Ich möchte Sie alle ganz herzlich zu diesem Bibelstudientag begrüßen und Ihnen einen wunderbaren Tag wünschen.
Beim letzten Mal haben wir das Thema „Die dramatische Geschichte der hebräischen Sprache“ behandelt. Heute betrachten wir als Pendant dazu die Geschichte der griechischen Sprache.
Die schriftliche Offenbarung Gottes im Neuen Testament wurde der Menschheit in griechischer Sprache übermittelt. Das Alte Testament hingegen wurde, wie wir gesehen haben, in Hebräisch verfasst. Einige wenige Kapitel davon, etwa in Daniel und Esra, sowie ein Vers in Jeremia, sind in Aramäisch geschrieben.
Nun stellt sich die Frage: Weshalb hat der Ewige im Neuen Testament ausgerechnet Griechisch als Sprache gewählt? Was ist das Besondere an dieser Sprache?
Zunächst eine Sprachprobe, damit wir auch wissen, womit wir es zu tun haben. Auf dem Blatt ist Hebräer 1,1-4 in griechischer Sprache abgebildet. Es klingt etwa so, in der üblichen Schulaussprache:
Polymeros kai polytropos palai hoteos lalesas tois Patrisin en tois prophetais, ep eschaton hēmeron touton elalesen hēmin en hūi, hon eteken kleronomon pantōn, di hou kai tous aionas et poiesen, hōn aphtharsian tēs doxēs kai charakter tou hypostaseōs autou pheron, tappianta tō̱rēmati tou dynamis autou, hautō̱ katartismō̱ poiesamenos tōn hamartiōn hēmōn, ekathisen en dexia tēs megalēs dunameōs en hypselois, tosouto kreitton genomenos tōn angelōn, hos diaphorōtēron para autous keklerōnomenos onoma.
So etwa klingt das.
Ursprung und Bedeutung der griechischen Sprache im Neuen Testament
Warum hat Gott ausgerechnet diese Sprache für das Neue Testament benutzt? Zunächst gehen wir der Frage nach, woher eigentlich die Griechen und damit ihre Sprache, das Griechische, kommen. Das führt uns zurück in die Zeit nach der Sintflut.
In 1. Mose 10 findet sich die sogenannte Völkertafel. Dort sind die Nachkommen Noachs – Sem, Ham und Japheth – sowie ihre Nachkommen verzeichnet. Insgesamt finden sich in diesem Kapitel siebzig Namen. Daraus lässt sich die gesamte Weltbevölkerung herleiten.
Übrigens stellt sich dabei die Frage: Wenn wir die Sintflut grob vor fünftausend Jahren ansetzen, wie kann man von acht Personen auf über sechs Milliarden Menschen kommen – innerhalb von etwa fünftausend Jahren? Das ist eine gute Frage, oder?
Nun, acht Personen – Noah, seine Frau, Sem, Ham und Japheth sowie ihre Frauen – das ergibt acht Personen. In der Mathematik gibt es Formeln für das Bevölkerungswachstum, mit denen man das berechnen kann. Wenn man von einem Bevölkerungswachstum ausgeht, das deutlich niedriger ist als das heutige, dann ist das trotzdem möglich.
Das Zwanzigste Jahrhundert hat zwei Weltkriege erlebt. Im Zweiten Weltkrieg allein wurden 50 Millionen Menschen getötet. In zahlreichen Konflikten seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute sind nochmals etwa 50 Millionen Menschen ums Leben gekommen. Es gab schreckliche Seuchen wie Aids, die Millionen von Menschen forderten. Zum Beispiel am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts die Spanische Grippe 1918 mit 19 bis 20 Millionen Toten.
Heute werden weltweit jährlich etwa 50 Millionen Kinder abgetrieben. Trotz all dieser Tatsachen kann man also mit einem niedrigeren Bevölkerungswachstum problemlos von acht Personen auf über sechs Milliarden Menschen kommen. Das funktioniert.
Ein Problem haben diejenigen, die glauben, dass der Mensch viel älter sei und seinen Ursprung vielleicht vor drei Millionen Jahren habe. Denn sie müssen erklären, warum es heute nur sechs Milliarden Menschen gibt. Außerdem müssen sie erklären, wo die vielen unzähligen prähistorischen Gräber geblieben sind. Diese Gräberfelder wurden nämlich nie gefunden – ein großes Problem.
Die Herkunft der Griechen und die biblische Völkertafel
Also gut, wir folgen der Völkertafel. Dort sehen wir unter den Söhnen Japhets, in 1. Mose 10,2, eine Aufzählung: Gomer, Magog, Madei, Javan, Tubal, Meser und Tiras.
Von Javan her leiten sich die Griechen ab. Später in der Bibel wird das Wort Javan für Griechenland verwendet. Ich habe hier einige Bibelstellen aufgeführt, zum Beispiel Daniel 8,21 und 10,11. In diesen Stellen bedeutet Javan immer Griechenland. Die Griechen gehen also auf ihren Stammvater Javan zurück, Sohn von Japheth.
Nebenbei gesagt: Gomer ist der Stammvater der Kelten und Germanen. Das könnte für die Helvetier noch interessant sein, um zu wissen, wo man sich einordnen kann. Javan steht für Griechenland. Darum ist im Hebräischen das Wort Javanit auch heute noch im modernen Hebräisch die Bezeichnung für „Griechisch“. Javanit heißt also „griechisch“.
Nach dem Turmbau zu Babel fand die Auswanderung der Javaniter nach Europa beziehungsweise Griechenland statt. In 1. Mose 10,5 heißt es: „Von diesen aus verteilten sich die Bewohner der Inseln der Nationen in ihren Ländern, jede nach ihrer Sprache, nach ihren Familien, in ihren Nationen.“
Das hebräische Wort, das hier mit „Inseln der Nationen“ übersetzt ist, lautet „Ijin“. Im Hebräischen bezeichnet dieses Wort nicht irgendwelche Inseln, sondern insbesondere die Inseln und Küstengebiete des Mittelmeers. Dort ist Javan also ausgewandert – ins heutige Griechenland beziehungsweise zu seinen Nachkommen.
Die historische Bedeutung Griechenlands in der Weltgeschichte
Wenn wir die biblische Geschichte weiterverfolgen, erhält Griechenland zu einem späteren Zeitpunkt eine ganz besondere Bedeutung. In Daniel 2, geschrieben während der babylonischen Gefangenschaft der Juden im sechsten Jahrhundert vor Christus, finden wir Prophezeiungen über vier Weltreiche. Diese Prophezeiungen haben sich später in der Weltgeschichte genau erfüllt.
Zuerst wird das Weltreich Babylon erwähnt, das von 608 bis 538 vor Christus bestand – exakt siebzig Jahre. Dieses Reich wurde durch die Perser besiegt, die daraufhin zur Weltmacht aufstiegen. Ihr Reich erstreckte sich von Indien bis nach Äthiopien.
Später kam das griechische Weltreich an die Macht. Dieses Reich wurde wiederum durch die römische Weltmacht abgelöst. In der Vision des Standbildes in Daniel 2 symbolisiert der Kopf aus Gold das Babylonische Reich. Brust und Arme aus Silber stehen für das Persische Reich, und Bauch und Hüfte aus Bronze repräsentieren das Griechische Reich.
In Daniel 7 werden diese vier Reiche durch vier Tiere dargestellt. Das dritte Reich ist ein Leopard mit vier Köpfen. Dieses Tier steht für das Griechische Reich, das von Alexander dem Großen gegründet wurde. Der Leopard ist das schnellste der vier Tiere. Alexander der Große konnte innerhalb von etwas mehr als zehn Jahren die gesamte Welt von Indien bis nach Griechenland unter seine Herrschaft bringen – ein außergewöhnliches Ereignis in der Weltgeschichte.
Dieser Feldzug war eine Art Rachefeldzug gegen die Perser, wie es in Daniel 11,3-4 beschrieben wird. Dort wird Alexander ausdrücklich prophezeit. Er lebte von 334 bis 323 v. Chr. Alexander starb im Alter von etwa 30 Jahren an Malaria in der Stadt Babylon. Interessanterweise wollte er dort den Turm von Babel wieder aufbauen. Ein ähnliches Projekt hatte Saddam Hussein einige Jahrhunderte später ins Auge gefasst.
Griechisch als Weltsprache und die Übersetzung der Bibel
Durch die Eroberung der damals bekannten Welt wurde Griechisch zur Weltsprache erhoben. Griechisch war somit das Englisch jener Zeit.
Um 280 v. Chr. wurde das Alte Testament in Alexandria, Ägypten, das ebenfalls unter griechischer Herrschaft stand und stark von der griechischen Kultur geprägt war, ins Griechische übersetzt. Diese Übersetzung ist die älteste Bibelübersetzung, die es gibt.
Das war eine revolutionäre Entwicklung, denn im dritten Jahrhundert vor Christus wurde das Alte Testament zum ersten Mal vollständig für Nichtjuden zugänglich gemacht.
Zur Zeit des Römischen Reiches, das um 30 v. Chr. in der Schlacht von Actium die letzten Reste des Alexanderreiches beseitigte, blieb Griechisch als Weltsprache erhalten. Lateinisch wurde nie zur Weltsprache.
Griechisch war die Weltsprache rund um das Mittelmeer, außer in Spanien. Überall in Nordafrika, im europäischen Teil und im Mittleren Osten konnte man sich mit Griechisch verständigen. Nur in Spanien war Lateinisch die vorherrschende Sprache.
Das Römische Reich übernahm und integrierte die griechische Kultur weitgehend – dazu gehörte auch die griechische Sprache.
Dreisprachigkeit in Israel zur Zeit Jesu
Dies hat dazu geführt, dass in Israel zur Zeit des ersten Jahrhunderts nach Christus hauptsächlich drei Sprachen verwendet wurden: Hebräisch, Aramäisch und eben auch Griechisch.
Übrigens waren Hebräisch und Aramäisch beide noch lebendige Sprachen. Sie wurden je nach Gegend unterschiedlich gebraucht. Zum Beispiel musste man in Jerusalem Hebräisch können, denn dort reichte Aramäisch nicht aus. In anderen Gegenden, wie etwa in Galiläa, war Aramäisch hingegen verbreiteter.
Griechisch war durch die Besatzungsmacht Rom die Verkehrssprache. Das zeigt sich auch an den Handschriftenfunden in Qumran. Diese Handschriften stammen von einer Sekte, die um die Zeitenwende am Toten Meer existierte. Dort wurden Texte auf Hebräisch, Aramäisch und auch Griechisch gefunden. Das zeigt, wie man mit diesen drei Sprachen umgehen konnte.
Es ist außerdem davon auszugehen, dass auch einfachere Bevölkerungsschichten in Israel damals Griechisch verstanden und sich auf Griechisch verständigen konnten. Eine Dreisprachigkeit war also weit verbreitet.
Das Neue Testament wurde in der Zeit nach Pfingsten, etwa ab 32 nach Christus, bis etwa 100 nach Christus verfasst. Die letzten Schriften stammen vom Apostel Johannes, dem greisen Apostel. Er schrieb sie zwischen 95 und 100 nach Christus, kurz vor seinem Tod. Alle Schriften des Neuen Testaments wurden jedoch auf Griechisch abgefasst.
Damit wird uns deutlich: Griechisch war damals die Weltsprache. Die Wahl dieser Sprache war bereits ein Programm. Diese Botschaft sollte allen Völkern zugänglich gemacht werden – nicht nur einem Volk, Israel, sondern allen Völkern. Darum wurde Griechisch als Sprache gewählt.
Die Entwicklung der griechischen Sprache im Überblick
Jetzt gehen wir etwas detaillierter durch die Sprachgeschichte hindurch. Man kann das Griechische heute über einen Zeitraum von circa 3.400 Jahren verfolgen, denn die ältesten schriftlichen Überlieferungen stammen aus der Zeit von etwa 1400 vor Christus.
Beim Griechischen handelt es sich, im Gegensatz zu vielen anderen Sprachen, um eine sehr konservative Sprache. Konservativ bedeutet hier, dass die Sprache nicht sehr schnell Formen verloren hat und somit sehr beständig war.
Weltweit lässt sich bei allen Sprachen feststellen, dass sie im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende ihren Formenreichtum ständig verlieren. Ein Beispiel dafür ist das Französische, das vom Lateinischen abstammt. Im Lateinischen gibt es für ein Verb etwa 170 Formen, im Französischen sind es noch etwa 40 Formen. So sind zum Beispiel sämtliche Passivformen verloren gegangen.
Dieser Verlust wird durch Umschreibungen ausgeglichen, etwa mit Hilfsverben wie "haben" und "sein" (avoir und être). Das ist ein Ausgleich für die verlorenen Formen und lässt sich überall in allen Sprachen beobachten.
Das Griechische war besonders konservativ, wie wir noch deutlicher sehen werden. Dennoch blieb auch diese Sprache vom Zerfallsgesetz nicht verschont.
Perioden der griechischen Sprache
Nun kann man folgende Perioden der griechischen Sprache unterscheiden:
A) Die älteste Periode nennt man mykenisches Griechisch. Diese reicht etwa von 1400 bis 1200 vor Christus. Überliefert ist diese Sprachstufe durch Tontäfelchen, die in einer Silbenschrift verfasst sind.
B) Eine neue Periode ist das sogenannte Altgriechisch. Dieses ist uns in der bekannten altgriechischen Schrift überliefert, wie wir ein Beispiel auf der vordersten Seite sehen. Diese Periode umfasst ungefähr die Zeit von 800 vor Christus bis 550 nach Christus.
Das Altgriechisch lässt sich in verschiedene Dialekte unterteilen. Die wichtigsten sind vier: der dorische Dialekt, der ionische, der äolische und der attische Dialekt.
Diese Periode des Altgriechischen wird wiederum in drei Zeitabschnitte eingeteilt. Man spricht von der vorklassischen Zeit, dem vorklassischen Griechisch, das etwa von 800 bis 450 vor Christus reicht. Danach folgt das klassische Griechisch, die Sprache der berühmten griechischen Philosophen und Denker, etwa von 450 bis 300 vor Christus. Dazu gehören das Griechisch von Platon und Aristoteles.
Bis 300 vor Christus dauert diese Zeit, die auch die Zeit Alexanders des Großen umfasst.
Nun folgt eine neue Periode, die Periode der Koine, des Koine-Griechisch. Koine bedeutet „die Allgemeine“; es ist eine Abkürzung für „Hē koinē dialektos“, die griechische Gemeinsprache.
Durch die Eroberung der Welt bis nach Indien durch Alexander den Großen wurden all diese verschiedenen Dialekte durch den Gebrauch von Ausländern, die diese Sprachen begannen zu sprechen, zu einem neuen Dialekt zusammengeschmolzen.
Es ist so, dass wenn Ausländer eine Sprache benutzen, dies oft dazu führt, dass die Sprache vereinfacht wird. Das ist nicht ganz ungefährlich. Wenn heute so viele Menschen Englisch sprechen, hat das einen starken Einfluss auf die Entwicklung des Englischen. Aber man kann nicht alles den Ausländern zuschreiben.
Das älteste Englisch, das man kennt, stammt von vor etwa tausend Jahren. Damals gab es noch verschiedene Fälle. So hieß der Stein nicht einfach „the stone“ und im Plural „stones“, sondern man musste noch verschiedene Formen deklinieren: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Einzahl und Mehrzahl.
Diese Formen sind größtenteils weggefallen. Das liegt nicht an den Ausländern, sondern daran, dass die Engländer selbst die Sprache durch Gebrauch und Vereinfachung verändert haben.
Durch den Gebrauch und eine gewisse Faulheit wird in jeder Sprache ständig abgeschliffen. Ausländer haben jedoch einen besonderen Einfluss darauf.
So war es auch mit dem Griechischen: Es wurde durch den weltweiten Gebrauch abgeschliffen, und die Besonderheiten der Dialekte gingen mehr und mehr verloren. Es entstand ein Dialekt, der quasi von Griechenland, also von Europa, bis nach Zentralasien gesprochen wurde – eben die Koine.
Diese Periode reicht von etwa 300 vor Christus, nach der Eroberung Alexanders des Großen, bis zu einem Stichdatum, das man auf 565 nach Christus setzt. Das war der Tod Justinians, des Kaisers Justinian.
Danach beginnt eine neue Periode, das Mittelgriechisch. Im Gegensatz zum Altgriechisch reicht das Mittelgriechisch etwa von 565 nach Christus bis 1453 nach Christus.
1453 ist ein ganz wichtiges Datum, denn das war der Fall Konstantinopels und damit der Fall des Oströmischen Reiches.
Die Vorfahren der meisten hier Anwesenden haben ja das römische Westreich bereits im fünften Jahrhundert zerstört. Das war die Zeit, als die wilden Horden aus dem Norden kamen und das römische Reich zersetzten und zerstörten.
Das Ostreich konnte jedoch noch länger gehalten werden, bis 1453. In diesem Jahr zerstörten die Türken alles.
Von dort an rechnet man das Neugriechische. Das heißt also, etwa von 1453 bis heute, also 2003, spricht man in Griechenland Neugriechisch.
Das griechische Verbalsystem und seine Besonderheiten
Jetzt wollen wir etwas auf das griechische Verbalsystem eingehen und wie es aufgebaut ist.
Das griechische Flexionssystem – ich erkläre kurz das Wort: In den europäischen Sprachen kann man Wörter verändern, zum Beispiel „ich gehe“, „du gehst“. Alles geht zurück auf die Grundform „gehen“. Diese Veränderung nennt man Flexion oder Beugung. Man beugt also das Wort.
Das griechische Flexionssystem, das Wörter verändert, stellt in seiner ältesten Form das komplexeste System unter den europäischen Sprachen dar. Keine europäische Sprache ist so reich an Formen wie gerade das Griechische. Diese Sprache hat Gott für das Neue Testament gewählt, daher nicht Schweizerdeutsch. Jetzt ist das klar.
Es gibt ja noch andere europäische Sprachen, die sehr formenreich sind, zum Beispiel das Russische. Auch islamische Sprachen sind sehr konservativ. Im Russischen gibt es heute noch sechs Fälle für das Hauptwort und viele Formen für das Verb. Dennoch erreicht es nicht den Reichtum des Altgriechischen.
Das altgriechische Verbalsystem hatte etwa 450 bis 500 synthetische Flexionsformen für ein Verb. Ich schreibe „450 beziehungsweise 500“, weil es darauf ankommt, wie man zählt. Es gibt nämlich gleichlautende Formen, zum Beispiel Passivformen, die gleichlautend sind mit Mediumformen im Präsens. Je nachdem, ob man diese mitzählt oder nicht, kommt man auf unterschiedliche Zahlen. Aber sagen wir mal 450 Formen – das ist nicht schlecht, oder?
Es gibt einen deutlichen Unterschied zum Lateinischen mit 170 Formen, einen noch deutlicheren Unterschied zum Modernfranzösischen mit 40 Formen und auch einen sehr krassen Unterschied zum Schweizerdeutschen mit etwas mehr als 20 Formen. Das Hochdeutsche hat noch ein paar mehr, in der Größenordnung von 30 Formen. Der Rest wird alles mit Umschreibungen gebildet, zum Beispiel mit „haben“ und „sein“.
Grundstruktur des griechischen Verbs
Jetzt möchte ich ganz kurz beschreiben, wie das beim griechischen Verb aussieht.
Das griechische Verb besitzt drei Personen, wie im Deutschen, nämlich ich, du, er. So können wir das Verb verändern: Ich gehe, du gehst, er geht. Dann gibt es den Plural, also die Mehrzahl: Wir gehen, ihr geht, sie gehen. Es sind also drei Personen in der Einzahl und drei Personen in der Mehrzahl. Das ist im Griechischen genauso.
Zusätzlich hat das griechische Verb drei Numeri. Das bedeutet Singular, also Einzahl, was wir im Deutschen auch haben: Ich gehe, du gehst, er geht. Plural haben wir ebenfalls: Wir gehen, ihr geht, sie gehen. Das Altgriechische hatte aber noch einen Dual, eine spezielle Form für zwei Personen. Diese Form wurde verwendet, wenn zwei etwas tun, also eine Doppelperson.
Diese Dualform findet sich im Altgriechischen, also im Vorklassischen und Klassischen Griechisch. In der Koine, der Sprache des Neuen Testaments, geht diese Form jedoch verloren. Das heißt, im Neuen Testament findet man diese Dualform nicht mehr.
Wie gesagt, das neotestamentliche Griechisch ist also eine leichte Vereinfachung gegenüber dem Griechischen der Philosophen, aber nur eine leichte. Das muss man betonen.
Modi, Tempora und weitere Formen
Es gibt ferner vier Modi. Das ergibt sich gleich, was mit den Modi gemeint ist.
Der Indikativ ist die Wirklichkeitsform: ich gehe, du gehst, er geht – das ist Indikativ.
Der Konjunktiv ist die Möglichkeitsform, zum Beispiel: ich ginge, wenn du … Also Konjunktivformen drücken Möglichkeiten aus.
Dann gibt es etwas, das wir überhaupt nicht kennen: Optativformen. Der Optativ ist eine spezielle Wunschform. Dabei ändert sich das Verb. Es wird also nicht mit Wörtern wie „mögen“ oder „würdest“ umschrieben, sondern es sind eigene Verbformen in einem Wort.
Optativ und Imperativ sind Befehlsformen. Den Imperativ haben wir auch im Deutschen.
Es gibt sieben Tempora, also Zeitformen. Zum Beispiel Imperfekt. Das haben wir auch im Deutschen: ich ging, du gingst, hier ging ja.
Das Plusquamperfekt gibt es ebenfalls im Deutschen, aber aufgepasst: nur mit Umschreibung, zum Beispiel „ich war gegangen“. Man nimmt das Wort „war“ von „sein“ und dazu ein Partizip. Im Altgriechischen gab es spezielle Formen für das Plusquamperfekt.
Übrigens habe ich gesagt, dass es im Deutschen ein Imperfekt gibt, aber im Schweizerdeutschen nicht. Wenn wir von der Vergangenheit sprechen, brauchen wir auf Schweizerdeutsch immer das Perfekt. Zum Beispiel „ich begange“.
Noch im 19. Jahrhundert gab es im Schweizerdeutschen ein Imperfekt. In Bödel, Deutsch bei Interlaken, sagte man „I was“ – fast wie im Englischen „I was“ – oder „Er ging fort“.
Das gab es noch, aber inzwischen ist das im Schweizerdeutschen völlig verschwunden. Es gibt es nur noch, wenn Leute aus Deutschland versuchen, Schweizerdeutsch zu sprechen. Dann klingt das schwer. Ja, das gibt es eben nicht mehr.
Im Hochdeutschen gibt es das Imperfekt noch. Ein Parallelbeispiel ist Afrikaans, die holländische Sprache aus Südafrika. Afrikaans hat im Unterschied zum Niederländischen ebenfalls kein Imperfekt mehr. Das gleiche Phänomen wie im Schweizerdeutschen: Die Imperfektformen sind verloren gegangen, obwohl es sie früher gab.
Dann haben wir das Perfekt. Auch im Deutschen und Schweizerdeutschen gibt es das, aber alles mit Umschreibung: „Ich begann“, „ich bin gegangen“. Das wird mit „haben“ und „sein“ gebildet. Im Griechischen gibt es spezielle Formen für das Perfekt.
Es gibt außerdem den Aorist, den kennen wir überhaupt nicht auf Deutsch oder Schweizerdeutsch.
Weiter gibt es die Form des Präsens, im Deutschen die Gegenwart, die wir auch auf Schweizerdeutsch und Hochdeutsch haben.
Dann gibt es Futur I, zum Beispiel „ich werde gehen“, „du wirst gehen“ – die Zukunftsform. Aber hier gibt es keine eigenen Formen mehr, sondern es wird umschrieben, nämlich mit „werden“ plus Infinitiv.
Auf Griechisch gibt es spezielle Verbformen für das Futur I und ebenso für das Futur II. Das ist die vollendete Zukunft: „Ich werde gegangen sein“. Im Hochdeutschen kann man das umschreiben, aber im Altgriechischen gab es feste Formen.
Übrigens wird das Futur im Schweizerdeutschen fast nicht gebraucht, nicht einmal die Umschreibung. Meist wird einfach das Präsens für die Zukunft verwendet: „Ich gange morgen uf Zürich“. Niemand sagt „Ich werde morgen uf Zürich gah“. Das klingt komisch und man merkt, dass die Person die Sprache später gelernt hat und nicht als Kind.
Zu all diesem Formenreichtum könnte man sich fragen: Warum haben die Schweizer, wenn sie schon das Imperfekt verloren haben, nicht in der Zwischenzeit einen Aorist erfunden? Wir sind doch innovativ und kreativ! Warum erfindet niemand einen Aorist?
Wir leben doch in einer Zeit großer technischer und zivilisatorischer Leistungen und Entwicklungen. Warum hat man keinen Aorist erfunden?
Aber warum verlieren wir nur Formen? Wer hat die Formen eigentlich erfunden?
Man sagt, früher die Urmenschen. Wie haben die das gemacht? Neue Formen eingeführt am Lagerfeuer vor der Höhle?
Das, was moderne Menschen, moderne Schweizer und Deutsche nicht können, sollen primitive Vormenschen sehr wohl gekonnt haben.
Und bitte: Wie sollen sie dann das Griechische mit 450 Formen frisiert haben? Das ist tatsächlich eine gute Frage.
Das hat man uns in der Schule nie erklärt, als wir Latein hatten. Warum hat das Lateinische viel mehr Formen als das Französische?
Die Römer hatten eine hohe Kultur, aber sie hatten das auch nicht erfunden. Woher hatten sie das? Man muss immer weiter zurückgehen.
Soweit man vom Lateinischen weiß, was schriftlich überliefert ist, sieht man nicht, dass plötzlich neue Formen erfunden wurden. Sie sind einfach da.
Im Laufe der späteren Sprachgeschichte geht vieles verloren. Das ist das Schlimme für Lateinschüler. Für das Nomen müssen sie sechs Fälle lernen, Einzahl und Mehrzahl.
Zum Beispiel „fenestra, fenestrae“ – das Fenster, des Fensters und so weiter. Sechs Formen, also zwölf Formen.
In den späteren Sprachen, die davon abstammen, wie Französisch, Italienisch, Spanisch und so weiter, ist das alles verloren gegangen.
Man sagt nur noch „amico“ und „amici“. „Amico“ ist noch der Dativ aus dem Lateinischen. Aber „amicus“, „amici“, der Freund, des Freundes, „amico“ dem Freund, „amicum“ den Freund, „amice“ – alles ist weggefallen.
Also das sollen die Urmenschen geschafft haben.
Sprachentwicklung und Ursprung der Sprachen
Übrigens, so nebenbei: Eine der ältesten Sprachen ist Babylonisch, genauer gesagt das Akkadische. Ich habe einmal Altbabylonisch gelernt. Diese Sprache stammt ungefähr aus dem Jahr 2500 vor Christus, also kurz nach der Sintflut.
Für ein Verb musste ich damals gegen tausend Formen lernen. Woher kommt das? Das muss also aus der Steinzeit stammen. Aber wie haben die Menschen das geschafft, was wir heute kaum noch bewältigen können?
Das Babylonische lässt sich übrigens durch Dokumente über etwa 2600 Jahre verfolgen, nämlich bis ins erste Jahrhundert nach Christus. Man sieht dabei, wie im Lauf der Jahrhunderte die Formen allmählich verloren gehen. Zum Beispiel in der Zeit von Nebukadnezar gerieten die Formen der Nomina mit den Fällen völlig durcheinander, und schließlich brach das System ganz zusammen.
Daran erkennt man letztlich, dass die Vorstellung, der Mensch hätte die Sprache selbst geschaffen und entwickelt, an diesen Tatsachen vollständig scheitert.
Etwa im Mai wird dazu ein Buch erscheinen, das ich geschrieben habe: Ursprung und Entwicklung der Sprachen bei Wort und Wissen. Darin wird sehr eindrücklich gezeigt, dass der Mensch unmöglich die Sprache erfunden hat.
Die Bibel lehrt uns in 1. Mose 11, dass nach der Sintflut die Urgesellschaft nur eine Sprache hatte. Durch die Sprachenverwirrung gab Gott den verschiedenen Ursippen verschiedene Sprachen. So ist Gott der Urheber der Sprachen und nicht der Mensch.
Wer hat zum Beispiel den Japanern das wunderbare Griechisch gegeben? Das war Gott. Ebenso bei allen anderen Sprachen ist Gott der Urheber.
Diese Erkenntnis hat ganz bedeutende Konsequenzen: Wenn wir verstehen, dass es eigentlich gar keine menschlichen Sprachen sind, die wir sprechen, sondern dass menschliche Sprachen eigentlich Gottessprachen sind, dann verändert das unser Verständnis grundlegend.
Auf diesen Punkt werden wir noch zurückkommen.
Weitere Besonderheiten des griechischen Verbsystems
Das war nur ein Exkurs, weil wir immer noch beim griechischen Verb sind. Es gibt sieben Tempora und jetzt kommen drei Diathesen: Aktiv, Passiv und Medium.
Aktiv ist zum Beispiel „ich gehe“. Passiv heißt „ich bin gegangen worden“, oder? Also das Passiv: „Ich werde gerügt“. Das ist das Passiv von „rügen“. Aber merken wir, dass wir dafür keine eigene Form haben. Wir müssen es wieder mit „werden“ und einem Partizip umschreiben.
Im Altgriechischen gibt es dafür eigene Formen: Aktiv, Passiv und zusätzlich noch Medium. Das können wir im Deutschen überhaupt nicht direkt ausdrücken. Es gibt also eigene Mediumformen, die oft ausdrücken, dass die Handlung an sich selbst geschieht.
Zum Beispiel: „Lyo“ heißt „ich löse“, „Lyomai“ heißt „ich löse mich“. Ein besseres Beispiel: „Luo“ heißt „ich wasche“, „Lyomai“ – sehr wichtig am Morgen – heißt „ich wasche mich selbst“, also „ich wasche mich“. Das sind die Mediumformen.
Manchmal können diese auch ausdrücken, dass eine Handlung im eigenen Interesse geschieht. Das heißt, man beschreibt nicht nur die Handlung, sondern auch, dass man sie zu seinem eigenen Vorteil tut. Das kann ebenfalls mit einem Medium ausgedrückt werden.
Dann gibt es vier Infinitive. Im Deutschen haben wir nur einen, zum Beispiel „gehen“. Im Griechischen gibt es einen Infinitiv Aorist, Perfekt, Präsens und Futur. Das ist schon recht fremd.
Hinzu kommen noch vier Partizipien. Im Deutschen haben wir zwei: „gehend“ (Partizip Präsens) und „gegangen“ (Partizip Perfekt). Im Griechischen gibt es Aorist, Perfekt, Präsens und Futur, und selbstverständlich mit drei Diathesen: Aktiv, Passiv und Medium.
Alle diese Partizipien können selbstverständlich wieder dekliniert werden, also in den Formen Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ.
Sprachentwicklung und Vergleich mit anderen indogermanischen Sprachen
Im Verlauf der Sprachgeschichte ging immer mehr von diesem einstigen Reichtum verloren. Dies geschah trotz der Tatsache, dass das Griechische im Vergleich mit den meisten indogermanischen Sprachen erstaunlich beständig und konservativ war.
Indogermanische Sprachen sind Sprachen, die miteinander verwandt sind. Sie finden sich hauptsächlich in Europa, reichen aber bis nach Indien. Beispiele hierfür sind das heutige Hindi in Indien oder das alte Sanskrit. Diese Sprachen sind verwandt mit unseren europäischen Sprachen.
Aus diesem Grund spricht man bei dieser großen Verwandtschaftsgruppe von den indogermanischen Sprachen. Das Griechische nahm innerhalb dieser Gruppe eine besondere Stellung ein, da es im Vergleich zu den meisten anderen indogermanischen Sprachen eine bemerkenswerte Beständigkeit und Konservativität bewahrte.
Pause
Ja, es ist Zeit für eine Pause. Eine Viertelstunde Pause.
Vor der Pause haben wir gesehen, dass das Griechische eine besonders konservative Sprache war. Es hat also nicht so schnell Formen verloren wie andere Sprachen, aber es hat sie dennoch verloren.
Nun machen wir einen kleinen Vergleich: Altgriechisch im Vergleich mit der modernen Sprachstufe.
Sprachwandel vom Altgriechischen zum Neugriechischen
Man stellt Folgendes fest, wenn man das Altgriechische mit dem heutigen, in Griechenland gesprochenen Griechisch vergleicht: Der Reichtum an Partizipien wurde reduziert, und der Optativ, also diese spezielle Wunschform, wurde vollständig aufgegeben.
Im Neuen Testament kommt diese Form noch etwa siebzig Mal vor, ist also bereits im Koine-Griechisch deutlich rückläufig. Die Formen des alten Perfekts und des alten Futurums gingen verloren. Im Neuen Testament finden wir jedoch immer noch das Perfekt und das Futur I; das Futur II ist nicht mehr üblich.
Um diesen Verlust teilweise wieder auszugleichen, entstanden Neubildungen durch Umschreibungen. Ähnlich wie im Deutschen, Französischen oder Italienischen kann man durch Umschreibungen etwas ausdrücken, was früher durch einzelne Formen klargemacht wurde. Beispielsweise beim Futur, Optativ oder Konjunktiv, oder beim Perfekt durch das Hilfsverb echo (haben) zusammen mit Partizip oder Infinitiv.
So konnte man durch Umschreibungen den Verlust in der modernen Sprache zumindest teilweise wettmachen. Auch im Bereich des Nomens, also bei den Hauptwörtern, gab es keine Evolution im Sinne von neuen Fällen. Auffällig ist jedoch das völlige Verschwinden der Dativformen im Neugriechischen.
Aussprache und Schulaussprache des Altgriechischen
Es ist vielleicht noch Folgendes zu sagen: Ich hatte ja ganz am Anfang eine Sprachprobe gegeben, akustisch. Dabei ist zu erwähnen, wie ich bereits erklärt habe, dass es sich um eine sogenannte Schulaussprache handelt.
Das bedeutet, wir wissen ganz genau, dass die alten Griechen nie so gesprochen haben. Aber wie genau sie gesprochen haben, wissen wir nicht, weil wir keine Tonbandaufnahmen haben. Das ist ja dasselbe beim Lateinischen. Wir wissen nicht, wie Latein geklungen hat, wenn Cicero eine Rede gehalten und am Schluss vor dem Senat gesagt hat: „Carthago delenda est“. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass Carthago zu zerstören sei. Aber das wissen wir nicht. Es gibt also auch dort einfach eine Schulaussprache.
So hat man sich auch beim Griechischen beholfen. Für akademische Zwecke spricht man das Griechische so aus, wie ich es getan habe. Jemand, der modernes Griechisch spricht, ist natürlich schockiert, denn das moderne Griechisch wird völlig anders ausgesprochen. Aber auch das hat sich garantiert im Vergleich zum Altgriechischen massiv verändert.
Viele Laute, die früher unterschiedlich ausgesprochen wurden, werden im modernen Griechisch heute gleich ausgesprochen. Zum Beispiel wird „oi“ auch als „i“ ausgesprochen, und wenn „i“ steht, sagt man ebenfalls „i“. So gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie man unterschiedlich schreiben kann, aber in der Aussprache ist es heute genau gleich. Das ist eine spätere Sprachentwicklung.
Wenn man nochmals Seite 1 anschaut, sieht man diese Sprachprobe. Heute nimmt man die Akzente als Betonungszeichen wahr, da fast jedes Wort einen Akzent hat. Darum habe ich „Polymeros“ gelesen, nicht „Polymeros“, auch nicht „Polymeros“, sondern „Polymeros“ mit einem Zirkumflex darauf. Ebenso bei „Kai“, „Polytropos“.
Aber auch da weiß man, dass das ursprünglich keine Akzentzeichen waren, sondern Tonzeichen. Der Zirkumflex zeigte an, dass der Ton erst anstieg und dann wieder abfiel. So bei „Polymeros“, „Kai“, „Polytropos“, „Palai“, „Hotios“, „Lalesas“, „Toys“, „Patrasin“.
Diese Tonverläufe macht man heute in der Aussprache nicht mehr. Das nur so nebenbei, um gewisse Fragen gleich vorwegzunehmen.
Schwierigkeiten bei der Analyse des griechischen Verbalsystems
Im neunzehnten Jahrhundert schrieb zum Beispiel Darby, der die Bibel übersetzt hat. Er erstellte eine englische Übersetzung und half bei der französischen Darby-Übersetzung sowie bei der deutschen Elberfelder Übersetzung mit. Somit war er ein guter Philologe.
In einer seiner Schriften sagt er: „Ich bringe das altgriechische Verbalsystem nicht in ein geschlossenes System.“ Dieses Eingeständnis war nicht schlimm, denn es gab damals niemanden, der das konnte. Es bestand also Erklärungsbedarf.
Später, in der Slawistik – der Erforschung der slawischen Sprachen wie Jugoslawisch, Kroatisch, Russisch und anderen – wurde entdeckt, dass bei bestimmten Verbformen unterschieden wird, ob eine Handlung andauernd ist oder nur punktuell geschieht.
Daraufhin kam jemand auf die Idee, dieses Prinzip auch auf das Griechische anzuwenden. Diese Anwendung führte zu einem Durchbruch: Plötzlich ließ sich das gesamte griechische Verbalsystem in ein geschlossenes System einordnen.
Das führt uns zum nächsten Thema: dem Aspektsystem des Altgriechischen.
Das Aspektsystem des Altgriechischen
Das Wichtigste beim Griechischen, insbesondere bei Formen wie Imperfekt, Plusquamperfekt, Perfekt und so weiter, ist nicht das Ausdrücken einer bestimmten Zeitstufe. In gewissem Maße wird das zwar gemacht, aber es ist nicht das Hauptmerkmal.
Viel wichtiger ist, dass die Handlung jeweils beschrieben wird: ob sie andauernd ist oder als punktuelle Handlung betrachtet wird, wie es in den slawischen Sprachen der Fall ist. Darüber hinaus gibt es noch eine zusätzliche Bedeutungsebene, die die slawischen Sprachen nicht haben: ob die Handlung eine resultative Wirkung hat.
Ich werde das später anhand von Beispielen erklären. Das klingt zwar kompliziert, ist aber ganz einfach, wie wir sehen werden.
Diese Erkenntnis hat natürlich einen Durchbruch gebracht. Wenn man sie beim Bibelstudium wirklich nutzt, eröffnet das ganz neue Reichtümer.
Der Durativ
Jetzt möchte ich zunächst den Aspekt des Durativs erklären. Durativ bedeutet, dass das Andauernde ausgedrückt wird. Eine Handlung wird hier also als etwas beschrieben, das dauerhaft geschieht, immer wieder vorkommt, gewohnheitsmäßig ist oder auch versuchsweise, wenn man immer wieder ansetzt.
Am besten schauen wir uns dazu konkrete Beispiele an. Johannes 1,1 lautet: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“ Für „war“ steht hier im Griechischen das Imperfekt, „en arche“ bedeutet „im Anfang“, und „ho logos“ bedeutet „das Wort“. Das griechische Imperfekt ist jedoch nicht dasselbe wie das Imperfekt im Deutschen.
Ich muss sagen, die Jüngeren unter uns haben in der Schule oft nicht mehr das Imperfekt gelernt, sondern nur das Präteritum. Damit wir wissen, wovon wir sprechen: Wenn ich eine Geschichte erzähle, brauche ich im Deutschen das Imperfekt, also das Präteritum. Zum Beispiel: „Ich ging in den Wald, schlug einen Baum, trug ihn nach Hause und verbrannte ihn im Feuer.“ So erzählt man im Imperfekt.
Auf Französisch funktioniert das aber anders. Wenn man das ins Französische übersetzt, heißt „J’allais à la forêt, je battais un arbre“ so viel wie „Ich ging immer wieder in den Wald und schlug immer wieder einen Baum.“ Im Französischen drückt das Imperfekt also eine gewohnheitsmäßige oder andauernde Handlung aus. Deshalb muss man im Französischen Geschichten mit dem „Passé simple“ erzählen, zum Beispiel „J’allai à la forêt“, um klarzumachen, dass es sich um eine punktuelle Handlung handelt.
Zurück zum Text: „Im Anfang war das Wort“ drückt also das Dauernde aus. Es wird gesagt, dass das Wort im Anfang, als Gott Himmel und Erde schuf und begann, alles ins Dasein zu rufen, bereits da war. Das Wort ist nicht geworden, sondern existierte fortdauernd. Hier wird gerade der Gegensatz ausgedrückt: Während im Anfang (1. Mose 1,1) die Dinge durch Gottes Schöpfungsmacht ins Dasein kamen, war das Wort einfach schon da.
„Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott“ – das bedeutet, es gab eine dauernde Gemeinschaft zwischen dem Wort und Gott, dem Vater. „Und das Wort war Gott“ heißt, es ist nie Gott geworden, sondern das Wort war fortdauernd Gott.
Dann folgt der Gegensatz: Während das Wort im Anfang bei Gott war, wurde alles andere durch dasselbe geschaffen. Johannes braucht hier keine Imperfektform mehr, sondern verwendet später eine punktuelle Form. Alle erschaffenen Dinge kamen zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Dasein, aber das Wort war ewig.
Es wird auch erklärt: „Und ohne dasselbe wurde auch nicht eines, das geworden ist.“ Das bedeutet, alles, was je ins Dasein gekommen ist, kam durch das Wort ins Dasein – punktuell. Es gibt nichts, was ins Dasein gekommen ist, auch nicht ein Ding, das nicht durch das Wort ins Dasein gekommen wäre.
Jetzt wird klar: In diesem Fall ist das Wort absolut ewig, ohne Anfang, während alles andere durch das Wort ins Dasein kam. Damit ist bereits die Lehre der Zeugen Jehovas widerlegt, die sagen, Jehova hätte als erste Schöpfung das Wort, Jesus Christus, erschaffen, und dann hätte Jesus Christus alle anderen Dinge erschaffen.
Der Bibeltext sagt jedoch: „Am Anfang war das Wort.“ Es kann nicht ins Dasein gekommen sein, es war einfach da. Es war bei Gott, also als Person unterschieden vom Vater, aber selbst war das Wort immer Gott, in seinem ganzen Wesen Gott. Es war am Anfang bei Gott in einem Zustand, aber alle anderen Dinge sind durch das Wort ins Dasein gekommen, und es gibt keine Ausnahme, die nicht durch das Wort ins Dasein gekommen wäre.
Dieser Durativ drückt also etwas ganz Fundamentales aus: Er zeigt die ewige Existenz von Jesus Christus ohne Anfang.
Der Punktual
Bevor ich weitere Beispiele gebe, möchte ich zunächst den Begriff des Punktual erklären. Darauf habe ich bereits ein wenig eingegangen.
Der Punktual beschreibt eine Handlung als einen bestimmten Akt, der in einem Moment stattfindet – also als einen Punkt. Während wir den Durativ bildlich als einen Pfeil darstellen können, der den Verlauf einer Handlung beschreibt, stellt der Punktual die Handlung schlicht als einen Punkt dar. Es geht dabei um den Tatvollzug an sich, die Tat selbst.
Das wird zum Beispiel in Johannes 1,2-3 deutlich: „Alles wurde durch dasselbe.“ Dieses „wurde“ ist ein Punktual. Ähnlich heißt es in Psalm 33,9: „Er sprach, und es war; er gebot, und es stand da.“ Hier wird ausgedrückt, dass alles ins Dasein kam durch dasselbe, und ohne dieses kam nichts ins Dasein, das ins Dasein gekommen ist.
Der Resultativ
Das Griechische besitzt einen besonderen Reichtum, insbesondere durch verschiedene Aspekte der Verbformen. Ein wichtiger Aspekt ist der Resultativ. Dabei wird eine Tat als ein abgeschlossener Punkt beschrieben. Allerdings hat dieser Tatvollzug eine Folge bewirkt, die weiterhin anhält. Diese fortdauernde Folge wird durch das Perfekt ausgedrückt.
Ein anschauliches Beispiel dafür finden wir in Johannes 1, Vers 3: „Alles wurde durch dasselbe“ – hier ist die Handlung punktuell beschrieben. „Und ohne dasselbe wurde auch nicht eines, das geworden ist“ – das beschreibt den Resultativ. Das bedeutet, etwas ist ins Dasein gekommen und existiert jetzt noch immer.
Die Sonne wurde von Gott in der Schöpfungswoche am vierten Tag erschaffen. Sie kam durch einen Akt ins Dasein und ist bis heute noch vorhanden, sonst würde sie nicht scheinen. Ebenso hat Gott damals die Materie erschaffen. Er erschafft nicht jetzt Materie, sondern damals hat er sie ins Dasein gebracht, und sie existiert bis heute. Dies wird im letzten Satz ausgedrückt: „Und ohne dasselbe wurde auch nicht eines, das geworden ist und nun da ist.“
Die Dinge existieren seit ihrem Anfang, aber sie stehen in einem deutlichen Gegensatz zum Wort Gottes. Das Wort war einfach immer da, ohne Anfang, von Ewigkeit zu Ewigkeit. In den ersten drei Versen des Johannesevangeliums lassen sich somit alle drei Aspekte gut illustrieren: durativ, punktual und resultativ.
Übrigens wird der Durativ im Griechischen durch das Imperfekt oder das Präsens ausgedrückt. Allerdings sind diese Bezeichnungen etwas irreführend, denn das griechische Präsens entspricht nicht genau dem deutschen Präsens. Daher wäre es besser zu sagen: Das Imperfekt ist ein Durativ für die Vergangenheit, das Präsens ein Durativ für die Gegenwart.
Man muss außerdem beachten, dass die griechischen Verben nur im Indikativ eine Zeitbedeutung haben. Infinitive, Partizipien, Konjunktive und ähnliche Formen drücken hingegen keine Zeit, sondern nur den Aspekt aus.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Durativ wird durch Imperfekt und Präsens dargestellt, punktual durch den Aorist, und resultativ durch das Perfekt.
Beispiele für die Aspekte im Neuen Testament
Nun machen wir einige Beispiele durch. Wir gehen zurück zum Durativ und lesen Johannes 6,54. Dort finden wir eine Predigt des Herrn Jesus in der Synagoge zu Kapernaum: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben. Und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag.“
Essen und Trinken sind hier im Durativ Präsens. Das drückt also eine gewohnheitsmäßige, wiederholte Handlung aus. Wir könnten es auf Deutsch so umschreiben: „Wer mein Fleisch immer wieder isst und mein Blut immer wieder trinkt, hat fortdauernd ewiges Leben.“
Dieser Vers zeigt nicht, wie man ewiges Leben bekommt, sondern beschreibt jemanden, der es bereits hat. Jemand, der ewiges Leben durch den Glauben an Jesus Christus besitzt, ernährt sich ständig geistlich von Jesus Christus, der sein Leben, sein Fleisch und sein Blut am Kreuz für uns gegeben hat. Das ist seine tägliche Nahrung.
Wenn wir also sein Fleisch und Blut immer wieder essen und trinken – wenn wir die Bibel lesen und uns mit der Hingabe und dem stellvertretenden Tod des Herrn Jesus am Kreuz beschäftigen – dann ist das geistliche Nahrung für den, der ewiges Leben als fortdauernden Besitz hat.
Im Gegensatz dazu lesen wir ein punktuelles Beispiel in Johannes 6,51b. Dort sagt der Herr Jesus: „Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel herniedergekommen ist. Wenn jemand von diesem Brot isst, so wird er Leben in Ewigkeit haben.“
Hier sehen wir auf den ersten Blick keinen Unterschied zu Vers 54, oder? Auf Deutsch heißt es: „Wer mein Fleisch isst.“ Aber im Griechischen ist das nun ein Aorist, ein Punktual. Das bedeutet: Wer einmal den Akt des Essens vollzieht, von dem wird gesagt, dass er ewig leben wird.
Hier geht es um die Bekehrung. Wer Jesus Christus wirklich aufnimmt als seinen Retter und Stellvertreter, der gestorben ist, ist gewissermaßen das Opfer. So wie man beim Passah in Ägypten das Passalamm essen musste – nicht nur kosten im Mund. Es geht darum, das Essen wirklich anzueignen. Das Fleisch, das wir essen, wird dann ein Teil von uns.
Wenn also jemand Jesus Christus einmal durch eine bewusste Aufnahme zu seinem Retter werden lässt, von dem heißt es, dass er ewig leben wird. Das gibt Heilssicherheit und Heilsgewissheit.
Wir merken also: In Vers 51 geht es um die Bekehrung, in Vers 54 um das normale geistliche Leben des Bekehrten, des Erretteten.
Noch ein Beispiel: Johannes 3,16: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“
Das ist ein bekannter Vers. „Also hat Gott die Welt geliebt“ – das ist ein Aorist, punktual. Es zeigt, dass Gott die Welt geliebt hat. Er hat seinen Sohn an einem ganz bestimmten Punkt in der Geschichte gegeben.
Das Ziel ist, dass jeder, der an ihn glaubt – und das ist nun ein Durativ. Eigentlich müsste man Johannes 3,16 als Durativ verstehen, denn „glauben“ ist hier ein Durativ. Das heißt: Jeder, der fortdauernd an ihn glaubt, geht nicht verloren, sondern hat fortdauernd ewiges Leben.
Das Typische am wahren Glauben ist also, dass er anhält. Wir haben ja das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld in Lukas 8. Dort zeigt der Herr Jesus, dass der Same, das Wort Gottes, auf verschiedene Böden fällt: auf den Weg, auf das Steinige, unter die Dornen und auf gute Erde. Nur der Same in der guten Erde bringt wirklich Frucht.
Zum Steinigen sagt der Herr Jesus in Lukas 8,13: „Die aber auf dem Felsen sind, das sind diejenigen, die, wenn sie hören, das Wort mit Freuden aufnehmen, aber keine Wurzel haben. Sie glauben für eine Zeit, und in der Zeit der Versuchung fallen sie ab.“
Diese glauben nur für eine Zeit und haben keine Wurzeln. Der wahre Erlöste aber hat Wurzeln.
In 1. Petrus 1,6 sagt Petrus, dass diejenigen, die wiedergeboren werden – und in Vers 3 heißt es: „Gott hat uns wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung“ – und in Vers 5: „Die ihr durch Gottes Macht durch Glauben bewahrt werdet zur Errettung, die bereit ist, in der letzten Zeit geoffenbart zu werden.“
Es geht eindeutig um Wiedergeborene. Von denen sagt Petrus: Ihr werdet durch Gottes Macht und durch Glauben bewahrt bis in die letzte Zeit. Hier haben wir es mit der Gabe des Beharrens zu tun.
Wer wirklich wiedergeboren wird durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus, der bekommt von Gott die Gabe des Beharrens. Darum kann sein Glaube trotz Fallen und Untreue bis zum Schluss bewahrt bleiben.
Das können wir nicht aus eigener Kraft, denn wir sind unbeständige Wesen. Wenn es von uns abhängen würde, dass wir beharren könnten, müssten wir alle verzweifeln oder ständig in Angst leben.
Aber die Wiedergeborenen bekommen die Gabe des Beharrens, und so können sie durch Glauben bewahrt bleiben bis in die letzte Zeit, wenn Jesus Christus wiederkommt.
Dieses Thema des Beharrens im Glauben, die Gabe des Beharrens, wird in der Verkündigung oft vergessen. Aber zum Beispiel bei Augustinus wird das wunderbar herausgearbeitet. Er sagt, die Auserwählten, also die wirklich Erretteten, bekommen von Gott die Gabe des Beharrens. Darum können sie das Ziel auch erreichen.
Johannes 3,16 spricht genau darüber: „Also hat Gott die Welt geliebt“ (punktual), „dass er seinen eingeborenen Sohn gab“ (punktual), „damit jeder, der fortdauernd an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern fortdauernd ewiges Leben habe.“
Wir verstehen also immer besser, was mit diesen Ausdrücken gemeint ist.
Ein weiteres Beispiel ist 1. Johannes 1,9: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.“
Hier haben wir einen ganzen Vers voller Durative. Der Sinn ist: Wenn wir unsere Sünden immer wieder bekennen, so ist er fortdauernd treu und gerecht, dass er uns die Sünden immer wieder vergibt und uns immer wieder reinigt von aller Ungerechtigkeit. Das ist die Aussage dieses Verses.
Nun fällt etwas Erstaunliches auf: Johannes hat das Aspektsystem ganz bewusst und dauerhaft gewählt. Obwohl er ein einfacher Fischer aus Galiläa war, ohne formale Bildung, hat er später das Johannesevangelium, die drei Briefe und die Offenbarung auf Griechisch geschrieben.
Das zeigt, wie perfekt seine griechischen Kenntnisse waren. Er hat all diese Feinheiten des Aspekts angewandt, obwohl Theologen und Sprachwissenschaftler im 19. Jahrhundert das Ganze nicht mehr in ein System bringen konnten.
Dank der Slawisten kamen sie dann auf den Sprung, um heute wieder nachzuvollziehen, was eigentlich genau mit diesen Nuancen gemeint ist.
Weitere Beispiele zum Gebrauch der Aspekte
Ja, noch ein Beispiel: Epheser 5,18. Dort heißt es: „Und berauscht euch nicht mit Wein, in welchem Ausschweifung ist, sondern werdet mit dem Geist erfüllt, redend zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen Liedern, singend und spielend dem Herrn in euren Herzen.“
Hier haben wir also den Aufruf: „Werdet mit dem Geist erfüllt!“ Im Griechischen gibt es verschiedene Befehlsformen. Das ist ein Befehl: „Werdet erfüllt!“ Es gibt den Imperativ durativ, punktual oder resultativ. Welche Form ist hier wohl gemeint? Bedeutet das, ihr sollt alle ein für alle Mal mit dem Heiligen Geist erfüllt werden? Oder heißt es, ihr sollt immer wieder erfüllt werden? Das wäre wichtig zu wissen, denn von dieser Nuance hängt einiges ab.
Es handelt sich um den Imperativ Präsens, also um einen durativen Imperativ. Das bedeutet: Werdet immer wieder vom Geist erfüllt! Der Empfang des Heiligen Geistes ist ein punktueller Akt. In Epheser 1,13, bleiben wir im gleichen Brief, heißt es: „Nachdem ihr gehört habt das Wort der Wahrheit, das Evangelium eures Heils, in welchem ihr auch, nachdem ihr geglaubt habt, versiegelt worden seid mit dem Heiligen Geist.“
Hier sehen wir: „Nachdem ihr geglaubt habt“ ist punktuell. Nachdem ihr den Akt des Glaubens vollzogen habt – man kann auf Deutsch sehr schön sagen: nachdem ihr zum Glauben gekommen seid – seid ihr versiegelt worden mit dem Heiligen Geist. Das ist eine einmalige Handlung, also punktuell. Das Evangelium ist Gottes Handlung als ein Akt, die Versiegelung mit dem Heiligen Geist.
Aber in Kapitel 5, Vers 18 sagt Paulus zu Leuten, die versiegelt sind mit dem Heiligen Geist: Werdet immer wieder neu erfüllt! Wenn man das Wort „erfüllt werden“ als Verb betrachtet, nicht als Zustand „voll sein mit dem Heiligen Geist“, dann sieht man, dass das etwas ist, was immer wieder geschieht. Und zwar in einem Moment, in dem plötzlich ein neuer Dienst getan werden soll.
Ein Beispiel dafür ist Apostelgeschichte 4 nach Pfingsten. Dort wird in der Gemeinde gebetet, dass sie Kraft bekommen, um Zeugnis abzulegen. In Apostelgeschichte 4, Vers 29 heißt es: „Und nun, Herr, siehe an ihre Drohungen und gib deinen Knechten dein Wort zu reden mit aller Freimütigkeit.“ Und in Vers 31: „Und als sie gebetet hatten, bewegte sich die Städte, wo sie versammelt waren, und sie wurden alle mit Heiligem Geist erfüllt und redeten das Wort mit Freimütigkeit.“
Warum wurden sie plötzlich jetzt erfüllt vom Heiligen Geist? Sie hatten doch am Pfingsten den Heiligen Geist schon empfangen. Aber „erfüllt werden“ ist etwas, das immer wieder neu geschieht für jeden neuen Dienst. Gerade darum geht es hier: Sie wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort.
In Epheser 5 geht es darum: Werdet immer wieder mit dem Geist erfüllt! Redet zueinander in Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern. So macht man sich durch Lieder gegenseitig Mut im Glauben. Das ist ein Dienst, und dazu braucht es, erfüllt zu sein mit dem Heiligen Geist.
Noch ein Beispiel: Apostelgeschichte 13. Paulus ist auf der ersten Missionsreise. Er war schon längst versiegelt mit dem Heiligen Geist. In Vers 9 heißt es: „Saulus, der auch Paulus heißt, wurde erfüllt mit Heiligem Geist, blickte unverwandt auf ihn hin und sprach: ‚O du voll aller List und aller Bosheit, Sohn des Teufels!‘“
In dem Moment, in dem er dieses Gerichtswort aussprechen musste, wurde er zuvor erfüllt mit Heiligem Geist. Er hatte den Heiligen Geist, aber das Erfülltwerden bedeutet, dass der Heilige Geist in besonderer Weise Kraft gibt, um einen Dienst tun zu können.
Jedes Mal, wenn wir irgendeinen Dienst tun oder jemanden ermutigen, soll das geschehen: dass wir wieder erfüllt werden mit dem Heiligen Geist.
Wie kann man das verhindern? Bleiben wir im gleichen Brief: Epheser 4,30 sagt: „Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, durch welchen ihr versiegelt worden seid.“ Das ist punktuell, am Tag der Erlösung.
Alle Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung sollen von euch weggetan sein, samt aller Bosheit usw. Sünde wirkt so, dass wir den Heiligen Geist betrüben, obwohl wir mit ihm versiegelt sind – und zwar bis zum Tag der Erlösung, also der Wiederkunft Christi.
Man merkt, dass es zwischen der Versiegelung mit dem Heiligen Geist und der Gabe des Beharrens einen Zusammenhang gibt. Diese Versiegelung gilt bis zum Tag der Erlösung, die Gabe des Beharrens gilt bis zur Wiederkunft Christi.
Obwohl wir mit dem Heiligen Geist versiegelt sind, ist es wichtig, dass wir immer wieder neu diese Kraftwirkung des Heiligen Geistes erleben. Diese wird verhindert, wenn wir Sünde in unserem Leben stehen lassen. Deshalb heißt es: Alle Bitterkeit, Wut, Zorn usw. müssen weggetan sein, und wir sollen vergebungsbereit sein (Vers 32).
Weitere Beispiele zum Resultativ
Kommen wir nun zu einem weiteren Beispiel zum Resultativ. Zunächst haben wir ein Beispiel aus 1. Korinther 15,20 gehört: „Nun aber ist Christus aus den Toten auferweckt, der Erstling der Entschlafenen“ (Christos egegertai). Das ist ein Resultativ.
Das bedeutet, Christus ist punktuell am dritten Tag auferstanden. Aber er lebt bis heute, und genau das wird durch diese Zeitform ausgedrückt. Es heißt also nicht nur, dass er an einem bestimmten Zeitpunkt auferweckt wurde, sondern dass er auferweckt wurde und jetzt lebt. Diese fortdauernde Wirkung drückt die Zeitform aus.
Die Handlung ist vollzogen – die Auferstehung –, und nun liegt das Ergebnis vor: Er lebt.
Ein weiteres Beispiel finden wir im 1. Johannesbrief, Kapitel 1, Vers 1. Man muss sich vorstellen, der Apostel Johannes war damals vielleicht neunzig Jahre alt, als er den Brief um etwa 95 nach Christus verfasste. Die Ereignisse, als er mit dem Herrn unterwegs war, lagen circa sechzig Jahre zurück.
Aus dieser Distanz schreibt er: „Was von Anfang war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir angeschaut und unsere Hände betastet haben“ – bezüglich des Wortes des Lebens. Er spricht über Jesus Christus, der vor sechzig Jahren lebte, und sagt, was sie damals gehört haben, verkünden sie jetzt. Was sie mit ihren Augen gesehen, angeschaut und mit ihren Händen berührt haben.
Das „Anschauen“ ist noch intensiver als nur „sehen“, und das Intensivste ist, dass sie ihn sogar berührt haben – körperlich. So wissen sie, dass Gott wirklich Mensch geworden ist.
Worum es hier geht: „Was wir gehört haben“ ist ein Resultativ. Das drückt aus, dass sie es damals gehört haben, vor sechzig Jahren, aber Johannes hört es jetzt noch in seinen Ohren. Es ist heute noch so lebendig, als hätte er es damals direkt aus Jesu Mund gehört.
Wenn er sagt „was wir mit unseren Augen gesehen haben“, ist das ebenfalls ein Resultativ. Das bedeutet, sie haben es gesehen, aber Johannes sieht es jetzt noch vor seinen inneren Augen. So lebendig ist es für den greisen Apostel Johannes kurz vor seinem Heimgang, als letzter der Apostel.
Auch hier sieht man wieder, wie fein Johannes die Möglichkeiten der griechischen Sprache genutzt hat. Er hätte ja einfach alles im Aorist schreiben können, was grammatikalisch korrekt gewesen wäre. Doch diese feinen Nuancen wären dann verloren gegangen.
Ermutigung zum Erlernen des Griechischen
Und jetzt stellt sich natürlich die Frage: Das ist ja alles ganz toll, wenn man Griechisch könnte.
Nun, die Jüngeren, die die Möglichkeiten und die Fähigkeiten haben, möchte ich ermutigen: Lernt doch Griechisch! Es gibt genügend gute, didaktisch gut aufgebaute Lehrmittel, mit denen man sich die Sprache selbst beibringen kann.
Außerdem gibt es Kurse, die man belegen kann. Für die anderen gibt es eine hilfreiche Bibliographie. Das Erste, was man bei der ausgewählten Bibliographie sieht, sind Hill und Archer. Genauer gesagt: Archer, Die Discovery Bible, Chicago 1987.
Diese beiden Gelehrten haben eine englische Bibel herausgegeben. Dabei haben sie bei jedem Verb ein Zeichen angebracht, sodass jemand, der kein Griechisch kann, sofort erkennt: Das ist ein Punktual, das ist ein Durativ, das ist ein Resultativ – das ganze Neue Testament.
Also wirklich eine Entdeckungsbibel.
Wortstellung und Betonung im Griechischen
Und nun zum Schluss möchte ich noch etwas Besonderes zeigen. Wir waren ja am Anfang sehr erstaunt, habe ich gemerkt, über diesen Formenreichtum des Griechischen mit 450 Formen.
Dank dieses außerordentlich großen Reichtums an Formen gibt es eine riesige Flexibilität in der Wortstellung. Das ermöglicht gewaltige Nuancierungen durch Akzentsetzungen. Dadurch, dass durch die Fallformen immer ganz klar ist: Das ist jetzt ein Akkusativ, das ist kein Nominativ, kann man im Satz viel besser Dinge umstellen. Man weiß sofort, wie die Verhältnisse der Wörter im Satz sind.
So gibt es also eine viel größere Möglichkeit, die Wörter völlig umzustellen. Das wäre im Deutschen nicht mehr möglich, weil es dann unverständlich wäre, da wir zu wenig Formen haben. Aber im Griechischen kann man das, und das wird auch so genutzt. Durch diese unterschiedliche Wortstellung können unterschiedliche Akzente im Satz gesetzt werden.
Auf Deutsch geht das auch bis zu einem bestimmten Grad: „Ich gehe gerne in den Wald.“ Man könnte aber auch sagen: „In den Wald gehe ich gerne.“ Ja, das ist doch eine Akzentsetzung: „In den Wald gehe ich gerne“, aber ich gehe halt nicht so gerne irgendwo anders hin, zum Beispiel auf die Berge. So kann man also durch die Wortstellung Akzente setzen. Und das wird im Neuen Testament eben reich ausgenutzt.
Ich möchte ein kurzes Beispiel vortragen, Kolosser 1, Verse 16-20. Da geht es um die überragende Größe des Sohnes Gottes. Durch die Betonungsmöglichkeiten im Griechischen ist dieser Abschnitt so zu lesen: „Denn durch ihn sind alle Dinge erschaffen worden.“ Dabei ist „ihn“ betont, also in deutschen Übersetzungen könnte man dieses Wort mit Rot, speziell mit Farbstift, färben: „Denn durch ihn sind alle Dinge erschaffen worden“, also nicht durch jemand anders, sondern durch Jesus Christus.
Er hat die Schöpfung ausgeführt: „Denn durch ihn sind alle Dinge erschaffen worden, die in den Himmeln und die auf der Erde, die Sichtbaren und die Unsichtbaren, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten.“ Das sind verschiedene Engel.
„Alle Dinge sind durch ihn und für ihn geschaffen.“ Jedes Mal ist das betont. Übrigens das erste Mal „durch ihn“, denn „durch ihn“ heißt wörtlich „in ihm“, das heißt in der Kraft seiner Person. Und dann heißt es am Schluss: „Alle Dinge sind durch ihn“, das bedeutet, dass er der Ausführende war, und „für ihn“ heißt, dass alles zu seiner Ehre ist. Also in der Kraft seiner Person, durch ihn und keinen anderen ist das geschehen, für ihn, eben um ihn zu ehren und niemand anders.
Dann weiter, Vers 17: „Und er ist vor allem. Und alle Dinge bestehen zusammen durch ihn.“ Jedes Mal ist das ganz speziell betont.
Diejenigen, die Italienisch können, wissen, dass man diese Möglichkeiten auch sehr einfach hat auf Italienisch. Denn bei den Verben muss man ja nicht jedes Mal sagen „lui parla“ – er spricht –, sondern „parla“ reicht, man weiß, er spricht. Wenn man sagt „lui parla“, dann heißt das, er und nicht ein anderer spricht, zum Beispiel. Ebenso kann man das betonen.
Im Deutschen muss man immer sagen „er spricht“. Aber im Griechischen und im Italienischen hat man diese Möglichkeit. Also: „Und er ist vor allem“ – nicht „er wurde“, sondern er ist bereits vor allem erschaffen, er ist einfach da als der Ewige – „und alle Dinge bestehen zusammen durch ihn.“ Das heißt, er ist es, der das ganze Weltall, alle Atome zusammenhält.
Und dann weiter, Vers 18: „Und er ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde.“ Nicht der Papst und auch nicht die Königin von England – ja, die ist ja das Haupt der anglikanischen Kirche, ganz offiziell. Das wird hier betont: Er ist das Haupt, niemand anders, der Gemeinde.
„Welcher der Anfang ist, der Erstgeborene aus den Toten, auf dass er wieder betont in allen Dingen den Vorrang habe.“ Denn es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle – das ist die Dreieinheit Gottes –, in ihm zu wohnen und niemand anderem sonst, in ihm zu wohnen und durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen, indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes, durch ihn, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln.
Also wenn man diese Betonung wirklich sieht, dann bekommt der ganze Text ein völlig neues Profil, um zu zeigen: die Einzigartigkeit von Jesus Christus ohne Parallele. Niemand darf irgendwie auf seine Seite gestellt werden. Er hat in all diesen Dingen den Vorrang, und es ist Gottes Wille, dass er in allen Dingen den Vorrang habe. Weniger geht nicht.
Das ist die erste Liebe, wenn Jesus Christus in unserem Leben den Vorrang hat in allen Dingen.
Nun wäre es natürlich auch wieder toll, könnte man Griechisch, dann wüsste man in jedem Vers, welche Wörter betont sind, oder? Aber nochmals: Die Discovery Bible hat auch all diese Betonungswörter im ganzen Neuen Testament eingefärbt. Da sieht man sie gleich.
Also es ist wirklich etwas ganz Tolles, wenn man keine Möglichkeit hat, den Grundtext so zu lesen, die Sprache zu lernen, dann wenigstens gibt es heute so tolle Hilfsmittel, wie man trotzdem weitgehend daran herankommt.
Ja, wir sind am Ende für heute Morgen.