Liebe Gemeinde,
es gibt einen christlichen Song, der sehr ehrlich beschreibt, dass auch Christen viele persönliche Schwächen haben. Selbst bei Menschen, die den Glauben an Jesus ernst nehmen, kann noch viel passieren. In dem Lied heißt es dann lapidar: Auch der größte Glaubensheld fällt manchmal in die Tiefe. Wer denkt, er sei perfekt, hat sich selbst noch nicht entdeckt.
In dem Leben, das man führt, gibt es vieles, was Gott stört. So wie der Mensch nun einmal ist, macht auch der Christ Fehler. Wer wollte oder könnte das bestreiten?
Im Refrain heißt es dann immer: Besser sind wir nicht, aber besser sind wir dran. Besser sind wir nicht.
Zweifel an der Besonderheit christlichen Lebens
Stimmt das? Sind Christen wirklich nicht besser als Menschen, die ohne Christus leben? Oder anders gefragt: Unterscheidet sich das praktische Leben der Christen wirklich nicht von dem ihrer Nachbarn, Mitschüler oder Arbeitskollegen?
Angenommen, Sie würden das von sich selbst sagen – könnten Sie mit diesem Zustand ruhig schlafen?
Stellen Sie sich einen Mediziner vor, einen Chirurgen, der Ihnen gleichmütig ins Gesicht sagt: „Ich habe zwar 16 Semester Medizin studiert, aber wo der Blinddarm sitzt und die Galle, das kann ich auch nicht sagen.“ Wäre das normal?
Stellen Sie sich einen Christen vor, der Ihnen gleichmütig ins Gesicht sagt: „Ich bin zwar ein Christ, aber ansonsten unterscheidet sich mein Leben kaum von dem anderer Leute.“ Wäre das normal?
Jesus hält derartige Aussagen mit der Bergpredigt entgegen. Die Bergpredigt zeigt, dass Christen anders leben. Das ist ja das Motto unserer gesamten Predigtreihe, bei der wir heute in die neunte Runde gehen: Christen leben ganz anders.
Natürlich sind Christen nicht von Natur aus edlere Menschen – überhaupt nicht. Christen haben absolut keinen Grund zur Überheblichkeit. Aber Christen haben ein Geheimnis. Sie haben eine Veränderung in ihrem Leben erfahren. Und darum leben sie, trotz aller Schwächen, die noch da sind, anders – anders als vorher, anders als die anderen.
Umkehrungen als Kennzeichen des christlichen Lebens
Im Leben der Christen kommt es zu Umkehrungen – das ist unser Thema heute Morgen: Umkehrungen.
Was die meisten für naheliegend halten, stellt Jesus in Frage. Und was die meisten für ganz fernliegend halten, sagt Jesus: Das sollt ihr tun. Deshalb ist die Bibel oft so überraschend. Auch die beiden Abschnitte, die wir uns heute anschauen werden, sind eine große Herausforderung. Sie waren für mich eine große Herausforderung die ganze Woche über, während mich dieser Text begleitet hat.
Auf der einen Seite werden wir alte Bekannte treffen, bekannte Bibelworte wie „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ oder „Wenn sich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die linke hin“. Alte Bekannte, aber wir werden sehen, was Jesus hier von uns will – und das ist sehr überraschend.
Zwei Bereiche aus unserem Alltag nimmt Jesus sich also vor. Für beide gibt er uns eine klare Richtlinie. Heute Morgen können wir nicht jede Einzelheit in diesem Text ansprechen, aber wir werden versuchen, die Hauptsache deutlich zu machen – sozusagen die Speerspitze, auf die es Jesus ankommt.
Am kommenden Sonntag wollen wir dann das fünfte Kapitel abschließen. Dort haben wir als Predigttext nur den Vers 48. Im neuen Jahr wird die Predigtreihe dann mit Matthäus 6 und Matthäus 7 fortgesetzt, die ja auch noch zur Bergpredigt gehören.
Die Herausforderung der Bergpredigt: Gewalt und Feindesliebe
Und jetzt gehen wir hinein in den Text ab Vers 38. Sie haben ihn vor sich. Da sagt Jesus: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstehen sollt dem Übel.
Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.
Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.
Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?
Ursprung und Missbrauch des Vergeltungsrechts
Jesus beginnt erneut mit einem Zitat aus dem Alten Testament: "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn." Dieser Satz ist allgemein bekannt. Die meisten denken dabei an brutale Rache oder grausame Vergeltung. Fast könnte es der Titel eines Westerns sein: "Auge um Auge".
Wenn wir jedoch genauer ins Alte Testament schauen, erkennen wir, dass eigentlich das Gegenteil gemeint ist. Ursprünglich war dies ein sehr humaner Grundsatz: Auge um Auge, Zahn um Zahn. In der Rechtssprache heißt das Ius talionis, also Vergeltungsrecht. Dieses Vergeltungsrecht verfolgte vor allem zwei wichtige Ziele.
Zum einen sollte blinde Rache ausgeschlossen werden. Die Strafe sollte angemessen sein – Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wenn dir jemand einen Zahn ausschlägt, darfst du nicht gleich das ganze Gebiss ausschlagen. Genau das war gemeint. Die Strafe darf nicht härter ausfallen als das Verbrechen. Dieser Grundsatz richtete sich gegen blinde Stammeskriege und Blutrache.
Denn der Mensch neigt zur Rache und oft zur Überreaktion. Gott sagt daher: Auge um Auge, Zahn um Zahn – nicht mehr. Zum anderen sollte dieser Grundsatz noch etwas anderes bewirken: Er sollte Selbstjustiz ausschließen.
Das Vergeltungsrecht gehörte in Israel zum öffentlichen Recht. Vergeltung durfte nicht von Privatpersonen ausgeübt werden, wie im Wilden Westen. Dafür waren in Israel spezielle Richter zuständig. So sah es Gott vor. Das war Gottes Rechtspflege für sein Volk: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Im Laufe der Jahrhunderte ging dieser Grundsatz jedoch verloren. Zur Zeit Jesu war dieses Vergeltungsrecht zwar noch bekannt, aber es war stark in Verruf geraten. Viele Schriftgelehrte führten es zwar im Mund, hatten es aber längst missbraucht. Sie verfälschten das, was Gott gegeben hatte, um Gewalt einzuschränken und unter Kontrolle zu halten.
Diese Schriftgelehrten missbrauchten das Gesetz, um ihre persönlichen Rachegelüste zu rechtfertigen. Die Frage lautete nun: Wie weit kann ich mit meinen Rachegelüsten gehen, ohne direkt gegen den Wortlaut dieses Gesetzes zu verstoßen? Aus einem Rechtsgrundsatz war eine Erlaubnis zur Vergeltung geworden.
Jesu Aufforderung zum Nicht-Widerstehen und ihre Missverständnisse
Und wie reagiert Jesus nun darauf im Vers 39? Er sagt: „Ich sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel.“ Schon das Alte Testament wollte ja Rache eindämmen. Jesus spitzt das noch weiter zu und sagt: Ihr sollt überhaupt nicht widerstreben dem Übel.
Wenn man diesen Satz aus dem Zusammenhang herausreißt, kann man ihn völlig falsch verstehen. So ist das bis heute immer wieder passiert. Manche meinen, Jesus fordert hier völlige Passivität. Christen sollen das Böse einfach gewähren lassen und abwarten, ob Gott etwas dagegen tut oder auch nicht. Wenn zum Beispiel ein Überfall auf der Straße passiert, bleiben Christen ruhig stehen und schauen zu. So ist das aber nicht gemeint.
Jesus selbst hat dem Bösen ja aktiv widerstanden. Er hat Missstände benannt und ist oft handgreiflich dagegen vorgegangen. Denken Sie daran, wie er den Tempel geräumt und die Händler hinausgeworfen hat. Das Neue Testament sagt immer wieder, dass wir auch innerhalb der Gemeinde nicht einfach alles zulassen dürfen. Wir müssen widerstehen, wenn sich zum Beispiel falsche Lehre einschleicht. Paulus schreibt, dass er an einer Stelle dem Petrus öffentlich widerstehen musste, weil dieser Verwirrung gesät hatte.
Also: Du sollst dem Übel nicht widerstreben – das heißt nicht, du sollst alles Böse passiv gewähren lassen.
Ein anderes beliebtes Missverständnis ist zum Beispiel die Auslegung des russischen Dichters Tolstoi. Er verstand diesen Satz als Aufforderung zum Pazifismus, zum Verzicht auf jede staatliche Gewalt. „Du sollst auf jede Gewalt verzichten“, hat er daraus geschlossen. Aber auch diese Deutung kann sich nicht auf Jesus berufen. Jesus hat die staatliche Gewalt nicht in Frage gestellt.
Von Soldaten und Polizisten, wenn man so will, hat er gefordert, dass sie sich fair verhalten, aber er hat sie nicht aus ihrem Beruf herausgerufen. Auch Paulus hat etwa in Römer 13 eindeutig die Staatsgewalt als in Ordnung bezeichnet. Er schreibt dort, dass die Obrigkeit Gottes Dienerin ist, das Schwert nicht umsonst trägt und das Strafgericht vollzieht, an dem der Böse es tut. Deshalb zahlt man auch Steuern.
Er schreibt in Römer 13: „So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer dem, der Steuer gebührt, Zoll dem, der Zoll gebührt.“
Also halten wir fest: Das Neue Testament fordert weder zum absoluten Gewaltverzicht auf noch zur Passivität gegenüber dem Bösen. Sondern – jetzt kommt es – wenn Jesus sagt: Du sollst dem Bösen nicht widerstehen, dann spricht er damit den einzelnen Christen in seinen persönlichen Beziehungen an.
Das werden wir gleich noch an den Beispielen sehen, die Jesus nennt. Wo anderen Menschen Unrecht geschieht, da soll ich eingreifen. Wenn auf der Straße jemand überfallen wird, wenn ich merke, dass in meiner Nachbarschaft jemand missbraucht wird, dann muss ich einschreiten. Möglicherweise muss ich auch mal Gewalt anwenden, um andere Gewalt zu verhindern.
Wenn jemand verprügelt wird, muss ich vielleicht den Prügler festhalten und notfalls selbst zu Boden bringen. Wo die Rechtsordnung, die ja alles schützen soll, angegriffen wird, kann ich nicht einfach tatenlos zusehen. Und wenn in der Gemeinde Dinge passieren, die gegen das Wort Gottes sind, dürfen wir nicht schweigen.
„Du sollst dem Bösen nicht widerstehen“ richtet sich an den Christen, wie er mit seinen persönlichen Beziehungen im Alltag umgeht. Dieser Satz richtet sich an Menschen, die in einer persönlichen Verbindung zu Jesus leben. Er steht in der Bergpredigt und richtet sich an Leute, die mit den Seligpreisungen leben – sie sind hier gemeint. Jesus fordert sie zu einem ganz anderen Lebensstil auf als dem üblichen.
Vier Beispiele für eine neue Grundhaltung
Und er bringt dazu vier Beispiele. Diese vier Beispiele haben eines gemeinsam: Sie zeigen eine Grundhaltung, eine Einstellung, die hinter diesem neuen Lebensstil steckt.
Wir fragen: Was ist das für eine Grundhaltung? Was haben diese vier Situationen gemeinsam? Und jetzt wird es spannend.
Vers 39: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Die Ohrfeige galt als eine der schlimmsten Beleidigungen, als ein Angriff auf meine Ehre. Wenn Sie jemandem auf die rechte Backe schlagen wollen – hier wird vorausgesetzt, dass die meisten Rechtshänder sind – dann müssen Sie das mit der Rückseite Ihrer Handfläche machen. Wenn Sie einem anderen auf dessen rechte Backe schlagen wollen, dann müssen Sie so schlagen, mit der Rückseite der Hand. Und das galt unter den Juden als noch einmal entehrender.
Was mache ich, wenn meine Ehre, wenn meine Eitelkeit angegriffen wird?
Weiter, Vers 40: Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Hier geht es um ein Gerichtsverfahren. Es war damals so: Wenn jemand die Strafe nicht abzahlen konnte, dann durfte ihm das Gericht dafür seinen Rock nehmen. Das war so eine Art Untergewand, wir würden vielleicht sagen einen Pullover. Dann durfte ihm das Gericht, wenn er nicht zahlen konnte, diesen Rock, diesen Pullover, dieses Untergewand abnehmen – aber niemals das Obergewand, niemals den Mantel.
Für manchen war der Mantel nachts gleichzeitig die Decke, mit der er sich zudeckte. Kein Gericht durfte einem Menschen auch noch den Mantel wegnehmen. Das war jedermanns Recht. Und Jesus sagt: Wenn dich jetzt einer deinen Untergewand wegnimmt, gib ihm auch noch den Mantel. Klammer dich nicht an dein Recht. Wie gehen Sie mit Ihrem Recht um?
Vers 41: Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Jeder römische Soldat – die Römer waren ja die Besatzungsmacht – konnte einen Zivilisten auffordern: Trag mir dieses Gepäck eine Meile weit. Das waren gut anderthalb Kilometer. Und egal, was der Mensch gerade vorhatte, er musste dem römischen Soldaten dieses Gepäck eine Meile weit tragen helfen. Er musste seine Zeit, seine Kraft zur Verfügung stellen.
Und Jesus sagt: Wenn der dich um die eine Meile bittet, dann geh auch noch die zweite mit. Also nicht nur 1,5, sondern drei Kilometer. Wenn man mich bittet: Wie gehe ich mit meiner Zeit um? Wie gehe ich mit meiner Kraft um?
Ging es in den Beispielen vorher um meine Ehre, um mein Recht, um meine Zeit, so geht es am Schluss in Vers 42 um mein Geld, um meinen materiellen Besitz. Da sagt Jesus: Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. Gib dem, der dich bittet. Dabei wird vorausgesetzt, dass derjenige, der mich bittet, wirklich bedürftig ist.
Da steht auch nicht: Gib jedem das, worum er dich bittet, sondern gib dem, der dich bittet, das, was er braucht. Also wenn mich jemand auf der Straße um Geld bittet und vieles dafür spricht, dass dieser Mensch das Geld sofort in Alkohol umsetzen wird, dann wäre es töricht, mein Gewissen mit einem Fünfmarkstück zu entlasten.
Besser ist, ich gehe mit ihm, wenn das möglich ist, zur nächsten Imbissbude und kaufe ihm dort ein Brötchen. Der Heilsarmee-Pastor Dankmar Fischer hat mal gesagt: Kauf demjenigen immer das, was du selber gerne isst. Und wenn du gerne Lachsbrötchen magst, dann geh eben zur Nordsee und gib dem das Lachsbrötchen.
Dann kann es dir passieren, dass er dir vor Freude um den Hals fällt – oder aber, dass er dir das Lachsbrötchen ins Gesicht schmeißt. Und dann sind wir wieder bei Beispiel eins: Wenn ich jemand auf die rechte Backe schlage, schlage ich ihm auch die linke.
Die Umkehrung: Selbstverzicht statt Selbstliebe
Und Sie merken, diese vier Beispiele haben ein großes Thema. Es geht um meine Ehre, um mein Recht, um meine Kraft, meine Zeit und mein Geld. Es geht um mein Verhältnis zu mir selbst. Es geht um das Thema, das mir am nächsten liegt: Ich selbst.
Wenn Sie ein Bild aus alten Zeiten anschauen, nach wem suchen Sie normalerweise zuerst? Schon kleine Kinder schreien ja mit Inbrunst: Das gehört mir, das ist meins. Das muss uns keiner beibringen, das ist ein Reflex, das ist in uns drin. Es ist das Nächstliegende, dass wir um unsere Ehre und unser Recht kämpfen und uns an unseren Besitz klammern.
Und Jesus bringt nun die große Umkehrung. Er sagt, du sollst das Nächstliegende lassen. Das heißt Selbstverzicht statt Selbstliebe.
Ganz praktisch: Wenn einer deine Ehre ankratzt, was ist dann das Nächstliegende? Dass du zurückschlägst, dass du sagst: „Gut, wenn der mir am Zeuge fliegt, das kann ich schon lange, ich habe auch genug im Köcher gegen den.“ Selbstverzicht heißt, ich verzichte darauf, um jeden Preis meine Ehre zu verteidigen. Ich verzichte darauf, mein Mütchen zu kühlen und schlage nicht zurück, auch nicht mit Worten.
Das bedeutet nicht, dass ich Verdrehungen einfach stehen lasse und immer stillschweigend hinnehme. Nein, wenn möglich, soll ich schon klarstellen, was sich klarstellen lässt. Auch Jesus und die Jünger haben Sachen klargestellt. Aber in welcher Art und Weise mache ich das? Was ist die Grundhaltung meines Herzens dabei? Geht es mir um die Sache, um die Wahrheit, oder geht es mir um mein Image? Dürste ich nach Rache, Revanche und Vergeltung?
Jesus sagt: Lass das Nächstliegende.
Und dann Vers 40: Wie ist das, wenn mein gutes Recht angegriffen wird? Wohlgemerkt nicht das Recht meines Nächsten, sondern meine persönlichen Angelegenheiten, wenn ich etwas nicht kriege, wovon ich meine, dass es mir zusteht, und wenn sich mein Innerstes aufbäumt und ich sage: „Das ist ungerecht.“ Was soll ich denn machen?
Jesus sagt, du sollst das Nächstliegende lassen. Klammer dich nicht mit Klauen und Zehen an dein eigenes Recht. Gib den Mantel ruhig weg.
Jesus hat nicht grundsätzlich verboten, Prozesse zu führen, das nicht. Aber die Bibel sagt deutlich, Christen sollen nicht gegen Christen prozessieren. Also ich soll als Christ mit einem anderen Menschen, der auch von sich bekennt, dass er zu Jesus gehört, nicht vor ein öffentliches Gericht gehen. Das ist im Neuen Testament verboten, weil das die Gemeinde unglaubwürdig macht.
Aber gegen andere darf ich prozessieren, jedoch nicht mit Hass, nicht mit Schaum vor dem Mund.
Wie ist das, wenn jemand mein Auto beschädigt und nicht bereit ist, für den Schaden aufzukommen? Darf ich prozessieren, wenn er ein Mitchrist ist? Natürlich nicht. Also wenn einer meiner Kirchenvorsteher mir in mein Auto reinfährt, darf ich gegen den auf keinen Fall prozessieren. Den muss ich versuchen zu überzeugen.
Aber wenn jemand anderes, also einer, der sich nicht als mein Mitchrist bekennt, der Geld hat und aus Mutwillen nicht zahlen will, wenn der nicht zahlt, dann ist mit diesem Vers ein Prozess nicht grundsätzlich verboten. Das ist keine starre Regel.
Aber die Frage heißt: Mit welcher Grundhaltung gehe ich an die Sache ran? Kann mein Gegenüber, der mich geschädigt hat, und wenn er noch so gemein und arrogant ist, an meinem Verhalten im Prozess irgendwie ablesen, dass ich Christ bin? Kann er das? Gehe ich so mit ihm um, dass es ihn zum Nachdenken zwingt? Gebe ich ihm die Chance, etwas zu ahnen von dem neuen Leben, das Jesus mir gegeben hat, oder ziehe ich die Sache eiskalt durch wie jeder andere auch?
Das ist die Frage.
Jesus geht es um meine Gesinnung, um meine Einstellung, und er will, dass ich frei werde von meinem dicken Selbst. Er will, dass ich in diesem lästigen Prozessgegner den Menschen sehe, den Gott liebt, den Menschen, der Gott braucht und den Gott auch zur Bekehrung rufen will. Je mehr ich meine Selbstbehauptung zurückstelle, umso freier werde ich.
Und diese Freiheit schlägt sich in mein praktisches Verhalten durch, ganz bestimmt. So wie bei Hudson Taylor, dem Chinamissionar. Er steht abends am Ufer und hat ein Boot bestellt, das ihn über den Fluss setzen soll. Als das Boot eintrifft, drängelt sich ein reicher Chinese, der es eilig hat, von hinten durch und schubst Hudson Taylor zur Seite, sodass er ins Wasser fällt.
Der Bootsführer spricht seinen Landsmann an und sagt: „Das kannst du doch nicht machen, du steigst nicht in mein Boot ein.“ Und was macht Hudson Taylor? Er prustet erst mal, sagt gar nichts. Dann lädt er diesen Chinesen ein, sich doch mit in sein Boot zu setzen und gemeinsam rüberzufahren.
Hudson Taylor erzählt, dass sie hinterher in diesem Boot ein ganz intensives Gespräch hatten, in dem der reiche Chinese wissen wollte: „Warum bist du so?“ Das war nur möglich, weil Hudson Taylor seinen Stolz runtergeschluckt hat und sein Selbst nicht einfach freien Lauf ließ.
Umgang mit Zeit und Kraft als Ausdruck der Selbsthingabe
Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei, sagt Jesus. Wie aber ist es, wenn jemand unsere Geduld übermäßig strapaziert und unsere Kraft sowie Zeit beansprucht? Was ist dann das Nächstliegende?
Dass ich sage: Nun ist Schluss! Ich habe dir geholfen, meine Pflicht und Schuldigkeit erfüllt, ich bin die eine Meile gegangen, die, wenn nicht das römische Recht, so wenigstens der allgemeine Anstand fordert. Auch die Gepflogenheiten in unserer Gemeinde verlangen das. Das habe ich getan. Ich habe meinen guten Willen bewiesen, aber jetzt musst du selbst sehen, wie du fertig wirst.
Das ist das Nächstliegende. Und wieder geht Jesus an unser Gewissen, an unser Selbst. Wieder fragt er nach unserer Grundhaltung und sagt: Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.
Das heißt nicht, jeder Forderung nachzukommen, die an dich gerichtet wird. Es gibt Situationen, in denen wir Nein sagen müssen. Es gibt auch sinnlose Forderungen.
Ich habe ein Beispiel erfunden: In einer Familie geht es wochenlang rund. Die Kinder kommen in der Schule nicht mehr klar, die Mutter konnte sich in letzter Zeit kaum darum kümmern, der Haushalt ist zu kurz gekommen, die Eheleute haben kaum noch Zeit miteinander und knurren sich ständig an.
Die Frau macht treu im Besuchsdienst der Gemeinde mit, außerdem setzt sie sich in der Kinderstunde ein. Dann kommt eines Tages der Pastor – also ich – und sagt: Wir brauchen dringend noch jemanden für unseren Frauenkreis, und da habe ich an Sie gedacht. Sie können das doch so gut.
Kann der Pastor da Vers 41 in Anschlag bringen, so dass die Frau sagen muss: Du bittest mich, Pastor, noch den Frauenkreis zu übernehmen, und außerdem trage ich sogar noch ein paar Gemeindebriefe aus? Das wäre ein Missbrauch dieser Stelle.
Jesus geht es um unsere Grundhaltung. Er fragt: Wie gehst du mit deiner Zeit und deiner Kraft um? Betrachtest du sie als deinen Privatbesitz oder als eine Gabe, die Gott dir anvertraut hat und für die du ihm gegenüber verantwortlich bist?
Ist die Zeit dein Selbstbesitz, oder stellst du sie Gott zur Verfügung?
Ich denke, in dem konstruierten Fall wird die Frau zunächst ihre Verantwortung als Mutter und Ehefrau wieder richtig wahrnehmen und einen Teil ihrer Zeit dafür einsetzen, wo sie durch niemanden ersetzt werden kann. Gott wird dann irgendwo einen anderen Menschen bereitmachen, im Frauenkreis mitzuarbeiten.
Worum es mir geht: Es kommt nicht darauf an, jede einzelne Bitte zu erfüllen. Ich kann Sie mit diesem Vers 41 morgen nicht unter Druck setzen.
Es geht nicht darum, dass wir uns mit zusammengebissenen Zähnen noch das eine oder andere gute Werk abverlangen und uns dann womöglich noch auf die Schulter klopfen und sagen: Ach, was bist du doch opferbereit.
Vielmehr kommt es Jesus darauf an, dass wir unsere ganze Zeit und Kraft nicht als unseren Privatbesitz betrachten, der uns gehört – das wäre das Nächstliegende –, sondern als eine Gabe, als ein anvertrautes Gut, für das wir Gott verantwortlich sind.
Selbstverzicht statt Selbstliebe – wie stehen Sie zu Ihrer Zeit?
Und wir merken: Es geht Jesus immer um das Eine – ob Besitz an Zeit und Kraft oder Besitz an Geld. Es geht ihm darum, dass wir unser verbissenes Selbst aufgeben, unseren Drang nach Selbstverwirklichung und Selbstdurchsetzung, unseren eingefleischten Egoismus. Das sollen wir aufgeben.
Das ist die Haltung, die Jesus von uns will.
Selbstliebe und Feindesliebe als Umkehrung der Haltung
Nun könnten manche Psychologen auf den Plan treten und sagen: „Aber wir brauchen doch Selbstliebe. Sogar die Bibel fordert doch Selbstliebe. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, heißt es doch.“
Nun, die Bibel fordert nicht Selbstliebe, sondern sie setzt einfach voraus, dass es so ist. So wie du dich selbst liebst – mit dieser Inbrunst – so sollst du auch deinen Nächsten lieben. Das ist hier gemeint.
Natürlich will Gott, dass wir uns mit unseren Begabungen und Grenzen annehmen können. Er hat uns ja schließlich geschaffen, das ist doch klar. Das ist unsere Würde, und Gott will, dass wir ein Ja zu unserer Lebensgeschichte finden.
Aber das ist etwas ganz anderes als diese eingefleischte Selbstliebe, mit der wir uns an uns selbst klammern und feilschen. Es geht um unser Recht, aber das liegt uns nahe. Darum hassen wir am meisten diejenigen, die unsere Selbstentfaltung am stärksten behindern. Wir lehnen am meisten jene ab, die unser Selbst am gemeinsten angreifen.
Und da setzt Jesus nun mit seiner zweiten Umkehrung an. Er sagt nicht nur, ihr sollt das Nächstliegende lassen, nämlich eure Selbstliebe. Sondern er sagt im nächsten Abschnitt: Ihr sollt das Fernstliegende tun, nämlich die lieben, die euer Selbst am meisten angreifen. Feindesliebe statt Feindeshass.
Und merken Sie, wie diese zweite Umkehrung die logische Folge der ersten Umkehrung ist. Wer nicht mehr ängstlich um sein Selbst besorgt ist, wer nicht mehr eifersüchtig sein Ego hetzt, der bekommt eine ganz andere Freiheit. Der kann denen viel freier und gelassener begegnen, die an der Politur seines Selbst kratzen wollen.
Wer das Nichtliegende lässt, der hat die besten Voraussetzungen dafür, das Fernstliegende zu tun: Feindesliebe statt Feindeshass.
Darum geht es in den letzten Versen 43 bis 47. Dort wollen wir jetzt nur noch kurz hinsehen, welchen Weg Jesus uns da aufzeigt.
Feindesliebe als Kennzeichen der Kinder Gottes
Ein letztes Mal verweist Jesus auf das Alte Testament. Er sagt in Vers 43: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist, du sollst deinen Nächsten lieben.“ Und merken Sie, dann enden die Anführungszeichen im Text. Denn der zweite Teil des Satzes steht nicht mehr im Alten Testament: „Du sollst deinen Feind hassen.“ Nirgendwo ruft das Alte Testament zum Hass auf persönliche Feinde auf, nirgendwo.
Im Gegenteil, es wird gesagt: Wenn deinem Feind sein Esel wegläuft, dann hilf ihm, den wieder einzufangen. Aber die verbreitete Volksmeinung und die Schriften mancher Theologen sahen das anders. In den Schriften der Essener, die ihr Zentrum in Qumran hatten, steht der Satz: „Sie sollen lieben alle Söhne des Lichts und hassen alle Söhne der Finsternis.“ Liebe deine Freunde, hasse deine Feinde – ganz logisch, ganz einfach.
Aber nicht für die Leute von Jesus, nicht für die, die im Schlepptau von Jesus leben wollen. Für die gilt Vers 44: „Ich aber sage euch, liebt eure Feinde und bittet“, das heißt betet, „für die, die euch verfolgen.“ Wie kann das gehen? Sehen wir genau hin: Jesus sagt nicht, finde deine Feinde sympathisch, das steht hier nicht. Jesus sagt nicht: Reisst euch zusammen und lächelt eure Feinde mal an.
Was heißt lieben? Das heißt nicht, den anderen mögen, weil er so attraktiv oder freundlich ist. Diese Liebe lässt sich erweichen von dem, was der andere braucht. Das ist die Liebe, die Jesus meint. Der Liebende fragt nicht nach sich selbst, sondern er fragt nach dem, was der Geliebte braucht.
Und genau das ist doch die Liebe, mit der Jesus uns geliebt hat. Er ist doch nicht auf die Welt gekommen, weil diese Welt so schön und friedlich war, sondern weil sie so kaputt war. Unsere Welt war doch nicht attraktiv für Jesus, sondern er kam, weil unsere Welt ihn brauchte. Und als er für uns starb, tat er das doch nicht, weil wir so ehrenwerte, heilige Leute gewesen wären, sondern weil wir so verlorene Leute waren. Darum starb er.
Paulus schreibt einmal: „Gott beweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ So sieht Gott die Liebe. Die Liebe gibt nicht zurück, was der andere wert ist – so machen wir es oft. Nein, Gottes Liebe schenkt von sich aus als Vorgabe, was der andere braucht. Die Liebe sucht das Wohl des anderen.
Die Feindesliebe sucht das Wohl des Feindes. Sie lässt den Feind nicht einfach gewähren, aber sie sieht in dem Feind genauso wie in dem Prozessgegner den Menschen, der Gott braucht, den Menschen, der vielleicht gefangen ist in seinem Hass, in seinem Irrtum und in seiner Sünde.
Und Jesus zeigt hier: Feindesliebe ist nicht irgendein gefühlsmäßiger Krampf, sondern das heißt, dass ich praktisch etwas für meinen Feind tue. Und das Wichtigste, was ich für ihn tun kann, steht noch im selben Vers 44: „Liebt eure Feinde und bittet“, das heißt betet, „für die, die euch verfolgen.“ Unsere Gefühle können wir nicht verändern, aber mit dem Beten können wir heute schon anfangen.
Und Jesus sagt, dadurch erweist ihr euch als Kinder Gottes, weil Gott genau das Gleiche getan hat. Er hat die geliebt, die seine Feinde waren. Uns, diese Welt, die sich einen Dreck um ihn scherte, die hat er geliebt. Und Jesus sagt: So sollt ihr eure Feinde lieben und für sie beten.
Zeugnis der Feindesliebe in der Geschichte
Es gibt einen erschütternden Bericht mit dem Titel „Vergib mir, Natascha“. Darin beschreibt ein kommunistischer Jugendführer, wie er als Bandenchef christliche Versammlungen im Untergrund der Sowjetunion brutal aufgelöst hat. Er erzählt sehr genau, wie sie die Christen zusammenschlugen und in Angst und Schrecken versetzten.
Einmal taten sie das wieder. Vor ihm stand eine alte Frau, die vor Angst zitterte, aber betete. Er sagt, als er sah, dass sie betete, brachte ihn das noch mehr in Wut. Plötzlich stand er mit seinem Gummiknüppel vor ihr, bereit, ihn jeden Augenblick auf sie niedergehen zu lassen.
Mehr aus Neugier als aus etwas anderem hörte er für einige Sekunden zu, was sie sagte. Da hörte er, wie sie betete: „O Gott, vergib diesem jungen Mann, zeig ihm den wahren Weg, öffne seine Augen und hilf ihm, vergib ihm, o Gott!“ Er stand immer noch mit dem Gummiknüppel vor ihr.
Er sagt, das habe ihn so gepackt, dass es wie eine Macht gewesen sei, die seinen Arm zurückriss. Er musste aus dem Haus laufen, weinte bitterlich und begann, all das in Frage zu stellen, was er monatelang den Christen angetan hatte.
Schließlich floh er aus der Sowjetunion und fand in Kanada zum lebendigen Glauben an Jesus Christus. Das geschah, weil diese Frau, die zitternd und hilflos vor ihm stand, getan hat, was Jesus in Vers 44 sagt: „Liebt eure Feinde, betet für die, die euch verfolgen.“
Die alte Dame fand diesen kommunistischen Führer bestimmt nicht sympathisch. Sie hatte Angst, vielleicht auch Abscheu. Aber sie betete für ihn und sah seine tiefe Not hinter der brutalen Fassade.
Wer fällt Ihnen ein? Wer macht Ihnen zurzeit das Leben schwer? Das muss ja nicht unbedingt ein Todfeind sein. Feindschaft hat viele verschiedene Grade.
Jesus sagt: Fangen Sie heute an, diesen Menschen zu lieben. Ich weiß, das ist das Fernliegendste, was Sie sich vorstellen können. Aber genau das sollen Sie tun – tun, nicht empfinden oder fühlen, sondern tun.
Jesus sagt: Fangen Sie an, für diesen Menschen zu beten, der Sie so furchtbar ärgert, nervt oder unterdrückt. Beginnen Sie, in ihm den Menschen zu sehen, der Gott braucht.
Der Weg zur Freiheit vom Ich
Warum fällt uns das so schwer, warum machen wir das so selten? Der Grund ist immer derselbe: unser störrisches, mächtiges Ich.
Deswegen lassen wir das Ganze damit abschließen, dass wir fragen: Wie kommen wir los von unserem Ich? Wir versuchen, das Ganze zusammenzufassen und zu fragen: Was sollen wir jetzt damit anfangen?
Jesus sagt: Du sollst das Nächstliegende lassen – Selbstverzicht statt Selbstliebe. Du sollst das Fernliegende tun. Und es fällt uns so schwer, weil unser Ich so stark ist.
Wenn uns einer beleidigt, poltern wir zurück. Wenn uns einer unser Recht nimmt, regen wir uns auf. Wenn einer unsere Zeit beansprucht, machen wir erst mal dicht. Und wenn einer unser Geld will, halten wir es erst mal fest. Wenn uns einer anfeindet, steigt ganz von selbst der Hass in uns hoch.
Wie kommen wir weg davon, wie werden wir frei? Jesus sagt, es gibt nur einen Weg dahin. Er hat den Weg beschrieben in Markus 8,34 – das haben wir vorhin in der Lesung gehört. Dort sagt er: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich.
Sein Kreuz auf sich zu nehmen, heißt nicht einfach, dass jeder sein Päckchen tragen soll. Wer sein Kreuz auf sich nahm, war auf dem Weg zum Sterben. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen.
Das meint Jesus hier: Er sagt, unser dickes Selbst muss sterben. Derjenige nehme sein Kreuz auf sich und verleugne sich selbst. Unser dickes Ich muss durchgestrichen werden. Da gibt es nichts mehr auszubessern oder zu reparieren, damit wir etwas selbstloser und freundlicher werden.
Unser Selbst, sagt Jesus, ist unverbesserlich. Die einzige Möglichkeit, davon loszukommen, liegt darin, dass unser Selbst stirbt.
An kaum einem Menschen können Sie das so gut studieren wie an Paulus. Sehen Sie: Der wusste genau, was er konnte – intellektuell und religiös. Das war ein frommer, kluger, rechtschaffener Mann. Und das ging so lange gut, bis er Jesus begegnete.
Bis Jesus dem Paulus zeigte, wie er wirklich dastand, wie es wirklich im Herzen von Paulus aussah. Da entdeckte Paulus seinen Stolz, seine Selbstgerechtigkeit, seine Selbstvergötterung und seinen schrecklichen, beißenden Hass auf die Christen.
Da begriff Paulus, wie gefangen er war in sich selbst. Und da wurde ihm schlagartig klar: Es gibt nur eine Rettung für mich – du, Jesus. Du musst mir mein altes, verkrümmtes Selbst herausreißen und mir ein neues Selbst schenken.
Du, Jesus, musst selbst in mein Leben hineinkommen und es von innen heraus neu machen. Du musst über mich bestimmen, Jesus, du musst mich führen.
Und wenn mein altes Selbst wieder aufstehen will, wenn meine alte Selbstsucht sich wieder durchsetzen will, wenn sie wieder hochkommt, so wie altes Unkraut immer wieder hochkommt, dann musst du sie bezähmen.
Du musst das stoppen und zum Schweigen bringen in mir.
So konnte Paulus dann schreiben in Galater 2: Ich bin mit Christus gekreuzigt. Das heißt, ich habe mein Kreuz auf mich genommen, mein Ich ist tot.
Und dann fährt er fort: Ich lebe, doch nun nicht ich – nicht das alte Ich, nicht der alte Paulus, nicht der alte selbstsüchtige Musterschüler Paulus. Nein, sagt er, Christus lebt in mir.
Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.
Es ist immer ein Wunder, wenn ein Mensch frei wird von sich selbst. Aber dieses Wunder kann heute Morgen passieren.
Wenn hier jemand ist, der die Selbstherrschaft über sein Leben aufgibt und sie an Jesus abtritt, dann sage ich ihm: Herr, ich bin erschrocken über mein störrisches Ich. Ich bekenne dir, dass ich selbstsüchtig und selbstverliebt bin.
Aber ich bin bereit, dieses mächtige Ich aufzugeben. Bestimme du über mein Leben, über meine Motive, über meine Gedanken. Mach mich frei von mir selbst.
Wer das wagt, wer diese Veränderung riskiert, wird keine Marionette, sondern eine farbige Persönlichkeit. Er wird nicht schwach, sondern stark.
Beispiel Georg Müller: Leben aus dem Verzicht des Ich
Und so schließlich mit der Schlüsselstelle im Leben von Georg Müller. Er war ein starker Mann, der im neunzehnten Jahrhundert in Bristol ein berühmtes Waisenhaus aufgebaut hat. Darüber hinaus hat er viele andere Menschen geprägt.
Wie wurde Georg Müller zu dieser Persönlichkeit? Wo lag das Geheimnis seines Lebens? Müller gab darauf gegen Ende seines Lebens eine Antwort. Er sagte: „Es kam ein Tag in meinem Leben, an dem ich starb. Ich starb dem eigenen Ich des Georg Müller, meinen Meinungen, meinen Vorzügen, meinem Willen. Ich starb auch dem Lob und den Beschuldigungen anderer Menschen. Ja, ich starb sogar dem Lob oder Tadel meiner Brüder und Freunde. Seitdem versuche ich nichts anderes, als Gott zu gefallen.“
Das bedeutete nicht, dass Georg Müller die Sache ein für alle Mal im Griff hatte – keineswegs. Das alte Ich kam auch bei ihm immer wieder hoch. Aber die Grundentscheidung seines Lebens war gefallen: Er hatte sein Selbst in den Tod gegeben. Das war seine Grundentscheidung.
Und welche Grundentscheidung treffen Sie? Amen.