Einführung in das Buch der Klagelieder
Guten Morgen, ich möchte alle ganz herzlich zu diesem Bibelschultag heute Morgen begrüßen. Das Thema lautet „Die Klagelieder“. Ich werde nicht Vers für Vers alle fünf Kapitel behandeln. Der Sinn des heutigen Morgens ist eine Einführung in das Buch der Klagelieder, sodass man das Buch richtig in der Heilsgeschichte einordnen kann, seine Bedeutung versteht und auch sieht, wie das Buch praktisch auf uns angewendet und übertragen werden kann.
So soll dies ein Ansporn sein, um für das persönliche Bibelstudium eine Anleitung und Hilfe zu bieten, das Buch der Klagelieder selbst Vers für Vers zu studieren.
Ich lese aus Kapitel 1, Vers 1:
„Wie sitzt einsam die volkreiche Stadt, ist eine Witwe gleich geworden! Die Große unter den Nationen, die Fürstin unter den Landschaften, ist zinsbar geworden. Bitterlich weint sie des Nachts, und ihre Tränen sind auf ihren Wangen. Sie hat keinen Tröster unter allen, die sie liebten. Alle ihre Freunde haben treulos an ihr gehandelt, sind ihr zu Feinden geworden.
Judah ist ausgewandert vor Elend und vor schwerer Dienstbarkeit. Es wohnt unter den Nationen, hat keine Ruhe gefunden. Seine Verfolger haben es in der Bedrängnis ergriffen. Die Wege Zions trauern, weil niemand zum Fest kommt. Alle ihre Tore sind wüst, ihre Priester seufzen, ihre Jungfrauen sind betrübt, und ihr selbst ist es bitter.
Ihre Bedränger sind zum Haupt geworden, ihre Feinde sind wohlgemut, denn der Herr hat sie betrübt wegen der Menge ihrer Übertretungen. Vor dem Bedränger her sind ihre Kinder in Gefangenschaft gezogen, und von der Tochter Zion ist alle ihre Pracht gewichen.
Ihre Fürsten sind wie Hirsche geworden, die keine Weide finden, und kraftlos gingen sie vor dem Verfolger einher in den Tagen ihres Elends und ihres Umheerehrens. Gedenkt, Jerusalem, all ihr Kostbarkeiten, die seit den Tagen der Vorzeit waren, da nun ihr Volk durch die Hand des Bedrängers gefallen ist und sie keinen Helfer hat.
Die Bedränger sehen sie an, spotten ihres Feierns. Jerusalem hat schwer gesündigt, darum ist sie wie eine Unreine geworden. Alle diese Erden verachten sie, weil sie ihre Blöße gesehen haben. Auch sie selbst seufzt und wendet sich ab. Ihre Unreinigkeit ist an ihren Säumen, sie hat ihr Ende nicht bedacht und ist wunderbar heruntergekommen. Da ist niemand, der sie tröste.
Sie, Herr, mein Elend, denn der Feind hat groß getan. Der Bedränger hat seine Hand ausgebreitet über alle ihre Kostbarkeiten. Denn sie hat gesehen, dass Nationen in ihr Heiligtum gekommen sind, von welchem du geboten hast, sie sollen nicht in deine Versammlung kommen.
All ihr Volk seufzt, sucht nach Brot, sie geben ihre Kostbarkeiten für Speise hin, um sich zu erquicken. Sieh, Herr, und schaue, dass ich verachtet bin. Merkt ihr es nicht, alle, die ihr des Weges zieht? Schaut und seht, ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mir angetan worden, mir, die der Herr betrübt hat am Tag seiner Zornglut.
Aus der Höhe hat er ein Feuer in meine Gebeine gesandt, das sie überwältigte. Ein Netz hat er meinen Füßen ausgebreitet, hat mich zurückgewendet. Er hat mich zur Wüste gemacht, so sehe ich den ganzen Tag. Angeschirrt durch seine Hand ist das Joch meiner Übertretungen. Sie haben sich verflochten, sind auf meinen Hals gekommen.
Er hat meine Kraft gebrochen. Der Herr hat mich in Hände gegeben, dass ich mich nicht aufrichten kann. Der Herr hat alle meine Starken weggerafft in meiner Mitte. Er hat ein Fest wider mich ausgerufen, um meine Jünglinge zu zerschmettern.
Der Herr hat der Jungfrau, der Tochter Juda, die Kälte getreten. Darüber weine ich, ringt mein Auge, mein Auge von Wasser, denn fern von mir ist ein Tröster, der meine Seele erquicken könnte. Meine Kinder sind vernichtet, denn der Feind hat obsiegt.
Zion breitet ihre Hände aus, da ist niemand, der sie tröste. Der Herr hat seine Bedränger ringsum gegen Jakob entboten. Wie eine Unreine ist Jerusalem unter ihnen geworden.
Der Herr ist gerecht, denn ich bin widerspenstig gegen seinen Mund gewesen. Hört doch, ihr Völker alle, und seht meinen Schmerz! Meine Jungfrauen und meine Jünglinge sind in die Gefangenschaft gezogen. Ich rief meinen Liebhabern, sie aber betrogen mich.
Meine Priester und meine Ältesten sind in der Stadt verschieden, als sie für sich Speise suchten, damit sie ihre Seele erquicken möchten. Sie, Herr, wie mir Angst ist! Meine Eingeweide wallen, mein Herz wendet sich um in meinem Innern, denn ich bin sehr widerspenstig gewesen.
Draußen hat mich das Schwert der Kinder beraubt, drinnen ist es wieder tot. Sie haben gehört, dass ich seufzte. Ich habe niemanden, der mich tröstet. Alle meine Feinde haben mein Unglück gehört und sich gefreut, dass du es getan hast.
Führst du den Tag herbei, den du verkündigt hast, so werden sie sein wie ich. Lass all ihre Bosheit vor dein Angesicht kommen und tue ihnen, wie du mir getan hast, wegen all meiner Übertretungen. Denn viele sind meiner Seufzer und mein Herz ist sich. Bis dahin.“
Historischer Hintergrund und Entstehungszeit
Es ist immer wichtig, wenn man ein Bibelbuch neu betrachtet, sich zu fragen, in welcher Zeit es entstanden ist und welche Umstände damals herrschten.
Auf dem Skript, das hoffentlich alle bekommen haben oder zumindest mit dem Nachbarn teilen konnten, gibt es einige, die keines haben. Falls ihr keines habt, könnt ihr euch bitte ein bisschen organisieren und zusammenschauen? Wahrscheinlich sind wir doch mehr, als ich ursprünglich gedacht habe.
Zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches Es geht hier um eine Klage über den Untergang Jerusalems, und zwar unmittelbar nach 586 v. Chr. Im Juli 586 v. Chr. wurde Jerusalem durch die Babylonier unter Nebukadnezar dem Erdboden gleichgemacht. Der erste Tempel, der Tempel Salomos, wurde vernichtet und verbrannt. So ist das Buch der Klagelieder die direkte Folge dieses einschneidenden Ereignisses, des Untergangs von Jerusalem damals.
Das war die Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Die Juden wurden insgesamt in vier verschiedenen Phasen nach Babylon deportiert, zu Abertausenden. Das begann im Jahr 606 v. Chr. mit der ersten Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezar, beschrieben in Daniel 1,1. Dabei wurden Leute aus der Elite nach Babylon abgeführt. Unter ihnen waren auch Daniel und seine drei Freunde, die aus adligem Geschlecht und dem Königsgeschlecht stammten.
Später, im Jahr 597 v. Chr., kam es zu einer zweiten Wegführung. Bei dieser Wegführung kam auch der Prophet Hesekiel nach Babylon, wie in Hesekiel 1,1 und den folgenden Versen beschrieben ist.
Dann folgte die dritte Wegführung, bei der die meisten Juden nach Babylon gebracht wurden. Dabei wurde Jerusalem vollkommen zerstört. Im Jahr 582 v. Chr., also vier Jahre danach, gab es eine weitere kleinere Wegführung. Diese wird nur einmal in der Bibel erwähnt, nämlich in Jeremia 52,30. So fiel all dies in die Zeit, als die Babylonier die Weltherrschaft innehatten – für siebzig Jahre ab 609 v. Chr.
Ab 609 v. Chr. waren die Babylonier die Weltmacht Nummer eins. Alle Reste des assyrischen Weltreiches waren zuvor untergegangen. 612 wurde Ninive zerstört. Nach einigen Kriegen war Babylon 609 v. Chr. unangefochten die Nummer eins. Doch diese Herrschaft dauerte nur siebzig Jahre. Im Herbst 539 v. Chr. eroberten die Perser und Meder Babylon. Dies geschah in der verhängnisvollen Nacht der letzten Party von König Belsazar, beschrieben in Daniel 5. Danach kamen die Meder und Perser an die Macht.
Diese siebzig Jahre Babylon waren jedoch eine Zeit des Unglücks für das jüdische Volk. Jeremia wusste das ganz genau. Wir können das in Jeremia 27 nachlesen. Jeremia trat als Prophet genau in dieser Zeit der Not auf, als die Babylonier gegen Jerusalem kamen. Er sagte voraus, dass es eine Katastrophe werden würde, weil das Volk nicht zu Gott umkehrte.
In Jeremia 27,6 heißt es: „Und nun habe ich all diese Länder – das sind die Länder rund um Israel im Nahen Osten – in die Hand Nebukadnezars, des Königs von Babel, meines Knechtes, gegeben. Auch die Tiere des Feldes habe ich ihm gegeben, dass sie ihm dienen. Alle Nationen werden ihm dienen und seinem Sohn und seinem Sohnes Sohn, bis die Zeit auch seines Landes gekommen ist. Viele Völker und große Könige werden ihn dienstbar machen.“
Hier wird deutlich, dass es über drei Generationen hinweg dauern würde. Tatsächlich war Belsazar ein Enkel von Nebukadnezar. Es war also wirklich Nebukadnezar, sein Sohn und sein Sohnes Sohn, die über drei Generationen herrschten. Das konnte Jeremia bereits so verkündigen.
In Kapitel 25 sagt Jeremia in Vers 12 und auch schon in Vers 11: „Und dieses ganze Land wird zur Einöde, zur Wüste werden, und diese Nationen werden dem König von Babel dienen siebzig Jahre. Und es wird geschehen: Wenn siebzig Jahre voll sind, werde ich an dem König von Babel und an jenem Volk, spricht der Herr, ihre Schuld heimsuchen.“
Es waren wirklich ganz genau siebzig Jahre, von 609 bis 539 v. Chr.
Eine weitere Stelle findet sich in Jeremia 29,10: „Denn so spricht der Herr: Sobald siebzig Jahre für Babel oder Babylonien voll sind, werde ich mich euer annehmen, um ein gutes Wort an euch zu erfüllen, euch an diesen Ort zurückzubringen. Denn ich weiß ja die Gedanken, die ich über euch denke, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht zum Unglück, um euch Zukunft und Hoffnung zu geben. Ihr werdet mich anrufen, hingehen und zu mir beten, und ich werde auf euch hören. Und ihr werdet mich suchen und finden, denn ihr werdet nach mir fragen mit eurem ganzen Herzen, und ich werde mich von euch finden lassen, spricht der Herr.“
Auch hier wird ganz klar deutlich, dass diese siebzig Jahre vorausgesagt wurden. Doch es waren siebzig einschneidende Jahre, in denen Jerusalem und das jüdische Volk schrecklich leiden mussten – und zwar wegen eigener Sünde.
Alles war gekommen, weil die Mehrheit des Volkes sich von Gott abgewandt und sich den kanaanitischen Göttern zugewandt hatte. Jeremia und auch andere Propheten hatten gewarnt und gesagt: Es wird eine Katastrophe für euch werden, wenn ihr nicht umkehrt. Die Babylonier würden kommen und alles verwüsten. Doch man lachte über sie.
Im Buch Jeremia lesen wir, wie das Wort Gottes den Menschen zum Hohn und Spott wurde. So musste Jeremia diesen schrecklichen Untergang ankündigen.
Er kam. Und jetzt folgt das Buch der Klagelieder. Es ist die Trauer, das Weinen darüber, dass sich alles so erfüllt hat.
Zweiter Punkt:
Tradition und liturgische Bedeutung
Zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches Die Klagelieder werden diese alljährlich am Fastentag des neunten Av vorgelesen. Der neunte Av ist der Tag der Zerstörung des Tempels im Jahr 586 v. Chr. und gilt als Fastentag in den Synagogen.
Dieser Fastentag wurde nach der Zerstörung des Tempels eingeführt. Das finden wir angedeutet im Buch Sacharja, Kapitel 7. Sacharja ist der zweitletzte Prophet des Alten Testaments.
Ich muss kurz erklären: Sacharja lebte in der Zeit, als die Juden aus Babylon zurückkehrten. Das war etwa 539 v. Chr., als Babylon von den Persern und Medern erobert wurde. Diese erlaubten den Juden, in ihre Heimat zurückzukehren. In dieser Zeit trat Sacharja auf. Es kam eine Frage auf, die in Sacharja 7 behandelt wird.
Dort heißt es: „Und es begab sich im vierten Jahr des Königs Darius“ (Vers 1), „da geschah das Wort des Herrn zu Sacharja am vierten Tag des neunten Monats, im Monat Kislev. Als Betel den Scharezer und Regemelech und seine Männer sandte, um den Herrn anzuflehen und um den Priestern des Hauses des Herrn der Hirscharen und den Propheten zu sagen: Soll ich im fünften Monat weinen und mich enthalten, wie ich es schon so viele Jahre getan habe?“
Das Wort des Herrn geschah zu mir, so heißt es weiter: „Rede zu dem ganzen Volk des Landes und zu den Priestern und sprich: Wenn ihr im fünften und im siebten Monat gefastet und geweint habt – und zwar schon siebzig Jahre –, habt ihr wirklich mir gefastet? Und wenn ihr esst und trinkt, seid nicht ihr die Essenden und ihr die Trinkenden?“
Kennt ihr nicht die Worte, welche der Herr durch die frühen Propheten ausrief, als Jerusalem bewohnt und ruhig war und seine Städte ringsum, das Heer, der Süden und die Niederung bewohnt waren?
Die Frage bezog sich also darauf, ob sie in bestimmten Monaten – dem vierten, fünften, siebten und zehnten Monat – fasten sollten. Diese Monate sind mit Schlüsselereignissen im Zusammenhang mit dem Untergang Jerusalems verbunden. Der eigentliche Tag des Untergangs war der neunte Av im fünften Monat.
Die Menschen fragten also, ob sie weiterhin an diesen Tagen fasten sollten. Sie hatten das freiwillig als Gebot angenommen und fasteten am neunten Av im fünften Monat als Gedächtnis an dieses schreckliche Ereignis.
Gott und der Prophet antworteten darauf kritisch: Was ist eigentlich eure Motivation hinter diesem Fasten?
Beeindruckend ist, dass dieses Fasten bis ins Jahr 70 nach Christus beibehalten wurde. Damals zerstörten die Römer Jerusalem und den Tempel. Und an welchem Tag ging der Tempel unter? Am neunten Av.
So blieb dieser Tag bis heute der Tag des Wehklagens um den Tempel. Denn der neunte Av war bereits beim ersten Tempel und auch beim zweiten Tempel der Tag der Zerstörung.
Dieser Tag ist ein ganz besonderer im Judentum. Es wird geschrien und geheult um den verlorenen Tempel, der bis heute nicht wieder aufgebaut werden konnte. Die Römer hatten kein Interesse daran, dass die Juden einen Tempel neu errichten. Auch die Byzantiner danach nicht.
Im siebten Jahrhundert begannen die Muslime, kurz nach dem Tod von Muhammad, von der Arabischen Halbinsel aus den Nahen Osten und später Nordafrika zu erobern. Sie errichteten zwei Moscheen auf dem Tempelplatz.
Bis heute haben die Muslime kein Interesse daran, dass dort ein jüdischer Tempel entstehen würde. Juden dürfen nicht einmal auf dem Tempelplatz beten. Das ist der Grund, warum es bis heute keinen dritten Tempel gibt.
Der neunte Av ist also dieser schreckliche Trauertag um den verlorenen Tempel. An diesem Tag werden die Klagelieder gelesen. Diese Lektüre ist ein herzzerreißendes Buch, das an dieses Ereignis erinnert.
Autorenschaft und prophetische Bedeutung
Und wenn wir uns nun anschauen, wer der Autor ist: Beim Lesen des ersten Kapitels haben wir nirgends etwas über einen Autor gelesen.
Die älteste griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta aus dem dritten Jahrhundert vor Christus, übersetzt in Alexandria in Ägypten, nennt jedoch Jeremia als Autor im Text von Klagelieder 1,1. Auch der aramäische Targum Jonathan bestätigt dies.
Nach der Rückkehr aus Babylon begann man in den Synagogen, für die Menschen, die kein Hebräisch mehr verstanden, den Text jeweils auf Aramäisch zu übersetzen. Das war also ganz üblich, auch zur Zeit des Herrn Jesus. In der Synagoge wurde Hebräisch vorgelesen, und für diejenigen, die nicht mehr gut Hebräisch konnten, wurde der Text auf Aramäisch übersetzt. Solche Übersetzungen wurden auch schriftlich festgehalten.
Eine besonders berühmte aramäische Übersetzung ist der sogenannte Targum Jonathan. Dabei wird nicht nur wörtlich übersetzt, sondern auch etwas umschrieben und erklärt. In diesem Targum wird ebenfalls gesagt, dass Jeremia der Verfasser des Buches Klagelieder ist.
Auch der babylonische Talmud, der verbindliche Talmud im Judentum im Gegensatz zum Jerusalemer Talmud, bestätigt dies. Es ist also ganz klar überliefert.
Darum wurde dieses Buch auch als heilige Schrift angenommen, weil es von einem bewährten Propheten stammt. Bücher durften als Gottes Wort akzeptiert werden, wenn sie eindeutig von Propheten verfasst worden waren. Dabei war es wichtig, dass ein Prophet die Zukunft sicher voraussagen konnte und sich nicht einmal irrte. Nach 5. Mose 18 gilt ein Prophet, der einmal etwas Falsches prophezeit, als falscher Prophet.
Wir haben jedoch gesehen, wie exakt Jeremia war, zum Beispiel mit den Aussagen über die drei Generationen, die siebzig Jahre und Babel. Das war klar. Jeremia war ein Prophet, der als Schriftprophet akzeptiert werden konnte – ebenso wie das Buch Klagelieder. Deshalb steht es auch im Kanon der Heiligen Schriften.
Jeremia wird auch der „weinende Prophet“ genannt. In der bildenden Kunst wird er oft so dargestellt – als der Prophet, der weint. Lesen wir dazu Jeremia 9,1. Dieser Vers erklärt sehr gut, was das Buch Klagelieder eigentlich aussagen will. Wir hören den Propheten sprechen.
Ich nehme aus Gründen des Zusammenhangs die Verse 8, 21 und 22 dazu: „Ich bin zerschlagen wegen der Zerschmetterung der Tochter meines Volkes, ich gehe trauernd einher, Entsetzen hat mich ergriffen.“ Da spricht also der Prophet Jeremia, der erschüttert ist über das Elend seines Volkes.
„Ist kein Balsam in Gilead oder kein Arzt dort? Warum ist der Tochter meines Volkes kein Verband angelegt worden? Oh, dass mein Haupt Wasser wäre und meine Augen ein Tränenquell, so wollte ich Tag und Nacht beweinen die Erschlagenen der Tochter meines Volkes.“
Ein Prophet, der sich wünscht, dass sein ganzer Kopf ein Wasserkopf wäre, damit er all das ausweinen und ausheulen kann.
Ist es nicht eindrücklich? Der Prophet, der Jerusalem und das jüdische Volk jahrelang gewarnt hat, und die Masse hat nicht auf ihn gehört. Dann kam die Katastrophe, und er sagt nicht: „So, jetzt habt ihr es, ich habe es ja gesagt.“
Nein, er ist der Mann, der sagt: „Oh, dass mein Haupt Wasser wäre, mein Auge ein Tränenquell, so wollte ich Tag und Nacht beweinen die Erschlagenen der Tochter meines Volkes.“
Diesen Ausdruck finden wir im Buch der Klagelieder wieder.
Überlieferung und Textzeugen
Nun zur Überlieferung des Buchs: In Qumran wurden Handschriften gefunden, und zwar in den Jahren 1947 bis 1956. Dabei entdeckte man Überreste von vier verschiedenen Rollen, sogenannte Klageliederrollen. Mit diesen Überresten sind alle fünf Kapitel des Buchs bezeugt.
Der vollständige Text ist in Qumran zwar nicht erhalten, aber alle fünf Kapitel sind dort belegt. Genauer gesagt wurde in der Höhle drei – man nummeriert die Höhlen von Qumran von eins bis elf, römisch I bis XI – ein Fragment gefunden. In Höhle vier, die übrigens die bekannteste Höhle ist und sich direkt über dem Qumran-Plateau befindet, wo die Siedlung der Qumran-Leute lag, wurde ebenfalls ein Fragment entdeckt. Von dieser Höhle aus hat man Zehntausende von Fragmenten geborgen. Dort findet man auch das Buch Klagelieder.
In Höhle fünf wurden die Überreste von zwei Rollen gefunden, insgesamt 25 Fragmente. Wenn ich also von Höhle drei eins spreche, meine ich die Überreste von einer Rolle. Insgesamt ergeben alle Funde zusammen 25 Fragmente.
Es ist wichtig zu wissen, dass die Texte aus Qumran, obwohl sie etwa tausend Jahre älter sind als die zuvor bekannten biblischen Texte, uns keine neue oder bessere Bibel gebracht haben. Das Ergebnis von nunmehr über fünfzig Jahren Qumran-Forschung ist, dass es nichts Besseres gibt als das, was wir schon hatten.
Man hat festgestellt, dass der sogenannte masoretische Text aus dem Mittelalter, auf dem die modernen Übersetzungen basieren, ein sehr altertümlicher Text ist. Die Rechtschreibung ist oft sogar altertümlicher als bei den Texten, die man in Qumran gefunden hat.
Es zeigte sich, dass es den masoretischen Text gab, der im Tempel aufbewahrt wurde und als authentischer Text gilt. Daneben existierten modernisierte Texte, in denen beispielsweise Konsonanten eingefügt wurden, um das Lesen zu erleichtern. Denn im Hebräischen werden normalerweise nur die Konsonanten geschrieben. Wer die Sprache nicht beherrscht, weiß dann nicht, welche Vokale beim Lesen eingesetzt werden sollen.
Schon in vorchristlicher Zeit begann man daher, gewisse Konsonanten wie das J einzusetzen, um den Laut I anzudeuten. Das J ist eigentlich ein Konsonant, wird aber genutzt, um den I-Laut anzuzeigen. Ein Aleph kann verwendet werden, um den A-Laut zu markieren, und ein V, um U oder O anzudeuten.
In Qumran findet man solche modernisierten Handschriften, die angefertigt wurden, um das Lesen zu erleichtern. Der masoretische Text hingegen ist kein solcher erleichterter Text mit zusätzlichen Buchstaben, sondern tatsächlich der Text aus der Zeit der biblischen Propheten.
Qumran ist somit eine Bestätigung dessen, was wir schon immer wussten: dass Gott sein Wort bewahrt, wie es in Jesaja 40,8 heißt: „Aber das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit.“
Heilsgeschichtliche Bedeutung und Hauptthema
Das Thema, das man sich immer stellen muss, wenn man ein Buch der Bibel neu betrachtet, ist die Frage: Was ist das Hauptthema? Dieses kann man oft in einem Titel zusammenfassen. Im vorliegenden Fall lautet der Titel „Klage über die verwüstete Stadt Jerusalem“.
Dieses Buch hat heilsgeschichtlich eine ganz großartige Bedeutung. Ich lese aus dem Skript vor: Drei Verwüstungen Jerusalems haben in der biblischen Heilsgeschichte eine herausragende Bedeutung. Im Blick auf all diese drei Katastrophen erfüllen die Klagelieder ihre Funktion. Die Trauer über die Not soll vor Gott gebracht werden. Diese Trauer und die daraus entstehende gottgewirkte Buße sollen zum Heil führen. Vergleiche dazu 2. Korinther 7,10.
Nun zu den drei Zerstörungen. Erstens die Zerstörung durch die Babylonier im Jahr 586 vor Christus. Diese geschah wegen Götzendienst. Zweitens die Zerstörung durch die Römer im Jahr 70 nach Christus. Diese erfolgte wegen der Verwerfung des Messias.
Erstaunlich ist, dass der Untergang des Tempels an genau demselben Tag stattfand. Das zeigt, dass diese beiden Untergänge Jerusalems einen sehr engen inneren Zusammenhang haben müssen.
Drittens gibt es eine zukünftige Zerstörung, die die Bibel in der Prophetie ausführlich behandelt. Dabei handelt es sich um die Zerstörung Jerusalems durch den König des Nordens zu Beginn der großen Drangsalzeit. Dieses Thema wird heute Nachmittag noch ausführlich behandelt.
Diese zukünftige Zerstörung Jerusalems wird wegen Götzendienst geschehen. Die Masse des jüdischen Volkes wird den Götzen, der sprechen kann und den der Antichrist auf dem Tempelplatz aufstellen wird, akzeptieren. Außerdem wird diese Zerstörung wegen der Annahme des falschen Messias erfolgen. Die Mehrheit des jüdischen Volkes wird nicht nur diesen Götzendienst akzeptieren, sondern auch den Antichristen selbst als König in Israel anerkennen, nachdem die Gemeinde entrückt wurde.
So sind es also zwei Sünden: Götzendienst und die Annahme des falschen Messias. Dabei besteht wieder ein ganz enger Zusammenhang zu den beiden anderen Zerstörungen: 586 vor Christus wegen Götzendienst, 70 nach Christus wegen der Verwerfung des wahren Messias und schließlich die kommende Zerstörung wegen Götzendienst und der Annahme des falschen Messias.
Die Zerstörung Jerusalems im Alten Testament
Nun können wir uns das kurz anschauen. In 2. Könige 25 wird die Zerstörung Jerusalems beschrieben, im Jahr 586 v. Chr. Dasselbe finden wir auch in 2. Chronik 36 und Jeremia 52.
Ich schlage vor, wir öffnen 2. Chronik 36. Dort sehen wir, worüber Jeremia im Buch der Klage weint.
Ich lese 2. Chronik 36, Vers 5:
Joachim war 25 Jahre alt, als er König wurde. Er regierte elf Jahre in Jerusalem und tat, was böse war in den Augen des Herrn, seines Gottes. Gegen ihn zog Nebukadnezar, der König von Babel, herauf. Er band Joachim mit eisernen Fesseln und führte ihn nach Babel.
Auch die Geräte des Hauses des Herrn brachte Nebukadnezzar nach Babel und legte sie in seinen Tempel in Babel. Das war die erste Wegführung im Jahr 606 v. Chr. Dort wurde auch Daniel weggeführt (Daniel 1,1 und folgende).
Ich lese weiter:
Und das Übrige der Geschichte Joachims und seine Gräuel, die er verübt hat, und was an ihm gefunden wurde – siehe, das ist geschrieben im Buch der Könige von Israel und Juda. Joachim, sein Sohn, wurde König an seiner Stadt.
Joachim war achtzehn Jahre alt, als er König wurde. Er regierte drei Monate und zehn Tage in Jerusalem und tat, was böse war in den Augen des Herrn. Wir sehen also, sein Vater war Joachim.
Von ihm heißt es in Vers 5 am Schluss: „Er tat, was böse war in den Augen des Herrn, seines Gottes.“ Er fährt fort: Obwohl Propheten wie Jeremia warnten, tat er, was böse war in den Augen des Herrn.
Und im Laufe des Jahres sandte der König Nebukadnezar hin und ließ ihn nach Babel bringen, samt den kostbaren Geräten des Hauses des Herrn. Er machte seinen Bruder Zedekia zum König über Juda und Jerusalem.
Zedekia war einundzwanzig Jahre alt, als er König wurde. Er regierte elf Jahre in Jerusalem und tat, was böse war in den Augen des Herrn, seines Gottes. Er demütigte sich nicht vor dem Propheten Jeremia, als dieser nach dem Befehl des Herrn redete.
Zedekia empörte sich gegen den König Nebukadnezar, der ihn bei Gott hatte schwören lassen. Er verhärtete seinen Nacken und verstockte sein Herz, sodass er nicht umkehrte zu dem Herrn, dem Gott Israels.
Auch alle Obersten der Priester und das Volk häuften Treulosigkeiten an, begingen alle Gräuel der Nationen und verunreinigten das Haus des Herrn, das er in Jerusalem geheiligt hatte. Sie brachten sogar Götzendienst in den Tempel, in den Salomonstempel.
Der Herr, der Gott ihrer Väter, sandte zu ihnen durch seine Boten – man beachte: in der Mehrzahl. Einer von ihnen war Jeremia, der früh aufbrach und gesandt wurde, weil er sich seines Volkes und seiner Wohnung erbarmte.
Doch sie verspotteten die Boten Gottes, verlachten seine Worte und ahmten seine Propheten nach. Sie machten sich sogar über die Propheten lustig, ähnlich wie heute Karikaturen über göttliche Dinge gemacht werden. Das entspricht dem, was damals geschah: Sie ahmten die Propheten nach.
Bis der Grimm des Herrn gegen sein Volk stieg, sodass keine Heilung mehr möglich war. Er ließ den König der Chaldäer wieder heraufkommen. Dieser erschlug ihre Jünglinge mit dem Schwert im Haus ihres Heiligtums, also im Tempelbezirk.
Er schonte weder Jünglinge noch Jungfrauen, weder Alte noch Greise. Alle gab er in seine Hand. Alle Geräte des Hauses Gottes, die großen und die kleinen, sowie die Schätze des Hauses des Herrn und die Schätze des Königs und seiner Obersten brachte er nach Babel.
Sie verbrannten das Haus Gottes, rissen die Mauer von Jerusalem nieder und verbrannten alle seine Paläste mit Feuer. Auch alle kostbaren Geräte zerstörten sie.
Die vom Schwert Übriggebliebenen führte er nach Babel hinweg. Sie wurden ihm und seinen Söhnen zu Knechten, bis das Reich der Perser zur Herrschaft kam.
Damit erfüllte sich das Wort des Herrn durch den Mund Jeremias, bis das Land seine Sabbate genossen hatte. Alle Tage seiner Verwüstung hatte es Ruhe, bis siebzig Jahre voll waren.
Wir sehen also, wie im Alten Testament das Buch Jeremia innerbiblisch zitiert wird. Es wird bestätigt, dass sich alles erfüllt hat, was Jeremia vorausgesagt hatte.
Das war also die Zerstörung durch die Babylonier.
Die Zerstörung Jerusalems durch die Römer
Jetzt zur Zerstörung durch die Römer im Jahr siebzig nach Christus wegen der Verwerfung des Messias. Dazu lesen wir aus Jesaja 8 eine Stelle, die Jesaja über siebenhundert Jahre vor Christus vorausgesagt hatte.
Ich lese Vers 13 in Kapitel 8: „Den Herrn der Heerscharen, den sollt ihr heiligen!“
Gleich eine Bemerkung dazu: Heute wird ja in der Öffentlichkeit diskutiert, ob man Gott lästern darf. Gehört das zur Freiheit des Journalismus und der Kunst? Das ist ein großes Thema, besonders seit den Anschlägen auf Charlie Hebdo.
Ist Gotteslästerung quasi eine erlaubte Sache, die zur Freiheit, zur Redefreiheit und zur Freiheit des modernen Menschen gehört? Wenn wir daran denken, ist das genau das Gegenteil der ersten Bitte im Vaterunser: „Unser Vater, der du bist in den Himmeln, geheiligt werde dein Name.“ Das ist die erste Bitte.
Heute wird diskutiert, ob man Gott lästern darf und ob das zur Freiheit gehört. Hier wird aber gesagt: „Den Herrn der Heerscharen, den sollt ihr heiligen, und er sei eure Furcht, und er sei euer Schrecken.“ Das meint das Bewusstsein der Majestät, Größe und Heiligkeit Gottes.
Nun Vers 14: „Und er wird zum Heiligtum sein, aber zum Stein des Anstoßes und zum Fels des Strauchelns den beiden Häusern Israel, zur Schlinge und zum Fallstrick den Bewohnern von Jerusalem.“
Die alten Rabbiner haben in der rabbinischen Literatur erklärt, dass hier vom Messias die Rede ist. Sie wussten, dass der „Stein des Anstoßes“ und der „Fels des Strauchelns“ der Messias ist.
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die alten Rabbiner schon wussten, dass dies der Messias ist. Aber hier wird gesagt, er wird zum Heiligtum sein, aber auch zum Stein des Anstoßes. Wer ist er?
Nun, Vers 13: „Der Herr der Heerscharen.“ Das bedeutet, dass der Messias der ewige Gott ist. Im orthodoxen Judentum lehrt man ja, der Messias werde ein normaler Mensch sein. Doch das ist ein klarer Widerspruch zum Alten Testament.
Das Alte Testament lehrt, dass der Messias Gott ist. Das sehen wir auch im nächsten Kapitel, Kapitel 9, Vers 6 (je nach Zählung kann ein Vers abweichen): „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Man nennt seinen Namen wunderbarer Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst.“
Auch die Rabbiner sagten, dass dies der Messias sei. Er werde als Kind geboren, also ein Mensch sein. Doch sein zweiter Doppelnamen von den vier Namen heißt „starker Gott“ (El Gibor). Damit ist er Gott, Gott und Mensch in einem.
Das wird auch aus Jesaja 8,12-14 klar ersichtlich: „Ihr, der Herr der Heerscharen“, also der ewige Jahwe der Heerscharen, der keinen Anfang und kein Ende hat, wird zum Stein des Anstoßes und zum Fels des Strauchelns. Israel wird sich am Messias stoßen und darüber stolpern und zu Fall kommen.
Zuvor heißt es noch, er werde zum Heiligtum sein. Da hätte man sofort schalten sollen: Als der Herr Jesus im Tempel zu Jerusalem war und sagte: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten.“
Die führenden Juden, die im Johannesevangelium oft mit „die Juden“ bezeichnet werden, sagten: „46 Jahre ist an diesem Tempel gebaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten?“ Johannes fügt dann hinzu, dass Jesus von dem Tempel seines Leibes sprach.
Denn wenn der Messias als Mensch kommen sollte, sollte die ganze Fülle der Gottheit in ihm leibhaftig und auf besondere Weise gegenwärtig sein: Vater, Sohn und Heiliger Geist.
So war Jesus als Mensch ein Heiligtum, der Tempel. Er wird zum Heiligtum sein. Das hätten sie erkennen müssen: Natürlich ist der Messias der Tempel. Wenn er sagt: „Brecht diesen Tempel ab, in drei Tagen werde ich ihn aufrichten“, dann spricht er von seinem Tod und seiner Auferstehung.
Er wird zum Heiligtum sein, aber auch zum Stein des Anstoßes und zum Fels des Strauchelns den beiden Häusern Israel, zur Schlinge und zum Fallstrick den Bewohnern Jerusalems.
Hier wird beschrieben, wie Jerusalem nach der Verwerfung des Messias zerstört werden sollte. Viele unter ihnen werden straucheln, fallen, zerschmettert und verstrickt werden und gefangen genommen.
Josephus Flavius, ein Augenzeuge, berichtet, dass über eine Million Menschen im Krieg im Jahr siebzig nach Christus zwischen Römern und Juden umkamen. Viele werden straucheln, fallen, zerschmettert und verstrickt und dann gefangen genommen.
Fast hunderttausend wurden nach der Zerstörung Jerusalems als Kriegsgefangene abtransportiert. Alles hat sich so erfüllt.
Nach der Pause fahren wir an dieser Stelle mit weiteren prophetischen Hinweisen auf diese zweite Zerstörung fort, die auch im Buch der Klagelieder beweint wird.
Weitere prophetische Hinweise zur zweiten Zerstörung
Vor der Pause sind wir stehen geblieben bei der Zerstörung Jerusalems im Jahr siebzehn nach Christus, wie es in Jesaja 8 prophezeit wurde. Ich möchte noch ein Detail hinzufügen.
Wir haben die Verse 13 bis 15 in Jesaja 8 betrachtet. Da wir schon bei dieser Stelle sind, erkläre ich auch noch Vers 16. Nachdem in Vers 15 die Zerstörung und Verwüstung Jerusalems mit den vielen Toten beschrieben wird, sagt Vers 16: „Binde das Zeugnis zu, versiegle das Gesetz, die Tora, unter meinen Jüngern, und ich will auf den Herrn harren, der sein Angesicht verbirgt vor dem Haus Jakob, und will auf ihn hoffen. Siehe, ich und die Kinder, die der Herr mir gegeben hat, wir sind zu Zeichen und zu Wundern in Israel von dem Herrn der Hirscharen, der da wohnt auf dem Berg Zion.“
Vers 16 besagt, dass die Bibel für das Volk Israel, das seinen Messias verworfen hatte, ein verschlossenes, versiegeltes Buch werden soll. So nahm Gott das Licht von diesem Volk weg. Jahrhundertelang konnte das älteste Buch der Menschheit studiert werden, und trotzdem erkannten die meisten den Messias nicht, obwohl sich über dreihundert Prophezeiungen erfüllt hatten.
Man denke an einen der größten Rabbiner im Mittelalter, Mosche ben Maimon, auch bekannt als Moses Maimonides. In einem Brief an die Gemeinde in Jemen, in Gerethateman, schrieb er, dass Daniel uns die Wissenschaft der Zahlen mitgeteilt habe. Er spricht dabei von der Jahrwochenprophetie in Daniel 9, mit der man berechnen konnte, wann der Messias kommen würde. Diese Berechnung ergab genau das Jahr 32, am Palmsonntag, als Jesus als Fürst nach Jerusalem einzog.
Maimonides schrieb, diese Zahlen seien uns unbekannt und unverständlich. Darum hätten schon die alten Rabbiner gebetet und gesagt, man solle diese Rechnung nicht nachrechnen, weil sonst Anstoß entstehe, wenn einfache Leute im Volk feststellen, dass diese Zeiten abgelaufen sind und der Messias nicht gekommen sei.
Stellt man sich das vor? Genau das steht hier: „Binde das Zeugnis zu, versiegel das Gesetz unter meinen Jüngern.“ Also nur für diejenigen aus Israel, die dem Herrn Jesus nachfolgen und seine Jünger sind, ist das Wort Gottes verständlich.
Dann wird in Vers 17 hinzugefügt: „Ich will auf den Herrn harren, der sein Angesicht verbirgt vor dem Haus Jakob, und will auf ihn hoffen.“ Gott verbirgt also sein Angesicht vor seinem eigenen Volk. Das kennzeichnet die vergangenen zweitausend Jahre des Umherirrens unter den Völkern und die damit verbundene Orientierungslosigkeit.
In Vers 18 heißt es weiter: „Siehe, ich und die Kinder, die der Herr mir gegeben hat.“ Dieser Vers wird im Hebräerbrief 2 zitiert. Dort wird erklärt, dass der Herr Jesus, der Messias, das sagt. „Ich und die Kinder“ sind all jene aus Israel, die zum Glauben gekommen sind.
Mit dem Licht des Neuen Testaments kommen die Gläubigen aus allen Völkern dazu. „Ich und die Kinder, die der Herr mir gegeben hat, sind wir zu Zeichen und zu Wundern in Israel.“ So haben wir das messianische Zeugnis der Gemeinde für Israel.
Es ist ein Phänomen für Israel, zu sehen, wie diejenigen, die nicht zu den orthodoxen Juden gehören, die Bibel besser verstehen und Zusammenhänge erkennen, die sie selbst nicht sehen konnten. Eine ganz eindrückliche Bibelstelle.
Die Jahrwochenprophetie und die Zerstörung Jerusalems
Ja, nun möchte ich auf Daniel 9 im Zusammenhang mit der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem im Jahr 70 hinweisen. Dort geht es genau um diese Jahrwochen, die man bis auf Palmsonntag berechnen kann.
In Daniel 9,25 heißt es: „So wisse denn und verstehe: Vom Ausgehen des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias, den Fürsten, sind sieben Jahrwochen und 62 Jahrwochen.“ So lautet die korrekte Übersetzung. Straßen und Gräben werden wiederhergestellt und gebaut, und zwar im Drangsal der Zeiten.
Nach den 62 Jahrwochen wird der Messias weggetan werden und nichts haben. Hier wird also gesagt, dass der Messias, wenn er kommt, ermordet werden wird und kein Friedensreich auf Erden errichten wird. Er wird nichts haben.
Als Folge folgt der nächste Satz, der mit „und“ angehängt ist: „Und das Volk des kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören.“ Damit ist die Zerstörung Jerusalems gemeint, die als Konsequenz der Ermordung des Messias im Jahr 70 durch die Römer stattfand.
Auch in Lukas 21,20 kündigt der Herr Jesus dieses Ereignis an. Er sagt den Jüngern, dass das Zeichen der unmittelbar bevorstehenden Zerstörung des Tempels und Jerusalems sein wird, dass Jerusalem von Heerscharen oder Armeelagern umzingelt wird. Dies trat dann im Jahr 68 ein, woraufhin die messiasgläubigen Juden die Flucht ergreifen konnten. Im Jahr 70 folgte die totale Zerstörung.
In Lukas 21,20 heißt es: „Wenn ihr aber Jerusalem von Heerscharen oder Armeelagern umzingelt seht, alsdann erkennt, dass ihre Verwüstung nahegekommen ist. Dass alsdann die in Judäa sind, auf die Berge fliehen, und die, die in der Mitte Jerusalems sind, daraus entweichen, und die auf dem Lande sind, nicht in sie hineingehen. Denn dies sind Tage der Rache, dass alles erfüllt werde, was geschrieben steht. Wehe aber den Schwangeren und den Säugenden in jenen Tagen, denn große Not wird im Lande sein und Zorn über dieses Volk. Sie werden fallen durch die Schärfe des Schwertes und gefangen weggeführt werden unter alle Nationen. Und Jerusalem wird zertreten werden von den Nationen, bis dass die Zeiten der Nationen erfüllt sein werden.“
Der Herr Jesus hat dieses Ereignis also im Detail genau vorausgesagt. Er sagte auch, dass Jerusalem untergehen wird und bis in die Endzeit, also bis zum Ende der Zeiten der Nationen bei seiner Wiederkunft, ständig von anderen Völkern zertreten werden wird.
Geschichtlich lässt sich dies zeigen: Vom Jahr 70 nach Christus bis ins zwanzigste Jahrhundert geschah dies und es setzt sich bis heute fort. Man denke nur daran, wie die Muslime den Tempelberg zertreten und den Juden bis zum heutigen Tag streitig machen.
Die zukünftige Zerstörung Jerusalems
Und jetzt zur dritten großen Zerstörung, die in der Bibel eine ganz eminent wichtige Rolle spielt: die Zerstörung durch den König des Nordens zu Beginn der großen Drangsalzeit.
Dazu lese ich kurz aus Joel 2. Es ist zu erklären, dass der König des Nordens in der Prophetie Großsyrien ist, was im Grunde genau das ist, was heute der Islamische Staat ist. Von Norden her, zu Beginn der großen Drangsalzeit, also nach der Entrückung der Gemeinde, wird Israel überrannt werden.
Joel 2,1: "Stoßt in die Posaune auf Zion und blasst Lärm auf meinem heiligen Berg!" Zion ist in der Bibel immer der Tempelberg in Ostjerusalem, denn es kommt der Tag des Herrn.
Denn er ist nahe, ein Tag der Finsternis und der Dunkelheit, ein Tag des Gewölks und der Wolkennacht. Wie die Morgendämmerung ist er ausgebreitet über die Berge, ein großes und mächtiges Volk, wie es von Ewigkeit her nicht gewesen ist und nach ihm nicht mehr sein wird, bis in die Jahre der Geschlechter und Geschlechter.
Vor ihm her verzehrt das Feuer, und nach ihm lodert die Flamme. Vor ihm ist das Land wie der Garten Eden, und nach ihm eine öde Wüste. Auch lässt es keine Entronnenen übrig usw. usf.
Hier wird diese schreckliche Verwüstung über das ganze Land beschrieben. Nun zeige ich, wie speziell Jerusalem betroffen sein wird, und zwar in Sacharja 14. Wir werden das heute Nachmittag sehen, wenn wir das Thema der Königin des Nordens und der Assyrer durchnehmen.
Es wird zwei Belagerungen Jerusalems in der großen Drangsal geben: Die erste durch den Angriff von Norden gleich zu Beginn der letzten dreieinhalb Jahre der großen Drangsal. Danach zieht der König des Nordens weiter und wird Ägypten erobern. Anschließend kehrt er zurück und belagert Jerusalem ein zweites Mal.
Dann wird der Herr Jesus kommen, wenn Israel in Jerusalem völlig am Boden liegt, und wird eingreifen. In Sacharja 14 sind beide Belagerungen zusammengefasst.
Man kann in den Propheten die zwei Belagerungen so unterscheiden: Bei der ersten Belagerung liegt Jerusalem hoffnungslos am Boden, ohne Hilfe. Bei der zweiten Belagerung, in der allergrößten Not, greift Gott ein.
Hier in Sacharja 14 haben wir beides zusammen. Zuerst Vers 1, die erste Belagerung: "Siehe, ein Tag kommt für den Herrn, da wird deine Beute verteilt werden in deiner Mitte, und ich werde alle Nationen nach Jerusalem zum Krieg versammeln."
Übrigens sind mit "allen Nationen" im Textzusammenhang die Kapitel 12, 13 und 14 gemeint, die eine Einheit bilden. Es sind alle Völker ringsum. Kapitel 12, Vers 2: Gott sagt: "Siehe, ich mache Jerusalem zu einer Taumelschale für alle Völker ringsum."
Also nicht alle Völker der ganzen Welt kommen nach Jerusalem, sondern alle Völker ringsum – das ist genau die islamische Welt. Sehen wir das?
Dann nochmals Sacharja 14, Vers 2: "Und ich werde alle Nationen nach Jerusalem zum Krieg versammeln, und die Stadt wird eingenommen, und die Häuser werden geplündert, und die Frauen geschändet werden, und die Hälfte der Stadt wird in die Gefangenschaft ausgehen; aber das übrige Volk wird nicht aus der Stadt ausgerottet werden."
Jetzt kommt Vers 3, in dem das Eingreifen des Herrn Jesus beschrieben wird, das bei der zweiten Belagerung stattfinden wird. Bei der ersten wird die Hälfte in die Gefangenschaft gehen.
Vers 3: "Und der Herr wird ausziehen und gegen jene Nationen streiten, wie an dem Tag, da er streitet, an dem Tag der Schlacht. Und seine Füße werden an jenem Tag auf dem Ölberg stehen, der vor Jerusalem gegen Osten liegt."
Der Ölberg wird sich in der Mitte spalten, nach Osten und nach Westen hin zu einem sehr großen Tal.
Und dann Vers 5 ganz am Schluss: "Und kommen wird der Herr, mein Gott, und alle Heiligen mit dir."
Hier haben wir die Wiederkunft des Herrn Jesus mit allen Gläubigen des Alten Testaments. Wie wir aus dem Neuen Testament wissen, werden auch alle Gläubigen der Gemeinde ihn begleiten.
Das ist also diese schreckliche Belagerung.
Nun möchte ich noch aus Jesaja lesen, um zu zeigen, in welche Not Jerusalem dann kommen wird.
Jesaja 29 nennt Jerusalem mit dem poetischen Namen Ariel, was "Gotteslöwe" oder auch "Herr Gottes" bedeutet. Es bezeichnet den Altar, den rauchenden Altar in Jerusalem.
Kapitel 29, Vers 1: "Wehe Ariel, Ariel, Stadt, wo David lagerte, füget Jahr zu Jahr, lasst die Feste kreisen! Und ich werde Ariel bedrängen, und es wird Seufzen und Stöhnen geben."
Jetzt kommen wir wieder dem Thema der Klagelieder näher. Es wird Seufzen und Stöhnen geben, und sie werden mir sein wie ein Ariel.
Wie sieht der Altar in Jerusalem an den Festtagen aus? Er raucht, und unten ist er voll Blut. Das Blut der Opfer muss ja an den Fuß des Altars gegossen werden.
Jerusalem wird sein wie ein Ariel: Feuer und Rauch und Blut vergießen.
Jesaja fährt fort: "Ich werde dich im Kreis umlagern und dich mit Heeraufstellungen einschließen und Belagerungswerke wieder aufrichten. Erniedrigt wirst du aus der Erde reden, und eine Sprache wird dumpf aus dem Staub ertönen, und eine Stimme wird wie die eines Geistes aus der Erde hervorkommen, und eine Sprache wird aus dem Staub flüstern."
Aber wie feiner Staub wird die Menge deiner Feinde sein, und wie der hinfahrende Spreu die Menge der Gewaltigen. In einem Augenblick, plötzlich, wird es geschehen.
Von Seiten des Herrn der Heerscharen wird sie heimgesucht werden mit Donner und mit Erdbeben und mit großem Getöse, Sturmwind und Gewitter und einer Flamme verzehrenden Feuers.
Und wie ein nächtliches Traumgesicht wird die Menge all der Nationen sein, welche Krieg führen gegen Ariel, und alle, welche sie und ihre Festung bestürmen und bedrängen.
Es wird geschehen wie der Hungrige träumt: "Und siehe, er ist, und er wacht auf, und seine Seele ist leer." Und wie der Durstige träumt: "Und siehe, er trinkt, und er wacht auf, und siehe, er ist matt, und seine Seele lächzt."
So wird die Menge all der Nationen sein, welche Krieg führen gegen den Berg Zion usw.
Hier sehen wir, wie Jerusalem in tiefster und schrecklichster Not sein wird. Aber dann wird der Herr Jesus eingreifen. Der Herr der Heerscharen wird sie heimsuchen bei seiner Wiederkunft.
Die drei Verwüstungen Jerusalems im Überblick
Jetzt haben wir diese drei schweren Verwüstungen Jerusalems, die wir im Blick behalten müssen, wenn wir die Klagelieder lesen. Besonders wichtig ist dies, wenn der Prophet über eine Stadt weint, die aus eigener Schuld leidet.
Diese zukünftige Katastrophe tritt ein, weil Israel sich durch Götzendienst und die Verbindung mit dem Antichristen so sehr schuldig gemacht hat.
Bezug zu 5. Mose 28 und die Erfüllung der Flüche
Jetzt gehen wir nochmals zurück zum Blatt, zur heilsgeschichtlichen Bedeutung des Buches.
Zum drittletzten Punkt habe ich zusammengestellt, dass mindestens 15 Bezüge zu 5. Mose 28 die Erfüllung der Flüche aus der Tora belegen.
In 5. Mose 28 stellt Mose den Segen und den Fluch für Israel vor. Er sagt, wenn ihr auf Gottes Wort hört, wird Gott euch als irdisches Volk reich segnen. Und zwar mit irdischem Segen: Es wird gelingen im Stall, das Vieh vermehrt sich, das Vieh gedeiht. Es wird gelingen auf dem Feld, also es wächst im Überfluss, die Speicher werden gefüllt, und Gott verschont Israel vor Krankheiten.
Das Erstaunliche ist, dass der Segen von Vers 1 bis 14 beschrieben wird. Ab Vers 15 bis 68 folgen die Flüche. Man sieht das Verhältnis, weil Gott wusste, dass Israel nicht am Wort Gottes festhalten würde.
Dort werden all diese Flüche aufgelistet, die über Israel kommen werden, wenn sie nicht auf Gottes Wort hören. In den Klageliedern finden wir mindestens 15 Bezüge zu diesen Flüchen in 5. Mose 28.
Ich habe das hier so aufgeführt: Klagelieder 1, Vers 3, mit Bezug zu 5. Mose 28, Vers 65. Dann Klagelieder 1, Vers 5, mit der Parallele zu 5. Mose 28, Vers 44 und auch Vers 32. Klagelieder 1, Vers 6, hat Bezug zu 5. Mose 28, Vers 25, und so weiter.
Die Klagelieder dokumentieren also, wie die Flüche der Tora über Israel und Jerusalem gekommen sind. Sie zeigen die Erfüllung der angedrohten Strafe bei Ungehorsam.
Das Weinen Jesu über Jerusalem
Ein ganz wichtiger weiterer Punkt ist, dass der Herr Jesus selbst über das Schicksal der Stadt Jerusalem weinte.
Lesen wir Lukas 19,41. Das war an Palmsonntag, dem Tag, der in Daniel 9 angekündigt worden war. Dort heißt es, dass 69 Jahrwochen vergehen sollten, von dem Erlass, Jerusalem wieder aufzubauen – was im Monat Nisan 445 v. Chr. erfüllt wurde – bis der Messias als Fürst kommt.
Man kann diese 69 Jahrwochen umrechnen: Die prophetischen Jahre der Bibel dauern immer 360 Tage, was der Mitte des Sonnen- und Mondjahres entspricht. So rechnet man 69 Jahrwochen: 69 × 7 × 360, das ergibt 173.880 Tage.
Genau am 173.880. Tag nach dem Erlass von Artaxerxes, Jerusalem wieder aufzubauen, wie in Nehemia 2 beschrieben, kam der Herr Jesus.
Ich lese nun den Text: Der Herr Jesus reitet ein und wird von der Volksmenge als Messias-König begrüßt mit den Worten: „Gepriesen sei der, der da kommt im Namen des Herrn“ (Vers 41).
Als er sich näherte und die Stadt sah – er kam vom Ölberg durch das Kidron-Tal – weinte er über sie und sprach: „Wenn auch du erkannt hättest, selbst an diesem deinem Tag, was zu deinem Frieden dient!“ Aber jetzt ist es vor deinen Augen verborgen.
Was bedeutet „selbst an diesem deinem Tag“? Er spricht zu Jerusalem. „Dein Tag“ ist der Tag Jerusalems. Das war eben der 173.880. Tag, nachdem der Erlass gegeben wurde, Jerusalem wieder aufzubauen, und an dem der Messias als Fürst kommen sollte.
Das war der Tag Jerusalems, der Einzug des Messiasfürsten nach Jerusalem. Und der Herr Jesus sagt: „Selbst an diesem deinem Tag, was zu deinem Frieden dient“ – er wäre gekommen, um Jerusalem Frieden zu bringen. Doch jetzt ist es vor deinen Augen verborgen.
Tatsächlich rief die Menge fünf Tage später vor Pilatus, dass er gekreuzigt werden solle. Denn es heißt: „Es werden Tage über dich kommen, dass deine Feinde einen Wall um dich aufschütten und dich umzingeln und dich von allen Seiten einengen werden. Sie werden dich und deine Kinder in dir zu Boden werfen und werden in dir nicht einen Stein auf dem anderen lassen.“ Das geschieht, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.
All das kann man nachlesen, auch in der Erfüllungsgeschichte. Josephus Flavius, ein jüdischer Geschichtsschreiber aus dem ersten Jahrhundert, war Augenzeuge. Er erlebte alles mit, als Dolmetscher zwischen den Juden und der römischen Armee.
Er war mit dem General Titus auf der Burg Antonia und hat alles beobachtet. Er schrieb auf, was in diesem Krieg geschah. Er beschreibt, wie die Römer den Wall um Jerusalem errichteten, wie Jerusalem eingeschlossen wurde und nach 140 Tagen Krieg am Boden zerstört wurde.
Er berichtet auch, wie die Juden massakriert wurden. Es gab keine Gnade, egal ob alt oder jung. Alles, was den Legionären in die Quere kam, wurde brutal abgeschlachtet. Sie achteten nicht auf Genfer Konventionen oder Menschenrechte.
Übrigens waren das die Römer, auf die viele in unserer Gesellschaft stolz sind, weil unsere hochentwickelte Kultur auf der römischen Kultur aufbaut. Doch so haben sie gehandelt.
So erfüllte sich die Prophezeiung: „Sie werden dich und deine Kinder in dir zu Boden werfen und werden in dir nicht einen Stein auf den anderen lassen.“ Das geschah, weil Jerusalem die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt hatte.
Der Ausdruck „Heimsuchung“ bedeutet hier, dass Gott kommt, um sein Volk zu besuchen.
Hier sehen wir, wie der Herr Jesus weint – im Sinn der Klagelieder und im Sinn des weinenden Propheten Jeremia.
Jesu Weg nach Golgatha und die Ansprache an die Töchter Jerusalems
Und dann gibt es noch eine besonders bewegende Stelle in Lukas 23. Dort sehen wir den Herrn Jesus auf dem Weg nach Golgatha. In Lukas 23, Vers 26 heißt es: „Und als sie ihn wegführten, ergriffen sie einen gewissen Simon von Kyrene, der vom Feld kam, und legten das Kreuz auf ihn, damit er es Jesus nachtrage.“
Übrigens: Kyrene liegt in Libyen, und Simon von Kyrene war ein libyscher Jude. Simon kam vom Feld und musste das Kreuz für Jesus tragen.
Es folgte ihm aber eine große Menge Volks sowie Frauen, die wehklagten und ihn bejammerten. Diese Frauen hatten offenbar ein anderes Empfinden als die meisten Männer. Deshalb werden sie hier separat genannt. Sie beklagten und jammerten wirklich über den Herrn Jesus.
In Vers 28 spricht Jesus zu ihnen: „Jesus wandte sich aber zu ihnen und sprach: Töchter Jerusalems.“
Interessant ist, dass dies genau die Ansprache ist, die die Sulamit im Hohenlied benutzt. Dreimal im Refrain richtet sie sich immer an die Töchter Jerusalems.
Jesus sagt: „Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder. Denn siehe, Tage werden kommen, an welchen man sagen wird: Glückselig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, und die Brüste, die nicht gesäugt haben.“
Das bedeutet, dass es dann ein Vorteil ist, keine Kinder gehabt zu haben und ledig geblieben zu sein. Denn wenn man erleben muss, dass die eigenen Kinder umkommen, erlebt man das als Lediger oder Kinderloser nicht.
Der Herr sagt also, es kommt eine Zeit, da wird man sagen: Überglücklich sind die, die keine Kinder gehabt haben. Dann werden sie zu den Bergen rufen und sagen: „Fallet auf uns!“ und zu den Hügeln: „Bedeckt uns!“
Denn wenn man das am grünen Holz tut, was wird dann am dürren Holz geschehen? Jesus vergleicht sich hier mit dem grünen, frischen Holz. Die, die um das Gericht fallen, vergleicht er mit dem dürren Holz.
Das ist eindrücklich: Der Herr auf dem Weg nach Golgatha sagt: Weinet über euch und über eure Kinder!
Diese Worte können gut mit dem Buch der Klagelieder verbunden werden, das einige Besonderheiten und charakteristische Ausdrücke enthält.
Besonderheiten und charakteristische Ausdrücke im Buch der Klagelieder
Das Buch besteht aus siebenmal 22 Versen. Wie kommt man auf diese Idee? Sehr, sehr naheliegend! Es sind zwar fünf Kapitel, und das ist gut so, aber schauen wir uns das mal genauer an.
Kapitel 1 besteht aus 22 Versen, Kapitel 2 ebenfalls aus 22 Versen. Kapitel 3 jedoch hat 66 Verse, also dreimal 22. Das hat einen Grund, den ich gleich noch erklären werde. Kapitel 4 und Kapitel 5 bestehen jeweils wieder aus 22 Versen. Woher kommt das?
Das hebräische Alphabet, Aleph, Bet, Gimmel bis Taw, besteht aus genau 22 Buchstaben. Die Kapitel 1 bis 4 sind Akrosticha – ein ungewöhnliches Wort, nicht wahr? Akrosticha ist die Mehrzahl von Akrostichon. Ein Akrostichon funktioniert so: Man nimmt einen Namen und macht aus jedem Buchstaben dieses Namens ein Wort, das man beispielsweise im 90-Grad-Winkel anordnet. Zum Beispiel der Name Gutenberg: Aus jedem Buchstaben, G, U, T und so weiter, entsteht ein Wort. Dieses Prinzip findet sich im Buch der Klagelieder.
Im Buch der Klagelieder beginnt Kapitel 1 im Hebräischen mit Aleph, der erste Vers also mit Aleph, der zweite mit Bet, dem zweiten Buchstaben, der dritte mit Gimmel, und so weiter, bis zum 22. Vers, der mit Taw beginnt. Das gilt für die Kapitel 1 bis 4.
Kapitel 3 ist etwas anders aufgebaut: Immer drei Verse bilden eine Gruppe. Kapitel 3, Verse 1 bis 3 beginnen mit Aleph, Verse 4 bis 6 mit Bet, Verse 7 bis 9 mit Gimmel, und so weiter bis Taw. Deshalb hat Kapitel 3 genau 66 Verse.
Kapitel 5 ist kein Akrostichon. Hier findet man das Alphabet nicht wieder, aber auch dieses Kapitel besteht aus 22 Versen, entsprechend der Anzahl der Buchstaben im Alphabet. So ergibt sich, dass das ganze Buch aus siebenmal 22 Versen besteht.
Das hat eine tiefere Bedeutung: Die Zahl sieben steht für Vollkommenheit. Das gesamte Alphabet ist ebenfalls etwas Vollständiges. Mit allen Buchstaben des Alphabets kann man alles ausdrücken, was man will. So ist Gott der Gott, in dem man alles findet, was unsere Bedürfnisse erfüllen kann.
Darum nennt sich Gott im Neuen Testament „Ich bin das Alpha und das Omega“, entsprechend dem griechischen Alphabet, das mit Alpha beginnt und mit Omega endet. Offenbarung 1,8 sagt: „Ich bin das Alpha und das Omega“, spricht der Herr, Gott, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige.
Das bedeutet, dass Gott allgenügsam ist, in ihm ist alles enthalten. Gibt es etwas, das wir mit den Buchstaben Alpha bis Omega ausdrücken können, an Bedürfnissen, so finden wir es in Gott. Natürlich bedeutet das auch, dass er der Anfang und das Ende ist. Alpha ist der erste Buchstabe, Omega der letzte. Gott steht am Anfang, er ist von Ewigkeit her, alles kommt aus ihm. Die Schöpfung ist sein Werk, und er wird am Schluss stehen und das letzte Wort über diese Welt sprechen.
Das ist genau das, was Hiob erkennt, wenn er aus tiefen, dunklen Gedanken heraufkommt und sagt in Hiob 19,25: „Und ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Weiter sagt er: „Und als der Letzte wird er auf der Erde stehen. Er wird das letzte Wort sprechen in dieser Welt voll Leiden.“
So bedeutet auch Offenbarung 1,8: „Ich bin das Alpha und das Omega.“ Gott wird das letzte Wort sprechen und alles vollenden.
Auf das hebräische Alphabet angewandt, Aleph bis Taw, drückt es dasselbe aus: Gott ist der Anfang, er ist das Ende, und er ist der, der das letzte Wort hat. Im Buch der Klagelieder geht es speziell darum, dass Gott als Richter das letzte Wort sprechen wird.
Menschen können über die Bibel lachen, wie das damals in Jerusalem zur Zeit von Jeremia geschah. Sie können Propheten nachäffen und das vielleicht noch als künstlerische Freiheit verkaufen. Doch Gott wird das letzte Wort sprechen.
Noch etwas Besonderes: In den Klageliedern wird besonders in Kapitel 5 auch in die Zukunft geschaut. Es wird gezeigt, wie Gott letztlich auch Israel zur Vollendung bringen wird. Nicht nur das Gericht, sondern letztendlich auch die Gnade für Israel wird in diesem Buch verkündigt.
Ich möchte dazu aus Klagelieder 5 die letzten Verse lesen:
Du, Herr, thronst in Ewigkeit.
Dein Thron ist von Geschlecht zu Geschlecht.
Warum willst du uns für immer vergessen, uns verlassen auf immerdar?
Herr, bringe uns zu dir zurück, dass wir umkehren.
Erneuere unsere Tage wie vor Alters.
Oder solltest du uns gänzlich verworfen haben, gar zu sehr auf uns zürnen?
Am Schluss des Buches wird gezeigt: Gott ist der, der über dieser Welt thront und das letzte Wort spricht. Dann kommt die Frage: Warum für immer? Und dann die Hoffnung, die im Gebet ausgedrückt wird in Vers 21:
„Herr, bringe uns zu dir zurück.“
Die Israeliten konnten wissen, was Jeremia erklärt hat. Wir haben es schon gelesen in Jeremia 29. Ich wiederhole es:
Jeremia 29,10: Sobald siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen, um ein gutes Wort an euch zu erfüllen, euch an diesen Ort zurückzubringen. Denn ich weiß die Gedanken, die ich über euch denke, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht zum Unglück, um euch Zukunft und Hoffnung zu gewähren.
Ihr werdet mich anrufen, hingehen und zu mir beten, und ich werde auf euch hören. Ihr werdet mich suchen und finden, denn ihr werdet nach mir fragen mit eurem ganzen Herzen.
Sobald der Mensch Gott mit ganzem Herzen sucht – und dazu hat Jeremia diese Verse geschrieben mit der Bitte, dass Gott hilft, dass sie ganz zu ihm zurückkehren können –, dann sagt Gott: „Und ich werde mich von euch finden lassen“, spricht der Herr.
Das ist genau das, was der Herr Jesus auch in der Bergpredigt meint, wenn er sagt: „Wer sucht, der findet.“ Das hat nichts zu tun mit einem verlorenen Bleistift. Diese Worte sollten uns innerlich bewegen, wenn Leute sie missbrauchen.
Nein, es bedeutet: Gott verspricht, wer ihn von ganzem Herzen sucht, der wird ihn finden.
Manche sagen: „Ich möchte auch so glauben können wie Sie, Sie sind ein glücklicher Mensch.“ Ja, und Sie wahrscheinlich nicht? Nein, so funktioniert das nicht. Gott ruft alle Menschen und gibt allen die Möglichkeit zur Umkehr. Er zieht alle Menschen.
Aber Römer 2,4 sagt, dass der Mensch sich selbst Zorn aufhäuft, indem er störrisch diesem Zug entgegentritt. Der Herr Jesus sagt in Matthäus 23 zu Jerusalem: „Wie oft habe ich euch sammeln wollen, wie eine Henne ihre Kücken unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt.“
Man kann also nicht sagen: „Ich möchte so glauben wie Sie, aber ich kann es nicht.“ Es geht darum, ob der Mensch Gott von ganzem Herzen sucht. Dann wird er ihn auch finden.
Das verlangt Gott von uns. Der Herr Jesus wirft es den Menschen vor: „Ihr habt nicht gewollt.“ Das Hindernis war euer Wille, aber es ist nicht Schicksal.
Das ist eine herrliche Verheißung, die Jeremia als Antwort auf das Gebet am Schluss der Klagelieder 5,21 geschrieben hat: „Herr, bringe uns zu dir zurück, dass wir umkehren, erneuere unsere Tage wie vor Alters.“
Eben der Gott, in dem alles zu finden ist, was wir brauchen. Das drückt das Alphabet von Aleph bis Taw aus. Er kann das tun.
Hier wird gesagt, dass Gott bewirken soll, dass wir uns bekehren: „Herr, bringe uns zu dir zurück, dass wir umkehren.“ So haben wir beide Seiten.
Ich hatte als Teenager eine Auseinandersetzung mit einem Pfarrer auf dem Gymnasium. Er behauptete, der Mensch müsse sich nicht bekehren, Gott bekehrt den Menschen. Aber das stimmt nicht.
Es sind zwei Seiten: Der Mensch muss sich bekehren, sonst geht er verloren. Aber natürlich sagt Römer 3,10, dass niemand Gott sucht. Wir hätten Gott nie gesucht, wenn er uns nicht gezogen hätte.
So lesen wir in Jeremia 31: „Bekehre mich, auf dass ich mich bekehre.“ Das ist der Punkt.
Natürlich braucht es den Zug von Gott, damit wir uns bekehren können. Jeremia 31 ist so wichtig, besonders Vers 18: „Bekehre mich, dass ich mich bekehre.“
Der Hohepriester zur Zeit von Nehemia hieß El-Jaschib. El bedeutet Gott, Jaschib ist die Hifil-Form von „umkehren“. Das bedeutet: „Er macht, dass er sich bekehrt.“ Die Kausativform – eine Handlung wird veranlasst.
Gott macht, dass der Mensch sich bekehrt. Wer bekehrt sich? Der Mensch. Wer bewirkt, dass der Mensch sich bekehren kann? Gott.
So sind beide Seiten enthalten.
Klagelieder 5 sagt am Schluss, dass der Herr bewirken soll, dass sie umkehren. Natürlich brauchen wir seine Gnade. Der Mensch kann sich nicht einfach so bekehren.
Das ist wichtig: Man muss den Leuten sagen, dass sie nicht denken können, „jetzt bin ich zwar vom Evangelium angesprochen worden, aber es ist noch nicht aktuell, vielleicht später mal.“ Das geht nicht.
Wir können nicht bestimmen, wann Gott bewirkt, dass wir uns bekehren. Das bestimmt er. Diese Zeiten in unserem Leben darf man nicht verpassen, sonst kann man es für die Ewigkeit verpassen.
Das ist die ganze Wahrheit.
Und das also zu den Akrosticha.
Das typische Versmass und poetische Merkmale
Das typische Versmaß der Klagelieder ist drei plus zwei. Das hebräische Versmaß unterscheidet sich stark vom Deutschen, Französischen oder Englischen. Es ist nämlich viel freier gestaltet. Grundsätzlich zählt man im Hebräischen die Betonungen. Normalerweise liegt die Betonung im Text an einer bestimmten Stelle im Wort. Im Deutschen ist das sehr oft die erste Silbe. Man sagt nicht Gehen, sondern Gehen.
Im Hebräischen sind die Wörter oft entbetont. Im Deutschen zählt man in der Poesie natürlich jede Silbe, zum Beispiel: Ein feste Burg ist unser Gott. Im Hebräischen werden im Prinzip nur die Anzahl der Betonungen gezählt. Die unbetonten Silben können eins, zwei oder sogar drei sein. Daher ist diese Poesie viel freier, und es ist einfacher, so zu sprechen.
Ich weiß, es gibt nur wenige Leute, die im Deutschen so spontan in Hexametern sprechen können. Wenn man mal ein Schauspiel oder ein Theaterstück in Hexametern liest, spricht man am Schluss fast so. Aber in der biblischen Poesie ist es viel eher möglich, so zu sprechen. Man denke nur an die drei Freunde von Hiob – das ist alles Poesie, diese Diskussionen. Dabei muss man nicht denken, dass das Buch Hiob erst nachträglich in Verse gefasst wurde. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass sie wirklich miteinander so schön gesprochen haben, immer in zwei Zeilen. Das ist viel wahrscheinlicher.
Typisch ist zum Beispiel in den Sprüchen, einem Lehrbuch, das Versmaß drei und drei Betonungen. In einem lyrischen Buch wie dem Hohelied sind es zwei und zwei. Das typische Versmaß der Klagelieder ist drei plus zwei: eins zwei drei, eins zwei, eins zwei drei, eins zwei. Durch diesen Rhythmuswechsel drückt sich das Aufgewühlte und das Unausgeglichene der Gefühle poetisch aus.
Man stelle sich vor: Kapitel 3, Vers 1: „Ich bin der Mann, der Mühsal gesehen hat.“ (Ani hagever ra'aoni beschevet Evratho). Haben wir gemerkt? Drei, muss zwei, nochmals: Ani hagever ra'aoni beschevet Evratho.
„Oti nahak wa yolach,
choschich beloh'or.
Achbi jaschow, jahafoch,
Jadot kol hayom,
Bila wesari wa ori,
Schi bar,
atzmutei,
Bana alay wa yakaf,
Rosch Ud la'a.“
So ist das Übliche. In Sprachen zu reden, ohne Übersetzung, hat ja keinen Sinn. Aber hier geht es einfach darum, den Klang der Worte zu hören. Das Wort Gottes ist nicht nur inhaltlich schön, sondern auch die Form ist schön. Die Form hat aber erst dann einen Sinn, wenn man den Inhalt versteht.
Es bleibt dabei: Es macht keinen Sinn, etwas Unverständliches zu erzählen. Darum sagt Paulus in 1. Korinther 14: „Ich will lieber fünf Wörter verständlich mit Verstand sprechen als zehntausend in einer für die Leute unbekannten Sprache.“
Nun noch etwas Besonderes: Der Ausdruck in Kapitel 2, Vers 1 – „Der Schemel seiner Füße“ – ist eine Bezeichnung für die Bundeslade. Gott thront zwischen den Cherubim, die die Bundeslade überschatten. Die Bundeslade selbst mit dem Sühnedeckel ist quasi der Schemel seiner Füße.
Und dann noch etwas ganz Wichtiges: Sünde ist die Ursache von Jerusalems Leiden. Ich habe dazu eine ganze Reihe von Stellen angefügt – aus Kapitel 1 sehr viele, dann Kapitel 3, Kapitel 4 und Kapitel 5. Immer wird klar gesagt, warum Jerusalem leidet: wegen der Sünde.
Noch etwas, das man sich besonders merken kann, gerade in Kapitel 1: Dort kommt ständig vor, was Jerusalem nicht hat. Vers 2: Keinen Tröster – ich habe das auch beim Vorlesen so betont. Kapitel 3: Keine Ruhe. Kapitel 6: Keine Weide. Kapitel 7, Vers 7: Keinen Helfer.
Die Rabbiner fragen im Talmud: „Was ist der Name des Messias?“ Es werden viele Namen genannt, und einer davon ist Menachem, der Tröster. Was braucht Jerusalem den Messias? Am Schluss, nach dieser endzeitlichen Belagerung, kommt der Herr Jesus. Dann gilt nicht mehr: keinen Tröster, keine Ruhe, keine Weide, keinen Helfer.
Er ist der gute Hirte, der auf grüne Weiden führt. Er ist der Inbegriff unserer Hilfe, unser Helfer.
Aufbau und Sprecher im Buch der Klagelieder
Noch ganz kurz zum Aufbau: Das Buch lässt sich ganz einfach nach Kapiteln einteilen. Es ist wirklich so aufgebaut.
Kapitel 1 beschreibt, dass Jerusalem hoffnungslos ist. Es gibt keinen Tröster, keine Ruhe, keine Weide und keinen Helfer.
Kapitel 2 behandelt das Thema „Der Herr hat Jerusalem geschlagen“. Ich habe speziell auf die Verse 1, 2, 5 und 7 verwiesen, in denen immer wieder „Adonai“ gesagt wird. Das erkläre ich in der Fußnote. Im Grundtext steht dort nicht „Yahweh“, sondern „Adonai“. „Adonai“ bedeutet „der, der Autorität hat und über alles bestimmt“. Der Herr, der die Geschichte in der Hand hat, hat Jerusalem geschlagen.
In Kapitel 3 werden die Leiden des Messias beschrieben und Gottes Gnade für den Überrest dargestellt.
Kapitel 4 zeigt ein schlimmes Gericht wegen schwerer Sünde.
Kapitel 5 ist ein Flehen um die Wiederherstellung Jerusalems. Das habe ich im Zusammenhang mit Jeremia 29 erklärt: Wenn ihr von ganzem Herzen umkehrt, gibt es eine Wiederherstellung.
Nun haben wir das Herzstück des Buches erreicht: Kapitel 3. Hier spricht nicht mehr eine Frau. In Kapitel 1 haben wir Jerusalem als Frau sprechen hören. Zum Beispiel in Vers 12: „Merkt ihr es nicht, alle, die des Weges zieht, schaut und seht, ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mir angetan worden, mir, die, nicht der, mir.“ Die Stadt ist im Hebräischen weiblich, wie im Deutschen. Deshalb werden Städte in der Bibel oft als Frauen dargestellt, etwa als Jungfrau, Tochter Babel oder Tochter Jerusalem, Tochter Zion usw.
In Kapitel 3 aber spricht ein Mann: „Ich bin der Mann, der Elend gesehen hat durch die Rute seines Grimmes. Mich hat er geleitet und geführt in Finsternis und Dunkel. Nur gegen mich kehrt er immer wieder seine Hand den ganzen Tag.“ Hier hören wir den Herrn Jesus, der vor den Toren Jerusalems gelitten hat als Stellvertreter. Er hat für fremde Schuld gelitten. Das wird in der Mitte des Buches eingefügt.
Wir sehen: Jerusalem leidet wegen der eigenen Sünde, und hier werden die stellvertretenden Leiden des Herrn Jesus vorgestellt. Es ist ein ganz ergreifender Abschnitt, zumindest der erste Teil des Kapitels, in dem der Messias spricht.
Man denke auch an Vers 14: „Meinem ganzen Volk bin ich zum Gelächter geworden. Wenn ihr Spiel den ganzen Tag mit Bitterkeiten hat, er mich gesättigt, mit Wermut mich gedrängt.“ Gott hat das Gericht am Kreuz auf den Herrn Jesus gebracht wegen unserer Sünde.
Das wird bildlich beschrieben, zum Beispiel in Vers 16: „Er hat mit Kies meine Zähne zermalmt, hat mich niedergedrückt in die Asche.“ Mein Zahnarzt hat mir erklärt, dass spröde Sachen möglichst vermieden werden sollten. Wenn man nicht hört, macht er es nochmals, und dann ist der Zahn nur noch halb. Das Schlimmste ist natürlich, wenn man Kies durchkaut. „Er hat mit Kies meine Zähne zermalmt, hat mich niedergedrückt in die Asche“ – so beschreibt der Herr Jesus seine Leiden.
Diese Leiden kamen nicht nur von Seiten der Menschen, sondern in den drei Stunden der Finsternis hat Gott seinen Zorn über ihn ausgegossen, wie es in Jesaja 53 beschrieben wird: „Es gefiel dem Herrn, ihn zu zerschlagen, er hat ihn leiden lassen.“ Das Schrecklichste war, dass Gott ihn in den Stunden der Finsternis, als er ihn am Kreuz verlassen hatte, geschlagen hat.
Das wird hier in Klageform dargestellt.
Zum Schluss möchte ich noch auf die praktischen Lehren eingehen.
Praktische Lehren aus dem Buch der Klagelieder
Erstens muss Gott sein Volk wegen seiner Sünde strafen. Doch eine Wiederherstellung gibt es nur aufgrund von Buße. Das zeigt uns Kapitel 5.
Aber was macht Jeremia? Er weint mit dem Volk. Das ist das Weinen mit den Weinenden, wie es in Römer 12,15 heißt. Die Lasten der anderen zu tragen, ist in Galater 6,2 beschrieben.
Jeremia empfand keine Genugtuung darüber, dass das Volk, das nicht hören wollte, gestraft wurde. Das ist schon interessant. Auch wir sollten, wenn wir sehen, dass der Herr vielleicht in unserem Leben manchmal eingegriffen hat und Leute, die uns wirklich übel getan haben, offensichtlich unter die Zucht Gottes gekommen sind, nie Genugtuung darüber empfinden. Nein, man sollte darüber weinen. Das ist die Haltung des Propheten Jeremia.
Jeremias Liebe zu seinem Volk war echt. Das ist etwas sehr Wichtiges. Ich habe heute in der Zeit des Endes und des Verfalls, auch unter bibeltreuen Gemeinden, beobachtet, dass Gottes Wort und Gottes Ordnung oft umgestoßen werden. Dabei wird man häufig angeklagt: „Seht ihr, das ist falsch und nicht recht.“
Wenn man jedoch innerlich betroffen ist und mitleidet, wenn man sieht, wie das Volk Gottes unter diesen Verirrungen leidet, dann ist das etwas ganz anderes. Man sagt: „Ja, das ist wirklich nicht biblisch“, aber nicht in der Haltung, sich auch gefühlsmäßig zu distanzieren. Stattdessen sind wir mit betroffen von diesem Ungemach, das durch das verursacht wird, was Hosea 4 sagt: „Mein Volk geht zugrunde an Mangel an Erkenntnis.“
Schließlich verzweifelte Jeremia nicht angesichts der Tragödie Jerusalems. Stattdessen brachte er seine Trauer in fünf Gedichten vor Gottes Angesicht zum Ausdruck, wo er auch Trost fand. Er hat das empfunden und so ausgedrückt. So sollen auch wir unsere Trauer empfinden, nicht verdrängen, sondern vor dem Herrn ausschütten, wie es in Jeremia 2,18 heißt.
Ja, damit bin ich nun zum Ende gekommen.
