Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Herr, nun bitten wir dich: Heilige uns in der Wahrheit! Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Liebe Gemeinde hier in Hannover und alle, die uns jetzt von anderen Orten aus bei unserem Studium des Wortes Gottes begleiten, kommen wir nun endlich nach Ägypten. Dort wurde Johann Joseph als Sklave verschleppt. Damit betreten wir jenen, man kann sagen, geheimnisvollen Raum, jenen Teil der Josephsgeschichte, der in der Literatur und auch in der Kunst besondere Nachhaltigkeit gefunden hat.
Dieser Abschnitt hat offensichtlich auf Leser zu allen Zeiten eine besondere Faszination ausgeübt. Georg Friedrich Händel lässt sein Oratorium „Joseph und seine Brüder“ hier in Ägypten beginnen. Auch in dem monumentalen Roman von Thomas Mann „Joseph und seine Brüder“ erhält diese Zeit in Ägypten ein starkes Gewicht.
Dieser Sprachkünstler hat etwas vom Reichtum dieser Texte geahnt, dass hier Urfragen unseres Menschseins verhandelt werden. Daraus entstand Thomas Manns vierteiliger Roman, sein Opus magnum, wie viele Literaturwissenschaftler sagen, also sein großes Werk, an dem der Schriftsteller insgesamt siebzehn Jahre lang gearbeitet hat. Es ist wie ein episches Gemälde von über eintausenddreihundert Seiten, dessen letzter Band 1943 erschien.
Thomas Mann sah in der Josefsgeschichte letztlich einen mythologischen Stoff, den er weiterzuentwickeln versuchte. Er war gepackt von der Frage, wie die Verbindung von Göttlichem und Menschlichem zu denken sei. Ganz vereinfacht gesagt, lautet seine These: Gott zeige sich im Glauben der Menschen und sei nur durch deren Glauben hindurch zugänglich.
Aber so, wie sich das menschliche Denken über Gott im Laufe der Geschichte entwickle und verändere, so verändere, verwandle und entwickle sich auch Gott. Thomas Mann vertritt also keine platte Projektionstheorie, wie etwa Feuerbach, der meinte, Gott sei nur die Projektion menschlicher Wünsche. Das nicht. Nein, da sei schon etwas Göttliches. Zugleich sei Gott zum Beispiel durch Abraham erst „hervorgedacht worden“, wie Thomas Mann schreibt. Er habe Gottes Eigenschaften erkannt und denkend verwirklicht.
Was ich damit zeigen will: Thomas Mann tilgt mit diesem Ansatz, was etwa die Reformatoren als den Grund christlicher Gewissheit in der Bibel wiederfanden. Nämlich, dass Gott selbst außerhalb unserer selbst existiert, dass Gott unabhängig ist von allem menschlichen Denken, dass Gott von außen auf uns zukommt und dass Gott eben nicht in unserer Seele gefunden wird.
Abraham oder auch Jakob oder Joseph haben Gott gerade nicht in einem innerseelischen Vorgang gefunden und dann denkend verwirklicht, wie man sagt. Vielmehr wurde Abraham von außen angesprochen – von einem Gott, den er nicht selbst denken konnte, einem Gott, der ihm bis dahin völlig fremd war, einem Gott, der ihm als Person entgegentritt und der seinen Gehorsam beansprucht.
Gott zeigt sich real und faktisch in der Geschichte. Er gibt uns Nachgeborenen, die wir einige tausend Jahre später leben, Anteil an seiner Geschichte durch eine faktenbasierte, schriftliche Offenbarung. Darum sind die Texte der Genesis kein mythologischer Stoff menschlicher Religionen. Sie konfrontieren uns mit einem lebendigen, realen Gott, der zugleich unendlich und persönlich ist und der in der Geschichte handelt – außerhalb unserer selbst, Extranos, wie es die Reformatoren formuliert haben.
Und das ist es, was Thomas Mann im Unterschied etwa zu Georg Friedrich Händel nicht akzeptieren wollte: dass diese Texte beanspruchen, reale Geschichte zu vermitteln. Mit anderen Worten: Den Joseph hat es wirklich gegeben, den Potiphar hat es wirklich gegeben, das Handeln Gottes in diesen Tagen hat es wirklich gegeben, es hat wirklich stattgefunden. Diese Ereignisse sind wirklich passiert und haben für uns heute noch eine große Bedeutung, weil eben dieser Gott wirklich lebt und handelt.
Und darum ist die Archäologie für den Bibelleser eine so wichtige Hilfswissenschaft. Sie ist die Suche nach alten, greifbaren Zeugen und Spuren dieser alten Geschichte.
Der Professor für Archäologie John Currit hat es folgendermaßen formuliert: Wir leben in einer Zeit, in der Geschichte typischerweise als unwichtig, bedeutungslos und mit wenig Nutzen für das moderne Leben angesehen wird. Das verbreitete Denken, so schreibt Currit, könnte man als ahistorisch bezeichnen, also unhistorisch. Denn viele lehren, dass Geschichte nicht in der Lage sei, Wahrheit und Realität wiederzuspiegeln.
Dementsprechend glauben viele Menschen, man könne Geschichte einfach neu schreiben, um sie den eigenen Zielen und Programmen anzupassen. Die Archäologie ist ein Schwert im Kampf gegen diesen Ahistorismus. Sie zeigt die Erdverbundenheit der Heiligen Schrift und verdeutlicht, auf welche Weise die Geschichten der Bibel in der Zeit, an bestimmten Orten und in der Geschichte verortet sind.
Geschichte ist eine Säule des christlichen Denkens. Gott ist der Gott der Geschichte. Er erschuf Geschichte und lässt die Zeit in der Geschichte vom Anfang der Schöpfung bis zur Vollendung ablaufen.
Und darum handeln eben auch die Vorgänge um Joseph nicht in einem vorgeschichtlichen Irgendwo. Mithilfe der Geschichtswissenschaft können wir sie recht gut einordnen. Josephs Zeit in Ägypten gehörte zum sogenannten Mittleren Reich. Diesen Begriff können Sie sich merken: Das Mittlere Reich im Rahmen der Chronologie Ägyptens umfasst die Epoche von der elften bis zur dreizehnten Dynastie.
Man datiert diese Zeit etwa von 2055 bis 1650 vor Christus. Das entspricht der elften bis dreizehnten Dynastie, dem Mittleren Reich. Die Kombination der Indizien, die wir haben, deutet darauf hin, dass Jakob, also Josephs Vater, möglicherweise um das Jahr 1867 vor Christus nach Ägypten kam. Das heißt, dass die hier geschilderten Ereignisse diesem Zeitpunkt vorausgehen müssen. Sie müssen also noch vor 1867 vor Christus geschehen sein.
Und nun ist es hochinteressant: Archäologische Zeugnisse aus jener Epoche bieten ganz interessante Parallelen zu unserem Text. Ich gebe Ihnen nur zwei Beispiele.
In den nächsten Kapiteln werden wir von einer großen Hungersnot erfahren. Diese Hungersnot wurde dadurch ausgelöst, dass der Fluss Nil in diesen Tagen keine ausreichende Wasserversorgung lieferte. Genau das sehen wir auch in der Archäologie bestätigt, nämlich Ägyptens wirtschaftliche Abhängigkeit vom Getreideanbau und damit von der jeweiligen Nilschwemme.
Die Archäologin Catherine Barth schreibt in ihrer „Introduction to the Archaeology of Ancient Egypt“, einer Einführung in die Archäologie des alten Ägyptens, die 2015 veröffentlicht wurde, Folgendes:
Während der Zeit der Pharaonen waren die Ägypter im Grunde auf die jährlichen Nilschwämme angewiesen, um ihre Felder zu bewässern. Wenn die Überflutung zu niedrig war, konnte weniger Land bebaut werden, was zu Nahrungsmittelengpässen und möglichen Hungersnöten führen konnte. Wenn die Überflutung zu hoch war, konnten Dörfer zerstört und Tempel überflutet werden.
Aber bei normalen Überflutungen war das Potenzial für den Getreideanbau in dieser Umgebung enorm, und dies schuf die wirtschaftliche Basis des Pharaonenstaates. Genau diesen Zusammenhang sehen wir auch in den nächsten Kapiteln der Josefsgeschichte: Ägyptens wirtschaftliche Abhängigkeit vom Getreideanbau und damit von der jeweiligen Nilschwemme.
Und nun zu unserem Kapitel. Dort lesen wir, dass Joseph als Sklave in Ägypten lebte. Dazu passt ein Papyrusdokument aus jener Zeit, das William C. Hayes veröffentlicht hat. Dieses Papyrusdokument ist in hieratischer Schrift erhalten – einer Kursivschrift, die bis Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus in Ägypten verwendet wurde. Das weiß man.
Dieses Papyrus enthält eine Liste von Sklaven und Informationen über ägyptische Gefängnisse. Für uns ist hier vor allem die Sklavenliste wichtig. Sie stammt aus der zwölften bis dreizehnten Dynastie, also aus der Zeit des Mittleren Reiches.
Bei den Sklavennamen sind etwa dreißig Namen aufgeführt, die als nicht ägyptisch identifiziert werden können. Einige dieser Namen erinnern an alttestamentliche Namen. Es gab also offensichtlich ausländische Sklaven in Ägypten zu jener Zeit.
Dieses Papyrus liefert den Hinweis, dass in der Zeit des Mittleren Reiches reiche Beamte Sklaven besitzen konnten. Putifa muss so ein reicher Beamter gewesen sein. Natürlich war die Sklaverei in Ägypten nicht vergleichbar mit der Sklaverei, gegen die William Wilberforce im neunzehnten Jahrhundert kämpfte.
Die Sklaverei in Ägypten war viel kultivierter, dennoch arbeiteten Menschen im Besitz ihrer Käufer. Interessant ist auch, dass es im Alten Reich, also vor dem Mittleren Reich, keine Sklaverei in Ägypten gab, wie wir aus den Zeugnissen wissen. Die großen Pyramiden wurden wahrscheinlich von Bauern erbaut, die dadurch ihren Frondienst ableisteten, aber nicht von Sklaven.
Sklaven gab es in Ägypten erst ab dem Mittleren Reich. Die Archäologie liefert diesen kulturgeschichtlichen Kontext und bestätigt eindrücklich die historische Stimmigkeit unserer Josefsgeschichte.
Das heißt: Wenn wir nun in unseren Text einsteigen – und deswegen habe ich Ihnen diese Details zugemutet – dann kommen wir nicht in ein Märchenland, sondern wir treten ein in einen realen historischen Raum. Und das ist auch für uns persönlich von größter Bedeutung.
Ich lese noch einmal die Verse 1 bis 5:
Und Joseph wurde hinab nach Ägypten geführt, und Potiphar, ein ägyptischer Mann, des Pharao Kämmerer und Oberster der Leibwache, kaufte ihn von den Ismaelitern, die ihn hinabgebracht hatten. Nämlich aus sich selbst heraus.
Und der Herr war mit Joseph, so dass er ein Mann wurde, dem alles glückte. Er war seines Herrn, des Ägypters, Hausdiener.
Und sein Herr sah, dass der Herr, also Gott, mit ihm war. Denn alles, was er tat, ließ der Herr in seine Hand gelingen, so dass er Gnade fand vor seinem Herrn und sein Diener wurde.
Der setzte ihn über sein Haus und alles, was er hatte, tat er unter seine Hände.
Und von der Zeit an, da er ihn über sein Haus und alle seine Güter gesetzt hatte, segnete der Herr das Haus des Ägypters um Josefs Willen. Es war lauter Segen und des Herrn in allem, was er hatte, zu Hause und auf dem Felde.
Darum ließ er alles unter Josefs Händen, was er hatte, und kümmerte sich, da er ihn hatte, um nichts außer um das, was er aß und trank. Und Joseph war schön an Gestalt und hübsch von Angesicht.
Was für eine Wendung!
Erinnern wir uns noch einmal an den Schluss des 37. Kapitels, wo wir von Joseph erfahren hatten. Der letzte Satz lautete: „Aber die Midianiter verkauften ihn in Ägypten an Potiphar, des Pharao Kämmerer und Obersten der Leibwache.“ Da sah es ganz dunkel aus.
Und dann schwenkt das nächste Kapitel, Kapitel 38, den Blick gewissermaßen auf Josephs Bruder Juda. Juda war derjenige, der die Versklavung Josephs initiiert hatte. Er war dann selbst von der heidnischen Lebensweise aufgesogen worden, bis in die persönlichsten Bereiche hinein, wie wir letzten Sonntag gesehen haben. Wenn Sie nicht dabei waren, können Sie es noch einmal auf unserer Homepage nachhören.
Währenddessen wird Joseph an heidnische Händler verkauft, unterwegs in ein unbekanntes Land mit ungewisser Zukunft und einer fremden Kultur. Völlig unerfahren mit seinen siebzehn Jahren war er kurz zuvor von zuhause aufgebrochen, um die Brüder zu suchen. Er hatte wohl gedacht: „Morgen bin ich wieder zuhause“ oder „heute Abend“ oder so ähnlich. Und dann wurde er verkauft.
Jetzt dieser Kulturschock, den das für ihn in Ägypten bedeutet haben muss.
In Ägypten herrschte zu jener Zeit eine starke kulturelle Dynamik, was sich auch an der reichhaltigen Literatur zeigt, die wir aus dieser Epoche des Mittleren Reiches inzwischen kennen. Es gab eine Schriftsprache mit rund neunhundert Hieroglyphen. Sie müssen sich vorstellen, dass Joseph all das hätte lernen müssen.
Später wurde diese Hieroglyphenschrift noch durch eine einfachere kursive Schrift ergänzt, die man im Alltag benutzte. Es gab reichhaltige literarische Dokumente: Gedichte, Geschichtsberichte, Genealogien, Untersuchungen, Biographien.
Und es gab dort in Ägypten eine polytheistische Religionswelt, in die er plötzlich hineinkam. Über 1500 Götternamen sind aufgezeichnet, darunter zum Beispiel Amun, der Schöpfergott, oder Ra, der Sonnengott, die recht bekannt wurden. Sogar der Pharao ließ sich als Gott verehren.
Dagegen hatte Joseph den einen wahren Gott kennengelernt, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Wie wird er sich nun zu dieser religiösen Vielfalt plötzlich verhalten und sich in diesem Kontext positionieren?
Dann sticht uns Vers 2 auch sofort ins Auge, wie hier die geistlichen und geistigen Welten aufeinanderprallen. „Ja, er war dort nach Ägypten verkauft“, sagt Vers 1, „und dann heißt es in Vers 2: ‚Und der Herr war mit Joseph, so dass er ein Mann wurde, dem alles glückte, und er war ein seines Herrn des Ägypters Haus, und sein Herr sah, dass der Herr mit ihm war.‘“
Da prallen Welten aufeinander – und erstaunlicherweise läuft es erst einmal richtig gut für Joseph. Viel besser, als man nach den letzten Ereignissen hätte erwarten können.
Der mitfühlende Leser atmet also erst einmal durch. Hier drängt sich nun ein erster Berührungspunkt auf zwischen Josefs Situation und der unseren, sofern wir Christen sind, die Jesus wirklich nachfolgen.
Auch wir müssen uns in einer Welt zurechtfinden, die kulturell und religiös einen Gegenentwurf zum biblischen Glauben darstellt. Für Christen ist das nichts Neues; man kann das genauso bei Paulus nachlesen. Es handelt sich um einen Gegenentwurf.
Neulich hatten meine Frau und ich eine sehr schöne Begegnung mit ehrenwerten, intellektuellen Zeitgenossen. Einige von ihnen setzen sich vorbildlich für ihre Mitmenschen ein und zeigen echtes Mitgefühl. Dennoch war es für sie kaum vorstellbar, dass die Bibel die Wahrheit über Gott und den Menschen sagen könnte. Dieser Gedanke war für diese wirklich angenehmen Menschen offensichtlich noch nie ernsthaft erwogen worden, obwohl sie sozial eingestellt und sehr verantwortungsbewusst sind.
Insofern ist es irreführend, wenn bei uns vom christlichen Abendland gesprochen wird. Vom christlichen Abendland sind nur noch Restbestände übrig geblieben. Zum Beispiel finden wir Spuren davon in unserem Grundgesetz, in der Präambel, wo von Verantwortung vor Gott und den Menschen die Rede ist.
Wir finden Spuren des christlichen Abendlands auch in Artikel 6, insbesondere in dem, was dort über die Familie gesagt wird: den Vorrang der Familie gegenüber dem Staat. Das Grundgesetz versteht unter Familie eindeutig die biblische Familie – Vater, Mutter, Kind. Ebenso finden wir dort den Schutz der christlichen Feiertage. In Niedersachsen wurde jetzt sogar der Reformationstag als Feiertag eingeführt.
Wenn wir uns jedoch die Lehrpläne in den Schulen ansehen, angefangen bei der Grundschule, dann ist das christliche Verständnis von Familie und Sexualität nicht nur verschwunden, sondern wird massiv bekämpft und angegriffen. Die christliche Position wird von den ideologischen Stichwortgebern unserer Zeit und von staatlich geförderten NGOs nicht nur belächelt, sondern geradezu kriminalisiert.
Wenn wir das klassische christliche Verständnis etwa zu Themen wie Abtreibung oder der Ehe für alle vertreten, gilt das in den Augen vieler Zeitgeistwächter nicht nur als altmodisch, sondern für viele sogar als unmenschlich. Die christliche Position und sogar der Rat der sogenannten evangelischen Landeskirchen fordern lautstark, das Abtreibungsrecht weiter aufzuweichen und teilweise aus dem Strafrecht herauszunehmen. Deshalb sind sie auch gegen den Marsch für das Leben.
Gestern gab es in Deutschland wieder Aufmärsche. Tausende Israelgegner durften mitten in der Hauptstadt gegen Israel protestieren: sie schrien, pfiffen, trillerten und zündeten Rauchbomben – mitten in Deutschland. In Essen haben die Behörden eine radikal-islamische Demonstration zugelassen, bei der die schwarze Schahada-Fahne geschwenkt wurde. Diese Fahne steht für den Dschihad, die Taliban und den IS, den sogenannten Islamischen Staat, eine Terrorgruppe.
Zum Thema Abtreibung: Auch in Ägypten war das Töten von Säuglingen in bestimmten Epochen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten – etwa wenn es um den Nachwuchs der Israeliten zur Zeit Moses ging. Deshalb lobt der Hebräerbrief ausdrücklich die Eltern Moses. Dort heißt es in Hebräer 11,23: „Durch den Glauben der Eltern wurde Mose, als er geboren war, drei Monate verborgen, und sie fürchteten sich nicht vor des Königs Gebot.“ Sie fürchteten sich nicht vor dem Gebot des Königs, das die Tötung nach der Geburt forderte. Bei uns kann sogar vor der Geburt getötet werden.
Ich sage das alles, weil es trotz aller historischen Unterschiede, die man immer im Blick haben muss, eine Parallele zwischen uns und Joseph gibt. Auch er fand sich plötzlich in einer Welt wieder, deren Weltanschauung und Kultur nicht von der Wahrheit des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs geprägt war, sondern vom krassen Gegenteil. Nun werden wir sehen, welche Herausforderung das für ihn bedeutete – und für uns.
Daraus ist der Titel dieser Predigt entstanden: Joseph wurde von seiner Umwelt verwöhnt, verführt und verdammt.
Das ist das Motto über dieser Predigt: verwöhnt, verführt, verdammt. Wir schauen uns diese drei Punkte jetzt nacheinander an.
Erstens:
Erstens wird Joseph in dieser fremden Welt verwöhnt. Es könnte gar nicht besser laufen. Noch einmal die Verse 2 bis 6:
„Und der Herr war mit Joseph, so dass er ein Mann wurde, dem alles glückte. Er war seines Herrn, des Ägypters, Hausdiener. Sein Herr sah, dass der Herr mit ihm war, denn alles, was er tat, ließ der Herr in seiner Hand gelingen. So fand er Gnade vor seinem Herrn. Sein Herr machte ihn zum Aufseher über sein Haus und über alles, was er hatte. Von der Zeit an, da er ihn über sein Haus und alle seine Güter gesetzt hatte, segnete der Herr das Haus des Ägypters um Josefs willen, und es war lauter Segen des Herrn in allem, was er hatte, zu Hause und auf dem Felde.“
Die großen Fähigkeiten Josefs werden schnell entdeckt. Außerdem war er, wie wir am Ende von Vers 6 lesen, offensichtlich auch eine angenehme äußere Erscheinung. So kommt er in einen gehobenen Haushalt: Er wird Kämmerer des Pharao, Oberster der Leibwache. Möglicherweise war das der Kommandant der königlichen Leibwache. Er war ein Oberster, was man auch als Scharfrichter übersetzen kann, vielleicht verantwortlich auch für Hinrichtungen.
Sein Name war eher wie ein Titel: Potiphar bedeutet „der von Gott rar auf die Erde Gestellte“. Ein großartiger Arbeitsplatz, wenn man sich in der Nähe eines Scharfrichters aufhalten kann. Joseph muss also wenigstens keine Sklavenarbeit auf dem Feld verrichten. Er darf sich um interne Angelegenheiten kümmern, Verwaltung und Organisation.
Interessant ist Vers 4: Joseph beginnt zunächst als Diener und steigt schon bald zum Aufseher auf – eine Art Hausmanager, der auch für die Vermögensverwaltung zuständig war. Wieder bestätigt der archäologische Befund, wie akkurat dieser Text informiert.
Kenneth Kitchen, der große Orientalist, hat darauf hingewiesen, dass es den Papyrus Brooklyn gibt. Dieser berichtet von 48 Ausländern und deren Berufen. Auf dieser Liste finden sich Köche, Tuchmacherinnen und so weiter. Darunter gibt es auch den Begriff „Heripär“, der Hausdiener in einem Haushalt bedeutet. Genau diese Arbeit ist auch die von Joseph, der in Vers 2 als „Heriper“ bezeichnet wird. Später steigt Joseph sogar zum Hausverwalter auf (Vers 4). Das war ein ganz üblicher Titel im Mittleren Reich. In deren Sprache hieß das „Imireper“, also der Aufstieg zum Hausverwalter. Auch das findet sich auf der archäologisch gefundenen Liste wieder. Fantastisch!
Gott schenkt dem Heiden Potiphar nun einen besonderen Segen durch den Boten Joseph. Er setzt ihn in diese damals ganz üblichen Berufe ein. Wir sehen, dass Gottes Leute eine Wohltat für ihre Umwelt sind – um Gottes willen. Hier ist zunächst Potiphar gemeint, später wird es das ganze ägyptische Volk sein, das durch Joseph gesegnet wird.
Dieser Segen erstreckt sich auch auf die äußeren, schöpfungsbedingten Güter, wie in Vers 5 zu sehen ist: „In allem, was er hatte, zu Hause und sogar auf dem Felde.“ Der Segen Abrahams betrifft hier also auch das Äußere, nicht nur das Innere.
Potiphar war klug genug, die darin für ihn liegende Chance zu erkennen. Wer Gottes Leute gut behandelt, hat in der Regel selbst Segen davon. Und das gilt bis heute. Das hatte Gott schon Josefs Urgroßvater versprochen, als er zu Abraham sagte (1. Mose 12): „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen.“ Genau das erfährt jetzt Potiphar.
Interessant ist die leicht ironische Formulierung in Vers 6: „Darum ließ er alles unter Josephs Händen, was er hatte, und kümmerte sich, da er ihn hatte, um nichts, außer um das, was er aß und trank.“ Nach dem Motto: Nur gegessen und getrunken hat er noch selbst, und darauf offenbar auch gewissen Wert gelegt, was seine Privatangelegenheiten beschreibt.
Die beiden Männer werden bestimmt ernste Gespräche miteinander geführt haben. Potiphar dürfte daran interessiert gewesen sein, durch welchen Einfluss der Junge Joseph diesen Charakter und diese außergewöhnlichen Fähigkeiten bekommen hatte. Joseph war trotz der Verschleppung nicht verbittert – das sah man. Er war trotz der Sklavensituation engagiert und tat nicht nur Dienst nach Vorschrift in der Fremde.
Schauen Sie hin: Vers 3 sagt ausdrücklich, dass Potiphar irgendwie den Zusammenhang erkannte, der zwischen Josefs Arbeit und seinem Glauben beziehungsweise seinem Gott bestand. Dort steht: „Und sein Herr, also Potiphar, sah, dass der Herr mit ihm war.“ Das sah er irgendwie. Denn alles, was Joseph tat, ließ der Herr in seiner Hand gelingen.
Kann man das auch an unserer Arbeit absehen und ansehen? Überhaupt an der Art und Weise, wie wir in dieser Welt auftreten und uns bewegen – sei es beim Einkaufen im Supermarkt? Kann man uns das ansehen?
Professor John Lennox, der Mathematiker, erzählt von einem Arzt, dem er begegnet war. Dieser Arzt kam aus einer wohlhabenden jüdischen Familie und baute sich gerade eine vielversprechende Karriere auf. In seinem Team war eine Krankenschwester, die ihm besonders auffiel. Sie war auch im größten Stress meistens fröhlich, fluchte nie, verlor nicht die Selbstbeherrschung und unterstützte ihn mit selbstlosem Eifer.
Auch die anderen Mitarbeiter waren nicht schlecht, aber diese Frau war irgendwie anders – was er sich nicht erklären konnte. Eines Tages fragte er sie einfach: „Was ist so anders an Ihnen?“ Ihre Antwort bestand in einem Wort: „Jesus.“
Der Arzt wollte wissen, was es damit auf sich hatte, weil er das nicht einordnen konnte. Er kaufte sich eine Bibel, um etwas über diesen Jesus herauszufinden. Er las die Evangelien und fand dadurch selbst zum lebendigen Glauben an Jesus. Er merkte, dass Jesus nicht nur eine Person der Vergangenheit ist, sondern lebt, auferstanden ist und für ihn da ist. Er kann zu Jesus beten – und wurde Christ.
Das hatte Konsequenzen: Er verlor die Unterstützung seiner Verwandten, die ihn für völlig übergeschnappt hielten und das ablehnten. Aber sein Vertrauen zu Jesus wuchs immer weiter. Schließlich widmete sich der Arzt für den Rest seines Lebens der Aufgabe, Menschen in entlegenen Gebieten medizinische Versorgung zu bringen, wo kein Arzt war – und die Botschaft von Jesus.
Der Auslöser von allem war die Krankenschwester, bei der man, wie bei Joseph, spürte, dass der Herr mit ihr war. Der Herr war mit ihr und ist mit ihr.
So wird Josephs Sklavendienst zu einer glänzenden Erfolgsgeschichte. Er erfährt Anerkennung, Wertschätzung und Hochachtung in der heidnischen Welt. Er macht völlig zu Recht große Karriere – nicht nur im Haushalt des Funktionärs, später sogar am Hof des Pharao, wie wir noch lesen werden. Und das alles mit ehrlicher Arbeit und vor allem mit Gottvertrauen. Nicht durch den Gebrauch breiter Ellenbogen, nicht durch krankhaften Ehrgeiz, nicht durch opportunistisches Anbiedern.
Doch heute noch schenkt Gott manchmal seinen Leuten solche offenen Türen, wenn es seinem Plan entspricht. Auch heute noch macht er das.
Dann werden wir von der Welt verwöhnt. Wir staunen mit Psalm 127: „Den Seinen gibt es der Herr im Schlaf.“ Hoffentlich ist uns in solchen Situationen klar, wie es auch Joseph klar war, wer der Held der Geschichte ist.
Neulich berichtete ein Kollege von einer Situation, in der er mutig und erfolgreich für seine Gemeinde agieren durfte. Ich weiß, das war wirklich ehrlich gemeint, weil ich ihn kenne. Was er an den Anfang dieses Berichts stellte, war: „Aber ihr müsst wissen, der Held der Geschichte ist Gott, nicht ich.“
Genau so wird das hier auch deutlich. Das hat Potiphar, wie man ansatzweise sieht, verstanden: Der Held von Josefs Geschichte ist Gott. Dass der Herr mit ihm war und dass der Herr sein Gelingen ließ. Das hat sich vermittelt. Aber so schön bleibt es nicht.
Und was jetzt folgt: Daran sehen wir, dass wir dieser Welt trotz allen Erfolgs und aller von Gott geöffneten Türen niemals naiv begegnen dürfen. Wir sollen uns in dieser Welt nie zu sehr zu Hause fühlen, sondern wachsam bleiben.
Jetzt kommen die Verse 7 bis 12. Es begab sich danach, dass die Frau seines Herrn ihre Augen auf Joseph warf und sprach: „Lege dich zu mir!“ Er weigerte sich aber und sprach zu ihr: „Sie, mein Herr kümmert sich, da er mich hat, um nichts, was im Hause ist, und alles, was er hat, das hat er unter meine Hände getan. Er ist in diesem Hause nicht größer als ich, und er hat mir nichts vorenthalten außer dir, weil du seine Frau bist. Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?“
Sie bedrängte Joseph mit solchen Worten täglich, doch er gehorchte ihr nicht, dass er sich zu ihr legte und bei ihr wäre. Es begab sich eines Tages aber, dass Joseph in das Haus ging, seine Arbeit zu tun, und kein Mensch vom Gesinde des Hauses war dabei. Da ergriff sie ihn bei seinem Kleid und sprach: „Lege dich zu mir!“ Aber er ließ das Kleid in ihrer Hand und floh zum Hause hinaus.
Das ist das Zweite, was uns als Gottesleuten seitens der Welt begegnet: Wir werden verführt. Wir werden nicht nur verwöhnt, sondern auch verführt. Potifars Frau findet Gefallen an dem jungen Mann, der mit circa siebzehn in ihren Haushalt gekommen war, und sie unternimmt einen dreisten Annäherungsversuch.
Helmut Frey, der Alttestamentler, hat diese Situation einmal so beschrieben: Mit der Gunst, also mit der Verwöhnung, kommt die Versuchung. Dem Hirtenjungen, der aus der Zisterne gezogen war, wäre das hier Berichtete nie begegnet. Aber dem Josef, der zu Amt und Ehren gekommen war, dem das Vertrauen des Ägypters alle Türen aufgeschlossen hat, dem Josef, der zum Mann herangewachsen war, naht die Versuchung in ihrer ganzen Gewalt und bricht wie Gewitterspannung in den Frieden seines ganz von Güte umschlossenen Weges ein.
Die Versuchung bricht wie Gewitterspannung in sein Leben ein. Wir werden daran erinnert, wie im Kapitel vorher sein Bruder Judah einer wesentlich geringeren Versuchung, wenn man das überhaupt so nennen mag, eben nicht widerstanden hat: einer Frau, die am Wegesrand wartete und von der er selbst meinte, sie sei eine Prostituierte. Eben hat er nicht widerstanden. Und hier war die Situation viel diffiziler, zumal Potifars Frau ihren Angriff auf die Integrität des jungen Mannes ganz offensichtlich strategisch aufbaute.
In Vers 7 kommt der erste Anlauf: Sie warf ihre Augen auf ihn und sagte: „Lege dich zu mir!“ Joseph weist das entschieden und brüst zurück. Das ist wie eine Fallstudie, wie der Teufel seine Versuchung oftmals anlegt.
Der nächste Schritt ist in Vers 10: „Und sie bedrängte Joseph mit solchen Worten täglich.“ Also steht der Tropfen höhlt den Stein. Sie ist sehr hartnäckig, aber Joseph beweist immer noch Charakter.
Die zweite Stufe zeigt sich in der Schamlosigkeit der abgewiesenen Frau, die schließlich einen Überrumpelungsversuch macht. Das ist Vers 11: Es begab sich eines Tages, als Joseph in das Haus ging, seine Arbeit zu tun, und kein Mensch vom Gesinde des Hauses dabei war. Sie erwischte ihn bei seinem Kleid und sprach: „Lege dich zu mir!“ Aber er ließ das Kleid in ihrer Hand und floh.
Die Umstände scheinen ihr an diesem Tag günstig. Jetzt wird diese Frau im wahrsten Sinne des Wortes übergriffig. Offensichtlich hat Joseph nicht damit gerechnet, war ein Stück weit unvorsichtig, und jetzt ist er nur eine Handbreit von der Katastrophe entfernt.
Was hätte wohl sein Bruder Judah in dieser Situation gedacht und getan? Das erinnert an die biblische Warnung, wie wir sie etwa in Sprüche 5 lesen. Dort heißt es: „Denn die Lippen der fremden Frau sind süß wie Honigseim, und ihre Kehle ist glatter als Öl, hernach aber ist sie bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidiges Schwert“ (Sprüche 5,3).
In Sprüche 6,25-26 heißt es: „Lass dich nach ihrer Schönheit nicht gelüsten in deinem Herzen und lass dich nicht fangen durch ihre Augenlider, denn eine Hure bringt einen nur ums Brot, aber eines anderen Ehefrau um das kostbare Leben.“ So lautet die Warnung aus Sprüche 6.
Gottes Wort kennt den Menschen sehr genau. Und warum bewahrt nun Joseph in dieser aufgewühlten Situation trotzdem einen einigermaßen klaren Kopf? Das sehen wir hier in Vers 8 und 9. Er weigerte sich und sprach zu ihr: „Sie, mein Herr kümmert sich, da er mich hat, um nichts, was im Hause ist. Alles, was er hat, hat er unter meine Hände getan. Er ist in diesem Hause nicht größer als ich, und er hat mir nichts vorenthalten außer dir, weil du seine Frau bist.“
Zu dem Zeitpunkt hatte Gott dem Mose die Zehn Gebote ja noch nicht gegeben; das kam erst einige hundert Jahre später. Aber Josephs Lehrmeister hatten die Lektion der Schöpfungsordnung in ihren Anfängen immerhin schon längst gelernt. Gott hatte auch dem Adam offenbart, dass Ehebruch schwere Schuld bedeutet – schwere Schuld dem Partner gegenüber, aber vor allem und zuerst dem Schöpfer gegenüber.
Judah hatte das auch gehört, aber an dessen Gewissen war es völlig abgeprallt. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Brüdern: Joseph nimmt Gott ernst, im Unterschied zu Judah. Und das predigt er in diesen Minuten der Versuchung, sogar dieser schamlosen Frau gegenüber.
Schauen Sie, was er ihr am Ende von Vers 9 sagt: „Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?“ Das ist das Entscheidende. Er sagt, es wäre in erster Linie eine Sünde gegen Gott, aber auch gegen dich und deinen Mann.
Hier sehen wir, woher Joseph seinen Rückgrat hat und in der Folge auch seine praktische Widerstandsfähigkeit: Er hat das vor Augen, was Judah verdrängte, vergaß oder vielleicht sogar verleugnete. Wir stehen mit unserem Leben vor Gott, ob wir das wissen oder nicht, ob wir das wollen oder nicht.
Vielleicht fand er die Frau sogar ganz hübsch, obwohl ihre primitive Zudringlichkeit ihn auch angewidert hat. Aber auf dieser Ebene wurde es nicht entschieden. Es war letztlich eine Sache zwischen Joseph und seinem Gott.
Wie reagierst du auf Versuchung? Das betrifft ja nicht nur die Sexualität, sondern alle Bereiche unseres Lebens: Geld, Umgang mit Wahrheit, Rücksichtnahme, wenn wir keine Lust mehr haben – überall, wo es um Integrität geht.
Was machst du da? Wie reagierst du? Willst du dich auf deine eigene moralische Stärke verlassen, auf deinen Sinn für Anstand und Ästhetik? Verlässt du dich auf deine Unangreifbarkeit und willst für dich selbst die Hand ins Feuer legen? Das wäre mir zu riskant.
Am Ende kann uns nur Gott selbst vor uns selbst beschützen, weil wir in jeder Sekunde vor ihm sind. Das gilt im Großen wie im Kleinen.
Da war ein junger Mann Anfang zwanzig. Er hatte seine Ausbildung als Elektriker abgeschlossen. Meines Wissens ist das wirklich so passiert. Nach wenigen Wochen auf seiner ersten Stelle wurde er zum Chef zitiert. Sie hatten in neuen Häusern die Elektrik verlegt, und der Chef fuhr ihn an, weil er weniger Häuser verkabelt hatte als seine Arbeitskollegen.
Der junge Mann antwortete: „Es tut mir leid, ich habe wirklich alles versucht, aber ich konnte nicht schneller arbeiten, weil wegen der Vermeidung von Brandgefahr die Fußböden, also die Verlegung dessen unter den Fußböden, besonders schwierig ist. Es muss besonders vorsichtig gemacht werden, um Brandgefahr zu vermeiden.“
Darauf reagierte sein Chef sehr wütend und sagte: „Wer sieht schon unter die Holzdielen?“ Der junge Mann antwortete postwendend: „Mein Herr tut es.“ Darauf wurde er sofort entlassen, aber sein Herr, der Herr Jesus, sorgte wirklich dafür, dass er dann rechtzeitig eine neue Anstellung bekam.
Verstehen Sie, der hatte das genauso kapiert wie Josef: Wir stehen in jeder Sekunde vor Gott. „Mein Herr tut es, er sieht es.“ Auch dieser junge Mann verdankte seinen Rückgrat genau dieser Quelle, genau diesem Wissen, das wir hier in Vers 9 finden: „Wie sollte ich so ein großes Übel tun und gegen Gott sündigen?“
Das hat Josef hier gerettet. Gott hat Josef hier gerettet. Josef hat das Klügste getan, was ihm in dieser Situation noch blieb: Er hat die Beine in die Hand genommen und geflüchtet.
Man merkt richtig, wie er sich hier losreißt. Vers 12: „Sie erwischte ihn bei seinem Kleid und sprach: ‚Lege dich zu mir!‘ Aber er ließ das Kleid in ihrer Hand und floh zum Haus hinaus.“
Wissen Sie, das Wort, das hier für „fliehen“ steht, das hebräische Wort, wird in 4. Mose 35 dafür gebraucht, dass jemand aus Todesgefahr flüchtet. Das war ein wirkliches Flüchten: Raus hier, so schnell wie möglich.
Ein anderer berühmter Mann der Bibel hat in der Stunde der Versuchung leider nicht so reagiert. Und Sie wissen, wen ich meine: David.
David hat nicht so reagiert, als er den Ehebruch mit Batseba durchzog und es anschließend noch so arrangierte, ohne selbst Hand anzulegen, dass ihr Mann ums Leben kam.
David hat es durchgezogen. David ist nicht geflüchtet.
David ist der Trost für den, der seine Niederlage schon hinter sich hat und zurückblickt, sich schämt und sich fragt, ob ihm Gott noch eine Chance gibt.
Die Antwort lautet: Ja, Gott gibt dir noch eine Chance – durch Schuldbekenntnis und Vergebung.
Durch Schuldbekenntnis und Vergebung gibt er dir noch eine Chance.
An dem entscheidenden Punkt aber sprechen David und Joseph mit einer Stimme.
Es gibt ja dieses große Bußgebet von David, Psalm 51, wo er Gott alles hinlegt: seine Verzweiflung, seine Scham, und wo er fleht um Vergebung.
Und hören Sie, was David in diesem Gebet sagt, in Psalm 51, Vers 6: „Ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir.“ Und dann sagt er in Vers 6: „An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan.“
Natürlich hatte er auch an Batseba gesündigt, natürlich hatte er auch an ihrem Mann Uria gesündigt, aber letztlich ist all das, was er Menschen angetan hat, eine Sünde vor dem heiligen Gott.
Und er sagt hier in Vers 6 von Psalm 51 genau das Gleiche, was Joseph in Vers 9 unseres Textes sagt: „An dir allein habe ich gesündigt.“
Das haben sie beide verstanden.
Schauen Sie: Weil wir allein an Gott sündigen, wenn wir sündigen, ist Gott auch der Einzige, der unsere Schuld vergeben kann.
Wir können sie uns nicht selbst vergeben.
Es hilft uns auch nichts, dass der, an dem wir schuldig geworden sind, sagt: „Okay, ich bin nicht mehr böse.“
Nur Gott kann vergeben.
„An dir allein habe ich gesündigt.“ Wie könnte ich eine so große Sünde vor Gott tun?
Darum konnte nur Gott das Problem lösen.
Darum hat Gott schließlich seinen eigenen Sohn in die Welt geschickt, damit es möglich wird, uns zu vergeben.
Weil er der Einzige ist, der das kann.
Deshalb musste Jesus kommen, weil wir den brauchten, der unsere Schuld auf sich nimmt, der für uns getroffen wird, der für uns sühnt, der für uns die Strafe trägt, für uns, deren Leben schon längst verwirkt wäre.
Schauen Sie, das ist die zweite Herausforderung, die uns in dieser Welt begegnet: Wir werden verwöhnt und wir werden verführt.
Manchmal macht das Verwöhntwerden – also unser Erfolg, unser Beliebtsein – uns gerade reif dafür, die Verführung zu unterschätzen oder ihr zu unterliegen.
Am Schluss unseres Kapitels erfahren wir noch ein drittes, was uns seitens der Welt widerfahren kann und das wir uns kurz anschauen wollen: Verwöhnt, verführt und schließlich verdammt. Joseph wird verdammt, obwohl er sich völlig integer verhalten hat.
Schauen wir uns die letzten Verse ab Vers 13 an. Das geht jetzt ziemlich schnell:
Als sie sah, dass Joseph sein Kleid in ihrer Hand ließ und hinausflog, rief sie das Gesinde ihres Hauses zusammen und sprach zu ihnen: „Seht, er hat uns den hebräischen Mann hergebracht, also ist er unser Mann, damit er seinen Mutwillen mit uns treibe. Er kam zu mir herein und wollte sich zu mir legen, aber ich rief mit lauter Stimme. Als er hörte, dass ich Geschrei machte und rief, ließ er sein Kleid bei mir und floh hinaus.“
Sie legte sein Kleid neben sich, bis ihr Herr, also Potiphar, heimkam. Dann sagte sie ihm dieselben Worte und sprach: „Der hebräische Knecht, den du uns hergebracht hast, kam zu mir herein und wollte seinen Mutwillen mit mir treiben. Aber als ich Geschrei machte und rief, ließ er sein Kleid bei mir und floh hinaus.“
Als Potiphar die Worte seiner Frau hörte, wurde er sehr zornig. Er nahm Joseph und legte ihn ins Gefängnis, in dem die Gefangenen des Königs waren. Dort lag Joseph im Gefängnis.
Joseph wird also nicht verurteilt, weil er sich unrecht verhalten hätte, sondern im Gegenteil: Er wird verurteilt, gerade weil er in seinem Handeln in der Welt Gott treu geblieben ist. Dafür wird er verurteilt.
Hätte er die Gunst seines Chefs nicht verspielen wollen, hätte er in dieser Hinsicht seinem wahren Chef, nämlich Gott, die Treue aufkündigen müssen. Er musste sich entscheiden.
Und das ist auch die Frage an uns: Bin ich bereit, nur um Jesu Willen – natürlich in Anführungsstrichen – die Gunst der Welt aufs Spiel zu setzen?
Auch mit unserem Arbeitskreis Christliche Corona-Hilfe gewinnen wir nicht nur die Gunst der Menschen. Vor Kurzem gab es eine Veröffentlichung in der Zeitschrift für Religion und Weltanschauung, dem Materialdienst der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Die EZW ist ein Arbeitszweig der evangelischen Landeskirchen, der EKD.
In diesem Artikel wurde über unsere Arbeit im Arbeitskreis Christliche Corona-Hilfe berichtet. Man versucht dort, unser theologisches und ethisches Anliegen als eine politische Position zu framen und diese politische Position in die Nähe rechtsextremer Gedanken zu rücken. Das wird suggeriert.
Es wird behauptet, dass wir Kritik an Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Zeit geübt hätten, dass wir den Gottesdienst gegen staatliche Übergriffe verteidigt hätten, und dass wir auf das Entstehen einer Zivilreligion hingewiesen hätten.
Zivilreligion bedeutet, dass bestimmte politische Forderungen zu Dogmen werden, gegen die niemand etwas sagen darf, wenn er nicht als böse gelten will. Dazu gehören bestimmte Positionen zur Sexualethik, zum Genderismus, eine bestimmte Sicht des Islam usw. Dagegen haben wir uns gewehrt.
Dieser Artikel sieht in all dem verschwörungstheoretische Motive, wie sie schreiben, und diese Motive seien anschlussfähig für Verschwörungstheorien. Im Hintergrund lauert, und das wird dort auch ausgesprochen, der Vorwurf des Antisemitismus gegen uns. Das ist wirklich ungeheuerlich.
Gerade bekennende Christen stehen sehr deutlich an der Seite Israels. Wir stehen auch in dieser Tradition, denken Sie an Dietrich Bonhoeffer, der gesagt hat: „Nur der darf gregorianisch singen, der auch für die Juden schreit.“ Es ist ungeheuerlich.
Wir prüfen zurzeit, ob es sinnvoll ist, gegen diese unwahre, verlogene Behauptung Rechtsmittel einzulegen. Dieser Vorwurf ist umso absurder, wenn man sieht, was sich auf deutschen Straßen als wirklicher Antisemitismus zeigt in diesen Tagen.
Bin ich bereit, um Jesu Willen die Gunst aufs Spiel zu setzen? Die Gunst bestimmter Institutionen, die Gunst weiterer Teile der Gesellschaft?
Der Apostel Petrus hat das den Christen auch geschrieben, in 1. Petrus 4,14: „Selig seid ihr, wenn ihr geschmäht werdet um des Namens Christi willen, denn der Geist, der Geist der Herrlichkeit und Gottes ist, ruht auf euch. Keiner unter euch leidet als Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als einer, der in ein fremdes Amt greift. Wenn er aber als Christ leidet, so schäme er sich nicht, sondern erehre Gott mit diesem Namen.“
Wir werden verdammt. Josephs Fall zeigt, dass moralische Integrität nicht vor Verunglimpfung oder gesellschaftlicher Ächtung schützt – im Gegenteil. Trotzdem durfte Joseph nicht mitspielen. Er musste aus Treue zu Gott dagegenhalten, eindeutig, ohne Kompromisse, auch auf die Gefahr hin, sich die Hausherren zum Feind zu machen.
Schauen wir zum Schluss auf die Frau des Potiphar. Es wundert uns angesichts ihres bisherigen Verhaltens nicht, mit welcher Perfidie sie ihre Schuld jetzt verschleiert und ihre Dienerschaft täuscht.
Sie sagt: „Dieser Hebräer, den mein Mann uns hier angebracht hat.“ Da merkt man auch antisemitische Anklänge in ihren Äußerungen. Gleichzeitig beschuldigt sie ihren eigenen Ehemann gegenüber seinen Angestellten. Das ist ein weiterer Beweis ihrer Treulosigkeit und Charakterlosigkeit.
Als Potiphar schließlich nach Hause kommt, legt sie ihm gegenüber noch einmal nach. In Vers 16 zeigt sie auf das Kleid und sagt: „Der hebräische Knecht, den du uns hergebracht hast, kam zu mir herein und wollte seinen Mutwillen mit mir treiben.“
Sie will sich reinwaschen, ihren Mann demütigen, aber gleichzeitig zum Zorn reizen. Sie kombiniert ihre Lügengeschichte mit einem vermeintlichen Indiz – dem Obergewand.
„Guck dir doch sein Obergewand an, das ist das Beweisstück.“ Die Indizien scheinen gegen Joseph zu sprechen. Dabei übersieht Potiphar, dass Indizien immer gedeutet werden müssen.
Was für eine tragische Ironie, wie Josephs Schicksal erneut mit einem Kleidungsstück verknüpft wird. In der Heimat war es der Leibrock gewesen – der Leibrock, den der Vater ihm geschenkt hatte, und den die Brüder in Ziegenblut tauchten. Mit dem Leibrock haben die Brüder dem Vater bewiesen, dass Joseph tot sei.
Jetzt ist es ein Obergewand, mit dem die untreue Ehefrau Potiphar beweisen will, dass Joseph ein Ehebrecher sei. Und das hängt immer an einem Kleidungsstück.
Der Hausherr ordnet die logischen Konsequenzen an: In den Versen 19 und 20 heißt es: „Als sein Herr die Worte seiner Frau hörte: ‚So hat dein Knecht an mir getan‘, wurde er sehr zornig. Dann nahm er ihn und legte ihn ins Gefängnis, in dem die Gefangenen des Königs waren, und er lag dort im Gefängnis.“
Das Wort „Gefängnis“ steht wörtlich für „Festung“. Es war eine Festung, die als Gefängnis genutzt wurde.
Aber zum Schluss greift Potiphar nicht zur Todesstrafe, was nach damaliger Rechtslage denkbar gewesen wäre. Wir wissen nicht, was ihn daran hinderte. Vielleicht, weil der Ehebruch nicht vollzogen worden war? Vielleicht war er sich seiner eigenen Frau doch nicht ganz sicher? Vielleicht ahnte er die Intrige? Vielleicht hatte er Angst vor dem starken Gott Josephs?
Bestimmt hat Joseph auf seine Unschuld gepocht. Sicher hat er gesagt: „Nein, ich habe es nicht getan. Ich habe es nicht im Entferntesten darauf angelegt. Ich habe es unterbunden.“ Aber er hat keine Chance, das zu beweisen. Es gibt keine Zeugen, es steht Aussage gegen Aussage.
Will Potiphar sein Gesicht wahren, muss er zu seiner Frau halten. Für Joseph gibt es kein Rechtssystem, keinen Anwalt, keine Beschwerdestelle, an die er sich wenden könnte – das ist menschliche Ohnmacht.
Aber das ist nicht das letzte Wort in diesem Kapitel. Schauen wir, wie es ausgeht, Vers 21:
„Aber der Herr war mit ihm und neigte die Herzen zu ihm und ließ ihn Gnade finden vor dem Amtmann über das Gefängnis, sodass er ihm alle Gefangenen im Gefängnis unter seine Hand gab.“
Jetzt geht es wieder von vorn los. Alles, was dort geschah, musste durch ihn geschehen. Der Amtmann über das Gefängnis kümmerte sich um nichts, denn der Herr war mit Joseph, und was er tat, dazu gab der Herr Glück.
Was für ein großartiger Beweis! Joseph ist menschlich gesprochen ganz unten angekommen. So hat es den Anschein, nach menschlichem Ermessen. So steil sein Aufstieg war, so brutal sein Fall.
Aber das bedeutet noch lange nicht, dass er von Gott auch nur eine Sekunde lang verlassen worden wäre. Darum führt Vers 21 sofort an, nachdem es heißt, er saß im Gefängnis: „Aber der Herr war mit ihm und neigte die Herzen zu ihm.“
Und in Vers 23 heißt es noch einmal: „Denn der Herr war mit ihm und was er tat, dazu gab der Herr Joseph Glück.“
Das ist der entscheidende Satz: Der Herr war mit Joseph. Und das ist am Ende das Einzige, was zählt – auch bei uns.
Wenn die Welt uns verwöhnt, wenn die Dinge gutzugehen scheinen, verlassen wir uns weder auf die Welt noch auf uns selbst, sondern wissen, wem wir es verdanken. Wir wissen, wer der Held der Geschichte ist: Der Herr war mit Joseph.
Wenn die Welt uns verführen will zur Sünde, wenn sie uns täuscht, wenn sie uns einflüstert: „Ist doch nicht so schlimm, kriegt doch keiner mit“, dann wissen wir, zu wem wir flüchten können. Und wir wissen, dass es keinen Quadratzentimeter auf dieser Welt gibt, wo er uns nicht hören würde: Der Herr war mit Joseph.
Wenn die Welt uns verdammt, weil wir aus Treue zu unserem Herrn nicht nach ihrer Pfeife tanzen, weil wir zu den Forderungen der Welt Nein sagen und zu Gottes Auftrag Ja, und wenn wir dann unsere Ohnmacht spüren, dürfen wir darauf vertrauen, dass Gottes Macht tausendmal stärker ist.
Der Herr war mit Joseph.
Darum war das auch das Lebensmotto von John Wesley, der viele Widerstände zu ertragen hatte als einer der großen Evangelisten des achtzehnten Jahrhunderts und der immer wieder fröhlich sein Lebensmotto zitierte: „Das Beste ist, Gottes mit uns. Das Beste ist, Gottes mit uns.“
Und wenn hier einer sitzt und denkt: „Ich würde das ja gerne glauben, ich würde das ja für mein eigenes Leben so gerne in Anspruch nehmen, aber woher kann ich wissen, dass das nicht nur für Joseph gilt oder für John Wesley, sondern dass es auch für mich gilt?“
Wenn du so fragst: Woher kann ich wissen, dass das auch für mich gilt? Dann gebe ich dir heute die gleiche Antwort, die eine Krankenschwester einem Arzt gab, als er sie fragte, was denn in ihrem Leben den großen Unterschied ausmachte. Ihre Antwort lautete: Jesus.
Herr Jesus Christus, dafür danken wir dir, dass du uns Gott so nahegebracht hast, dass in dir Gottes eigener Sohn, Gott selbst, zu uns kam und dass wir wissen dürfen: Wenn wir zu dir kommen und uns zu dir flüchten, ist Gott mit uns.
Danke, Herr Jesus Christus, dass du wirklich jeden einlädst und aufforderst, zu dir umzukehren, Schuld bei dir abzulegen und dass du alles getan hast, um uns zu retten.
Du weißt, wo wir von der Welt verwöhnt werden, wo wir verführt werden, wo wir verdammt werden. Danke, dass du immer stärker bist.
So lass uns flüchten unter deinen Schutzschirm, dich ehren und anbeten.
Du dreieiniger Gott, dir soll unser Leben gehören. Amen.