Einführung in das Thema Gesetz und Gnade
Wir haben nun das Thema Gesetz und Gnade vor uns. Es wäre interessant zu wissen, welches der beiden Wörter mehr Interesse geweckt hat: Gesetz oder Gnade. Beide sind biblische Begriffe, doch oft verbinden wir das Wort Gesetz zunächst mit negativen Gefühlen.
Vielleicht können uns einige Worterklärungen helfen, um dem Wort Gesetz nicht so viel Abneigung entgegenzubringen. Im Alten Testament steht für Gesetz das hebräische Wort Torah. Dieses bedeutet, wie Martin Buber es so schön übersetzt hat, auch Weisung oder Lehre.
Torah stammt von dem hebräischen Tätigkeitswort, dem Verbum Hora. Hora heißt „ausstrecken“, und zwar den Finger oder den Arm. Daraus hat das Wort die Bedeutung bekommen, zu lehren – und zwar mit Autorität oder auch den Weg zu weisen.
Das Gesetz ist also Gottes Weisung, Gottes Lehre mit seiner göttlichen Autorität, womit er den Weg weist. Das Alte Testament ist ja in Hebräisch verfasst, das Neue Testament hingegen in Griechisch. Deshalb finden wir im Neuen Testament für Gesetz das griechische Wort nomos, das ebenfalls Prinzip, Ordnung, Regel oder Gesetz bedeutet.
Die Vielfalt der Gesetzesbegriffe in der Bibel
Wenn wir dem Begriff des Gesetzes in der Bibel nachgehen, fällt uns auf, dass die Bibel von vielen verschiedenen Gesetzen spricht. Wenn wir dabei immer nur an das Gesetz vom Sinai denken, sind wir auf dem Holzweg.
In Römer 7,25 wird zum Beispiel vom Gesetz der Sünde gesprochen. Das ist nicht das Gesetz vom Sinai. Das Gesetz der Sünde beschreibt die Gesetzmäßigkeit der verdorbenen Natur des Menschen. Diese Natur hat eine eigene Gesetzmäßigkeit, die sich durch „sündigen, sündigen, sündigen“ auszeichnet.
In Römer 8,2 ist vom Gesetz des Geistes des Lebens die Rede. Dieses Gesetz beschreibt das Prinzip, wie der Heilige Geist wirkt. Der Geist des Lebens vermittelt den Menschen Gottes Gnade.
Römer 7,23 spricht über das Gesetz des Todes. Der Tod selbst beinhaltet eine Gesetzmäßigkeit. So heißt es in Römer 6,23: „Der Lohn der Sünde ist der Tod.“ Das ist eine Gesetzmäßigkeit des Todes.
Außerdem spricht Paulus in Römer 7,23 vom Gesetz meines Sinnes oder meines Denkens. Die Denkfähigkeit des Menschen folgt ebenfalls einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, einem bestimmten Prinzip. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn wir darüber nachdenken, dass es ein Unrecht ist, wenn ein Mensch einen anderen einfach so auf der Straße umbringt. Rein intellektuell, ohne große emotionale Beteiligung, erkennen wir, dass das falsch ist. So hat das Denken selbst eine bestimmte Gesetzmäßigkeit.
Paulus sagt, dass er Dinge tut, die dem Gesetz seines Denkens widersprechen. Wenn er darüber nachdenkt, weiß er genau, dass das, was er tut, Unrecht ist. Das ist das Gesetz seines Denkens.
Alle diese Begriffe, die ich erwähnt habe, liegen sehr eng beieinander – am Schluss von Römer 7 und am Anfang von Römer 8. Dort finden wir also eine ganze Palette verschiedener Gesetze.
Weitere Gesetzesformen und ihre Bedeutung
Weiter, immer noch im Römerbrief, finden wir nach Römer 2,14-16 ein Gesetz, das die Nationen, die Heiden, in ihren Herzen geschrieben haben. Das ist das Gesetz der Nationen, das Gewissen.
Das Gewissen hat auch eine eigene Gesetzlichkeit, denn es kann unterscheiden zwischen Recht und Unrecht. Diese Unterscheidung funktioniert auch bei Menschen, die noch nie etwas vom Gesetz von Sinai gehört haben.
Daher könnten wir den Ausdruck prägen: das Gesetz der Schöpfung oder die Schöpfungsordnung. So wie Gott in 1. Mose 1 und 2 die Dinge eingerichtet hat, hat er sie nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit geschaffen. Zum Beispiel auch, wie er Mann und Frau geschaffen hat – in einer Monogamie, in einer Einehe. Gott hat nicht einen Mann und zwei Frauen geschaffen, sondern einen Mann und eine Frau in einer festen Beziehung. Das gehört alles zur Schöpfungsordnung, ebenso das Verhältnis von Mann und Frau.
Das sind also Dinge, die Gott in die Schöpfung hineingelegt hat und die dann im Neuen Testament wieder aufgenommen werden. Zum Beispiel in 1. Korinther 7, wenn es um die Ehe geht, oder in 1. Korinther 11,1-16, wo die Stellung von Mann und Frau auch heute noch als gültig dargestellt wird. Diese Ordnung geht zurück auf die Schöpfungsordnung.
Auch in 1. Timotheus 2,12-15 beruft sich Paulus, wenn er über die Stellung von Mann und Frau spricht, auf die Schöpfung. Er sagt, Gott habe zuerst Adam geschaffen, dann die Frau. Das ist also auch wieder ein Gesetz, das man nicht mit dem Gesetz von Sinai verwechseln darf.
Daher können wir den Ausdruck prägen: das Gesetz Adams. Ich habe ihn bewusst nicht in Anführungszeichen gesetzt, weil dieser Ausdruck so nicht in der Bibel steht. Wo der Ausdruck so in der Bibel vorkommt, wie hier auf dem Blatt, habe ich ihn in Anführungszeichen gesetzt.
Das Gesetz Adams geht hervor aus 1. Mose 2,16-17, wo Gott eine Abmachung mit Adam schließt und ihm sagt: Von allen Bäumen darfst du essen, aber von dem einen Baum nicht. Das war das Gesetz Adams. Es war sogar ein Bund, denn Hosea 6,7 spricht ausdrücklich darüber, dass Adam den Bund Gottes übertreten hat.
Das war aber nicht der Bund vom Sinai, den gab es ja noch nicht. Es war der adamitische Bund oder der Bund des Paradieses – oder wie wir ihn auch nennen wollen. Es ist gleich, solange man das Richtige meint.
Dann können wir auch sprechen über das Gesetz Noas. In 1. Mose 9 und den folgenden Kapiteln hat Gott ganz bestimmte Gebote aufgestellt und sie Noah und seinen Söhnen gegeben. Es wird ausdrücklich gesagt, Gott habe mit Noah einen Bund geschlossen – mit der ganzen Erde.
Das sind die noachidischen Gesetze, wie man sie nennt. Dort hat Gott zum Beispiel auch die obrigkeitliche Gewalt eingesetzt. Gott sagt zu Noah: Wenn jemand Menschenblut vergießt, dann soll durch den Menschen sein Blut vergossen werden. Das ist die Todesstrafe, die Gott im noachidischen Gesetz gegeben hat. Sie gilt für alle Menschen, also nicht nur für Israel.
Darum sagt Paulus in Römer 13,1-7, wenn er über die Obrigkeit spricht, dass sie das Schwert nicht umsonst trägt. Er spricht dem Rechtsstaat das Recht auf Todesstrafe im Fall von Mord zu. Das ist das noachidische Gesetz.
Auch in Apostelgeschichte 15, wo es darum ging, ob Heiden heute noch das Gesetz vom Sinai einhalten müssen, wurde gesagt: Nein, das sollen sie nicht. Aber sie sollen bestimmte Gebote einhalten. Dort wird zum Beispiel erwähnt, dass sie sich vom Blut enthalten sollen, also kein Blut essen.
Das steht zwar im Gesetz von Sinai, aber die Apostel erklärten gerade, dass die Heiden das Gesetz von Sinai nicht einhalten müssen. Warum müssen sie dann ausgerechnet dieses Gebot befolgen? Weil das Verbot des Blutgenusses zu den noachidischen Geboten gehört, die in 1. Mose 9 gegeben wurden.
Der Bund mit Noah wurde mit der ganzen Menschheit geschlossen und gilt, solange die Erde besteht. Darum haben die Apostel in Jerusalem das so erkannt und als immer noch gültig angesehen.
Weiter können wir sprechen vom Gesetz des Abrahambundes. In Verbindung mit der Beschneidung werden dort Gesetze aufgestellt, wie in 1. Mose 17.
Dieser Bund wurde jedoch nicht mit der ganzen Menschheit geschlossen, sondern nur mit Abraham und seiner Nachkommenschaft.
Das Gesetz vom Sinai als spezieller Bund
Und jetzt kommen wir zu dem Thema, das uns heute Morgen speziell beschäftigen wird: das Gesetz vom Sinai. In Galater 3,17 und Römer 2,17 wird dieses spezielle Gesetz, dieses Vertragspaket vom Sinai, erwähnt.
Das Wort „Gesetz“ kann im Neuen Testament aber auch einfach die fünf Bücher Mose bedeuten. Zum Beispiel heißt es in 1. Korinther 14,34, die Frau soll dem Mann unterstehen, wie das Gesetz es sagt. Hier bezieht sich Paulus auf 1. Mose 3,16, wo Gott Eva nach dem Sündenfall sagt, sie soll sich ihrem Mann unterstellen. Das ist jedoch nicht das Gesetz vom Sinai. Trotzdem spricht Paulus vom Gesetz und meint damit quasi die fünf Bücher Mose, weil er eben auf 1. Mose 3,16 anspielt.
In einem weiteren Sinn kann der Ausdruck „das Gesetz“ auch das gesamte Alte Testament bezeichnen. Die Gesetze vom Sinai umfassen ja nicht alle fünf Bücher Mose. Zum Beispiel alles, was im ersten Buch Mose steht, war zeitlich noch vor dem Sinai. Alles bis 2. Mose 19 war also noch vorher und gehört noch nicht zum Vertragspaket des Sinai.
Wir bezeichnen das Gesetz daher im Sinne von „die fünf Bücher Mose“. Im Judentum werden diese Bücher ganz speziell als die Tora bezeichnet. Die umfasst aber mehr als nur das Gesetz vom Sinai.
Noch weiter gefasst kann das Gesetz auch das ganze Alte Testament bezeichnen. In Johannes 10,34 zitiert Jesus aus den Psalmen und sagt: „Das steht im Gesetz geschrieben.“ In 1. Korinther 14,21 zitiert Paulus aus dem Propheten Jesaja und sagt ebenfalls: „Das steht im Gesetz geschrieben.“ Hier merken wir, dass das gesamte Alte Testament als Tora, als Gesetz, verstanden wird.
Außerdem finden wir in Galater 6,2 den eigenartigen Ausdruck „das Gesetz des Christus“. Christus ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes Messias. Das „Gesetz des Messias“ ist also nochmals etwas anderes. Darauf werden wir aber später noch detaillierter zurückkommen.
Wer jetzt denkt, das war alles ganz kompliziert, hat natürlich Recht. Es geht auch nicht darum, dass man jetzt jeden Ausdruck sofort verstanden hat. Mein Ziel war nur, mit diesem Abschnitt auf die Vielfalt der Bedeutungen des Begriffs „Gesetz“ hinzuweisen. Wir sollen beim Bibellesen erkennen, dass wir nicht immer dasselbe meinen dürfen, wenn das Wort „Gesetz“ auftaucht.
Wenn wir das bis hierher realisiert haben, dann haben wir etwas ganz Wichtiges mitgenommen.
Das Gesetz von Sinai und sein heilsgeschichtlicher Kontext
Im Folgenden möchten wir uns insbesondere mit dem Gesetz von Sinai beschäftigen. Dabei gehen wir in der Heilsgeschichte zurück, ganz an den Anfang des Zeitalters des Gesetzes. In 2. Mose 19 wird dieser neue Abschnitt eröffnet.
Wir befinden uns in der Zeit nach dem Auszug aus Ägypten, im dritten Monat. Genau an diesem Tag kamen die Kinder Israel in die Wüste Sinai. Sie brachen von Rephidim auf, erreichten die Wüste Sinai und lagerten sich dort. Israel lagerte sich gegenüber dem Berg, und Mose stieg hinauf zu Gott.
Im Weiteren erhält Israel dann das Gesetz, die Tora, vom Sinai. Interessant ist Folgendes: Das war im dritten Monat nach dem Auszug. Israel hatte in Ägypten bereits das Passah gefeiert. Sie schlachteten das Passalamm und feierten in der Nacht des Auszugs. Danach feierten sie eine ganze Woche das Fest der ungesäuerten Brote. Während dieser Woche aßen sie nur noch Matzen. Wer das schrecklich oder geschmacklos findet, sollte wissen, dass sie das eine Woche lang so gemacht haben. Diese Feste blieben dann für alle weiteren Zeiten für Israel bestehen.
Im dritten Monat gibt es nochmals ein spezielles Fest, und das ist das Pfingstfest. Sie mussten nämlich von der Passahwoche an sieben Wochen zählen. Dann kam das Fest der Wochen, Shavuot, das jüdische Pfingstfest. Genau dort landen wir im dritten Monat.
Darum wird im Judentum das Pfingstfest immer als das Fest der Gabe der Tora vom Sinai gefeiert. Das Pfingstfest ist also das Fest des Gesetzes vom Sinai. Das zeigt schon einmal: Für das Judentum hat das Wort "Gesetz" keinen schlechten Beigeschmack. Vielmehr ist es ein Festtag, der jedes Jahr gefeiert wird. Zu dieser Zeit haben sie die Tora am Sinai erhalten, also die Weisung.
Der Zusammenhang mit dem Pfingstfest wird noch deutlicher, wenn man 2. Mose 5,1 betrachtet. Dort sagt Mose vor dem Pharao: „Wir wollen in die Wüste gehen und Gott ein Fest feiern. Wir wollen drei Tage in die Wüste hinausgehen.“ Tatsächlich dauerte es etwas länger, bis sie zum Sinai kamen. Von Ramses, der Stadt, in der Israel in Ägypten war, bis zum Horeb, der Spitze der Sinai-Halbinsel, braucht man zu Fuß drei Tagereisen, wenn man allein unterwegs ist und nicht mit Millionen Menschen. Deshalb haben sie so lange gebraucht.
Diese Strecke macht genau die drei Tagereisen aus. Darum sagt Mose: „Wir gehen drei Tagereisen hinaus, um Gott ein Fest zu feiern.“ Jetzt waren sie am Sinai angekommen. Und was war das für ein Fest? Es war das erste Pfingstfest, das erste Fest der Wochen, Shavuot.
Dieses Fest wird uns noch beschäftigen, besonders in Verbindung mit dem Pfingstfest in der Apostelgeschichte 2. Dort wollen wir eine ganz wichtige Brücke schlagen.
Die furchtbare Erscheinung am Berg Sinai
Am Berg Sinai gab es eine furchtbare Erscheinung. Wir lesen dazu kurz zusammengefasst, wie der Hebräerbrief dies in Hebräer 12,18-21 umschreibt. Dort wird den Hebräern, den messianischen Juden, erklärt, dass für sie nun eine neue Zeit angebrochen ist. Es ist nicht mehr so wie damals unter dem Gesetz von Sinai.
Hebräer 12,18: „Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berg, der betastet werden konnte, und zu dem entzündeten Feuer, und dem Dunkel, und der Finsternis, und dem Sturm, und dem Posaunenschall und der Stimme der Worte, deren Hörer warteten, dass das Wort nicht mehr an sie gerichtet würde, denn sie konnten nicht ertragen, was geboten wurde. Und wenn ein Tier den Berg berührt, soll es gesteinigt werden.“
So furchtbar war die Erscheinung, dass Mose sagte: „Ich bin voll Furcht und Zittern.“ Ihr seid jedoch gekommen zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem.
Dies ist eine ganz eindrückliche Zusammenfassung der Erscheinungen am Sinai. Es war Furcht vor der Rede Gottes, und selbst Mose sagte: „Ich bin voll Furcht und Zittern.“ Ja, das war ein Fest, aber nicht im Sinne dessen, wie wir heute ein Fest verstehen. Wenn man heute von Fest spricht, meint man meist Ausgelassenheit und erhöhte Fröhlichkeit. Erhöhte Fröhlichkeit kann eine Art von Fest sein, aber was wir in unserer Kultur verlernt haben, ist das Fest als etwas ganz Feierliches.
Ein Beispiel dafür ist der große Versöhnungstag. Das war der Bußtag, aber dennoch wurde er als Fest bezeichnet. Auch dieser Tag war ein Fest, aber ein ganz feierliches Fest, an dem man Gottes Heiligkeit in erschreckender Weise erlebt hat.
All diese Erscheinungen sprechen von Gottes Gerechtigkeit und seinem Gericht. Der Sturm, das Erdbeben, das Feuer – der ganze Sinai brannte im Feuer. Man fragt sich: Wie können Steine brennen? Offensichtlich waren es Engel, denn in Hebräer 1 lesen wir, dass Gott seine Engel zu Feuerflammen macht.
Es waren also Engel. Nach Galater 3 haben auch die Engel eine Rolle bei der Übergabe des Gesetzes gespielt. Es war eine furchtbare übernatürliche Erscheinung, aber alles spricht von Gerechtigkeit und Gericht. Was völlig fehlt, ist die Gnade. Die Gnade ist völlig abwesend.
Das Versprechen Israels und die Zehn Gebote
In diesem Zusammenhang sehen wir, wie Israel bereit ist, Gott gegenüber ein Versprechen abzulegen. Das können Sie in 2. Mose 19,8 sowie 24,3 und 24,7 nachlesen. Dreimal erklärt das Volk Israel: „Alles, was der Herr gebietet, wollen wir tun.“
Sie haben sich also von ihrer Seite her ganz klar engagiert und sich diesem Bund unterstellt. Akustisch hörten sie Gottes Stimme vom Horeb herab. Doch es war so erschreckend für sie.
Das Erste, was sie von Gottes Geboten vernahmen, waren die Zehn Gebote. In 2. Mose 20 lesen wir den Anfang von Gottes Gesetz. Gott sprach alle diese Worte und sagte: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Knechtschaft. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“
Das erste Gebot lautet: „Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen, noch irgendein Gleichnis von dem, was oben im Himmel, unten auf der Erde oder in den Wassern unter der Erde ist. Du sollst dich nicht vor ihnen niederbeugen und ihnen nicht dienen.“ Denn: „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern, am dritten und vierten Glied, die mich hassen. Aber ich erweise Güte an Tausenden, die mich lieben und meine Gebote beobachten.“
So haben sie die Gebote akustisch vernommen. Die ersten vier Gebote regeln das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Es geht um Gottes Ehre, Gottes Herrlichkeit und darum, wie der Mensch sich verhalten soll: keine anderen Götter, keine Abbilder, die verehrt werden.
Die Gebote fünf bis zehn regeln den horizontalen Aspekt, das heißt das Verhältnis Mensch zu Mensch. Sie geben vor, wie sich der Mensch gegenüber seinem Mitmenschen verhalten soll.
Diese zehn Gebote zusammen bilden die Basis. Wenn im Judentum die Frage gestellt wird, welches das wichtigste Gebot der Tora sei, antwortet man, wie in Matthäus 22,34-40 beschrieben. Ich lese ab Vers 37: „Er aber sprach zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“
Damit wird der vertikale Aspekt – Gott lieben – und der horizontale Aspekt – den Nächsten lieben – zusammengefasst.
Die Ausgestaltung der Gebote und der Bund von Sinai
Ab 2. Mose 21 kommen viele weitere Gebote hinzu. Diese können wir so erklären: Alle Gesetze und Gebote ab 2. Mose 21 sind im Grunde eine Interpretation oder Weiterentfaltung der Zehn Gebote.
Zum Beispiel: „Du sollst nicht stehlen“ oder „Du sollst nicht Ehe brechen“ werden später genauer ausgeführt. Es gibt detaillierte Regelungen für das Familienleben, für das Eheleben und vieles mehr. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Interpretation und Erweiterung der Grundlage, die in den Zehn Geboten liegt.
Wir wissen, dass Gott zwei Tafeln mit den Zehn Geboten gegeben hat. Doch warum zwei Tafeln? Meistens denkt man, auf der ersten Tafel standen vielleicht die Gebote 1 bis 4, die die Beziehung zu Gott betreffen, und auf der zweiten Tafel die Gebote 5 bis 10, die die Beziehung zu den Mitmenschen regeln.
Es gibt jedoch eine bessere Erklärung: Der Bund von Sinai war ein zweiseitiges Abkommen, ein Vertrag. Ein Vertrag wird immer in zwei Exemplaren ausgefertigt – jeweils eines für jede Partei. So war es auch hier: Zwei Tafeln, denn der Bund war zweiseitig, im Gegensatz zum Bund mit Abraham in 1. Mose 15, der einseitig war. Während des Bundesschlusses schlief Abraham tief.
Der Bund von Sinai ist also zweiseitig. Deshalb gibt es das Vertragswerk in zwei Ausführungen, und jede Partei erhielt eine Tafel.
In 2. Mose 24,12-31,18 wird über die ersten Tafeln aus Stein berichtet. Dort erfahren wir auch von der Stiftshütte und den Gesetzen zum Bau dieses transportablen Tempels. In Verbindung mit diesen Anordnungen zur Stiftshütte sehen wir bereits etwas von Gnade, von Opfer und von Stellvertretung.
All dies weist auf den Erlöser hin, der einmal kommen sollte. Hier zeigt sich die schöne Bedeutung: „Weisung von den Fingern ausgestreckt“. Die Tora hat von Anfang an mit ausgestrecktem Finger auf den kommenden Erlöser hingewiesen, auf den Messias.
Der Bundesbruch mit dem goldenen Kalb und die zweite Tafel
In 2. Mose 32-34, in der Zeit, als Mose auf dem Berg war, um die Tafeln zu holen, fällt das Volk von Gott ab. Es begeht Treuebruch und macht das goldene Kalb. Damit verehren sie einen anderen Gott. Sie sagen, dass dieses Kalb Yahweh sei, also der Herr, der sie aus Ägypten herausgeführt hatte.
Damit brechen sie bereits die ersten zwei Gebote der Tora – und das noch bevor sie die schriftliche Unterlage, den schriftlichen Vertrag, erhalten haben. Mündlich hatten sie vorher bereits dreimal zugesagt: Alles, was der Herr gebietet, wollen wir tun. Noch bevor sie das Vertragswerk schriftlich bekommen, brechen sie es fundamental und im Grundsatz – gerade die ersten zwei Gebote. Ein anderer Gott und ein Abbild, das angebetet wird, werden verehrt.
Als Mose dann erscheint und all dies sieht, zerschlägt er im Zorn die Tafeln. Gott sagt, er wolle dieses Volk vernichten und neu mit Mose anfangen. Mose ist bereit, aus dem Buch des Lebens gestrichen zu werden, damit Gott Israel vergibt. Er will zum Stellvertreter werden und sagt: Lösche du mich aus deinem Buch. Gott antwortet, dass das nicht möglich sei. Mose tritt für Israel als Fürbittender ein und bittet um Gnade. Er bittet auch darum, dass Gott ihm erscheint.
In 2. Mose 34, Vers 5 lesen wir: „Denn der Herr hatte zu Mose gesagt: Sprich zu den Kindern Israel, ihr seid ein hartnäckiges Volk. Zöge ich nur einen Augenblick in deiner Mitte hinauf, so würde ich dich vernichten.“ Das bedeutet: Wenn Gott das Gesetz hundertprozentig anlegen würde, hätte nie ein Zeitalter des Gesetzes entstehen können. Israel hätte von Anfang an sofort vernichtet werden sollen.
Also führt hundert Prozent Gesetz zur Vernichtung Israels und macht ein Zeitalter des Gesetzes unmöglich. Gott hat dann zum zweiten Mal zwei Tafeln beschrieben, und da war alles ganz anders. Mose kam vom Berg herunter, und sein Angesicht strahlte so stark, dass die Israeliten sagten: „Du musst eine Decke auf dein Gesicht tun, wir können das nicht mehr aushalten.“
Warum hat er das zweite Mal geleuchtet, das erste Mal nicht? Weil ein ganz wichtiger Unterschied besteht: Beim ersten Mal war es ein Gesetz mit hundert Prozent Gesetz, das zur Vernichtung Israels geführt hätte. Das zweite Mal ist es ein Gesetz, vermischt mit Gnade. Darum konnte Israel weiter existieren, bis der Messias kam. Beim zweiten Mal hat Mose geleuchtet, weil es nicht mehr hundert Prozent Gesetz war, sondern mit Gnade vermischt.
Es ist auffällig, wie plötzlich das Wort „Gnade“ erscheint, in Kapitel 33, Vers 12: „Und Mose sprach zu dem Herrn: Siehe, du sprichst zu mir, führe dieses Volk hinauf, aber du hast mich nicht wissen lassen, wen du mit mir senden willst. Und doch hast du gesagt, ich kenne dich mit Namen, und du hast auch Gnade gefunden in meinen Augen. Und nun, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, so lass mich doch deinen Weg wissen, dass ich dich erkenne, damit ich Gnade finde in deinen Augen und sehe, dass diese Nation dein Volk ist.“
In Vers 16 fragt Mose: „Und woran soll es denn erkannt werden, dass ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, ich und dein Volk?“ Und in Vers 17 antwortet der Herr: „Auch dieses, was du gesagt hast, werde ich tun, denn du hast Gnade gefunden in meinen Augen.“
Gott ist Mose dann nochmals erschienen, und zwar in ganz außergewöhnlicher Weise, in Kapitel 34. Nachdem Gott gesagt hatte, er solle nochmals zwei Tafeln ausschlagen, lesen wir in Vers 5: „Und der Herr stieg in der Wolke hernieder, und er stand daselbst bei ihm und rief den Namen des Herrn an. Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Der Herr, der Herr, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit usw.“
Hier finden wir eine Offenbarung Gottes als ein gnädiger, langmütiger Gott. Das ist ganz wichtig: Die Tora, die Israel schließlich empfangen hat, war nicht hundert Prozent Gesetz, sondern Gesetz vermischt mit Gnade.
Die Bedeutung der Gnade im Gesetz und kulturelle Missverständnisse
Übrigens hat der Mose von Michelangelo ganz komisch Hörner. Das kommt von einer Fehlübersetzung. Sein Gesicht war strahlend. Je nachdem, wie man den hebräischen Text ausspricht und wie man die Konsonanten und Vokale einsetzt, kann man übersetzen: Sein Gesicht war gehörnt oder sein Gesicht war strahlend.
Durch diese Fehlübersetzung in der lateinischen Vulgata-Bibel kam es zu schwerwiegenden Fehlern in der europäischen abendländischen Kunst – eben zu einem Mose mit Hörnern. Im 2. Korinther 3 steht jedoch ausdrücklich, dass Moses Gesicht gestrahlt hat. Das zeigt, wie man das Wort im Alten Testament Hebräisch richtig aussprechen sollte, nämlich als „Strahlen“.
Ich habe in der Kathedrale in Lausanne einmal einen Mose mit abgesägten Hörnern gesehen. Das war ein Kunstwerk aus Holz. In der Bibelübersetzung macht man ja auch Fortschritte – oder hofft es zumindest. Dort waren also die Hörner abgesägt, was sicher ein Fortschritt war.
Das soll aber kein Aufruf sein, Michelangelos Mose ebenfalls so zu verändern. Ich glaube, wir haben einen wichtigen Punkt erkannt: Ein Zeitalter des Gesetzes wäre nicht möglich, wenn nicht die Gnade im Gesetz enthalten wäre.
Das macht auch verständlich, warum wir im Alten Testament Zeugnisse finden, zum Beispiel in Psalm 119, wo Menschen sich wirklich über Gottes Gesetz freuen. Das liegt daran, dass der strahlende Aspekt der Gnade Gottes darin enthalten war. Denn ohne Gnade wäre Israel augenblicklich von der Bildfläche der Heilsgeschichte verschwunden.
Heilsgeschichtliche Zeitalter und das Gesetz
Nun, das führt uns zum nächsten Abschnitt: das heilsgeschichtliche Zeitalter des Gesetzes. Zunächst fragen wir, was eigentlich ein heilsgeschichtliches Zeitalter ist. Im griechischen Neuen Testament steht das Wort Aion, das man mit Zeitalter, Zeitlauf oder Periode übersetzen kann.
In Kolosser 1,26 wird von den früheren Zeitaltern gesprochen, und in Epheser 1,21 vom gegenwärtigen und zukünftigen Zeitalter. Allein aus diesen zwei Stellen können wir ableiten, dass es in der Heilsgeschichte mindestens vier Zeitalter geben muss. Wenn Paulus von den Zeitaltern in der Vergangenheit spricht, ist es mindestens die Mehrzahl, also zwei oder mehr. Dann haben wir noch das gegenwärtige und das zukünftige Zeitalter, was insgesamt vier ergibt.
Das ist wichtig, weil viele Christen sagen, das sei alles falsch. Sie meinen, das sei eine Spezialität der Dispensationalisten, die verschiedene Heilszeitalter unterscheiden wollen, was man nicht tun sollte. Aber warum sollte man das nicht tun, wenn es die Bibel selbst tut? Die Bibel unterscheidet tatsächlich mindestens vier heilsgeschichtliche Zeitalter.
Das griechische Wort Aion bezeichnet eine Zeitperiode, die durch einen bestimmten Lebensstil und eine bestimmte Art des Denkens charakterisiert ist. In anderen Kontexten bedeutet dieses Wort auch Ewigkeit – besonders dann, wenn es heißt „in die Zeitalter der Zeitalter“. Das muss man übersetzen mit „in die Ewigkeit der Ewigkeiten“, also immerwährend.
Das war jetzt ein Seitenblick auf die Altersöhungslehre, zum Beispiel Offenbarung 1,18 und andere Stellen, wo von der Ewigkeit der Ewigkeiten gesprochen wird. Das ist eine feststehende hebräische Redewendung, die im griechischen Neuen Testament auftaucht.
Das Wort Aion sollte man auch nicht mit Aionios verwechseln. Aionios ist ein Adjektiv, das siebzig Mal im Neuen Testament vorkommt und immer ewig bedeutet. Zum Beispiel in Matthäus 25,46 wird im gleichen Vers vom ewigen Leben und der ewigen Pein gesprochen: Aionios und Aionios. Wenn die Altersöhungslehre sagt, Aionios bedeute einfach eine lange Zeitperiode, aber nicht unbedingt ewig, dann müssen wir sagen: Wenn die ewige Pein nicht ewig ist, dann ist das ewige Leben auch nicht ewig.
Das Wort wird noch deutlicher erklärt in 2. Korinther 4,18. Paulus sagt: „Wir schauen nicht auf das, was man sieht, denn das, was man sieht, ist zeitlich, und was man nicht sieht, ist aionios.“ Wie sollen wir das übersetzen? Was ist das Gegenteil von zeitlich? Ewig. Ganz einfach: eben nicht begrenzt.
Uns geht es nun um das Wort Aion, das oft ein Zeitalter oder eine Periode bedeutet.
Wir haben jetzt eigentlich die Pause vor uns, es ist elf Uhr bis Viertel nach. Wenn wir in der vergangenen Stunde verstanden haben, dass das Wort Gesetz in der Bibel ganz Verschiedenes bedeuten kann, dass das Gesetz am Sinai zuerst als hundertprozentiges Gesetz und später als Gesetz vermischt mit Gnade gegeben wurde, und dass die Bibel über heilsgeschichtliche Zeitepochen spricht, dann haben wir alles Wichtige mitbekommen.
Vor der Pause habe ich gerade noch das Wort Aion, Zeitalter, erklärt und möchte noch auf ein weiteres Wort hinweisen: Oikonomia in Epheser 1,10. Dort wird von der Oikonomia, von der Verwaltung oder Haushaltung des zukünftigen Zeitalters gesprochen. Das ist das tausendjährige Reich.
Dieser Ausdruck Oikonomia ist interessant. Er bedeutet Haushaltung oder wörtlich Hausgesetz. Kinder haben oft Schwierigkeiten damit: In jeder Familie, in jeder Haushaltung gibt es andere Gesetze. Sie fragen: Warum darf ich das nicht, wenn andere Christen das dürfen? Wir sagen dann: Ja, wir sind eine Familie, und wir haben diese Hausordnung, und das ist recht so. Es gibt Unterschiede. Von Haushaltung zu Haushaltung ändern sich gewisse Ordnungen und Gesetze.
So ist es auch mit den Heilszeitaltern. Die Hausordnung ändert sich. Wenn wir jetzt über das Zeitalter des Gesetzes sprechen, herrscht eine andere Hausordnung als heute im Zeitalter der Gnade. Und im tausendjährigen Reich wird es wieder anders sein.
Die Oikonomia des tausendjährigen Reiches, die Haushaltung des tausendjährigen Reiches, ist eine andere als die heutige, und diese ist wiederum anders als die Haushaltung des Gesetzes. Darum ist dieser Begriff Haushaltung oder Verwaltung sehr wichtig.
Der ewige Bund und seine zeitliche Bedeutung
In Verbindung mit dem heilsgeschichtlichen Zeitalter des Gesetzes stellt sich die Frage, wie 2. Mose 31,16 zu verstehen ist. Dort wird von einem ewigen Bund gesprochen, den Gott geschlossen hat. Es heißt, der Sabbat sei das Zeichen dieses Bundes vom Sinai, und dieser Bund sei ein ewiger Bund.
Im Hebräischen steht wörtlich „ein Bund der Ewigkeit“. Dabei hat das hebräische Wort für Ewigkeit, „olam“, verschiedene Bedeutungen. Dieses Wort kann Ewigkeit im absoluten Sinn bedeuten, doch oft bezeichnet es auch nur eine lange Zeitperiode. Dass das für die Lehre von der ewigen Heilung nicht hilfreich ist, haben wir bereits gesehen. Denn die ewige Feier ist tatsächlich ewig, dafür gibt es genügend klare Schriftbeweise. Wichtig ist jedoch, dass das Wort „Ewigkeit“ im Alten Testament verschiedene Bedeutungen haben kann.
„Olam“ geht zurück auf die Wurzel „alam“, die „bedecken“ oder „verbergen“ bedeutet. Deshalb bezeichnet „olam“ eine Zeitperiode, die dem menschlichen Geist verborgen ist beziehungsweise eine Zeitdauer, die den menschlichen Geist übersteigt und ihm nicht vollständig zugänglich ist. Es bedeutet aber nicht unbedingt „ewig“ im absoluten Sinn.
Wenn wir uns die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts anschauen, dann sehen wir, dass es nur hundert Jahre umfasst. Doch wer von uns kennt diese hundert Jahre Geschichte wirklich durch und durch? Hundert Jahre sind zu kurz, als dass der menschliche Geist sie vollständig erfassen könnte. Umso mehr gilt das für ein heilsgeschichtliches Zeitalter, das zum Beispiel tausendfünfhundert Jahre dauert. „Olam“ bezeichnet also eine lange oder längere Zeitperiode, die vom menschlichen Geist nicht vollständig durchdrungen werden kann.
Ein „ewiger Bund“ heißt deshalb noch lange nicht, dass er ewig im absoluten Sinn ist. Wenn in Verbindung mit dem Sabbat von diesem ewigen Bund gesprochen wird, der ein Zeichen dieses Bundes mit Israel ist, dann kann daraus nicht gefolgert werden, dass Christen den Sabbat halten müssen, weil es ein ewiger Bund sei. So einfach ist das nicht.
Hinzu kommt, dass dieser Bund mit Israel geschlossen wurde — mit Israel, nicht mit den Völkern. Wer das Sabbatgebot auf die Völker übertragen will, verfälscht den Bibeltext. Das noachidische Gesetz zum Beispiel enthielt kein Sabbatgebot. Auch die Schöpfungsordnung enthielt kein Sabbatgebot. Zwar gab es den Sabbat, aber kein Gebot dazu. Das ist ganz wichtig, darauf kommen wir noch zurück.
Dass der Bund nicht wirklich ewig im absoluten Sinn ist, wird deutlich, wenn man das Ende des ersten Bundes betrachtet. Dieses Ende wurde vorausgesagt, zum Beispiel in Jeremia 31,31. Diese Stelle kann man sich gut merken: Um 600 vor Christus, also mitten im Zeitalter des Gesetzes, sagt der Herr: „Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, da ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund machen werde, nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern gemacht habe, an dem Tag, da ich sie bei der Hand fasste und aus Ägypten herausführte, den Bund, den sie gebrochen haben. Doch ich hatte mich mit ihnen vermählt, spricht der Herr.“
Das Alte Testament spricht hier von einem neuen Testament, denn „Bund“ und „Testament“ sind zwei Wörter, die im Hebräischen dasselbe bedeuten. Gott sagt, er macht mit Israel, also mit dem Haus Israel und dem Haus Juda, einen neuen Bund. Das Haus Israel sind die zehn Stämme, das Haus Juda die zwei Stämme. Mit dem zwölfstämmigen Volk Israel macht Gott einen neuen Bund, der anders sein soll als der Bund vom Sinai.
Es wird also ganz deutlich: Wenn von einem neuen Bund gesprochen wird, ist der erste Bund vom Sinai altgemacht. Und was alt ist, wird veraltet und verschwindet schließlich. Das ist logisch.
Diese Argumentation habe ich selbst herausgefunden, sie ist auch die Argumentation des Hebräerbriefs. Dort wird genau diese Stelle aus Jeremia 31,31-34 zitiert (Hebräer 8,8-12). Der Hebräerbrief sagt, dass der neue Bund den ersten alt gemacht hat. Was aber alt wird und veraltet ist, ist dem Verschwinden nahe.
Acht Jahre nach dem Hebräerbrief wurde der zweite Tempel zerstört, und der ganze Opferdienst ging im Jahr 70 unter. Das ist dramatisch und prophetisch. Das Ende des ersten Bundes wurde also ganz klar vorausgesagt.
Das Priestertum und die Veränderung des Gesetzes
In Psalm 110 wird vom Messias gesagt, er werde Priester sein nach der Ordnung Melchisedeks. Psalm 110, der messianische Psalm, weist auf den Messias hin. Vers 4 lautet: „Geschworen hat der Herr, und es wird ihm nicht gereuen: Du bist Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks.“
Ich habe hier auf Hebräer 7 verwiesen. Der Hebräerbrief erklärt, dass der sinaitische Bund mit dem aaronitischen Priestertum verbunden war, weil Aaron der erste Hohepriester war. Die Prophetie im Alten Testament sagt jedoch, dass es, wenn der Messias kommt, ein Melchisedek-Priestertum geben wird.
Warum braucht es plötzlich ein neues Priestertum? Wenn ein neues Priestertum nötig ist, war das erste Priestertum in Verbindung mit Aaron nicht vollständig, nicht vollkommen und nicht abschließend. Wird das Priestertum verändert, ändert sich automatisch auch das Gesetz. Denn das aaronitische Priestertum war untrennbar mit dem sinaitischen Bund verbunden.
So wird in Hebräer 7 argumentiert, dass jetzt eine Änderung kommen muss. Acht Jahre nach dem Hebräerbrief war das aaronitische Priestertum am Ende – bis heute. Es gibt immer noch keinen dritten Tempel.
Wichtig ist auch Matthäus 5, Vers 17, was der Herr Jesus gesagt hat. Das gibt uns zunächst eine deutliche Spannung, die aber später gelöst wird. In der Bergpredigt sagt Jesus: „Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz, also die Tora und die Propheten, aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein Jota oder ein Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.“
Jesus sagt ganz klar: Die Tora, das Gesetz, wird nicht vergehen. Kein Strich an den fünf Büchern Mose wird vergehen. Gottes Wort bleibt.
Nun eine Schlüsselstelle: Johannes 1, Vers 17, zeigt deutlich den Gegensatz zwischen Mose und dem Messias. Ich lese schon Vers 16: „Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit aber sind durch Jesus Christus geworden.“
Hier haben wir das Zeitalter des Gesetzes, das mit Mose begann, und das Neue, das durch das Kommen des Messias eingeleitet wurde. Mose steht im Kontrast zum Messias.
Übrigens haben beide durch ein Wunder Wasser verwandelt. Das erste Wunder des Herrn Jesus war in Johannes, Wasser zu Wein zu verwandeln. Mose verwandelte bei der ersten Plage in Ägypten Wasser in Blut.
Der Wein ist ein Bild der Freude. Wein gehört zur Tischgemeinschaft und drückt Freude und Gemeinschaft aus. Wein ist nicht einfach da, um sich selbst zu belustigen – dann wird er zur Falle, zur Schlinge. Blut hingegen ist ein Bild des Gerichts.
Mose verwandelte Wasser in Blut, der Herr Jesus Wasser in Wein.
Das Gesetz kam durch Mose, die Gnade durch Jesus Christus.
Wir haben also das Zeitalter von Mose, etwa 1400 vor Christus, bis Jesus Christus, der 32 nach Christus gekreuzigt wurde. Dieses Zeitalter ist gekennzeichnet durch zwei Berge: das Gesetz von Mose, symbolisiert durch den Berg Sinai, und die Gnade, symbolisiert durch den Hügel Golgatha.
In Römer 10, Vers 4 heißt es: „Christus ist des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit.“ Das griechische Wort für „Ende“ ist telos, was auch Ziel bedeuten kann. Das heißt, das Gesetz zielte auf Jesus Christus hin, aber damit beginnt etwas Neues.
In Galater 3, Vers 19 wird über den Bund von Sinai gesprochen. Dort heißt es, dass es so war, bis der Same käme, der verheißene Same, der Messias.
Galater 3, Vers 23 sagt, dass wir damals unter Gesetz waren, als Juden, eingeschlossen auf den Glauben hin, wenn einmal der Glaube durch den Messias kommen würde. In Galater 3, Vers 24 wird das Gesetz als „auf Christus hin“ beschrieben.
Wir merken, dass hier immer über eine Zeitperiode gesprochen wird, die mit einem „bis“ begrenzt ist.
Hebräer 9, Vers 10 spricht über die Dinge des Tempels und sagt, dass sie bis zur Zeit der Zurechtbringung durch den Messias galten.
Ganz wichtig ist auch Galater 3, Vers 13, das deutlich macht, dass es hier um ein Zeitalter geht, das ein Ende haben sollte: „Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch geworden ist. Denn es steht geschrieben: Verflucht ist jeder, der am Holz hängt, damit der Segen Abrahams in Christus Jesus zu den Nationen käme, auf dass wir die Verheißung des Geistes empfingen durch den Glauben.“
Christus hat mit dem Fluch, den das Gesetz brachte, ein Ende gemacht.
Nochmals in Galater 4 spricht Paulus als Jude. Er sagt im Galaterbrief „Wir, wir, wir“ und spricht zu Heiden mit „Ihr, ihr, ihr“. Das ist ganz wichtig beim Lesen des Galaterbriefs.
Er sagt: „Auch wir, als wir unmündig waren, waren wir geknechtet unter die Elemente der Welt. Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, auf dass er die, welche unter Gesetz waren, loskaufte, auf dass wir die Sohnschaft empfingen.“
Wir sehen, das Gesetz war eine Zeit des Sklavendienstes. Der Mensch war ein Sklave vor Gott. Mit dem Kommen des Messias beginnt eine neue Ordnung: Der Mensch darf Sohn oder Tochter Gottes sein.
Sehen wir noch etwas an dieser Stelle: Der Messias wurde von Gott gesandt, geboren unter Gesetz. Das heißt, der Herr Jesus war als Mensch auf dieser Erde immer noch unter dem Gesetz. Deshalb hat er alle Gebote eingehalten. Er trug die Quasten an seinen Kleidern, er wurde beschnitten, und am achten Tag hat er alle Gebote der Tora erfüllt. Er war unter Gesetz.
Darum sind die vier Evangelien zum größten Teil Berichte, die die Zeit unter Gesetz beschreiben, also das Alte Testament. Das Alte Testament reicht eigentlich bis zur Kreuzigung. Erst dort kommt die Wende.
Wer also versucht, Christen vom Gesetz des Sinai zu befreien, muss wissen: Jesus Christus hat all diese jüdischen Feste beobachtet und eingehalten, auch die Beschneidung. Christen sind Nachfolger Jesu. Warum also sollten sie diese Dinge nicht tun?
Die Verführung liegt darin, zu vergessen, dass Jesus geboren wurde unter Gesetz, um die zu loskaufen, die unter Gesetz waren. Die Wende kommt erst mit Golgatha, nicht mit der Geburt Jesu – ganz wichtig.
Daher gilt: Vom Sinai bis Golgatha ist das Zeitalter des Gesetzes.
Wesen und Einheit des Gesetzes
Jetzt kommen wir zur Bedeutung des Gesetzes. Das Wesen des Gesetzes wird in Römer 7,12 beschrieben: Das Gesetz ist heilig, gerecht und gut. In Römer 7,14 wird außerdem gesagt, dass das Gesetz geistlich ist.
Diese Aussagen helfen uns, keine negative Haltung gegenüber dem Gesetz zu entwickeln. Das Gesetz ist etwas Gutes, etwas Heiliges und etwas Geistliches.
In 5. Mose 4,6 wird das Gesetz als weises Gesetz beschrieben. Gott sagt, dass die Nationen und Völker um euch herum über die Weisheit staunen werden, die ihr in der Tora erhalten habt. Darauf werden wir später noch zurückkommen.
Nach Jakobus 2,10 bildet das Gesetz vom Sinai eine absolute Einheit. Jakobus erklärt dort, dass, wer in einem Gebot fällt, aller Gebote schuldig geworden ist. Das bedeutet, man kann das Gesetz nicht einfach in einzelne Gebote aufteilen. Das Gesetz ist das Ganze und besteht aus einzelnen Befehlen, den Geboten.
Man kann die Gebote nicht auseinanderreißen. Wer also ein Gebot bricht, ist gewissermaßen am ganzen Gesetz schuldig. Das zeigt, dass man das Gesetz vom Sinai nicht in ein rituelles Gesetz mit den Opfern, dem Essen usw. und ein moralisches Gesetz, wie zum Beispiel das Verbot von Ehebruch oder Diebstahl, trennen kann.
Es bildet eine Einheit, die man nicht aufschneiden darf und kann. Ganz wichtig ist also: Das rituelle Gesetz kann nicht vom moralischen Gesetz getrennt werden.
Die Taten des Gesetzes und ihre Grenzen
Jetzt sprechen wir über die Taten des Gesetzes. Das Gesetz verspricht etwas, nämlich ewiges Leben durch Werke. In 3. Mose 18,5 heißt es: Wer diese Dinge einhält, wird dadurch leben. Das hat das Gesetz versprochen: Wer alles einhält, stirbt nicht.
Diese Aussage wird in Galater 3,12 nochmals aufgegriffen. Im Gesetz geht es um Taten, man muss es tun. Es geht nicht in erster Linie um Glauben. Deshalb beschäftigt sich die jüdische Theologie nicht sehr stark damit, wie das Verhältnis des Einzelnen zu Gott ist. Sie konzentriert sich vor allem darauf, was man tun muss und was man nicht tun darf. Man muss das eine einhalten und das andere nicht, aber es geht weniger um die persönliche Beziehung zu Gott, sondern um die Taten.
Das Gesetz verspricht also: Wer diese Dinge tut, wird durch sie leben. Doch wir wissen, dass alle Gesetzeslehrer gestorben sind, auch die großen Rabbiner vor zweitausend Jahren. Offensichtlich konnte niemand die Gebote vollständig einhalten. Deshalb sagt der Hebräerbrief in Kapitel 7, Vers 19: Das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht.
Es bringt Fluch. In Galater 3,10 wird 5. Mose 27,26 zitiert, wo es heißt: Wer nicht aufrecht erhält alle diese Gebote, der sei verflucht. Darum steht jeder Mensch, der unter dem Gesetz ist, unter Gottes Fluch. Das ist schon erschreckend: Jeder Jude unter dem Gesetz steht unter Gottes Fluch.
Aber das Gesetz spricht auch vom Verheißenen, vom kommenden Erlöser. Der Herr Jesus sagt das in Johannes 5,39 und 46, wo es heißt, Mose habe von ihm geschrieben. Das Gesetz zeugt von ihm, also von der Weisung, die auf den Erlöser hinweist.
Durch direkte Prophetie wird das deutlich, zum Beispiel in 1. Mose 22,18: Dort wird der Same Abrahams genannt, der kommen wird und Segen bringt. Das wird in Galater 3,16 klar auf Jesus Christus bezogen. Das Gesetz spricht vom verheißenden Erlöser, aber selbst hat es bisher noch nie jemandem Erlösung gebracht.
Das Gesetz als Pädagoge und die Sündenerkenntnis
Das Gesetz wird personifiziert. In Galater 3,24 wird es „der Zuchtmeister“ genannt. Das klingt allerdings sehr streng. Im Griechischen steht dort nämlich ein schöneres Wort: „paidagogos“ – ein Erzieher, ein Pädagoge. Das Gesetz ist also ein Pädagoge.
Im Altertum hatten reiche Familien einen Pädagogen, der normalerweise ein Sklave war. Dieser übernahm die Erziehung der Kinder und verbrachte seine Freizeit mit ihnen. Man kann ihn mit einem Au-pair-Mädchen vergleichen. Er musste den Kindern interessante Dinge beibringen, sich mit ihnen unterhalten, mit ihnen spielen und so weiter. Das war der Pädagoge.
Nun sagt gerade Galater 3,24, dass das Gesetz unser Pädagoge auf Christus hin war. Das bedeutet, das Gesetz war eine Form der Erziehung. Der Mensch sollte dadurch lernen, dass er erlösungsbedürftig ist. Denn keiner von uns nutzt die Chance, die das Gesetz bietet: „Wenn du alles tust, wirst du leben.“ Keiner schafft das. Und eine einzige Sünde reicht aus, um von Gott für ewig verdammt zu werden.
Dieser Zuchtmeister, dieser Pädagoge, führt also zur Sündenerkenntnis. In Römer 3,20 heißt es: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ Weiterhin spricht dieser Pädagoge von Christus, dem Messias, und seinen Reichtümern.
In Lukas 24,44 hatte Jesus den Emmaus-Jüngern auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus alles erklärt, was sich im Alten Testament auf ihn bezieht – angefangen bei der Tora, dem Gesetz Mose. Alles spricht von ihm. Das Gesetz war da, um zu zeigen: Du bist verloren, du bist sündig. Aber schau, es kommt einer, der das Problem der Sünde lösen wird. Die Weisung weist auf den Messias hin.
Das Gesetz wird auch in Römer 7,1-7 mit einem Ehemann verglichen – allerdings mit einem harten Ehemann, der ganz perfekt ist. Die Frau hat viele Fehler. Er sagt zu ihr: „Jetzt hast du das wieder falsch gemacht, das hast du auch falsch gemacht.“ Sie kann nie etwas gegen ihn sagen, denn er ist perfekt, gerecht, heilig, gut, geistlich und weise. Sie macht alles falsch, er macht alles richtig.
Paulus erklärt, dass man durch einen Bund, wie die Ehe, gebunden ist und diesen nicht auflösen kann, nur durch den Tod. Wenn eine Frau während der Lebzeit ihres Mannes einen anderen heiratet, ist die Ehe gebrochen. Nur der Tod trennt. So konnte ein Jude unter dem Gesetz sich nicht mehr von diesem Bund lösen. Dieser Bund wurde am Sinai geschlossen und ist unauflösbar.
Gott sagt im Jahr 31 (damals am Sinai): „Da habe ich mich mit euch vermählt.“ Das war ein Heiratsbund mit Israel. Dieser Bund ist nicht aufzulösen, nur der Tod kann ihn lösen. Es ist also keine einfache Ehe, wenn der Mann perfekt ist und die Frau nur Fehler hat. Das ist sehr hart.
Dieses Bild soll uns nicht ermuntern, unsere Ehe so zu führen. Abgesehen davon gibt es diesen Ehemann ja gar nicht – nur das Gesetz war so, glücklicherweise.
Das hilft uns schon weiter: Römer 7 erklärt, dass nur der Tod vom Gesetz befreit, nur der Tod.
Jetzt wissen wir: Der Messias ist gekommen. Er selbst war unter dem Gesetz und ist dann gestorben. Jesus hat sich am Kreuz mit allen identifiziert, die an ihn glauben würden. Darum konnte Paulus sagen in Galater 2,20: „Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“
Das heißt: Ein Jude, der zum Glauben an den Messias kommt, ist gestorben, weil er mit dem Messias identifiziert ist. Der Tod des Messias ist sein Tod. Dann ist der Bund aufgelöst, der Ehebund. Aber das Gesetz besteht weiter.
In Römer 7 geht es letztlich darum, dass nicht das Gesetz gestorben ist. Der Vergleich wird umgedreht. Paulus sagt: „Ihr seid durch den Tod Christi gestorben und dürft jetzt einem anderen gehören – nicht mehr dem Gesetz von Sinai, sondern dem Messias.“
Diese Stelle ist sehr wichtig und entscheidend. Letztlich geht es um die Frage: Nicht das Gesetz ist gestorben, es existiert weiter. Aber die Beziehung zum Gesetz ist durch den Tod Christi gebrochen.
In Römer 7,4 heißt es: „So seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten.“
Ihr seid dem Gesetz getötet worden, die Beziehung zum Gesetz ist durch den Tod Christi aufgelöst. Aber das Gesetz existiert weiter. Ihr habt jetzt eine neue Beziehung mit Christus, dem Messias, eingehen können.
Das ist eine absolute Schlüsselstelle für das ganze Problem von Gesetz und Gnade.
Praktische Bedeutung des Gesetzes: Hygiene, Medizin und Wirtschaft
Jetzt möchte ich noch etwas zur praktischen Bedeutung des Gesetzes sagen, insbesondere zur Weisheit und hygienischen Bedeutung.
In 3. Mose 13,46 wird erklärt, wie man bei verschiedenen Krankheitssymptomen die Betroffenen in Isolation bringen musste. Das war eine wunderbare Einrichtung zur Bekämpfung von Lepra und Pest, auf die man sonst nie selbst gekommen wäre. Wenn man die medizinischen Rezepte und Anweisungen der alten Ägypter aus jener Zeit liest – zum Beispiel, wie man Eselsmist auf eine Wunde tun soll – dann wird einem auch ohne medizinisches Wissen schnell schlecht.
Zur selben Zeit erhielt Israel die Tora mit all diesen Anweisungen. In 5. Mose 23,12 wird die Regelung der Toilette beschrieben: Wenn man sich erleichtern muss, soll man außerhalb des Lagers gehen, sich umkehren und das Geschäft mit Erde bedecken. Das diente dazu, Krankheiten in Israel zu vermeiden. So wurde durch die Tora gegen Typhus, Cholera und Ruhr vorgebeugt.
In 3. Mose 19,11 und den folgenden Versen wird erläutert, was man gegen Vergiftungen und Infektionen durch Nahrungsmittel tun kann. Das Essen von Aas war absolut verboten. Wenn ein Tier tot ist, ist es zunächst kein Aas, aber nach einer Weile wird das Fleisch verdorben und gilt dann als Aas. Verdorbenes Fleisch war also strikt untersagt.
In 3. Mose 11 wird außerdem erklärt, welche Tiere man essen darf und welche nicht. Man hat herausgefunden, dass genau die Spalthufer, die Wiederkäuer, die resistentesten Tiere gegen Parasiten sind. Das macht diese Fleischsorten ideal. Natürlich gibt es zusätzliche Probleme, wenn man eine Kuh zum Kannibalen macht, aber abgesehen davon ist das Fleisch dieser Tiere wirklich optimal. All das ist in der Tora geregelt.
3. Mose 15 und 4. Mose 19 regeln die Hygiene durch Waschen. Wenn man einen Toten berührt hatte, musste man ein umfangreiches Reinigungsprozedere durchlaufen. Interessant ist, dass der erste Mediziner, der im 19. Jahrhundert sagte, man müsse die Hände waschen, wenn man von einer Sektion zurückkehrt und eine Entbindung vornehmen soll, damals ausgelacht und geächtet wurde. Heute ist das glücklicherweise Normalität. Doch im Gesetz war das bereits vor 3.500 Jahren festgeschrieben.
In 3. Mose 12,3 wird die Beschneidung erwähnt. Sie ist ein wunderbarer Schutz gegen Gebärmutterkrebs, weil die Ablagerungen unter der Vorhaut krebserzeugend sind. Durch die Beschneidung ist es viel hygienischer. Es ist nachweisbar, dass die Ehefrauen beschnittener Männer eine deutlich niedrigere Rate an Gebärmutterkrebs haben als die von nicht beschnittenen Männern. Das sind wunderbare Einrichtungen, die Gottes Weisheit zeigen.
Auch das Gesetz in wirtschaftlicher Hinsicht ist hoch erhaben über Kapitalismus und Kommunismus. Warum? In 4. Mose 26,52-56 wird festgelegt, dass jede Familie in Israel Grundbesitz haben sollte – ganz im Gegensatz zur kommunistischen Ansicht, dass Eigentum Diebstahl sei. Die Tora gibt dem einzelnen Menschen Eigentum, das ist Gottes Wille. Grundeigentum wird von Gott geschützt.
Israel war ein Sklavenvolk in Ägypten. Nachdem sie herauskamen, bekamen sie das Gebot: „Du sollst nicht stehlen.“ Ganz klar schützt Gott das Eigentum und will, dass wir Besitz haben.
In 3. Mose 25 ist geregelt, dass wenn man andere Grundstücke aufkauft, man sie nur für eine bestimmte Zeit besitzen darf. Alle 50 Jahre war das Jubeljahr. Dann musste das Grundeigentum an die ursprünglichen Familien zurückgegeben werden. Wenn jemand durch Missernte, Krankheit oder Unfall gezwungen war, sein Grundstück ganz oder teilweise zu verkaufen, kam es im Jubeljahr wieder zurück. Das verhinderte dauerhafte Verschuldung und die Proletarisierung der Masse. Es war also nicht möglich, dass viele Menschen verarmen und nur noch in kleinen, beengten Verhältnissen leben mussten. Gott wollte das Grundeigentum sichern.
Auch Großgrundbesitz wurde rigoros eingeschränkt. Wenn jemand viele Liegenschaften und Grundstücke kaufte, musste er sie im Jubeljahr wieder zurückgeben. Übermäßiger Reichtum durch Landbesitz war somit ausgeschlossen.
Weiterhin warnen 2. Mose 22,25 und 5. Mose 23,19 vor Zinsnahme und Wucher. Zinsen sind verboten. Gegenüber Ausländern durfte man Zinsen nehmen, aber innerhalb Israels nicht. Das ist wichtig, weil es den Armen ermöglicht, aus der Not herauszukommen. Wenn jemand Geld in der Not aufnimmt, muss er sonst Zinsen zahlen, wodurch die Familie immer weiter verschuldet wird. Man weiß heute, dass gerade Leasingverträge und ähnliche Finanzierungen viele Menschen in unserer Gesellschaft in soziale Notlagen bringen. Gott will nicht die Verarmung des Menschen.
Man muss allerdings sagen, dass diese ganze Wirtschaftsordnung untrennbar mit dem Land Israel verbunden war. Deshalb verstanden die Juden in der Zerstreuung, dass sie diese Regeln nicht mehr einhalten konnten. Es bezog sich also auf die Wirtschaftsordnung Israels. Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn er Zinsen von der Bank bekommt. Abgesehen davon decken die Zinsen oft nicht einmal die Inflation ab, was ein anderes Problem ist.
Das bringt uns zum Staunen: Das Gesetz gibt auch sozialen Schutz und Hilfe für Arme und Ausländer. An verschiedenen Stellen gibt Gott klare Anweisungen, dass man den Armen, Witwen, Waisen und Ausländern finanziell helfen muss.
Zusammenfassend hat die Tora eine praktische Bedeutung in sozialer, hygienischer, medizinischer und wirtschaftlicher Hinsicht.
Die Überlieferung der Ältesten und Jesu Kritik
Und nun zum Problem der Überlieferung der Ältesten. In Matthäus 15,1-20 hat der Herr Jesus die Gesetzeslehre scharf kritisiert. Er machte deutlich, dass sie Gesetze eingeführt hatten, die weit über die Tora hinausgehen. Dabei hatten sie nie offen gesagt: „Ja, wir machen neue Gesetze.“ Stattdessen waren die pharisäischen Gesetze beispielsweise dazu gedacht, die biblischen Gesetze zu interpretieren und auf alle möglichen Situationen anzuwenden.
Doch durch ihre Interpretation haben sie dem Ganzen sehr viel hinzugefügt. Im Talmud, im Traktat Avot (Pirkei Avot – Sprüche der Väter), findet man zwar viel Weisheit, aber dort heißt es auch, man müsse um die Tora einen Zaun errichten. Das bedeutet, die Gebote sollen strenger ausgelegt werden, als sie eigentlich gemeint sind, damit man die eigentlichen Gebote nicht übertritt. Man errichtet also einen Sicherheitszaun.
Genau das geißelt der Herr Jesus deutlich. Er sagt, dass sie dadurch das Wort Gottes ungültig gemacht haben. Jesus hielt ganz klar am Prinzip fest: das Wort allein, ohne Zusätze und ohne etwas wegzunehmen. Auch wenn er am Sabbat heilte, war das nicht, um den Sabbat zu brechen. Er sagte vielmehr, dass die Interpretation, eine Heilung am Sabbat sei nicht erlaubt, nicht der Tora entspricht. Das war der Punkt: Jesus hielt sich an die Gebote.
Der Talmud ist das wichtigste theologische Werk des Judentums, es umfasst zwölf dicke Bände. Dort findet man all diese Erklärungen und Anwendungen der Gesetze aus der Tora – aber oft bis zur totalen Verengung. Ein Beispiel: Das geht immer weiter. Heute in Israel, wenn Pessach ist, muss aller Sauerteig aus dem Haus verschwinden. Man geht mit einer Kerze durchs Haus, sammelt alle Sauerteigreste und Brotsamen zusammen, putzt und fegt alles heraus.
Nun hat man sich überlegt: Es kann sein, dass nicht alles erwischt wurde. Was macht man? Ein Rabbi kommt im Viertel vorbei und kauft allen Sauerteig auf, der noch im Haus sein könnte. So gehört das, was möglicherweise noch da ist, nicht mehr dem Besitzer. Der Rabbi verkauft dann den gesammelten Sauerteig an das oberste Religionsministerium in Israel. Dieses kauft den gesamten möglichen Sauerteig in ganz Israel auf.
Und was passiert damit? Er wird an einen Araber verkauft. Nach der Pessachwoche macht der Araber den Handel rückgängig und erzielt einen finanziellen Gewinn. Das ist rechtlich in Ordnung. Doch man sieht, dass hier ein großes Theater gemacht wird, das völlig überzogen ist im Blick auf die Tora.
Ein Rabbi wollte vor einigen Jahren noch weiter gehen, aber er schaffte es nicht. Es gibt Leute, die im See Genezareth mit Brot fischen, und das Wasser wird als Trinkwasser nach Jerusalem geleitet. Nun könnte es ganz kleine Überreste von Sauerteig im Trinkwasser geben. Dieser Rabbi sagte, man solle während der Pessachwoche das Trinkwasser vom Hahn verbieten. Das wurde zwar nicht allgemein durchgesetzt, aber in seinem Kreis schon.
Das zeigt: In der Bemühung, Gottes Gebot genau einzuhalten, geht man oft deutlich über die Gebote hinaus.
Unter diesem Gesichtspunkt muss man 1. Petrus 1,18 lesen. Dieser Vers richtet sich an Juden. Petrus schreibt nämlich an die in der Zerstreuung, Kapitel 1, Vers 1, in der Diaspora – das sind die Juden im Ausland. Dort heißt es in Vers 18:
„Indem ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichen Dingen, mit Silber oder Gold, erlöst worden seid von eurem eitlen, von den Vätern überlieferten Wandel, sondern mit dem kostbaren Blut Christi als eines Lammes ohne Fehl und ohne Makel.“
Christus hat euch erlöst von eurem eitlen, hohlen Wandel, der von den Vätern überliefert wurde. Die Gebote, wie sie in der jüdischen Theologie katalogisiert werden, nennt man Halacha. Halacha bedeutet „gehen“ oder „wandeln“. Die Halacha ist der Wandel, der Lebensweg.
Petrus sagt: Ihr seid erlöst worden von eurem eitlen Wandel, von der Halacha, die von den Vätern überliefert wurde. Ihr seid erlöst durch das Blut Christi. Das heißt, ihr seid erlöst von allen Geboten, die Menschen euch auferlegt haben, die aber nicht in der Bibel stehen.
Das kann man natürlich auch auf andere Bereiche übertragen. Es kommen Menschen aus verschiedenen religiösen Richtungen. Wir müssen feststellen, dass wir viele Gebote auf uns geladen hatten. Doch ich muss nichts, gar nichts mehr einhalten. Durch das Blut Christi bin ich von allen menschlichen Geboten befreit und erlöst. Vielleicht ist das ein neuer Aspekt des Werkes des Blutes Christi.
Die ersten Jahrzehnte des Christentums als Übergangszeit
Jetzt sprechen wir über die ersten Jahrzehnte des Christentums. Es war eine Übergangszeit, wie in Apostelgeschichte 2,46 beschrieben. Die Gemeinde war gerade am Pfingsttag entstanden, und es wird berichtet, dass sie jeden Tag im Tempel waren. Die ersten Christen waren also vollständig mit dem Tempel und seinem Dienst verbunden.
In Apostelgeschichte 16,3 beschneidet Paulus, der den Galaterbrief geschrieben hat, Timotheus. Im Galaterbrief warnt Paulus die Heiden, also die Bekehrten aus den Heiden, vor der Beschneidung. Timotheus hatte jedoch eine jüdische Mutter, weshalb Paulus ihn beschneiden ließ.
In Apostelgeschichte 15,1 wird gezeigt, dass die Gläubigen aus den Heiden nichts vom Gesetz Mose einhalten sollen. Es wird jedoch nicht gesagt, dass die gläubigen Juden ihre Kinder nicht mehr beschneiden dürften. Das bezieht sich nur auf die Nichtjuden.
Weiter lesen wir in Apostelgeschichte 18,18 von einem Gelübde, das Paulus hatte. In Apostelgeschichte 21,20 begegnet Paulus einigen jüdischen Christen in Jerusalem, die das Gelübde des Naziräers abgelegt hatten (vgl. 4. Mose 6). Während dieser Zeit durfte man die Haare nicht schneiden, keinen Kontakt zu Toten haben und nichts vom Weinstock essen. Nach Ablauf der Zeit musste man in den Tempel gehen, die Haare schneiden lassen, die Haare wurden dann für Gott im Tempel verbrannt, und man musste Opfer bringen. Paulus war bereit, die Kosten dieser Opfer zu übernehmen. Er selbst ging auch in den Tempel und ließ sich mit der Asche der roten Kuh reinigen. Genau dieses Reinigungsritual hat er dort mitgemacht.
In Jakobus 2 spricht Jakobus zu den jüdischen Christen und sagt, wenn sie in die Synagoge gehen und dort ein Armer kommt, dann sagen sie zu ihm, er solle weggehen. Kommt aber ein Reicher, wird dieser freundlich empfangen und bekommt einen guten Platz. Das sei ungerecht. Er spricht selbstverständlich davon, dass die Juden in die Synagoge gehen.
In der Apostelgeschichte sehen wir auch, wie Paulus mit großer Selbstverständlichkeit in die Synagoge ging. In Jakobus 5,14, im gleichen Brief, wird über die Gemeinde und die Ältesten der Ekklesia gesprochen. Es gab also ein Nebeneinander von Synagoge, Gemeinde und sogar Tempel mit Tempeldienst.
Das war eine Übergangszeit. Das Ende dieser Übergangszeit wird dann in Hebräer 13,12-14 aufgegriffen:
Darum hat auch Jesus, damit er durch sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten. Golgatha war damals außerhalb von Jerusalem, außerhalb des Lagers. Deshalb lasst uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers seine Schmach tragend.
Der Hebräerbrief sagt den messianischen Juden, sie sollen sich jetzt vom Tempel und vom Tempeldienst lösen. Der Messias hatte keinen Platz im Lager, der Sanhedrin hatte ihn hinausgeworfen und außerhalb kreuzigen lassen. Deshalb sollen auch wir zu ihm hinausgehen. Wenn er keinen Platz in diesem System hatte, dann haben wir auch keinen Platz mehr. Wir gehen hinaus zu ihm.
Weiter heißt es:
Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige.
Acht Jahre später wurde Jerusalem verwüstet und dem Erdboden gleichgemacht. Das war prophetisch: Wir haben hier keine bleibende Stadt. Wir gehen hinaus und lösen uns von diesem System.
Dieser Übergang wurde bereits von Jesus in Matthäus 24,1-2 angekündigt, wo er die Totalzerstörung des zweiten Tempels klar vorhersagt.
Die Gnade durch Jesus Christus und das neue Leben
Die Gnade durch Jesus Christus, der Reichtum in dem Messias Jesus, wird in Johannes 1, Vers 18 beschrieben. Diese Fülle der Gnade in ihm wird in Vers 16 genannt. In Vers 17 heißt es, dass die Wahrheit durch Jesus Christus gekommen ist. In den Versen 14 und 18 wird gesagt, dass jetzt der Gott, der Vater, vollständig enthüllt ist. Niemand hat Gott jemals gesehen, aber der Sohn im Schoß des Vaters hat ihn uns kundgetan. Jetzt kennen wir Gott vollständig.
Früher war Gott verborgen hinter dem Scheidevorhang. Doch jetzt ist er bekannt, denn mit der Kreuzigung wurde auch der Scheidevorhang zerrissen. Jetzt kennen wir Gott; wir kennen ihn als Vater. Deshalb spricht Johannes 1, Vers 12 darüber, dass die, die jetzt an den Messias glauben, das Recht haben, Kinder Gottes zu sein. Das ist neu. Im Judentum kannte man diese Stellung nicht. Sie sind aus Gott geboren, so heißt es in Johannes 1, Vers 5, und sie haben das Leben Gottes bekommen.
Nun etwas ganz Wichtiges: Das Gesetz Mose wurde einem Volk gegeben, von dem die meisten nicht bekehrt waren, die meisten also nicht von neuem geboren. Aber das, was uns durch Jesus Christus gebracht worden ist, gilt nur für solche, die von neuem geboren sind, die also das Leben aus Gott haben, das ewige Leben. Wir haben schon in Galater 4,1-7 gelesen: Heute sind wir nicht mehr Sklaven im Verhältnis von Sklaven zu Gott, sondern Söhne oder Töchter. So steht es auch in 2. Korintherbrief 7, wo von den Töchtern Gottes gesprochen wird.
In Galater 4,6 heißt es: Der Heilige Geist ist in unsere Herzen gesandt worden und ruft „Abba, Vater“. Das ist ganz wichtig. Dieses „Abba“ bedeutet auf Hebräisch „Papa“, nicht nur „Vater“. „Av“ heißt Vater, „Abba“ sagen die kleinen Kinder in Israel. Sie rufen „Abba, Abba“. Wenn sie aber von ihrem Vater zu anderen Kindern sprechen, sagen sie „Awie“ oder „Amar“ – das ist nicht dasselbe. „Abba“ drückt die intimste Beziehung zu Gott aus. Im Judentum ist es verboten, Gott „Abba“ zu nennen. Das ist sehr intim. Aber genau das ist typisch im Christentum. Wer an den Messias glaubt, kennt Gott als „Abba“.
So hat auch der Herr Jesus im Garten Gethsemane seinen Vater angesprochen: „Abba, alles ist dir möglich.“ Diese Beziehung als ewiger Sohn zum ewigen Vater ist durch dieses Wort gekennzeichnet. Heute kennen die Erlösten diese Beziehung. Der Vorhang ist offen, der Zugang zu Gott, zu seinem Herzen, ist offen. Wir kennen Gott als „Abba“ durch den Heiligen Geist.
Im Alten Testament war das eine Ausnahme, wenn der Heilige Geist auf eine Person kam. Jetzt ist das Normalität: Jeder Erlöste hat den Heiligen Geist. Und wir haben nun dieses neue Leben. 1. Johannes 5,1-3 spricht darüber, dass wir aus Gott geboren sind. Was bedeutet dieses Geborensein? Es heißt, wir haben Jesus Christus als unser Leben.
Der Herr Jesus sagt in Johannes 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Christus lebt in mir – das ist die Wiedergeburt, sein Leben in sich zu haben. Das entspricht dem Geheimnis in Kolosser 1,27: „Christus in euch.“ Früher waren wir alle wie Handschuhe. Handschuhe können selbst nichts tun. Aber wenn die Hand in den Handschuh hineingeht, kann man sogar Klavier spielen – auch wenn es ein bisschen schwierig ist, es geht.
Wir sind also alle Handschuhe. Aber „Christus in euch“ bedeutet: Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir. Das heißt, jetzt haben wir die Kraft, das zu tun, was Gott will, durch Jesus Christus. Das ist die Kraft des neuen Lebens. Zusätzlich wird erklärt, dass wir den Heiligen Geist haben.
Galater 5, Vers 16 und besonders Vers 22 sprechen über die Frucht des Geistes. Wir haben also zwei Kraftquellen in uns: Jesus Christus, das ewige Leben, und Gott, den Heiligen Geist, der in uns wohnt. Er gibt uns die Kraft, gottgemäß zu leben.
Epheser 2 erklärt auch: Jetzt ist die Zwischenwand, die Trennung zwischen Heiden und Juden, in der Gemeinde vollständig aufgehoben.
Nun kommen wir zu einem ganz wichtigen Ausdruck: Galater 6, Vers 2. Paulus warnt in diesem Brief vor Gesetzlichkeit und sagt, wie wir uns als Christen verhalten sollen. So erfüllen wir das Gesetz des Christus. Ja, dann sind wir doch nicht gesetzlos, sondern erfüllen das Gesetz des Christus.
Dieser Ausdruck stammt aus der rabbinischen Literatur. Man findet ihn zum Beispiel im Kommentar Midrasch Kohelet 11,8. Dort heißt es: Die Tora, die ein Mensch in diesem Zeitalter lernt, ist ein Nichts gegenüber der Tora des Messias, „Toradosh el-Maschiach“ auf Hebräisch – das Gesetz des Christus. Die Juden erwarteten im Judentum, dass der Messias kommt und uns eine neue Tora bringt. Diese ist viel höher als die Tora heute.
Wo haben wir das Gesetz des Christus? Im Neuen Testament. Und wie sieht diese höhere Forderung aus? Das Gesetz von Sinai sagte: „Du sollst nicht Ehe brechen.“ Gut, es gibt Ehen, die nicht gebrochen werden, aber trotzdem eine Katastrophe sind – keine Beziehung, kein Feuer, nichts. Christus sagt in Epheser 5, Vers 25: „Liebe deine Frau, indem du dein Leben für sie lässt.“ Das geht weit über das bloße Nicht-Brechen der Ehe hinaus. Wenn der Mann bereit ist, sich hinzugeben, kann er kein Tyrann mehr sein.
Kann er Tyrann sein und die Ehe nicht brechen? Nein. Also ist das Gesetz des Christus ganz anders.
Das Gesetz am Sinai sagte: „Du sollst nicht stehlen.“ In Epheser 4 sagt das Gesetz des Christus: Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr, sondern arbeite mit seinen Händen, damit er dem Bedürftigen etwas geben kann. Es geht also nicht nur darum, nichts zu stehlen. Man kann geizig sein und nichts stehlen, aber man soll arbeiten, um anderen zu helfen, die es brauchen.
Im Neuen Testament wird erklärt, dass Gehorsam gegenüber den Geboten des Messias die wahre Liebe zu Gott ist. Jesus sagt in Johannes 14,21.23-24: „Wenn jemand mich liebt, hält er meine Gebote.“ Diese Gebote sind die Gebote des Christus, des Messias.
Man kann nicht sagen, die Gebote im Neuen Testament seien nicht wichtig und es gehe nur darum, in Freiheit zu leben. Ja, wir sind frei, aber frei, um Gottes Willen zu tun, nicht mehr Gefangene der Sünde zu sein.
Gehorsam gegenüber der Lehre der Apostel im Neuen Testament ist der Beweis dafür, dass wir Gott kennen. 1. Johannes 4, Vers 6 sagt: „Wir sind aus Gott.“ Johannes schreibt zusammen mit den Aposteln: Wer Gott kennt, hört uns; wer nicht aus Gott ist, hört uns nicht. Hieraus erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrtums.
Das ist interessant: Wie kann man merken, dass jemand wiedergeboren ist? Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Eine ist, dass er auf die Apostel hört. Wenn jemand sagt, „Paulus hat nichts zu sagen“, dann kann man sagen: Hier erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrtums. Wer aus Gott geboren ist, anerkennt das Wort der Apostel.
Schlussbetrachtung: Gesetz des Christus und Freiheit in Christus
Ich komme zum Schluss, da nur begrenzt Zeit zur Verfügung steht. Ich möchte jedoch erklären, dass das Gesetz des Christus die Rechtfertigung bezüglich unserer Sünden und unserer verdorbenen Natur gebracht hat. Das sagt der Römerbrief. Römer 8 zeigt die volle Befreiung durch Christus.
Dies ist ein gewaltiger Kontrast zu dem, was früher war, denn das Gesetz richtete sich hauptsächlich an Menschen, die nicht erneuert waren. Wie gesagt, Jeremia 31,31 kündigt einen neuen Bund mit Israel an. Beim Einsetzen des Abendmahls sagte der Herr Jesus, dass dies der neue Bund in seinem Blut sei.
Nun sind alle, die an den Messias glauben, heute Nutznießer dieses Bundes, auch diejenigen, die nicht zu Israel gehören. Nebenbei gesagt, haben wir noch viel mehr dazu. Wenn wir das Zitat in Hebräer 8 über diesen neuen Bund lesen, sagt Gott: „Ich will meine Gebote in ihre Herzen hineinschreiben. Sie werden mein Volk sein, sie werden mich erkennen, und ich werde alle ihre Sünden vergeben.“
Zusammengefasst umfasst der neue Bund auf dem Blatt folgende Punkte:
- Eine neue Natur
- Gottes Gesetz im Herzen
- Gemeinschaft mit Gott
- „Mein Volk, sie werden mich erkennen“ – Gottes Erkenntnis
- Alle Sünden vergeben – vollkommene Vergebung
Wann ist die Gemeinde entstanden? Am Pfingsttag wurde der Heilige Geist in die Herzen der Erlösten ausgegossen. Damit kam die Kraft, das zu tun, was Gott will. Doch das, was Gott will, ist höher als das Gesetz unter dem Sinai. Es geht nicht nur darum, nicht Ehebruch zu begehen, sondern um echte Hingabe in der Ehe und Hingabe an den Nächsten.
Wir können das Neue Testament nehmen und alle Gebote sammeln, die darin zu finden sind. Die Sprache ändert sich deutlich. Das Alte Testament sagt immer wieder: „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“. Das ist nicht die Sprache des Gesetzes des Christus. Stattdessen heißt es: „Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr.“ Oder: „Ihr Männer, liebt eure Frauen, gleich wie Christus die Gemeinde geliebt hat.“
Das sind klare, direkte Befehle. Wenn man zum Beispiel die Briefe durchliest und alle Befehlsformen farblich markiert, erkennt man, was das Gesetz des Christus ist. Der zweite Timotheusbrief enthält beispielsweise etwa dreißig Befehle. Man sieht, es geht nicht um ein „Du sollst“ und „Du sollst nicht“, sondern um Aufforderungen wie: „Wisse dies“ oder „Halte Jesus Christus im Gedächtnis“.
Das Gesetz vergeht nie, es besteht auch heute noch. Aber es ist nicht für den Erlösten, denn er ist unter dem Gesetz des Christus. Dieses Gesetz ist kein hartes Gesetz. Jesus sagte: „Nehmt mein Joch auf euch; denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“
1. Johannes 5 sagt, dass seine Gebote nicht schwer sind. Man könnte denken, dass sie viel schwerer sind als die des Sinaigesetzes. Doch dort heißt es: „Ihr habt Christus in euch, ihr habt den Heiligen Geist.“ Wenn Christus in euch lebt und der Heilige Geist in euch wirkt, dann habt ihr Freude daran, das zu tun.
Im Talmud steht, dass ein Rabbi froh ist, keine Frau zu sein. Warum? Das hat nichts mit Frauenhass zu tun, sondern damit, dass es für Frauen im Gesetz weniger Gebote gibt als für Männer. Er ist froh, mehr Gebote beobachten zu dürfen als Frauen.
Wenn das schon beim unerneuerten Menschen möglich ist, so zu sprechen, wie viel mehr sollten wir Freude an den Geboten des Messias haben!
In 1. Timotheus 1,8-11 wird erklärt, dass das Gesetz gesetzmäßig gebraucht werden soll. Es ist nicht für den Gerechten, sondern für die Sünder. Die aus Glauben gerechtfertigten Menschen sind nicht mehr unter diesem Gesetz. Aber dieses Gesetz können wir gebrauchen, wenn jemand sagt: „Ich habe noch nie gesündigt.“ Dann kann man die Zehn Gebote durchgehen.
Das Gesetz bringt Erkenntnis der Sünde und Einsicht, dass wir einen Erlöser brauchen. In der Reformation nannte man dies den ersten Gebrauch, den usus elenchicus. Das ist der Gebrauch, um zu überführen und zu beweisen, dass wir Sünder sind.
Dann gab es den usus politicus, den politischen Gebrauch des Gesetzes. Unsere staatliche Gesetzgebung soll sich auch an der Tora orientieren, das war die Meinung. In der Schweiz orientieren wir uns allerdings immer weniger daran.
Nach Luther gab es einen großen Streit über einen dritten Gebrauch, den usus ethicus. Das heißt, das Gesetz sei die Leitlinie für die Gläubigen. Die Calvinisten waren stark dafür, die wahren Lutheraner sagten: „Nein, das geht nicht. Das Gesetz ist nicht mehr für den Gerechten.“
Wenn man die reformatorische Theologie studiert, merkt man ein Wanken. Einerseits heißt es, wir sind nicht mehr unter dem Gesetz, andererseits doch wieder. Das ist eigenartig und führt zu einer gewissen Unklarheit.
Die Sache wird klarer, wenn wir erkennen: Das Gesetz vom Sinai ist nicht mehr für die Erlösten. Aber die Erlösten sind jetzt unter dem Gesetz des Christus. Viele Dinge aus dem Gesetz Mose finden sich auch im Gesetz des Christus, übrigens neun der zehn Gebote, aber nur höher formuliert und auf einer viel höheren Stufe.
Ein Gebot fehlt jedoch: Das Sabbatgebot ist nicht Teil des Gesetzes des Christus für die Gemeinde.
Gesetzlichkeit und ihre Formen
Jetzt komme ich zum Schluss und möchte noch etwas zur Gesetzlichkeit sagen. Die galatische Gesetzlichkeit im Galaterbrief war folgende: Nichtjuden sollten das Gesetz Mose einhalten, um gerettet zu werden. Das wird mit größter Schärfe widerlegt. Das ist Unsinn. Niemand darf mehr zum Gesetz Mose zurückgeführt werden.
Nun zur pharisäischen Gesetzlichkeit A, die ich bereits erwähnt habe. Dabei handelt es sich um menschliche Zusatzbestimmungen mit angeblich von Gott gewollter Autorität. Das gab es auch im Christentum. Die Geschichte hat sich wiederholt. Im Lauf von zweitausend Jahren wurden viele Zusatzbestimmungen aufgestellt. Die Reformatoren haben damit abgerechnet und gesagt: Allein die Schrift! Wir haben nichts mehr mit den Bestimmungen von Konzilien, Päpsten und Ähnlichem zu tun. Wir sind nicht daran gebunden und halten nichts davon ein, sondern nur das, was die Schrift lehrt.
Heute, nach der Reformation, ist das genau gleich wiedergekommen. Das steckt in der verdorbenen Natur des Menschen. Dagegen müssen wir uns ganz klar wehren. Denn die pharisäische Gesetzlichkeit B hat versucht, mit menschlichen Interpretationstricks göttliche Bestimmungen aufzuheben. Jesus gibt ein Beispiel dafür in Markus 7, wie das gemacht wurde. Diesen Trick gibt es auch heute noch. Man versucht, gewisse neutestamentliche Bestimmungen durch Auslegungstricks aufzuheben. Da heißt es dann, das sei nur für eine bestimmte Situation gewesen, obwohl es als klare apostolische Lehre dargelegt ist.
Das ist die andere Seite. Und das sind nicht die Liberalen gewesen, sondern auch die Pharisäer, die solche Tricks lehrten. Das passt gut zusammen: etwas darüber hinausgehen und abstreichen. Das ist kein Widerspruch, das geht zusammen.
Dann gibt es noch eine weitere Gesetzlichkeit, nämlich die Gesetzlichkeit der voranschreitenden Offenbarung. Es wird behauptet, die Offenbarung gehe weiter. So entstehen immer wieder neue Dogmen, neue Erkenntnisse und Gebote im Lauf der Kirchengeschichte. Die katholische Kirche hat das über zweitausend Jahre durchgezogen. Die Offenbarung gehe gewissermaßen weiter.
Dabei haben wir ganz ernste Stellen in der Bibel. In 2. Johannes 9 wird gewarnt: „Vor denen, die weitergehen als die Lehre des Christus.“ Oder in 1. Johannes 2,24 heißt es: „Das, was von Anfang war, das soll in euch bleiben.“ Das alte Wort der Apostel, aber keine Entwicklung. So konservativ, dass wir zweitausend Jahre beim Wort der Apostel stehenbleiben. „Nichts Neues dazu, nichts davon weg“ – das ist das Gesetz des Christus.
Das ist eine Freude, weil wir nicht mehr aus eigener Kraft leben müssen, sondern die Kraft des neuen Lebens haben – Christus in uns, in der Handschuhe und das Leben darin. Wir haben den Heiligen Geist, der uns die Freude gibt, gottgemäß zu leben.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen!
