetragen und sie geheilt. Zu den messianischen Wundern, die ihn als Messias auszeichnen sollten, gehörten eben auch die Wunder der Heilung.
So wird also klar: Das hat nichts mit dem Kreuz zu tun, sondern mit seinem Leben. Die Aussage „Der Herr Jesus hat am Kreuz die Krankheiten getragen“ ist nicht biblisch. Wir werden jedoch gleich in weiteren Versen sehen: „Am Kreuz hat er unsere Sünden getragen.“
Dann folgt der nächste Satz: „Und wir, wir hielten ihn für bestraft.“ Hier sehen wir die Betonung: „Er hat unsere Leiden getragen.“ Und jetzt wird wieder betont: „Wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt.“
Dieser Ausdruck ist im Hebräischen sehr interessant. „Bestraft“ heißt hier „Nagua“. „Nagua“ ist das typische Wort für jemanden, der geschlagen ist, und zwar mit Lepra. Der Leprakranke, der seine Krankheit wegen Sünde bekommen hatte und unter dem Gesetz stand, wurde „Nagua“ genannt.
Jetzt versteht man auch, warum im Talmud, im Traktat Sanhedrin 98b, gefragt wird: „Was ist der Name des Messias?“ Dort werden verschiedene Namen des Messias erwähnt. Einer ist zum Beispiel Menachem, der Tröster. Aber dann wird auch ein weiterer Name genannt: „der Geschlagene“, „Nagur“.
Woher kommt dieser Name? Aus Jesaja 53. Das macht wieder klar, dass der Talmud sogar erklärt, dass der leitende Messias, der hier „geschlagen“ genannt wird, tatsächlich der Messias ist.
Also hielten wir ihn quasi für einen Unreinen, für jemanden, der von Gott geschlagen, bestraft und niedergebeugt ist. Jetzt kommt die richtige Erkenntnis, die in Vers 4 mit „Fürwahr“ beginnt.
Dort heißt es: „Doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Missetaten willen zerschlagen.“ Jetzt geht es um die Leiden am Kreuz, jetzt um die Sünden.
Darum wird das, was hier steht, im Neuen Testament durch den Heiligen Geist direkt auf das Kreuz von Golgatha ausgelegt. Wenn wir in 1. Petrus 2, ab Vers 21 aufschlagen, heißt es: „Denn hierzu seid ihr berufen worden; denn auch Christus – Christus ist griechisch für Messias – hat für euch gelitten und euch ein Beispiel hinterlassen, damit ihr seinen Fußstapfen nachfolgt.“
Das ist übrigens ein Hinweis auf Psalm 89, Vers 52, wo über die Fußstapfen des Messias, des Gesalbten, gesprochen wird, die verhöhnt worden sind. Also: „Damit ihr seinen Fußstapfen nachfolgt.“
„Der keine Sünde tat, noch wurde Trug in seinem Mund gefunden.“ Das ist ein Ausdruck aus Jesaja 53: „Noch wurde Trug in seinem Mund gefunden.“
Dann heißt es weiter: „Der Gescholten nicht widerschallt, Leiden nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet, der selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat, damit wir den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben.“
„Durch dessen Striemen ihr heil geworden seid“ – das ist genau die Anspielung auf Jesaja 53,5: „Um unserer Missetaten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden.“
Wenn es weiter heißt in 1. Petrus: „Denn ihr gingt in die Irre, wir sind wie Schafe, aber ihr seid jetzt zurückgekehrt zu dem Hirten und Aufseher eurer Seelen“, ist das eine Anspielung auf Jesaja 53, Vers 6: „Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns ein jeder auf seinen Weg.“
Also: Vers 4a wird noch zu Lebzeiten erfüllt, und dann Vers 5 am Kreuz. Dort hat er nicht unsere Krankheiten getragen, sondern unsere Übertretungen und Missetaten.
Vers 6 beschreibt die Einsicht der Umgekehrten: Wir waren früher alle im Irrtum, wir haben uns völlig geirrt in der Frage, wer Jesus von Nazaret ist. „Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns ein jeder auf seinen Weg.“
Der Herr hat unsere Ungerechtigkeit getroffen. Gott, der Vater, hat unsere Ungerechtigkeit auf den Herrn Jesus gelegt, als er am Kreuz war, in den Stunden der Finsternis.
Der Prozess und das Schweigen des Messias
Jesaja beschreibt weiter, in Vers 7, den Prozess, der zur Kreuzigung geführt hat: Er wurde misshandelt. Dies schließt wieder an Kapitel 52, Vers 14 an, wo gesagt wird, dass sein Aussehen durch die Misshandlung nicht mehr menschenähnlich war.
Er wurde misshandelt, doch er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf. Gleich einem Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scheren, so tat er seinen Mund nicht auf.
Wenn wir den Augenzeugenbericht in Matthäus 27 lesen, sehen wir, dass der Herr Jesus sich bei diesem ungerechten Prozess vor dem Hohen Rat, dem Sanhedrin, gar nicht mehr verteidigt hat. Das Urteil war bereits in der Nacht zuvor beschlossen worden.
Nach rabbinischem Gesetz ist es verboten, einen Gerichtsprozess über Leben und Tod während der Nacht durchzuführen. Deshalb versammelten sich die Beteiligten vorher in den Privathäusern von Annas und Kajafas, um dort alles schon durchsprechen zu können. Das war kein offizieller Prozess, sondern ein inoffizielles Treffen in der Nacht.
Sobald die Sonne aufgeht, sagt uns Matthäus, versammelte man sich im Sanhedrin, um den offiziellen Prozess durchzuführen. Dieser war jedoch schnell und kurz, und es ging nur noch darum, ihn schuldig zu sprechen.
Deshalb verteidigte sich der Herr Jesus nicht mehr, denn es gab keine Möglichkeit mehr, etwas zu klären. Darum schwieg er.
Jesaja beschreibt ihn schon etwa siebenhundert Jahre zuvor wie ein Lamm, das ganz anders zur Schlachtung geht als zum Beispiel ein unreines Tier wie das Schwein, das wild herumschreit, bevor man überhaupt ein Messer zeigt. Das Schwein wehrt sich, aber ein Lamm geht ruhig bis zur Schlachtbank und wehrt sich nicht. Damit ist es ein Bild für den Herrn Jesus.
Zweimal wird gesagt, er tat seinen Mund nicht auf.
Die Hinrichtung und das ungerechte Urteil
Und dann Vers 8: Er ist hinweggenommen worden aus der Angst und aus dem Gericht.
Der hebräische Ausdruck für „weggenommen“ könnte man besser und stärker übersetzen mit: Er ist hindurch herausgerissen worden aus Angst und aus dem Gericht. Angst und Gericht meint hier den Prozess. Jeder, der angeklagt wird vor einem Gerichtshof, erlebt innere Angst und Druck.
Bei dem Herrn Jesus dauerte das jedoch nicht lange, denn es war kein Prozess, der sich über Tage oder Wochen erstreckte, um alle möglichen Zeugen herbeizuziehen, die etwas Positives sagen konnten. Man nahm nur Zeugen, die ausschließlich negativ sprachen, und es waren falsche Zeugen.
Dieser Prozess musste sehr schnell erledigt werden. Darum heißt es hier, er wurde herausgerissen aus Angst und aus dem Gericht. Es war ein kurzer, ungerechter Prozess, der in vielen Punkten den rabbinischen und auch den biblischen Vorschriften eines Prozesses grundsätzlich widersprach.
Vers 9: Und wer wird sein Geschlecht aussprechen?
Was bedeutet dieser Satz? Und dann wird begründet: Denn er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen.
Der Sinn ist, dass man ihm kein echtes Gericht, keinen fairen Prozess gewährt hat. Wer kann eine Generation beschreiben, die so verdorben ist, dass, wenn der Retter der Welt in diese Welt kommt, man ihm nicht einmal einen fairen Prozess gibt?
Wer kann die Bosheit all derer beschreiben, die sich schuldig gemacht haben? Und die Begründung lautet: Denn er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen. Der Messias wurde getötet. Er, der nur Gutes getan hatte, wurde getötet.
Dann erklärt aber Gott im nächsten Satz: „Wegen der Übertretung meines Volkes hat ihn Strafe getroffen.“ Hier wird erklärt, dass er unschuldig war, aber die Strafe auf sich genommen hat. Es war die Strafe, die Israel verdient hätte.
Er ist gestorben anstelle von Israel.
Die Auslegung der Rabbiner und die Identität des leidenden Knechtes
Und jetzt sieht man auch das ganze Problem mit Raschi in den Rabbinerbibeln. Einer der wichtigsten Kommentare ist immer der Kommentar von Raschi, ebenso wie die von Ezra und Abrabanel. Diese sind ebenfalls wichtig, aber Raschi ist der Kommentator aus dem Mittelalter.
Wenn es um Auslegung geht, fragt man immer: Was hat Raschi geschrieben? Raschi hat im Mittelalter gesagt, Jesaja 53 sollten wir nicht auf den Messias beziehen, wie unsere frühen Rabbiner gelehrt haben. Stattdessen sollten wir es auf Israel selbst beziehen. Wir als Israeliten haben erlebt, wie die anderen Völker uns hassen, uns ablehnen und wir ständig leiden müssen. Wir sind dieser leidende Knecht.
Aber hier wird ganz klar gemacht, wie falsch diese Auslegung ist. Denn Gott sagt: „Wegen der Übertretung meines Volkes hat ihn, dem Knecht Gottes, Strafe getroffen.“ Also wird ganz klar zwischen Israel und dem leidenden Knecht unterschieden, der hier beschrieben wird. Er leidet für Israel, also kann er nicht Israel selbst sein, der leidende Knecht.
Damit haben die alten Rabbiner Recht behalten, die das so deutlich beschrieben haben. Zum Beispiel im Kommentar von Rabbi Al-Schesch noch im sechzehnten Jahrhundert, also lange nach Raschi. Dort wurde zu Jesaja 53 geschrieben: „Unsere alten Rabbiner haben auf das Zeugnis der Tradition hin angenommen, dass hier in Jesaja 53 die Rede vom König Messias sei. Daraus nehmen auch wir folgend an, dass das Subjekt dieser Weissagung David, das ist der Messias, gehalten werden müsse, wie dies offenbar ist.“ Also sagt er, es ist völlig klar, dass es der Messias ist.
Auch im älteren Midrasch, dem Midrasch Tanchuma, der wohl aus dem neunten Jahrhundert stammt, wird erklärt: Zu „Siehe, mein Knecht wird klug handeln“ (Jesaja 52,13) wird kommentiert: „Dies ist der König Messias, welcher hoch und erhöht und sehr erhaben ist, erhabener als Abraham, erhöht über Moses, höher als die dienenden Engel.“
Man könnte meinen, der Schreiber dieses Midrasch hätte den Hebräerbrief schon gelesen. Im Hebräerbrief Kapitel 1 wird uns gezeigt, dass Jesus, der Messias, erhaben über allen Engeln ist. In Kapitel 2 ist er erhaben über alle Menschen, und in Kapitel 3 er ist erhaben über Mose. Genau wie hier: er ist erhöht über Moses, höher als die dienenden Engel. Das entspricht genau Hebräer 1 und Hebräer 3.
Das Grab des Messias und seine Unschuld
Wir gehen weiter zu Vers 9: "Und man hat sein Grab bei Gesetzlosen bestimmt, aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod, weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist."
Das Grab der Gesetzlosen wäre die Verbrennung im Tal Hinnom gewesen. Das ist auch der Grund, warum man so wenige Überreste von gekreuzigten Menschen gefunden hat. Die Römer haben ja unzählige Menschen gekreuzigt, und trotzdem hat man keine Überreste von ihnen gefunden.
Bis in die 1990er Jahre hat man bei Straßenarbeiten in Jerusalem ein Ossuarium, also eine Knochenbox, gefunden. Darin waren die Knochen eines Gekreuzigten, und der Nagel steckte noch in der Ferse. Der Mann hieß Hans, also hebräisch Jochanan, der gekreuzigte Hans. Aber bis dahin hatte man sonst noch nie etwas derartiges gefunden.
Warum? Weil man diese Leute verbrannt hatte. Sie bekamen normalerweise kein richtiges Grab. So wäre es auch für den Herrn Jesus bestimmt gewesen. Man hätte sein Grab bei Gesetzlosen erwartet, aber er war bei einem Reichen in seinem Tod.
Joseph von Arimathia, der ein Ratsmitglied war, stellte sich anders dar. Der Ausdruck "Ratsmitglied" meint hier nicht ein Mitglied des Sanhedrins, dem Gerichtshof, zu dem zum Beispiel Nikodemus gehörte. Es war der Name eines obersten Priestergremiums unterhalb des Hohen Priesters. Diese nannte man Ratsleute, und zu diesen vierzehn höchsten Priestern gehörte Joseph von Arimathia.
Er fand zum Glauben an den Herrn Jesus und wurde mutig im Moment der Kreuzigung. Er stellte sein für sich ausgeschlagenes, teures Felsengrab zur Verfügung. So hat sich die Prophezeiung erfüllt: "Aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod."
Die alte Elberfelder Bibel weist in einer Fußnote darauf hin, dass hier "Tod" in der Mehrzahl steht, also "in seinen Toden". Das ist die hebräische Art auszudrücken, dass der Tod unbeschreiblich schmerzhaft war. Es bedeutet nicht nur einfach tot, sondern es wird hervorgehoben, wie schrecklich dieser Tod war.
Warum bekam der Herr Jesus dieses Ehrengrab? Durch den Tod am Kreuz und den danach erfolgten Speerstich eines Soldaten in die Seite – in Erfüllung von Sacharja 12,10: "Sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben." Gott hat gestoppt, dass der Herr weiter verunehrt werden konnte. Deshalb kam er in das Grab eines Reichen.
Es wird hier begründet: "weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist." Das hätte man damals fragen sollen, heute ist es zu spät. Dieses Kapitel stellt das jüdische Volk dar. Wie kannst du sagen, du und ich, "weil kein Unrecht begangen hat, kein Trug in seinem Mund gewesen ist"? Tatsächlich kann das keiner von uns sagen. Das ist nur einer: der Erlöser, der als das vollkommene Lamm Gottes für unsere Sünden leiden musste.
Gottes Wohlgefallen am Leiden des Messias
Vers: Doch dem Herrn gefiel es, ihn zu zerschlagen; er hat ihn leiden lassen. Das ist ein gewaltiger Vers. Gott hat den Messias geschlagen. Wir haben gesehen, was die Menschen ihm angetan und wie sie ihn misshandelt haben – bis zur Unkenntlichkeit. Schließlich haben sie ihn mit Nägeln an ein Holz geheftet.
Aber hier wird gesagt, dass Gott ihn geschlagen hat. Und diese Leiden waren noch viel tiefer, als der Herr Jesus am Kreuz hing und mit unseren Sünden beladen wurde. Da hat Gott ihn bestraft. Die Strafe, die eigentlich unser Teil gewesen wäre – im Feuersee auf ewig –, hat er in den Stunden der Finsternis auf sich genommen.
Darum hat der Herr geschrien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,1). Gott hat ihn verlassen, um immer bei uns sein zu können.
Jetzt versteht man auch, warum es heißt: „Doch dem Herrn gefiel es.“ Es war ja furchtbar für das Herz des Vaters, dass sein Sohn so leiden sollte. Trotzdem heißt es: „Doch dem Herrn gefiel es, ihn zu zerschlagen.“ Im Blick auf unsere ewige Errettung war es Gottes Wohlgefallen, dass dieser Weg beschritten werden sollte, der den Herrn ans Kreuz brachte. Das ist das Gefallen Gottes – die Rettung, die daraus folgen sollte.
„Wenn seine Seele das Schuldopfer gestellt haben wird, so wird der Samen sehen.“ Hier wird das Wort Schuldopfer benutzt, auf Hebräisch Ascham. Das ist genau das gleiche Wort wie in 3. Mose 5,6 für das Schuldopfer. Damit wird alttestamentlich erklärt, dass diese Tieropfer in 3. Mose 1 bis 7 ihre Bedeutung und Erfüllung in dem Opfer des Messias haben sollten.
Diese Tieropfer hatten in sich keine eigene Bedeutung, sondern waren nur ein Hinweis auf das wahre Opfer. So wird also alttestamentlich erläutert, was diese Tieropfer bedeuteten. „Wenn seine Seele das Schuldopfer gestellt haben wird, so wird er Samen sehen.“ Das heißt, es wird ein Resultat geben. Dieser Samen, dieses Resultat, sind all die Erlösten, die durch sein Werk gerettet worden sind.
Dann heißt es: „Er wird seine Tage verlängern.“ Im Gesetz heißt es sehr oft: Gott sagt, wenn du dieses Gebot tust, wirst du dadurch deine Tage verlängern im Land. Oder in den Zehn Geboten, schon das erste Gebot mit Verheißung: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf dass du lange lebst.“ Also bedeutet „die Tage verlängern“ weiterleben.
Jetzt wird hier gesagt: Er wird sterben, er wird als Schuldopfer sterben. Dann heißt es, er wird, nachdem er das Schuldopfer gestellt hat, seine Tage verlängern. Das ist eine Prophetie in Bezug auf die Auferstehung. Er wird sterben, aber dann wieder leben.
Weiter heißt es: „Und das Wohlgefallen des Herrn wird in seiner Hand gedeihen.“ Das ist all das, was der Herr Jesus seit seiner Auferstehung tut. Von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen.
Er hat so gelitten am Kreuz, aber als Folge konnte er sich freuen an all den Menschen aus dem jüdischen Volk und aus allen Heidenvölkern, die durch ihn errettet worden sind. Das ist gewissermaßen die Frucht der Mühsal seiner Seele, an der er sich sättigt und erfreut.
Gott sagt: „Durch seine Erkenntnis wird mein gerechter Knecht die Vielen zur Gerechtigkeit weisen, und ihre Missetaten wird er auf sich laden.“ Hier ist der Römerbrief vorweggenommen. Der Römerbrief erklärt: Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott? Allein durch den Glauben an den Herrn Jesus.
Hier wird gesagt: Durch seine Erkenntnis wird der gerechte Knecht die Vielen zur Gerechtigkeit weisen – oder man kann auch übersetzen: ihnen zur Gerechtigkeit verhelfen, sie gerecht machen.
Warum heißt es nicht „alle“, sondern nur „die Vielen“? Obwohl das Heil in Christus der ganzen Welt und jedem Menschen angeboten wird, wird es nur denen zugutekommen, die sich wirklich bekehren. Zusammen sind sie die Vielen. Ihre Missetaten wird er auf sich laden. Auch hier wird noch einmal betont, was in Vers 5 gesagt worden war: Er wird die Sünden tragen am Kreuz.
Die Belohnung und Herrschaft des Messias
Und schließlich Vers zwölf:
Darum, als Begründung für all das, was vorher über die Leiden gesagt wurde: Ich werde ihm die Großen zuteilgeben, und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen. Als Lohn dafür, dass der Herr Jesus als Mensch sein Leben gegeben hat, wird er als Mensch die Macht auf Erden übernehmen.
Heute sind die gewaltigen Leute wie Mr. Trump, Putin, Frau Merkel und viele andere. Es gibt so viele Mächtige in dieser Welt. Aber der Herr Jesus wird eines Tages alles besitzen: alle Königreiche und alle Länder der Welt. Das wird geschehen, wenn er zum zweiten Mal als König kommen wird.
Jetzt sehen wir zuerst Leiden, und später kommt die Herrschaft. Mit Gewaltigen wird er die Beute teilen. Das ist der Überrest aus Israel, der umkehren wird und dann mit dem Messias zusammen das Reich erben wird.
Die Begründung dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod und den Übertretern beigezählt worden ist, liegt darin, dass er gelitten hat und darum herrschen wird. Es ist also ganz klar: zuerst der leidende Messias und später der herrschende Messias. Aber es ist auch klar, dass der Leidende derselbe ist wie der Herrschende.
Im Judentum gab es Ideen, die besagen, es müsse zwei verschiedene Messiasse geben: einen, der leidet, und einen, der herrscht. Das ist falsch. Es ist derselbe Messias. So hat Rabbi Al-Schesch, den ich bereits im sechzehnten Jahrhundert zitiert habe, gesagt, dass Jesaja 53, wie das Zeugnis der Tradition zeigt, vom König-Messias spricht.
Er ist ganz klar der Leidende hier, aber derselbe, der König sein muss. Dann heißt es, dass er seine Seele ausgeschüttet hat. Das Wort „Schafach“ meint wirklich das Ausschütten einer Flüssigkeit.
In 3. Mose 17 wird erklärt, dass das Blut der Inbegriff des Lebens oder der Seele ist. Dadurch, dass der Herr Jesus sein Blut auf Golgatha gegeben hat, hat er sein Leben, seine Seele, ausgeschüttet in den Tod. „Seele“ hier im Sinne von Leben, und das Blut ist der Inbegriff des Lebens.
Durch das Blut des Messias sollten wir gerettet werden. Hier wird erklärt, was die Bedeutung des Blutes der Passalämmer in Ägypten war: ein Hinweis auf den Messias, der seine Seele ausschütten würde in den Tod und den Übertretern beigezählt worden ist.
Man hat ihn zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt. Dann wird Gott erklärt, und es wird im Hebräischen betont, dass er als Kontrast die Sünde vieler getragen hat. Im Gegenteil, er war der Schuldlose, der unsere Schuld auf sich genommen hat.
Dann endet es mit den Worten: „und für die Übertreter Fürbitte getan“. Eines der sieben Worte am Kreuz, Lukas 23, lautet: Als der Herr gekreuzigt wurde, betete er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Damit hat sich dieser letzte Satz aus Jesaja 53 erfüllt: „Und für die Übertreter hat er Fürbitte getan.“
Ausblick auf Kapitel 54 und die Bedeutung für Juden und Nichtjuden
Und dann kommt das Kapitel 54, das man nach der Haftara in der Synagoge auch liest: „Jubele! Der Unfruchtbare, die nicht geboren, brich in Jubel aus!“ Israel wird hier als fruchtloses Volk angesprochen, das jubeln soll.
Was für einen Grund gibt es, um zu jubeln? Wenn man verstanden hat, was in dem ausgelassenen, verdrängten Kapitel steht, dann versteht man, warum man jubeln kann. Es ist wie an Jom Kippur, am großen Versöhnungstag.
Da klagen alle, und man kann in den Synagogen die Leute hören, die ganz laut schreien, sich an die Brust schlagen und ihre Sünden bekennen. Aber am Schluss von Jom Kippur ist es so, dass dann vor Jubel laut gerufen wird.
Ja, aber das ist alles nur Tradition. Das Wichtige ist, dass man den wirklichen Jom Kippur aus Jesaja 53 versteht und dann die Freude nach Jom Kippur wirklich begreift: „Jubele, brich in Jubel aus!“ Das ganze Wort gehört zusammen. Man darf kein Kapitel aus der Bibel verdrängen, schon gar nicht ein solches Kapitel, das so zu Herzen geht und Juden überführen kann, wie man errettet wird.
Aber nicht nur Juden – denken wir zum Schluss noch an die Apostelgeschichte. Diese wunderbare Geschichte von dem Kämmerer aus Äthiopien, der aus Schwarzafrika kam, eine Jesaja-Rolle in Jerusalem kaufte und dann wieder nach Hause ging. Er las Jesaja 53 und dadurch kam er zum Glauben als Nichtjude.
Darum dieses Kapitel. Es lohnt sich, das Kapitel auswendig zu lernen, damit man es jederzeit, wenn man mit jemandem spricht, zitieren kann. Es geht so zu Herzen. Und es ist wirklich ein Kapitel, das Juden und Nichtjuden zur Rettung führen kann.
Schlussgebet
Nun wollen wir zum Abschluss noch beten.
Herr Jesus, danke, dass du in diese Welt gekommen bist und dass du Jesaja 53 sowie all die vielen Prophezeiungen, die auf dich hinweisen, erfüllt hast. Danke, dass wir erkennen durften, dass du der bist, der kommen sollte, um für unsere Sünden zu leiden.
Danke, dass wir verstehen konnten, was Johannes der Täufer verkündete: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt.“ Herr Jesus, danke, dass wir diese Verheißung auch persönlich in Anspruch nehmen durften. Durch dein Blut haben wir wirklich Vergebung und Reinigung unserer Schuld erfahren.
Wir möchten dich preisen, und wir preisen dich, Vater, dass du deinen geliebten Sohn gegeben hast. Es ist unfassbar zu lesen: „Es gefiel dem Herrn, ihn zu zerschlagen.“ Wir wissen, dass dieses Wohlgefallen das Wohlgefallen im Blick auf unser ewiges Heil war.
Gepriesen seist du dafür, Amen.