
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Wir beten noch einmal, Herr, und bitten dich nun, heilige uns in der Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Liebe Gemeinde,
es ist eine oft genannte Tatsache, dass die Persönlichkeiten der Bibel auch Menschen interessieren, die dem christlichen Glauben zunächst reserviert gegenüberstehen. Als der christliche Verleger Friedrich Hensler vor vielen Jahren einen missionarischen Gesprächskreis für Abgeordnete des Bundestages gründete, konzentrierte er sich vor allem darauf, Lebensgeschichten biblischer Personen zu erzählen.
Ein damals berühmter Politiker, Jochen Vogel, sagte über Hensler: „Er erzählt die Geschichten mit Humor, aber mit einem heiligen Ernst – so etwas habe ich noch nie gehört.“ Vogel wurde übrigens später selbst Christ. Er fügte damals über Hensler hinzu: „Dieser Mann glaubt an alles, was in der Bibel steht.“
Diese Authentizität ist ganz entscheidend. Es war immer deutlich, wenn Hensler von diesen Menschen sprach, dass es sich wirklich um Personen handelte, die gelebt haben – um reale Menschen, keine Märchenfiguren. Das merkt man auch, wenn man die Texte liest. Mir ist noch niemand begegnet, der behauptet hätte, die biblischen Figuren seien künstlich oder unglaubwürdig gezeichnet oder völlig unnahbar für den heutigen Leser.
Die Frage ist: Wie kommt das? Wenn wir heute wieder zur Josefsgeschichte zurückkehren, betreten wir zunächst eine uns fremde Kultur – Ägypten und Kanaan um 1800 v. Chr. Trotzdem ist das Ganze uns nicht fremd. Die Texte sprühen vor historischer Echtheit, auch an Stellen, an denen wir gar nicht unbedingt danach suchen würden. Das macht sie umso glaubwürdiger. Und...
Heute lesen wir, wie Jakob seine Söhne schweren Herzens ein zweites Mal nach Ägypten ziehen lässt. Sie sollen den dort festgehaltenen Bruder Simeon auslösen und den mächtigen Verwalter Pharaos günstig stimmen. Jakob weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dieser Verwalter sein Sohn Joseph ist.
Jakob gibt seinen Söhnen kostbare Gastgeschenke mit. Zu diesen Geschenken gehört auch Folgendes, wie es in Kapitel 43,11 heißt: „Nehmt von des Landes besten Früchten eure Säcke und bringt dem an Geschenke hinab ein wenig Balsam und ein wenig Honig, Tragant und Ladanum, Pistazien und Mandeln.“
Auf den ersten Blick wirkt das ganz unauffällig, fast wie ein nebensächliches Detail. Man fragt sich: Wofür sollte ein gut situierter Ägypter so etwas benötigen? Warum war das für einen Ägypter wertvoll? Honig, Pistazien, Mandeln – das kennt man als übliche Zutaten im Essen. Aber Balsam, Tragant oder Harz, Ladanum – was ist das eigentlich? Kann man das übersetzen?
Im Jahr 2019 machte ein Tübinger Wissenschaftler eine wichtige Entdeckung in Saqqara, südlich von Kairo. Circa fünfzehn Meter unter der Erde fanden sie eine unterirdische Leichenhalle, also eine Werkstatt zur Herstellung von Mumien. Dort entdeckten sie in akribisch beschrifteten Töpfen und Krügen Rückstände von Substanzen. Diese konnten im Labor eindeutig nachgewiesen werden. Dabei handelte es sich um Tragantgummi, Balsamharz und Ladanumduftstoff.
Wozu brauchte man diese Stoffe? Zur Einbalsamierung von Leichen. Diese Stoffe waren in Ägypten kaum vorhanden und mussten immer wieder aus anderen Regionen eingeführt werden. Deshalb waren Balsam, Tragant und Ladanum besonders wertvolle Gastgeschenke, wenn man in Ägypten bei jemandem punkten wollte.
Es scheint, dass Jakob das wusste. An solchen kulturgeschichtlichen Details lässt sich die Echtheit der Texte erkennen. Noch wichtiger ist jedoch der Realismus der dargestellten Personen.
Wenn Sie sich diese Personen anschauen, können Sie sich vorstellen, mit ihnen durchaus über unsere aktuelle Situation zu sprechen. Wilhelm Busch hat eines seiner Bücher über biblische Lebensgeschichten mit dem Untertitel versehen: Die Männer der Bibel, unsere Zeitgenossen.
So haben wir es auch bisher immer wieder mit Josef und seinen Brüdern erlebt – wie eigenartig nah sie uns sind.
Darum geht es an diesen Sonntagen auch niemals darum, dass wir uns in ferne, altorientalische Welten flüchten mit den biblischen Geschichten. Im Gegenteil: Es geht darum, die Männer der Bibel in unser 21. Jahrhundert hineinzuziehen. Wir versuchen, von Josef und seinen Leuten Hinweise zu erhalten, wie wir im Januar 2024 mit unseren Herausforderungen besser umgehen, besser klarkommen und sie bewältigen können.
Davon gibt es wahrlich genug.
Sie haben wahrscheinlich von den Plänen der Regierung gelesen, ein Gesetz gegen Gehsteigbelästigung einzuführen. Dieses Gesetz sieht vor, dass Menschen innerhalb einer bestimmten Bannmeile um Abtreibungsberatungsstellen nicht mehr angesprochen werden dürfen. Bei Zuwiderhandlung droht ein Bußgeld von bis zu 5 Euro. Wenn man Leben schützen und verteidigen will, kann das also teuer werden.
Außerdem haben wir in den letzten Tagen eine besondere Herausforderung erlebt. Teile der Massenmedien animierten die Bevölkerung dazu, auf die Straße zu gehen und für bestimmte Parolen zu demonstrieren. Ausgangspunkt war eine Aktion der sogenannten Plattform Korrektiv.
Obwohl Korrektiv sich als normale juristische Organisation darstellt, erinnert ein Teil ihrer Arbeitsweise eher an linksextreme Aktivisten. Bereits im November hatte Korrektiv ein Privattreffen von circa zwei Dutzend Personen in Potsdam mit geheimdienstlichen Methoden ausgespäht. Erst im Januar berichteten sie darüber – allerdings wahrheitswidrig. Sie behaupteten, es sei ein Geheimtreffen gewesen, bei dem massenhafte Deportationen von Menschen beraten worden seien, die zwangsweise gegen Recht und Gesetz aus dem Land vertrieben werden sollten.
Dieses Privattreffen in Potsdam wurde medial bald schamlos zu einer „Wannsee-Konferenz 2.0“ hochgeschrieben. Sie kennen sicherlich die Wannsee-Konferenz, bei der 1942 die Vernichtung der Juden organisiert wurde. Korrektiv behauptete, auf dem Treffen in Potsdam seien weitreichende Deportationen gefordert worden. Nach Aussagen von Augenzeugen ist das eine Lüge. Korrektiv konnte bis heute keinen einzigen Beweis dafür vorlegen.
Durch dieses Framing wurde gezielt ein falsches Bild der Privatveranstaltung konstruiert. Dennoch übernahmen weite Teile der Medien dieses Konstrukt bruchlos, spitzten es teilweise noch zu und leiteten daraus massive politische Forderungen ab. Schnell instrumentalisierten auch Sprecher der Regierung die Korrektiv-Propaganda.
Es sei jetzt höchste Zeit, dass breite Teile der Bevölkerung gegen Menschenfeindlichkeit und Hass auf die Straße gingen. Regierung und Medien trommelten gemeinsam für Großdemonstrationen gegen Rechts und stellten damit alle unter Verdacht, die sich nicht für linke Positionen erklärten. Man erklärte die Stunde für gekommen: Jetzt gelte es, die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Die schweigende Mehrheit müsse endlich Gesicht zeigen.
Viele Sprecher nahmen den Vorgang zum Anlass, ein Verbot der AfD zu fordern, nachdem Korrektiv die angeblich menschenfeindlichen Konferenzpläne aufgedeckt hatte. Nach dieser Logik müssten aber auch alle, die ein Verbot der AfD fordern, ein Verbot der CDU fordern. Denn ebenso hatten Mitglieder dieser Partei an dem Treffen teilgenommen.
Bei den Demonstrationen der letzten Tage waren zahlreiche gewaltbereite Antifa-Gruppen vertreten und offensichtlich willkommen. Pro-palästinensische Antisemiten und Linksextremisten von Extinction Rebellion waren ebenfalls dabei. Die Polizei ging tatenlos neben einem Transparent her, das wörtlich die Tötung von AfD-Mitgliedern forderte.
Hier sei noch einmal daran erinnert, was seit langem bekannt ist: Das sogenannte Medienhaus Korrektiv ist keine normale journalistische Einrichtung, sondern eine aktivistische Organisation. Es handelt sich also weniger um einen neutralen journalistischen Beobachter, sondern vielmehr um einen politischen Akteur, der nachweislich mit Steuergeldern, aber auch von grünen Milliardären finanziert wird.
Ein Zitat von der eigenen Homepage von Korrektiv im Transparenzhinweis lautet: „Korrektiv hat in den Jahren 2016 bis 2018 Geld von den von George Soros gegründeten Open Society Foundations erhalten.“ Weiter gehört zu den Finanziers die Mercator Stiftung der Metromilliardäre. Mercator finanziert zusammen mit der European Climate Foundation auch die Agora Energiewende. Sie kennen das. Und die Agora Energiewende hat das Wärmepumpengesetz für Habeck ausgearbeitet.
Also, ich fasse noch einmal zusammen: Am Anfang stand die Story von Korrektiv. Diese wurde aufgenommen, verbreitet und zum Teil von den großen Medien weiter zugespitzt. Die Regierung und einige NGOs setzten sich darauf, riefen zu Massendemonstrationen auf. Diese Massendemonstrationen wurden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit großem Aufwand verbreitet und ihre Propagandawirkung verstärkt.
Während man die tagelangen Proteste der Bauern, Spediteure und anderer mittelständischer Berufstruppen gegen die Regierung, die wirklich aus der Not geboren waren, in weiten Teilen der Medien kleinzuhalten und herunterzuschreiben versuchte, wurde das andere sehr aufgeputscht.
Wir sind von Lügengebäuden umgeben, und wir können dazu nicht schweigen. Gottes Kinder sind immer und in jeder Hinsicht dem Ringen um Wahrheit verpflichtet – und zwar unabhängig von jeglicher Parteipolitik. Ich sage das sehr, sehr deutlich: unabhängig von jeglicher Parteipolitik. Es geht um Wahrheit.
Wenn wir so tun, als merkten wir es nicht oder es ginge uns nichts an, dann werden wir uns früher oder später über die Lügen nicht mehr aufregen. Wir werden irgendwann mit einer doppelten Wahrheit leben und schließlich der Lüge glauben.
Psalm 11 zeigt deutlich, dass der Herr die Gerechten prüft, also diejenigen, die zu ihm gehören. Dabei geht es darum, wie wir uns in solchen Krisenzeiten verhalten.
Ich lese Psalm 11, Vers 3: „Ja, sie reißen die Grundfesten um, was kann der Gerechte da ausrichten?“ Und weiter: „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel, des Herrn Thron ist im Himmel, seine Augen sehen herab, seine Blicke prüfen die Menschenkinder. Der Herr prüft den Gerechten und den Gottlosen; wer Unrecht liebt, den hasst seine Seele.“
Der Herr prüft also auch den Gerechten, wie er mit solchen schwierigen Situationen umgeht. Ob er sich zu ihm bekennt oder nicht. Der Theologe Paul Schütz hat den berühmten Satz geprägt: „Es ist Sturmflut, die Fundamente werden sichtbar.“ Und das gilt auch für die Fundamente unseres Charakters.
Ja, auch in der Jakobsfamilie sind diese Nöte massiv präsent. Zum Beispiel die Allgegenwart von Lüge. Die Brüder beharren immer noch auf der Legende, dass Josef tot sei – bis zu diesem Zeitpunkt. All diese Dinge wurden niemals geklärt. Aber damit nicht genug.
Der äußere Druck auf die Lebensverhältnisse wird härter, die Ernährung der Familien ist zunehmend gefährdet. Es herrscht starke Unsicherheit über die Zukunft. Verglichen damit befinden wir uns fast noch in einer geordneten, ruhigen Situation.
Jetzt ist Charakter gefordert – Charakter in der Krise. In diesem Predigtext können wir mitverfolgen, dass wir uns nicht nur in der Krise befinden, sondern dass Gott gerade Krisenzeiten nutzt, um unseren Charakter zu prüfen, zu testen und zu prägen.
Charakter in der Krise.
Unter diesem Gesichtspunkt wollen wir uns jetzt drei Protagonisten der heutigen Josephsgeschichte genauer ansehen. Ich hoffe, diese Predigt motiviert dazu, selbst tiefer in die Texte einzutauchen.
Zuerst betrachten wir Jakob. Jakob ist eine Moralinstanz, doch er zerfließt in Selbstmitleid. Das ist der erste Punkt.
Entschuldigung, ich meinte natürlich Jakob – ganz wichtig. Wir werden gleich den Unterschied sehen. Jakob ist eine Moralinstanz, die in Selbstmitleid zerfließt. Das passiert, wenn man gleichzeitig liest, spricht und trinkt.
Schauen wir uns nun Jakob an. Erst mit der Hungersnot rückt der Patriarch wieder in den Fokus. Gut zwanzig Jahre war es still um ihn geworden, denn der alttestamentliche Bericht hatte sich in den letzten Kapiteln ganz auf Josephs Ergehen in Ägypten konzentriert. Doch natürlich ging das Leben in Kanaan weiter.
Wir erinnern uns an Jakobs völlig unpädagogische Bevorzugung, mit der er damals den jugendlichen Joseph aus dem Brüderkreis hervorhob – nur weil dieser der Sohn seiner verstorbenen Lieblingsfrau Rahel war. Diese Lieblosigkeit und der Affront gegenüber den anderen Söhnen, die ihm Lea und die beiden Mägde geboren hatten, sind uns noch präsent.
Doch davor gab es auch eine andere Jakobsgeschichte: Wie Jakob in seinen Begegnungen mit Gott zu einem gläubigen Mann gereift war, wie er seinem feindlichen Bruder Esau entgegengetreten und sich ehrlich mit ihm versöhnt hatte. Wie er im Vertrauen auf Gott mit seiner Familie eine neue Existenz im gelobten Land aufgebaut hatte.
Gott hatte diesem Jakob einen Ehrennamen verliehen – Israel. Daher kommt auch der Name „Gotteskämpfer“ oder „Streiter Gottes“; das ist Jakob. Trotz mancher persönlicher Fehler war Jakob durch Gottes Führung zu Israel herangereift und damit zu einer moralischen Instanz für seine Kinder und deren Sippen geworden. Jakob als Moralinstanz.
Jede moralische Instanz lebt davon, dass sie sich bewährt und anderen Halt bietet. Doch was ist aus diesem Rückhalt geworden? Man gewinnt nicht den Eindruck, dass der Patriarch in dieser Krise besonderen Halt darstellt. Dennoch versammeln sich die Söhne nach der Rückkehr von ihrer ersten Ägyptenreise zum Rapport im Elternhaus. Sie haben Nahrung mitgebracht, doch Simeon mussten sie als Geisel zurücklassen.
Dann berichten sie Jakob (Kapitel 42). Ich lese aus Vers 29: „Als sie nun zurückkamen zu ihrem Vater Jakob ins Land Kanaan, sagten sie ihm alles, was ihnen begegnet war, und sprachen: ‚Der Mann, der im Land Herr ist‘ – also Joseph – ‚redete hart mit uns und hielt uns für Kundschafter. Wir antworteten ihm: Wir sind redlich und nie Kundschafter gewesen, sondern zwölf Brüder, unseres Vaters Söhne. Einer ist nicht mehr vorhanden, und der Jüngste ist noch bei unserem Vater im Land.‘ Da sprach der Herr im Land zu uns: ‚Daran will ich merken, ob ihr redlich seid: Einen eurer Brüder lasst bei mir‘ – das war Simeon – ‚und nehmt euer Haus, wie viel ihr bedürft, und zieht hin und bringt euren jüngsten Bruder zu mir. So merke ich, dass ihr nicht Kundschafter, sondern redlich seid. Dann will ich euch euren Bruder Simeon wiedergeben, und ihr mögt im Land Handel treiben.‘“
So waren sie zum Vater zurückgekommen und haben ihm berichtet. Doch bei diesem Bericht haben sie einige Fakten ausgelassen. Sie haben dem Alten nicht alles gesagt. Zum Beispiel, dass sie selbst für drei Tage im Gefängnis gewesen waren, haben sie unter den Tisch fallen lassen. Auch die Drohung des ägyptischen Verwalters, sie zu töten, falls sie den jüngsten Bruder nicht mitbrächten, erwähnten sie nicht. Ebenso wenig, dass bei einem von ihnen auf der Rückreise Geld in der Tasche gefunden wurde, das dort eigentlich nicht hingehörte.
Man hat den Eindruck, dass sie mitten in ihrer Erzählung auf die Idee kommen, sicherheitshalber nochmal in den Rucksäcken nachzuschauen. Vers 35: „Und als sie die Säcke ausschütteten – wahrscheinlich während sie das dem Vater erzählten – fand ein jeder seinen Beutel Geld in seinem Sack. Und als sie sahen, dass es die Beutel mit ihrem Geld waren, erschraken sie samt ihrem Vater.“ Das kommt jetzt auch noch dazu.
Einige Ausleger vermuten, dass bei Jakob in diesem Moment die Furcht hochkommt – man kann das nicht beweisen, aber es ist eine Möglichkeit –, die Brüder könnten Simeon in Ägypten verkauft haben und daher das Geld. Die Situation ist unklar, doch Jakob sagt nichts. Er versucht nicht, die Lage gemeinsam zu erklären.
Das Einzige, was wir aus dem Munde des Patriarchen hören, ist ein klagerufendes Selbstmitleid, als ob es nur um ihn ginge. Er sagt: „Ihr beraubt mich meiner Kinder. Joseph ist nicht mehr da, Simeon ist nicht mehr da, Benjamin wollt ihr auch wegnehmen. Es geht alles über mich. Ihr beraubt mich meiner Kinder, es wird mir alles zu viel. Benjamin wollt ihr auch noch wegnehmen.“
Dass Benjamin mitgebracht werden sollte, war nicht einmal Jakobs Idee gewesen. Seine Reaktion zeugt von vollständiger Selbstfixierung. Simeons Familie war ebenfalls betroffen, und Ruben versucht verzweifelt, die Situation zu retten – allerdings mit völlig untauglichen Mitteln. Vers 37: „Ruben antwortete seinem Vater und sprach: Wenn ich ihn dir nicht wiederbringe, so töte meine zwei Söhne. Gib sie nur in meine Hand, ich will sie dir wiederbringen.“ Was hätte er davon gehabt, wenn Rubens zwei Söhne getötet worden wären? Immerhin war es ein Versuch.
Am Ende stellt sich Jakob stur und verweigert jegliche Mitarbeit an einer Lösung. Vers 38: „Er sprach: Mein Sohn soll nicht mit euch hinabziehen, denn sein Bruder ist tot, er ist allein übriggeblieben. Wenn ihm ein Unfall auf dem Weg geschieht, den ihr reist, dann würdet ihr meine grauen Haare mit Herzeleid hinunter zu den Toten bringen.“
Die Sprache ist verräterisch. Für die anderen Söhne muss es beleidigend und verletzend gewesen sein, was er sagt: „Mein Sohn soll nicht mit euch ziehen“, so als wären die anderen nicht seine Söhne. Und „er, Benjamin, ist allein übriggeblieben“ – gemeint ist als einziger von Rahels Söhnen, aber doch nicht allein als einziger von den Söhnen insgesamt. Das ist verletzend.
Es ist erstaunlich, zu welcher Lieblosigkeit sich Jakob hinreißen lässt. Er hat offensichtlich immer noch nicht verstanden, wie seine Bevorzugungsmanie die Familie zerreißt. Mit dieser lieblosen Sturheit verhindert er auch eine Lösung des Problems.
Wie das nächste Kapitel dann schnörkellos feststellt: „Die Hungersnot aber drückte das Land“ (43,1). Da hat sich nichts geändert. Die Hungersnot fragt nicht nach den Grillen eines sturen Patriarchen. Diese Sturheit paart sich mit der Weigerung, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.
Vers 2: „Und als verzehrt war, was sie an Getreide aus Ägypten gebracht hatten, sprach ihr Vater: Zieht wieder hin und kauft uns ein wenig Getreide.“ Nach dem Motto: kaputte Schallplatte – er sagt das Gleiche wieder. Das ist eine klassische Realitätsverweigerung. Das würde doch nicht funktionieren.
Die Söhne werden sich angeschaut und gesagt haben: „Vater, was du von uns verlangst, ist ein Himmelfahrtskommando.“ Sie hatten gesagt, wenn sie ohne Benjamin ankommen, könnten sie gleich wieder abreisen – wenn sie das überhaupt könnten. Die Söhne weigern sich zu Recht, dieser sinnlosen Forderung nachzukommen.
Jetzt ergreift einer das Wort, der bis dahin weitgehend geschwiegen hatte: Juda. 43,3: „Da antwortete ihm Juda und sprach: Der Mann schärfte uns das hart ein und sprach: Ihr sollt mein Angesicht nicht sehen, es sei denn, euer Bruder ist mit euch. Willst du nun uns unseren Bruder mit uns senden, so wollen wir ihn abziehen und dir zu Essen kaufen. Willst du ihn aber nicht senden, so ziehen wir nicht hinab, denn der Mann hat zu uns gesagt: Ihr sollt mein Angesicht nicht sehen, es sei denn, euer Bruder ist mit euch.“
Da zieht Jakob seine letzte Karte – versechs. Israel aber sprach: „Warum habt ihr so übel an mir getan, dass ihr dem Mann sagtet, dass ihr noch einen Bruder hattet?“ Warum? Warum habt ihr mir diesen Tort angetan, zu verraten, dass da noch ein Jüngerer ist? Wehleidigkeit und Gemeinheit liegen oft sehr nah beieinander.
Er stellt das so dar, als hätten die Brüder dem alten Vater Unrecht getan, als sie die Existenz des jüngsten Sohnes verrieten. Dabei hatten sie unter dem Druck der Situation gar keine andere Wahl. Sie erklären das auch: „Der Mann forschte so genau nach uns und unserer Verwandtschaft und sprach: ‚Lebt euer Vater noch? Habt ihr auch noch einen Bruder?‘ Da antworteten wir ihm, wie er uns fragt. Wie konnten wir wissen, dass er sagen würde: ‚Bringt euren Bruder mit hinab‘?“ Konnten sie doch nicht ahnen.
Anstatt nun mit den Söhnen gemeinsam nach einer Lösung zu suchen – wie kriegen wir Simeon wieder frei? Wie werden wir mit der Hungersnot klarkommen? –, schlägt Jakob weiter mit wehleidigen Vorwürfen um sich. Er bezieht alles nur auf sich und seine kleine Gefühlswelt.
Der Text zitiert ihn genau in dieser Situation in Vers 6 ausgerechnet mit seinem Ehrennamen Israel: „Israel sprach: Warum habt ihr so übel an mir getan?“ Warum ausgerechnet hier? Vielleicht sollen wir darauf gestoßen werden, dass der Text uns sagt: Seht hin, Israel sagt diesen Quatsch. Das ist derselbe Jakob, der sich so bewährt hatte. Derselbe Jakob, dem Gott eine so herausragende Verheißung gegeben hatte: Israel wirst du sein.
Und jetzt bezieht er alles nur noch auf sein kleinstes Karo. Er war einmal eine moralische Instanz, ein Patriarch für die Ewigkeit. Von dem Jesus ja auch gesagt hat (Matthäus 8,11): Wir werden einmal im Reich Gottes mit ihm zusammensitzen, Abraham, Isaak und Jakob – da wird er schon dabei sein. Aber wie fragwürdig reagiert er in dieser Krise?
Charaktere in der Krise.
Und man fragt sich, was Jakob in den zurückliegenden zwanzig Jahren gemacht hat. Wie viel hat er gebetet? Was hat Jakob unternommen, um das Verhältnis seiner Familie zu Gott in diesen zwanzig Jahren zu stärken?
Eine Moralinstanz zerfließt in Selbstmitleid. Das ist eine Warnung für uns alle, besonders für uns Ältere, wenn wir gestandene Christen sein sollten.
Auch jemand, der einst eine moralische Instanz war, kann irgendwann in seiner charakterlichen Entwicklung stecken bleiben. Er kann plötzlich selbstbezogen und kleinkariert werden.
Der Bericht zeigt uns auch einen Silberstreifen am Horizont in der Person von Judah. In dem Moment, in dem das Gespräch zwischen dem Vater und den Brüdern völlig festgefahren ist, macht Judah einen konkreten Vorschlag.
Wir lesen in 1. Mose 43,8-10: Da sprach Judah zu Israel, seinem Vater: „Lass den Knaben mit mir ziehen, damit wir uns aufmachen, reisen und leben und nicht sterben – wir, du und unsere Kinder. Ich will Bürge für ihn sein; von meinen Händen sollst du ihn fordern. Wenn ich ihn dir nicht wiederbringe und vor deine Augen stelle, so will ich mein Leben lang die Schuld tragen.“
Das ist das Zweite: Ein Mitläufer übernimmt Verantwortung. Zuvor hatten wir eine Moralinstanz gesehen, die ins Selbstmitleid verfällt. Jetzt aber übernimmt ein Mitläufer Verantwortung.
Bis dahin war Judah uns nur durch seine Verantwortlosigkeit aufgefallen, durch eine gewisse seelische Verwahrlosung. Das haben wir in Kapitel 38 gesehen. Er hatte seine Schwiegertochter Thamar, nachdem sie verwitwet wurde, unversorgt gelassen. Stattdessen suchte er Selbstkontakt zu einer vermeintlichen Prostituierten. So war Judah.
Gott aber hatte die Katastrophe auffliegen lassen. Das bedeutete für Judah Scham und Demütigung, doch Gott hatte ihn nicht fallen gelassen. Seitdem war in Judas Herzen offensichtlich etwas passiert. Gott hatte offenbar intensiv an seinem Gewissen gearbeitet, sodass Judah jetzt in dieser erneut kritischen Situation im entscheidenden Moment das Heft an sich reißt.
Zunächst macht er dem Vater die Dimension des Problems bewusst, in dem sie alle stecken. Er sagt, es geht um Leben und Tod – und zwar für die ganze Familie. Er weckt sie auf. In Vers 8 heißt es: „Dass wir uns aufmachen, reisen und leben und nicht sterben – wir, du und unsere Kinder.“ Die ganze Sippe steht auf dem Spiel.
Man merkt, wie ernst die Lage ist. Judah erinnert mit seiner Wortwahl besonders an die Verantwortung für die nächste Generation. Das hebräische Wort, das er für „Kinder“ verwendet, macht deren Verletzbarkeit, Verwundbarkeit und Abhängigkeit besonders deutlich. Gerade dieses Wort benutzt er.
Dann erklärt er sich bereit, die Verantwortung für den jüngsten Bruder auf seine Schultern zu nehmen. Und zwar nicht nur als allgemeine Absichtserklärung, sondern mit konkreten Konsequenzen. Er sagt in Vers 8: „Lass den Knaben mit mir ziehen!“ Und in Vers 9 fügt er hinzu: „Ich will Bürge für ihn sein; von meinen Händen sollst du ihn fordern.“ Falls etwas Schlimmes passieren sollte, übernimmt er gegenüber dem Vater die volle Verantwortung.
Er verspricht, alles zu tun, um die Schuld auf sich zu nehmen. Wie genau diese Schuldübernahme aussehen könnte, wird nicht konkret gesagt, zumal der emotionale Verlust für Jakob ohnehin durch nichts wiedergutzumachen wäre. Dennoch ist das, was Judah hier leistet, viel mehr als nur eine allgemeine Absichtserklärung.
Offenbar hat diese Bürgschaft Judas auch die Kraft gegeben, das störrische Herz des Vaters zu bewegen. Jakob beginnt sich zu verändern. Helmut Frey hat zu dieser Stelle Folgendes gesagt: „In Judah ist etwas vorgegangen. Auf Jakob lastet der Zwang der Not, aber er ist dennoch nicht bereit, Benjamin freizugeben. Auf Judas Seele lastet das Leid des Vaters und auch die Schuld am Vater wegen Joseph damals. Man könnte hinzufügen: Auf seiner Seele lastet auch die Verantwortung für die nächste Generation und seinen immer noch inhaftierten Bruder Simeon. So schreibt Frey, ist die Überwindung vollzogen: Judah liefert sich aus, verbürgt sich dem Vater; mehr kann er nicht bieten als seine Person.“
Das bringt die Situation sehr gut auf den Punkt. Judah ergreift das Handeln. Er wartet nicht darauf, dass andere eine Lösung finden und sich die Hände schmutzig machen. Judah wirft sich mit seiner ganzen Person in die Bresche, um die Not der Familie abzuwenden und die Zukunft zu retten.
Die Bibel beschreibt später die Aufgabe geistlicher Hirten ähnlich: Sie müssen die Initiative ergreifen. Sie müssen bereit sein, sich mit ihrer ganzen Person einzusetzen und dazwischenzugehen, wo es nötig ist, um ihre Schafe zu schützen.
Gottes Wort stößt uns hier geradezu mit dem Kopf darauf – als wollte es sagen: Das war der alte Judah. Gott kann aus Mitläufern solche Persönlichkeiten machen. Wenn Gott ihr Herz sensibel macht und sie mutig, das Richtige zu wagen, entstehen Menschen, die das Salz der Erde sind. Das erinnert an das Lied „Wag es mit Jesus“, in dem es heißt, Jesus schafft solche Persönlichkeiten.
Einmal aktiv geworden, kann Judah sich dann auch die Bemerkung nicht verkneifen, dass Probleme durch Aussitzen nicht gelöst werden können. Im Gegenteil, er sagt: Hätten wir der Realität früher ins Auge geschaut und den Stier bei den Hörnern gepackt, wäre das Problem nicht so groß geworden. In Vers 10 heißt es: „Denn wenn wir nicht gezögert hätten, wären wir wohl schon zweimal wiedergekommen.“
Ein Mitläufer übernimmt Verantwortung.
Und schauen Sie hin: Jetzt passiert auch mit Jakob etwas, nämlich etwas ganz Erstaunliches.
Nachdem Juda ihm die Augen geöffnet hat und der Patriarch allmählich begreift, dass sie keine Wahl haben, kehrt ein Teil seines früheren Kampfgeistes zurück. Er beteiligt sich endlich aktiv an der Problembewältigung. Wenn man die nächsten Verse betrachtet, ist es, als käme wieder Leben in den alten Jakob.
Er bereitet ein ansehnliches Geschenk für den starken Mann in Ägypten vor. Es handelt sich um eigentümliche Substanzen, bei denen er sagt: „Wenn es denn so ist, wohlan, so tut’s! Nehmt von des Landes besten Früchten eure Säcke und bringt dem Mann Geschenke hinab.“ Dann folgen Balsam, Honig, Harz, Ladanum, Nüsse und Mandeln.
Jetzt wird er aktiv und ist bereit, weiteres Geld in die Hand zu nehmen. In Vers zwölf heißt es: „Nehmt auch anderes Geld mit euch, und das Geld, das ihr oben in euren Säcken wiederbekommen habt, bringt auch wieder hin; vielleicht ist ein Irrtum geschehen.“
Wir merken also, dass Jakob alles versucht, was nach menschlichem Ermessen möglich ist, um einen guten Ausgang der Sache zu erreichen. Und das Wichtigste: Er reißt sich endlich Benjamin vom Herzen. Er willigt endlich ein in das Unvermeidliche.
Schließlich, wo er an seine letzte Grenze geführt wird, macht Jakob das, was schon längst seine große Verantwortung gewesen wäre – jetzt spät, aber vielleicht noch nicht zu spät. Er erinnert sie an die einzig entscheidende Instanz. Er richtet ihren Blick auf den Einen, von dessen Barmherzigkeit am Ende alles abhängen wird: Wohl oder Wehe, Leben oder Tod, Freiheit oder Knechtschaft, Zukunft oder Verzweiflung.
Dann sagt Jakob seinen Söhnen endlich diese Worte (Vers 14): „Aber der allmächtige Gott gebe euch Barmherzigkeit vor dem Manne, dass er mit euch ziehen lasse euren anderen Bruder und Benjamin.“
Er sagt nochmals: „Aber der allmächtige Gott gebe euch Barmherzigkeit.“ Endlich verweist er sie auf die wichtigste Instanz. Ob es gelingen wird oder nicht, das hängt an Gott.
Der Name, den Jakob hier für Gott verwendet, ist ein ganz besonderer Name, der in besonderer Weise Gottes Allmacht betont: El Shaddai. Ganz ähnlich hatte Jakobs Vater Isaak ihn Jahrzehnte zuvor selbst gesegnet. Als Isaak Jakob auf die Flucht schickte, hatte er ihm auch diesen El Shaddai anbefohlen. Damals sagte Isaak zu seinem Sohn Jakob: „Der allmächtige Gott segne dich und mache dich fruchtbar, El Shaddai.“
Endlich, endlich Jakob! Er sagt, es wird von Gott abhängen. Wenn ihr vor dem starken Mann in Ägypten bestehen wollt, dann möge Gott euch Barmherzigkeit schenken.
Wie hin- und hergerissen der Mann ist, zeigt uns der Text dann aber auch in brutaler Ungeschminktheit. Nach diesem vollmächtigen Segenswort, das für sich schon die Situation retten könnte, bricht doch die alte Larmoyanz, die jakobische Wehleidigkeit, wieder durch.
Schauen Sie hin: Zuerst sagt er dieses starke Wort in 43,14: „Aber der allmächtige Gott gebe euch Barmherzigkeit vor dem Manne, dass er mit euch ziehen lasse euren anderen Bruder Benjamin.“
Und was fügt er dann hinzu? „Ich aber muss sein wie einer, der seiner Kinder ganz und gar beraubt ist.“ Unfassbar! Die Menge-Übersetzung gibt es so wieder: „Wie ich einst kinderlos gewesen bin, so habe ich auch jetzt wieder keine Kinder.“
Nach dem Motto: „Wie gewonnen, so zerronnen.“ Man möchte Jakob zurückfragen: Mensch Jakob, hast du das gerade ernst gemeint mit dem El Shaddai? Wie kannst du dann diesen banalen, lahmorientierten Satz deines Selbstmitleids gleich wieder hinterherschicken?
Wenn es der El Shaddai ist, dann setz dich jetzt lieber hin und bete für deine Söhne, dass alles gut wird. Dann gib deinen Jungs noch eine Ermutigung mit auf den Weg und lass sie losziehen.
Doch die Brüder lassen sich jetzt nicht mehr aufhalten. Vielleicht sagen sie auch schnell „Los!“, bevor der Alte sich nochmal anders überlegt. So machen sie sich endlich mit schwerem Gepäck auf den Weg nach Ägypten (43,15).
Man merkt, welche Dynamik in diesen Versen schlummert: „Dann nahmen sie diese Geschenke und das doppelte Geld mit sich, dazu Benjamin, machten sich auf, zogen nach Ägypten und traten vor Joseph.“
Dort angekommen geht es sehr schnell. Joseph lässt sie gleich in sein Privathaus bringen und zum Essen einladen. Während die Brüder auf den Hausherrn warten, kommen sie mit Josephs Haussekretär, einem seiner engsten Mitarbeiter, ins Gespräch.
Sie erklären eifrig, dass sie das Geld ja gar nicht gestohlen haben und sich nicht bereichern wollten. Der Haussekretär behandelt sie ausgesprochen freundlich.
Dann zerstreut der Haussekretär Josephs sofort sämtliche aufgestaute Sorgen innerhalb weniger Minuten (43,23-24): „Er aber, nämlich dieser Haushalter, sprach: ‚Seid guten Mutes, fürchtet euch nicht! Euer Gott und eures Vaters Gott hat euch einen Schatz gegeben in eure Säcke. Euer Geld habe ich erhalten.‘“
Er führte Simeon zu ihnen heraus, dem es auch noch gut ging, und brachte sie in Josephs Haus. Dort gab er ihnen Wasser, damit sie ihre Füße wuschen, und gab ihren Eseln Futter.
Jetzt werden sie einmal tief durchgeatmet haben.
Und jetzt zum Schluss, in diesen Versen ganz schnell – wir setzen das nächste Mal fort – schauen wir auf einen dritten Charakter, der in diesen Krisenjahren in besonderer Weise geformt wird und den wir nun über Wochen hinweg von Station zu Station begleiten. Und das ist zum Schluss ganz kurz Joseph.
Also erstens: Jakob, eine Moralinstanz, zerfließt in Selbstmitleid. Zweitens: Judah, ein Mitläufer, übernimmt Verantwortung. Und schließlich drittens: Joseph, ein Mächtiger, wird zum Seelsorger.
Und dann kommt Joseph dazu. Sobald Joseph dazustößt, geht die erste Frage – schauen Sie hin – sofort nach dem Vater. Vers 27: Er begrüßte sie freundlich und sprach: „Geht es eurem alten Vater gut, von dem ihr mir sagtet, lebt er noch?“ Sie antworteten: „Es geht deinem Knecht, unserem Vater, gut, und er lebt noch.“ Und sie verneigten sich und fielen vor ihm nieder.
Als das geklärt ist, richtet sich Joseph sofort auf Benjamin. Vers 29: Er erhob seine Augen und sah seinen Bruder Benjamin, seiner Mutter Sohn, und fragte: „Ist das euer junger Bruder, von dem ihr mir sagtet?“ Und sprach weiter: „Gott sei dir gnädig, mein Sohn, Gott sei dir gnädig, mein Sohn.“
Dieses Wiedersehen, das der jüngere Bruder ja noch gar nicht einordnen kann – er weiß ja nicht, dass das sein älterer Bruder ist – erfüllt Joseph mit solcher Bewegung, dass er den Saal erst einmal verlassen muss. Mancher Leser mag denken, jetzt muss doch dieser als Ägypter getarnte Jakobssohn sich endlich zu erkennen geben. Schauen Sie, Vers 30: „Und Joseph eilte hinaus, denn sein Herz entbrannte ihm gegen seinen Bruder, und er suchte, ob er weinen könnte, und ging in seine Kammer und weinte da selbst.“
Den hat es bestimmt gerissen, sich jetzt zu offenbaren seinen Brüdern. Aber jetzt ist es noch zu früh. Er hat gute Gründe, und diese Gründe, wenn wir das nächste Mal sehen, sind wahrlich nicht egoistischer Art.
Vergleichen Sie jetzt mal Jakob und Joseph. Da können Sie Folgendes sehen: So sehr der alte Jakob auf sich und seine eigene kleine Situation fixiert gewesen ist – auf seine eigenen Bedenken, auf seine eigenen Beschwerden, auf seine eigenen Befürchtungen –, so frei ist Joseph, sich um das Wohlergehen seiner vermissten Angehörigen zu kümmern und vor allem um den Zustand ihrer Seele. Das wird in den nächsten Kapiteln immer deutlicher.
Ja, was für ein selbstloser Charakter ist da in den letzten zwanzig Jahren in der Fremde herangewachsen! Was für eine geistliche Fürsorge lässt sich hier zwischen den Zeilen erkennen! Es ist doch kein Zufall, dass man später so viele Parallelen zwischen Joseph und Jesus gefunden hat.
Schauen Sie, das beginnt doch schon mit dem Hausverwalter, den die aufgescheuchten Brüder bei der Ankunft beruhigt hat. Dieser ägyptische Hausverwalter sagte: „Seid guten Mutes, fürchtet euch nicht, euer Gott und eures Vaters Gott hat euch einen Schatz gegeben.“ Also ein ägyptischer Hausdiener in der Residenz des derzeit höchsten ägyptischen Verwaltungsbanden, und der bekennt sich zum heiligen Gott, zum lebendigen Gott, und ermutigt die Brüder, auf dessen geistliche Fürsorge zu vertrauen.
Das ist wie eine Hausandacht, die der Hausangestellte denen hält. Joseph hatte dem bestimmt missioniert, Joseph hatte dem bestimmt bezeugt, an welchen heiligen Gott er glaubt und von wem er bis hierher gebracht wurde.
Dann fällt als Nächstes auf, was Joseph seinem jüngeren Bruder bei deren erster Begegnung zuspricht: Er sagt zu Benjamin: „Gott sei dir gnädig, mein Sohn.“ Darauf kommt es an. Joseph kann ja noch nicht wissen, wie es um den geistlichen Zustand seines jüngeren Bruders bestellt ist, aber er verweist ihn schon mal auf Gott. Er sagt: Darauf kommt es an, dass du mit dem heiligen Gott im Reinen bist.
So wird sich das Jahrhunderte später dann im priesterlichen Segen aus 4. Mose 6 in einer ganz ähnlichen Formulierung zeigen: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.“ Ein Segenswort für den jüngeren Bruder.
Auch für den weiteren Verlauf des Festessens überlässt Joseph nichts dem Zufall. Schauen Sie: Die Brüder werden sorgfältig platziert, und zwar so, dass sie exakt nach der Reihenfolge ihrer Geburt um den Tisch herum angeordnet werden.
Wer ist der Jüngste? Da heißt es: „Und man setzte sie ihm gegenüber, den Erstgeborenen nach seiner Erstgeburt, den Jüngsten nach seiner Jugend.“ Und darüber wunderten sie sich untereinander: „Woher weiß der Kerl das?“ Unsere komplizierten Geburtstage, die wir uns nicht mal selber merken können, sind genau zugeordnet.
Diese Sorgfalt – sie sind völlig perplex. Und warum berücksichtigt er das? Hier sehen wir, wie aufmerksam, wie wohlüberlegt Joseph mit seinen Brüdern umgeht, um sie in kleinen Schritten auf eine noch wichtigere Sache vorzubereiten.
Ihm dient dann auch dieser unkonventionelle Test, dem Joseph die gesamte Truppe im letzten Vers unterzieht, Vers 34: „Und man trug ihnen Essen auf von seinem Tisch, aber Benjamin bekam fünfmal mehr als die anderen.“
Benjamin bekam fünfmal mehr als die anderen. Vielleicht sei er so ausgehungert? Nein, man stutzt erst mal. Ja, da Joseph doch bestimmt nicht absichtlich diese ungerechte Bevorzugung vorsetzen will. Das kann ja nicht sein. Wie das der Vater vor mehr als zwanzig Jahren mit ihm praktiziert hat, dadurch wurde doch so viel Streit und Feindschaft ausgelöst. Nein, nein, was will Joseph hier?
Joseph will austesten, wie die Brüder nach allem, was passiert ist, reagieren. Wenn einem von ihnen mal eine besondere Wohltat zuteilwird, wie sie dann reagieren: neidisch, zornig, ob sich ihre Blicke verfinstern, ob sie dann mit gnadenloser Gleichmacherei dazwischenfahren oder ob sie es ertragen und sich möglicherweise sogar mitfreuen können, wenn einem aus ihren Reihen etwas besonders Gutes widerfährt.
Und hier fällt die Antwort zu Josephs Freude eindeutig aus. Schauen Sie, wie es weitergeht: „Man trug ihm Essen auf, da bekam Benjamin fünfmal mehr als die anderen, und sie tranken und wurden fröhlich mit ihm.“
„Und sie tranken und wurden fröhlich mit ihm.“ Diese Formulierung – hören Sie mal – „sie tranken und wurden fröhlich mit ihm“ erinnert uns fast wörtlich an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, als der vermisste, gescheiterte und doch geliebte Lebemann endlich zerknirscht wieder nach Hause gekommen ist.
Und der Vater das große Versöhnungsfest ausruft. Da steht in Lukas 15, Vers 24: „Und sie fingen an, fröhlich zu sein.“ Und so steht es hier.
Ja, dieser Duft von Versöhnung liegt auch schon wie ein Versprechen über diesem noch kryptischen Treffen der Jakobssöhne. Da liegen noch einige Klärungsschritte vor ihnen, wie die nächsten Kapitel zeigen werden.
Aber schon jetzt wird die seelsorgerliche Umsicht deutlich, mit der Joseph auf seine Verwandten eingeht. So wie es Helmut treffend eingefangen hat, wenn er sagt: Der Grundton des ganzen Kapitels ist Güte. Güte, die die Brüder erst in ihrer Sicherheit erschüttert, aber dann ihr Misstrauen überwindet.
Güte – Charaktere in der Krise hatten wir heute, da gibt’s auch. Ja, da gibt es keinen Automatismus. Schauen Sie, wie unterschiedlich ist das bei den drei verschiedenen Männern gelaufen.
Was aus unserem Charakter in der Krise wird, wie unser Charakter sich da entwickelt, darüber entscheidet nie die Krise selbst. Nie die Krise selbst. Sondern darüber entscheidet, wie wir auf die Krise reagieren, wie wir uns in der Krise verhalten, wem wir uns in der Krise anvertrauen, wem wir in der Krise gefallen wollen.
Das entscheidet sich letztlich daran, wie wir uns von Gott durch die Krise hindurchtragen lassen.
Ich fasse noch einmal zusammen: Jakob war eine Moralinstanz, die von Gott auf großartige Weise gebraucht wurde. Doch irgendwann scheint seine geistliche Entwicklung stecken geblieben zu sein. Nicht, dass er vom Glauben abgeirrt wäre, aber mit Ausnahme von Vers 14, wo es bei ihm einmal durchbricht und er ausruft: „Der allmächtige Gott gebe euch Barmherzigkeit, auf den kommt es an.“ Das ist hier die Ausnahme.
Ansonsten erleben wir ihn als einen auf sich selbst fixierten Senior voller Wehleidigkeit. Man fragt sich: Wo ist da das brennende Herz für die nächste Generation? Charaktere in der Krise.
Dann die Überraschung mit Juda: Lange Zeit war er nur ein Mitläufer und noch Schlimmeres – ein mieser Schwiegervater für Tama und das Gegenteil eines guten Vorbilds. Doch etwas ist in seinem Herzen geschehen. Gott hat ihn zur Buße geführt.
Jetzt, in der Krise der Hungersnot, als alle anderen keinen Pfeil mehr im Köcher haben, nimmt Juda das Heft in die Hand. Er ist der Einzige, der bereit ist, persönlich etwas zu riskieren, sich selbst zu riskieren, und sagt: „Ich lege mein Leben auf den Block und ich bringe dir den Kleinen zurück, ich bringe dir ihn zurück.“
Charaktere in der Krise sind natürlich auch Joseph, der die Krise und die Trennung von der Heimat schon so lange aushalten musste. In ihm war eine seelsorgerliche Güte gereift, zudem eine persönliche Stärke – eine Stärke, die ihn vor faulen Kompromissen bewahrte und die ihn zu einem echten Leader werden ließ.
Wie steht es zurzeit um deinen Charakter? Du musst nicht auf die nächste Krise warten. Du kannst Jesus bitten, dass er sich deines Charakters annimmt. Du kannst Jesus bitten, deinen Charakter so zu formen, dass du brauchbar wirst für seinen Dienst.
Lass dich nicht von Menschen leiten. Menschen sind wie Laub im Wind. Jesus schafft Persönlichkeiten, die das Salz der Erde sind.
Und so schließlich zu unserer aller Ermutigung mit der Charakterschulung von John Newton, geboren 1725.
Als er Christ wurde, war Newton ein frisch bekehrter Seemann, ein wettergegerbter Sklavenhändler. Seit seinem elften Lebensjahr fuhr er mit seinem harschen Vater zur See. Mit achtzehn Jahren kam er zur Marine und dort geriet er völlig unter die Räder. Er sagt von sich: „Ich war zu allem fähig, ich hatte nicht die geringste Gottesfurcht, und mein Gewissen war auch, nachdem ich bekehrt war, zunächst noch sehr verhärtet.“
Aber wie gesagt, dann ist Jesus in sein Leben getreten. Nach der Todesfurcht in einem schrecklichen Unwetter auf hoher See, wo er dem Tod quasi ins Auge blickte, erfuhr Newton das Wunder der Bekehrung. Wie er es dann in seiner später so berühmten Hymne schrieb: „Amazing Grace, how sweet the sound that saved a wretch like me“ – ein Ganove wie ich, ein Lump, wurde gerettet.
Gerettet allein durch Gottes Gnade, allein dadurch, dass Jesus Christus sein sündloses Leben auch für mich geopfert hat und dass er mich hat erkennen lassen, wie roh und schuldig ich vor diesem heiligen Gott dastehe. Und dann habe ich gesagt: Jesus, du musst mich retten, das ist meine einzige Chance. „That saved a wretch like me.“ Ich war verloren, aber ich wurde gefunden, ja.
Damit beginnt für Newton die Reise einer lebenslangen Charakterschule. Lesen Sie eine seiner Biografien: Er wird Pastor, er wird Seelsorger des lebenslustigen William Wilberforce, der mitten aus einer glänzenden Politikerkarriere heraus plötzlich Christ wird und mit Newtons Hilfe die Beseitigung der Sklaverei vorantreibt.
Newton nimmt den genialen Dichter William Cowper, einen der größten englischsprachigen Dichter jener Zeit und ebenfalls Christ, zeitweise in seinem Haushalt auf. So verhindert er, dass Cowper in seiner tiefen Depression in den Selbstmord schlittert. Newton nimmt ihn unter seine Fittiche.
Wenn Sie ein spätes bildliches Porträt von Newton suchen, finden Sie dort einen ernsten und sehr gütigen Gesichtsausdruck, einen ernsten und sehr, sehr gütigen Gesichtsausdruck.
Das Geheimnis dieses Charakters von John Newton bestand darin, dass er sich ein Leben lang daran freuen konnte, dass Jesus ihm seine Schuld vergeben hatte. Das war letztlich das Geheimnis seines Charakters: dass er ein Leben lang nicht aus dem Staunen herauskam, dass der heilige Gott jemanden wie ihn da rausgeholt hatte und sogar einen Prediger aus ihm gemacht hatte. Daran konnte er sich ein ganzes Leben lang freuen.
Das prägte wesentlich seinen Charakter. Dazu passen auch die letzten Worte, die von Newton überliefert wurden, als er einem Freund sagte: „Mein Gedächtnis ist fast dahin, aber ich erinnere mich an zwei Dinge: dass ich ein großer Sünder bin und dass Christus ein großer Erlöser ist.“
So werden Charaktere geprägt.
Ach, Herr Jesus Christus, auch wir brauchen es, dass du unseren Charakter prägst, abschleifst und veränderst. Du sollst uns immer mehr dahin führen, dass wir dir gefallen.
Schenke uns Güte, Opferbereitschaft und einen liebevollen Blick für die Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Ach Herr, danke, dass du so stark bist, dass du auch unsere Herzen verändern kannst und willst.
So befehlen wir uns deinem Schutz an, auch für die kommende Zeit, in der wir wieder herausgefordert sein werden. Du musst mit uns sein. Du hast versprochen, dass du es auch wirklich tust, du lieber, guter Herr.
Amen.