Ursprung und persönliche Entwicklung Martin Luthers
Wenn wir von der Reformation sprechen, sollten wir am besten mit Martin Luther beginnen, dem eigentlichen Auslöser dieser größten Erweckung der Kirchengeschichte.
Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben geboren. Er war der Sohn eines Bergmanns und erhielt eine strenge Erziehung, die seinen Charakter wesentlich prägte.
Im Jahr 1505 trat er in den Orden der Augustiner-Eremiten ein. Der Auslöser dafür war ein Erlebnis während eines heftigen Gewitters, bei dem er fast durch einen Blitzschlag ums Leben gekommen wäre. In dieser Situation rief er eine katholische Heilige an und gelobte, ins Kloster zu gehen, falls er überleben sollte. Dieses Gelübde erfüllte er 1505.
Im Jahr 1507 wurde er zum Priester geweiht. Seine besonderen Begabungen wurden erkannt, sodass er Theologie studieren konnte. 1512 wurde er Professor der Theologie.
Eine ganz wichtige Zeit begann: ein Ringen um die Wahrheit. In seinen Vorlesungen lässt sich erkennen, dass immer mehr das Kreuz und die Versöhnung durch Jesus Christus in den Mittelpunkt seiner Theologie rückten.
In dieser Zeit lehrte er unter anderem über die Psalmen und den Galaterbrief. Er selbst sagte, dass er auf die reformatorischen Gedanken „Legendo et Docendo“ gekommen sei – lesend und lehrend.
Also in dieser Zeit, in der er lehrte, geschah in ihm selbst Großes.
Das Turmerlebnis und die Entdeckung reformatorischer Prinzipien
Ganz besonders erwähnenswert in diesen Jahren ist das sogenannte Turmerlebnis. Beim Lesen der lateinischen Bibel stieß er auf Römer 1,17. Dieser Vers schlug ein wie ein Blitz und sollte in der Folge eine große Bedeutung gewinnen.
Der Vers lautet: „Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart, aus Glauben zu glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.“ Dieser Satz ist ein Zitat aus Habakuk 2,4: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.“
Er realisierte, dass er immer gelernt hatte, in seiner Kirche würde der Gerechte durch gute Werke, durch Anstrengung und durch Bußübung leben. Doch hier steht „aus Glauben“. Das ist genau das Gegenteil von dem, was er bisher gelernt hatte. Dieses Erlebnis, diese Erfahrung mit diesem einen Bibelvers, löste in der Folge die ganze Erweckung aus.
Bereits 1515 finden sich Ansätze zur Reformation. Martin Luther wurde das Prinzip bewusst, das die Reformatoren als sola scriptura bezeichneten – das heißt „allein durch die Schrift“. Das ist ein Ablativ im Lateinischen und bedeutet: allein durch die Schrift.
Martin Luther stellte fest, dass die Kirche in den vergangenen über tausend Jahren wesentlich durch die Philosophie geprägt worden war, und zwar speziell durch die Philosophie Platons. Ab dem Hochmittelalter, etwa ab dem 13. Jahrhundert, wurde sie immer stärker von der Philosophie Aristoteles’ beeinflusst.
Er fragte sich: Was soll das eigentlich? Wir sollen doch in unserem Christenglauben nicht durch die Philosophie der Griechen geleitet werden. Dazu lesen wir etwas aus Kolosser 2,8: „Seht zu, dass nicht jemand euch als Beute wegführe durch die Philosophie und durch eitlen Betrug nach der Überlieferung der Menschen, nach den Elementen der Welt und nicht nach Christus.“
Man kann sagen, dass die Kirche in den vergangenen über tausend Jahren vor Luther wesentlich durch die Philosophie bestimmt worden war. So entdeckte er das Prinzip sola scriptura – allein durch die Schrift.
Dazu passt ein Vers aus 5. Mose 12,32, wo Mose als Gesetzgeber schon gewarnt hatte: „Das ganze Wort, das ich euch gebiete, sollt ihr beobachten, es zu tun. Du sollst nichts hinzufügen und nichts davon tun.“
Also soll der Glaube allein durch die Schrift, durch die Bibel, geleitet werden. Dann wurde Martin Luther auch bewusst: Unsere ganze Tradition mit all den Beschlüssen der Konzilien und der Päpste ist eine Hinzufügung zur Schrift. Das sollen wir nicht akzeptieren. Wir sollen uns nicht dadurch leiten lassen, sondern allein durch die Schrift. So wie Mose sagt: das ganze Wort, also nichts davon wegnehmen, aber auch nichts hinzufügen.
Die Prinzipien der Rechtfertigung: Glaube und Gnade
In diesen Jahren als Professor wurde ihm auch das zweite reformatorische Prinzip bewusst: sola fide, das heißt „allein durch Glauben“. Dabei ist wichtig, den Sinn richtig zu verstehen. Es bedeutet nicht einfach „allein durch Glauben“ im allgemeinen Sinne, sondern allein durch eine persönliche Beziehung zu Gott, ein persönliches vertrauensvolles Glaubensverhältnis zu Gott.
Früher galt das Prinzip, dass die Kirche als Institution alles ist, während der einzelne Mensch eigentlich nichts zählt. Alles werde durch die Kirche vermittelt und gegeben, doch der einzelne Mensch darin sei bedeutungslos. Er erkannte jedoch, dass es um die persönliche Glaubensbeziehung des einzelnen Menschen zu Gott geht – ganz individuell.
Dazu lese ich aus Galater 2,16: Luther lehrte in dieser Zeit die Exegese, also die Auslegung des Galaterbriefs. Dort lesen wir, wie der Apostel Petrus von Paulus belehrt wird. In Vers 15 heißt es: „Wir sind von Natur Juden und keine Sünder aus den Nationen, aber wir wissen, dass der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus.“
Dieser Ausdruck „allein durch den Glauben“ bedeutet, dass der Mensch von Gott angenommen und gerechtfertigt wird – gerecht erklärt – nicht durch eigene Werke.
Es gibt noch ein drittes Prinzip der Reformation, das man sich merken muss: sola gratia, „allein durch die Gnade“. Dieses Prinzip hat Luther erst später entdeckt, nach seiner Klosterzeit. Man sieht, es war eine innere Entwicklung bei ihm. Es kam nicht alles auf einmal.
In der Klosterzeit, als ihm das Prinzip „allein durch die Schrift“ und „allein durch Glauben“ bewusst wurde, blieb es dennoch ein innerer Kampf, bis dann schließlich das Prinzip „allein durch Gnade“ klar wurde.
Dazu lese ich aus Römer 3,23: „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes.“
Alle Menschen sind schuldig vor Gott. Sie können sich nicht durch eigene Leistungen zu Gott hinaufarbeiten und erreichen die Herrlichkeit Gottes nicht.
Aber Gott gibt die Möglichkeit, dass der Mensch von seiner Schuld frei wird, gerechtfertigt wird. Dies geschieht durch seine Gnade – die völlig unverdiente Gunst Gottes, zu der wir nichts beitragen können.
Dieses Prinzip erkannte Luther als drittes erst später.
Der Beginn der Reformation: Die 95 Thesen und ihre Folgen
Ausschlaggebend war dann der 31. Oktober 1517, den man als den Reformationstag bezeichnet. An diesem Tag ist eigentlich die Bombe geplatzt. Martin Luther hat 95 Thesen aufgeschrieben, in denen er kritisch verschiedene Punkte seiner Kirche ansprach. Dabei ging es unter anderem um das Papsttum und die Sündenvergebung.
Er ging zur Schlosskirche in Wittenberg und schlug die 95 Thesen an die große Tür. Die Leute kamen, lasen sie und was passierte dann? Sie kopierten die Thesen und verbreiteten sie überall. Das war eigentlich gar nicht Martin Luthers Absicht. Er wollte nicht, dass man sie herumkopiert. Das geschah ohne Kopiermaschinen, also wurde alles abgeschrieben und weitergegeben.
Luther wollte damit eigentlich nicht die Kirche auflösen, sondern diese Thesen als Grundlage für eine Diskussion mit seinen Studenten nutzen. Über verschiedene kritische Punkte sollte offen gesprochen werden. Das war die Idee. Doch die Thesen wurden herumgereicht und lösten sofort eine große Reaktion von Rom aus.
1518 schrieb Martin Luther seine Schrift über Ablass und Gnade. In dieser Zeit wurde der Petersdom in Rom gebaut, diese große, gewaltige Monumentalkirche im Vatikan. Für den Bau brauchte man viel Geld. Um das Geld zu sammeln, wurde in ganz Europa Werbung gemacht. Man sagte, dass man durch Geldzahlungen einen Straferlass von Gott zugesichert bekomme.
So kam Tetzel nach Deutschland und erklärte, dass sobald das Geld in der Kasse klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt. Das war damals die Lehre. Martin Luther war darüber erschüttert. Für ihn war die Vorstellung, dass man durch Geld vor Gott akzeptiert werden könne, völlig falsch.
Diese Haltung forderte Doktor Eck zu einer Gegenschrift gegen Luther heraus. Luther hatte eine große Sprachbegabung, die er aber manchmal auch missbrauchte. Zum Beispiel nannte er Dr. Eck, seinen größten Feind und Widersacher, oft „ohne den Punkt dazwischen“. Das war ein Missbrauch seiner Sprachbegabung, die ansonsten außergewöhnlich war.
Auch an anderen Stellen missbrauchte er seine Wortgewandtheit. So nannte er Zwingli „Zwingel“, weil es ähnlich klingt wie „Schlingel“.
1518 wurde Martin Luther aufgefordert, seine Thesen zu widerrufen. Der Kurfürst von Sachsen, Friedrich der Weise, stellte sich jedoch als großer Politiker hinter Luther, um ihn zu schützen.
Im gleichen Jahr, im April, fand der Generalkapitel der Augustiner-Eremiten in Heidelberg statt. Dort musste Luther eine Rede halten. Diese Predigt war sehr eindrucksvoll. Die Botschaft war von Liebe und Gnade geprägt, sodass die Eremiten tief berührt und ergriffen wurden.
In der Folge traten viele dieser Mönche aus dem Kloster aus. Das führte zu einer Massenaustrittsbewegung aus den Klöstern – zuerst bei den Männern, dann begannen auch die Frauen, die Nonnen, auszutreten.
Kritik an asketischem Mönchtum und biblische Grundlagen
Nun wollen wir an dieser Stelle 1. Timotheus 4 aufschlagen und untersuchen, wo eigentlich die Wurzel dieses asketischen, alles Natürliche verneinenden Mönchtums liegt.
In 1. Timotheus 4, Vers 1 schrieb der Apostel Paulus um 65/66 nach Christus: „Der Geist aber sagt ausdrücklich, dass in späteren Zeiten etliche vom Glauben abfallen werden, achtend auf betrügerische Geister und Lehren der Dämonen, die in Heuchelei Lügen reden und betreffs des eigenen Gewissens wie mit einem Brenneisen gehärtet sind. Verbieten zu heiraten und gebieten, sich von Speisen zu enthalten, welche Gott geschaffen hat zur Annehmung mit Danksagung für die, welche Glauben und die Wahrheit erkennen. Denn jedes Geschöpf Gottes ist gut und nichts Verwerfliches, wenn es mit Danksagung genommen wird; denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet.“
Wenn du dies den Brüdern vorstellst, so wirst du ein guter Diener Christi Jesu sein, „auferzogen durch die Worte des Glaubens und der guten Lehre, welcher du genau gefolgt bist.“
Hier sehen wir, dass die Lehre vom Zölibat – also das Verbot zu heiraten – und die Lehre von Askese – das Gebot, sich von bestimmten Speisen zu enthalten – von Dämonen stammt. Betrügerische Geister und Lehren von Dämonen, so steht es auch in der lateinischen Bibel.
Woher kommt das? All dies stammt aus der griechischen Philosophie. Hier begegnen wir wieder Platon. Es ist eigenartig, dass manchmal auch Christen eine gewisse Bewunderung für Platon haben. Doch Platon war nicht gut – er war ein Pädophiler. Der Neoplatonismus brachte diese Ideen in den ersten Jahrhunderten der Christenheit in die Kirche hinein. Dabei entstand eine Verachtung für alles Natürliche, für alles, was mit der Materie zu tun hat.
Dadurch wurde der Körper schlechtgemacht, ebenso die Ehe und die Sexualität. Alles wurde als minderwertig angesehen. Das bedeutet: Wer besonders geistlich sein will, muss sich von der Materie – ich meine nicht vom Materiellen, sondern von der Materie an sich – trennen. Das führt zu Askese, Zölibat und ähnlichen Praktiken.
Diese Ideen stammen aber nicht aus dem Christentum, sondern aus der griechischen Philosophie. Denken wir nochmals an Kolosser 2, Vers 8, wo es heißt, dass niemand eine Beute werden soll von der Philosophie.
Timotheus muss wissen, dass in späteren Zeiten all dies kommen wird. Tatsächlich wurde besonders ab dem dritten Jahrhundert – die Ansätze gehen schon früher zurück – das Mönchtum zu einer Massenbewegung. Es wurde zu einer Aussteigerbewegung aus dem damals als dekadent empfundenen römischen Reich. Die Steuern wurden immer höher, und es war oft besser, auszusteigen und irgendwo in die Wüste zu gehen, wo man keine Steuern zahlen musste. Dabei war das Ganze noch besonders fromm.
In diesem Zusammenhang wollen wir auch 1. Timotheus 3, Vers 1 betrachten: „Das Wort ist gewiss: Wenn jemand nach einem Aufseherdienst trachtet, so begehrt er ein schönes Werk.“
Der Aufseher wird im Griechischen „Episkopos“ genannt, wovon unser Wort „Bischof“ stammt. Daher wird in der Einheitsübersetzung hier richtig „nach einem Bischofsamt trachtet“ übersetzt.
Nun wird erklärt, wie der Bischof sein muss. Vers 2: „Der Bischof nun muss untadelig sein, eines Weibes Mann, nüchtern, besonnen, sittsam, gastfrei, lehrfähig, nicht dem Wein ergeben, kein Schläger, sondern sanftmütig, nicht streitsüchtig, nicht geldliebend, der dem eigenen Haus oder der eigenen Familie wohl vorsteht, der seine Kinder in Unterwürfigkeit hält mit allem würdigen Ernst.“
Wenn aber jemand der eigenen Familie nicht vorzustehen weiß, wie wird er die Kirche Gottes besorgen? Das ist unglaublich. Ein Bischof, der keine Familie hat und seine Kinder nicht richtig erziehen kann, wie soll er sich dann im Dienst für die Kirche, die Gemeinde, bewähren? Das steht so in der Bibel.
Und was hat man daraus gemacht? So verstehen wir diese Austrittsbewegung nach der Predigt von Liebe und Gnade.
Die Auseinandersetzungen und politische Entwicklungen der Reformation
2019 kam es zu den Leipziger Disputationen. Dort fand ein Disput unter anderem zwischen Doktor Eck und Luther statt. Dr. Eck merkte, dass er diesen Mönch einfach nicht in die Enge treiben konnte. Deshalb drängte er ihn so, dass Luther gezwungen wurde, die Unfehlbarkeit des Papstes und die Irrtumslosigkeit der Konzilien zu bestreiten. Damit wollte er etwas gegen ihn in der Hand haben. So war die Aussprache jedoch nicht wahr.
Martin Luther veröffentlichte seine drei reformatorischen Hauptschriften an den christlichen Adel: "Die babylonische Gefangenschaft der Kirche". Darin wird deutlich, wie er die Kirche sah, nämlich als den Knoten der Hure Babylons aus Offenbarung 17 und 18. In seiner dritten Schrift spricht er zudem über die Freiheit eines Christenmenschen.
Luthers Schriften wurden durch Alejander verbrannt. Daraufhin erhielt Luther vom Papst die Bannandrohungsbulle. Er wurde gewarnt: Wenn er auf diesem neuen Weg weitermache, würde er aus der Kirche ausgeschlossen werden. Der Ausschluss aus der Kirche war katastrophal. Mit dieser Warnung konnten die Päpste sogar Kaiser in die Knie zwingen. Denn wenn ein Kaiser, der nicht gehorchte, ausgeschlossen wurde, sahen sich die Untertanen nicht mehr gezwungen, ihm zu gehorchen und ihn anzuerkennen. Das war katastrophal. Die Macht des Ausschlusses war enorm; es war ein Joch, eine Angst, die auf dem Volk lastete.
Und was tat Luther? Er verbrannte die Bannandrohungsbulle feierlich. Das war ein Schock für Europa. Es war unglaublich, dass dieser Mann, dieser harte Kopf, einfach die Bannandrohungspostille des Papstes verbrannte.
Die Spannung stieg, und 1521 kam es zum Reichstag in Worms. Der Kaiser und die gesamte Aristokratie Europas waren versammelt. Luther wurde aufgefordert, alles zu widerrufen. Die Nacht vor diesem Tag war eine schwere Nacht für ihn. Wenn er völlig falsch läge, wer sei er dann? Ein kleiner Mönch, der plötzlich jahrhundertealte Traditionen infrage stellte? Es war wohl hier, wo Luther stand und sagte: "Hier stehe ich, Gott helfe mir, ich kann nicht anders. Amen."
Er wurde dann auf die Wartburg evakuiert, geschützt von Friedrich dem Weisen, dem Kurfürsten von Sachsen. In dieser Zeit begann er, das Neue Testament zu übersetzen.
Diese Zeit war auch geprägt von der Eroberung Belgrads durch die Türken. Es ist sehr interessant, dass gerade im 16. Jahrhundert die Angriffe sehr stark von den islamischen Ländern durch die Türken kamen. Dadurch wurde Kaiser Karl V., der von 1519 bis 1556 Herrscher war, massiv abgelenkt – nicht nur durch die Entwicklungen der Reformation in Europa, sondern auch durch seine italienischen Kriege gegen Frankreich. Die politische Situation war damals eigenartig, aber außerordentlich förderlich für die Reformation.
1521 und 1522 kam es fast zu einem Aufstand der Lutheranhänger in Wittenberg. Luther konnte aus seinem Versteck kommen und hielt eine eindrückliche Predigt. So konnte er die Unruhe im letzten Moment noch abwehren. Es entstand jedoch eine Bewegung, die eine Eigendynamik entwickelte. Luther hatte vieles ausgelöst, konnte aber die Entwicklungen nicht mehr bremsen. Andere gingen viel weiter als er.
1525 kam es zu einem Aufstand unter Thomas Müntzer, einem reformierten Pfarrer. Dies führte zum Bauernkrieg, der brutal niedergeschlagen wurde. Luther war ganz gegen diesen Aufstand. Doch er machte auch einen Fehler: Er schrieb über die wilde Rotte der Bauern und schob ihnen die Schuld zu. Dabei geißelte er viel zu wenig die Ungerechtigkeit der Aristokratie. Natürlich waren die Bauern wild und aufgebracht, doch das hing auch mit schlimmen sozialen Ungerechtigkeiten zusammen. Hier nahm Luther nur eine einseitige Stellung ein.
Etwas Schönes geschah in dieser Zeit: 1525 heiratete Luther Katharina von Bora, eine ehemalige Nonne. Wie erklärt, begannen auch Nonnen auszutreten. Das stellte ein Problem dar: Was sollte man mit diesen Frauen machen? Sie hatten keine Arbeit und wussten nicht, wie sie leben sollten. Luther hatte eine gute Antwort: Sie sollten heiraten, Familien gründen und Kinder erziehen. Durch sein Beispiel entstand das reformierte Pfarrhaus, das offene Türen hatte, um Menschen aufzunehmen.
Die politische Konsolidierung und theologische Entwicklungen
1530 fand in Augsburg der Reichstag statt. Der Reichstag wechselte immer wieder den Ort, und der Kaiser erkannte, dass große Gefahren für ihn bestanden.
In dieser gesamten Reformbewegung war Melanchthon ein guter Mitarbeiter von Luther. Er verfasste das Augsburger Bekenntnis, in dem sie zusammenfassend zeigen wollten, dass sie mit der Reformation nicht einfach alles zerstören wollten. Vielmehr wollten sie ihre wichtigsten Glaubenspunkte darlegen.
Man hatte jedoch große Angst, dass Melanchthon zu viel sagen könnte und dadurch die Sache gefährdet werden könnte, weil er sich ungeschickt ausdrückte. Melanchthon war durch und durch ein Gelehrter. Mit 21 Jahren wurde er Professor für Griechisch. Er war eine gute Ergänzung zu Luther, hatte aber eine ganz andere Art. Er hätte niemals die Kraft gehabt, eine Reformation auszulösen. Für Luther war er jedoch eine wertvolle Stütze und Hilfe.
1531 schlossen die evangelischen Stände in Deutschland den Schmalkaldischen Bund. Verschiedene Gebiete, die evangelisch geworden waren, schlossen sich politisch zusammen, um sich im Kriegsfall schützen zu können. In dieser Zeit bestand auch die Gefahr durch die Türken, weshalb der Kaiser einlenken musste. Er sah keine Möglichkeit, die Evangelischen niederzuschlagen.
1537 veröffentlichte Luther seinen Schmalkaldischen Artikel, in dem er den Papst als Antichrist bezeichnete. Ich muss erklären: „Anti“ heißt auf Griechisch „gegen“ oder „anstelle von“. Der Antichrist ist also der, der sich an die Stelle von Christus setzt. Das passt sehr gut, denn der Papst bezeichnet sich selbst als Vicarius Christi, als Vertreter Christi, nimmt aber letztlich den Platz Christi auf der Erde ein. Das Wort trifft also sehr genau zu.
1539 wurde Brandenburg evangelisch. Diese Entwicklung führte dazu, dass es zu Religionsgesprächen und Ausgleichsverhandlungen kam.
1540 hatte Philipp von Hessen, ein führender Politiker im Schmalkaldischen Bund, den Wunsch, neben seiner ersten Frau eine weitere Frau zu heiraten. Luther und Melanchthon hielten es für möglich, dass es Ausnahmefälle geben könne, in denen das erlaubt sei. Sie bewilligten es. Später wollte Philipp von Hessen erneut eine andere Frau heiraten. Das war ein großer Fehler von Luther und Melanchthon.
Wir sehen, dass auch große Männer große Fehler machen können. Die katholische Kirche nutzte diese Situation aus und sagte: „Seht ihr, was das für Leute sind? Auf die müsst ihr nicht hören!“ So konnten sie diese Angelegenheit für eine starke Gegenpropaganda verwenden.
Am 18. Februar 1546 starb Luther in Eisleben, dem Ort, an dem er geboren wurde, aber kaum gelebt hatte.
Reaktion der katholischen Kirche: Konzil von Trient und Gegenreformation
In der Zeit von 1545 bis 1563 fand das Konzil von Trient statt. Über mehrere Jahre wurde dieses Konzil abgehalten, um die katholische Kirche grundlegend neu zu organisieren und sich neu zu positionieren. Dabei wurden zentrale Themen wie die Heilige Schrift und die Tradition behandelt. Es ging darum, das Verhältnis von Schrift und Tradition zu klären.
Ebenso wurden Themen wie die Erbsünde und die Rechtfertigung durch Werke und Sakramente umfassend diskutiert. In diesem Konzil erfolgte eine klare und deutliche Abgrenzung gegenüber der Reformation. Es wurde festgelegt, dass diejenigen verflucht seien, die lehren, man werde vor Gott allein durch den Glauben gerechtfertigt. Diese Haltung wurde bis heute nicht zurückgenommen. Das muss man sich bewusst machen.
Wenn man heute den Schulterschluss sieht, den viele evangelische und Freikirchler mit der katholischen Kirche eingehen, dann führt das im Grunde zu einem Verrat an der Reformation. Die katholische Kirche hat sich in dieser Zeit neu orientiert und ist nicht mehr dieselbe geblieben. Das muss man klar erkennen: Die katholische Kirche vor der Reformation war eine andere als die katholische Kirche nach der Reformation. Durch diese Erweckung hat sie ihre Kräfte gebündelt und ist in diesen Fragen sogar noch strenger geworden als zuvor.
Im Jahr 1548 kam es aufgrund von Spannungen zwischen dem Kaiser und dem Papst zum sogenannten Augsburger Interim. Dabei wurde mit den Evangelischen eine Zwischenlösung gefunden. Die Frage, wie es mit der Reformation weitergehen sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig geklärt. Man einigte sich auf ein vorläufiges Abkommen, das den Evangelischen eine gewisse Freiheit gewährte.
Wichtig wurde dann der Augsburger Religionsfrieden von 1555. Dank Moritz von Sachsen konnte die evangelische Seite gerettet werden. Man einigte sich auf die Formel „cuius regio, eius religio“ – wessen das Gebiet, dessen die Religion. Das bedeutete: Wenn ein Fürst in einem bestimmten Gebiet evangelisch war, durfte das gesamte Gebiet evangelisch sein. An einem anderen Ort, wo der Fürst katholisch war, wurde das Gebiet als katholisch definiert.
Ulrich Zwingli und die Reformation in der Schweiz
Nun kommen wir in die Schweiz. Als zweiter großer Reformator betrachten wir Zwingli. Er wurde ein Jahr nach Luther geboren, im Jahr 1484, und lebte bis 1531. Sein Geburtstag war der 10. Januar. Zwingli war der Sohn eines Bauern und Gemeindeamman. Damit hatte er einen ganz anderen Hintergrund als Luther.
Sein Vater war auch politisch orientiert, was später für Zwingli selbst wichtig werden sollte. Von 1506 bis 1516 war Zwingli Pfarrer in Glarus. Er war sehr patriotisch. Übrigens wurde er an der Hochschule in Wien rausgeschmissen, weil er so extrem helvetisch-patriotisch war. Das muss man sich klarmachen: Das war noch richtige Vaterlandsliebe.
Zwingli war in seiner Art sehr wissenschaftlich, aber eher langsam – bäuerisch langsam. Man stellt sich das nicht unbedingt so vor, aber das war sein Charakter. Er war ein Mann, der nach außen gerichtet war, ganz im Gegensatz zu Luther. Luther war ein Mensch, der stark nach innen gerichtet war und hatte auch die Tendenz zu Depressionen. Diese Depressionen überwanden ihn nie ganz. Trotzdem konnte er durch den Glauben seine Depressionen immer wieder überwinden und so sein Lebenswerk fertigbringen.
Das machte Luther sehr ernst und nach innen gerichtet. Das erklärt übrigens auch seine Lehre von den zwei Reichen. Er wollte eine klare Trennung zwischen Kirche und Staat. Zwei ganz klar getrennte Bereiche.
Zwingli sah das anders. Er meinte, die Kirche soll auf die Gesellschaft einwirken. Bei Calvin sehen wir eine weitere Variante: Er sagte, die Kirche soll den Staat durchdringen, und wer nicht gehorcht, der muss gehorchen. Es ist interessant, wie jeder Reformator die Sache ein bisschen anders sah. Offensichtlich hat Gott nicht die ganze Wahrheit einem einzelnen Reformator anvertraut. Das ist wichtig zu sehen.
1516 wurde Zwingli Priester in Einsiedeln. Dort benutzte er die lateinische Bibel, die Vulgata. Diese Jahre waren eine Zeit des Studierens und Nachdenkens. Das können wir jetzt auch gerade tun in der Pause – eine Viertelstunde. Wir sind stehen geblieben bei den Jahren 1516 bis 1518, als Zwingli in Einsiedeln war. Es war die Zeit des Studierens, des Bibellesens und des Nachdenkens.
Dann beginnt eine neue Periode im Leben von Zwingli, von 1519 bis 1522. In dieser Zeit wird er tief beeindruckt durch Luthers Auseinandersetzungen mit Eck. Er beginnt zu merken, dass einige Dinge überhaupt nicht mehr stimmen.
In dieser Zeit erkrankt Zwingli auch an der Pest, was ihn an den Rand des Grabes brachte. Damals gab es noch keine Antibiotika. Heute kann man Pest mit Antibiotika behandeln. Zwingli überlebte die Krankheit und wurde dadurch viel ernster. Wie gesagt, seine Art war nicht so ernst wie die von Luther, aber durch dieses Erlebnis gewann er eine neue Ernsthaftigkeit, die er vorher nicht hatte.
In dieser Zeit beginnt Zwingli, das Evangelium zu predigen, und es beginnen auch Reformen. Wichtig ist: Bei Luther sind die Reformen viel stärker innerlich, bei Zwingli sind sie mehr äußerlich.
Musik und Bilder müssen verschwinden. Es war nicht so, dass Zwingli unmusikalisch war – im Gegenteil, er war musikalisch. Aber er sah in der Musik eine Gefahr, weil sie vom Wort ablenkt. Deshalb schaffte er auch den Gesang im Gottesdienst ab. Das hat Luther nicht gemacht. Luther war sehr musikalisch, sicher musikalischer als Zwingli. Wir haben ja am Anfang gesungen, und Luther konnte gut komponieren. Auch in Genf wurde im Gottesdienst gesungen. Zwingli sah das jedoch als Problem: Das Wort soll ganz klar im Mittelpunkt stehen, die Bibel. Nichts darf davon ablenken.
Die Bilder müssen weg, das ist klar. In Zürich schaffte er das Prostitutionswesen ab – wer sonst fing damit an? Das sollten wir auch wieder mal tun, nicht nur in Zürich, sondern auch in Aarau. Außerdem schaffte er die Firmung ab, die letzte Ölung, Prozessionen und auch das Leibeigentum beziehungsweise die Sklaverei.
Aber nicht nur wurde abgeschafft, es wurde auch Neues geschaffen: eine Armenordnung, soziale Werke – das gehört zum Evangelium – und das Schulwesen. Zum Leidwesen unserer Jüngeren hier, aber es ist schon gut: Schulwesen und Eherecht. Damit verwirklichte er sehr früh seine Überzeugung, dass das Evangelium einen Einfluss auf die Gesellschaft haben soll.
Dabei meinte er nicht, dass die Kirche über die Gesellschaft herrscht oder regiert, sondern dass sie einen gesunden Einfluss auf die Gesellschaft ausübt.
Der Abendmahlsstreit und Zwinglis Tod
In den Jahren 1525 bis 1528 kam es zum Abendmahlsstreit zwischen Zwingli und Luther beziehungsweise zwischen den Schweizern und den Lutheranern. Leider konnten sich die beiden Seiten nicht einigen.
Zwingli vertrat die Ansicht, dass das Abendmahl eine reine Gedächtnisfeier sei. Luther hingegen lehnte die katholische Lehre ab, nach der Brot und Wein in den wirklichen Leib und das wirkliche Blut Christi verwandelt werden – die sogenannte Transsubstantiationslehre. Luther lehrte, dass in Brot und Wein, die Brot und Wein bleiben, dennoch der Leib Christi real gegenwärtig sei.
Diese Auffassung war nach wie vor von magischem Denken geprägt; in dieser Hinsicht war Luther also noch nicht vollständig reformiert. Er argumentierte, die Einsetzungsworte seien klar: „Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut.“ Zwingli hingegen entgegnete, dass diese Worte im Sinne von „Dies bedeutet mein Leib“ und „Dies bedeutet mein Blut“ zu verstehen seien.
Nebenbei bemerkt: Wenn Luther Recht gehabt hätte, müsste man sagen, dass Abraham mit dem Berg Sinai verheiratet war. Im Galaterbrief steht nämlich etwas von seiner Heirat mit Hagar. Der Apostel Paulus schreibt dort: „Ich schlage auf, Galater 4,22: Denn es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien. Aber der von der Magd war nach dem Fleisch geboren, der von der Freien durch Verheißung. Das hat einen bildlichen Sinn, denn diese sind zwei Bündnisse: eines vom Berg Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches Hagar ist. Hagar ist der Berg Sinai in Arabien, entspricht aber dem jetzigen Jerusalem usw.“
Hagar ist also symbolisch mit dem Berg Sinai gleichzusetzen. Folglich war Abraham mit einem Berg verheiratet. Die Bedeutung ist, dass Hagar symbolisch das Gleiche wie der Berg Sinai darstellt. Dieser spricht von einem Bund, der zur Knechtschaft unter das Gesetz führte.
Damit ist gemeint, wie Zwingli sagte: „bedeutet“ heißt „bedeutet“. Es ist vergleichbar, wenn ich jemandem ein Foto meiner Familie mit allen sechs Kindern zeige und sage: „Das ist meine Familie.“ Keiner würde darauf bestehen, dass das Foto selbst die Familie ist. Man sagt einfach, das Foto „ist“ meine Familie, obwohl es nur auf sie hinweist und sie abbildet.
„Dies ist mein Leib“ weist auf meinen Leib hin, „Dies ist mein Blut“ weist auf mein Blut hin.
Das war also der Kern des Abendmahlsstreits. Die beiden Seiten konnten sich nicht einigen, was schwere Konsequenzen hatte: Zwingli starb.
Warum? 1529 kam es zwar noch zum ersten Landfrieden zu Kappel. Die fünf katholischen Orte in der Schweiz – Uri, Schwyz, Unterwalden und Luzern – standen vor dem Krieg gegen Zürich und die Reformierten. Dieser Krieg wurde zunächst abgewendet. Doch etwas später kam es doch zur Schlacht.
Der Schmalkaldische Bund in Deutschland war eng mit Luther verbunden. Doch weil es zwischen Luther und Zwingli keine Einigung gab, wusste man in der Schweiz, dass der Schmalkaldische Bund nicht eingreifen würde, wenn Zürich angegriffen wird. Und tatsächlich geschah das nicht.
Die katholischen Orte griffen die Zürcher an, es kam zum Bürgerkrieg in der Schweiz. In dieser Schlacht fiel Zwingli am 11. Oktober 1531. Er war als Feldprediger mitgegangen.
Im Zürcher Landesmuseum sind noch einige Überreste von ihm zu sehen, etwa sein Helm und sein Schwert. Traurigerweise wurde er danach brutal gevierteilt und entstellt.
Nach dem Bürgerkrieg erkannte man in der Schweiz deutlich, dass Religionskriege falsch sind und dass die Eidgenossenschaft zusammenhalten muss. Das war auch Zwinglis Überzeugung. Er wollte keinen Krieg. Er war dagegen, dass Eidgenossen gegen Eidgenossen kämpfen, selbst wenn sie unterschiedlichen Konfessionen angehörten. Tragischerweise musste er trotzdem als Feldprediger im Kampf sterben.
Die Schweizer nahmen diese Erkenntnis ernst. Sie erkannten, dass es falsch ist, gegeneinander zu kämpfen. Deshalb geriet die Schweiz nicht mehr in weitere Religionskriege. Auch während des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648 konnte sich die Schweiz heraushalten.
Was das Verhältnis von Christentum und Staat betrifft, haben die Schweizer eine sehr gute Haltung eingenommen. Das darf man in der Schweiz durchaus so sagen.
Heinrich Bullinger und die Weiterführung der Reformation in Zürich
Zwinglis Nachfolger wurde Heinrich Bullinger (1504–1575). Er wurde in Bremgarten geboren und war der Sohn eines Priesters und einer Haushälterin. Das war eine schwierige Situation, denn Zwingli hatte sich massiv gegen die Missstände in der Kirche gewandt. Besonders kritisierte er das Zölibat, das viele Menschen in die Sünde führte.
Diese Lehre bezeichnete man als Lehre von Dämonen, wie wir in 1. Timotheus 4 gelesen haben. Das Zölibat war eine Falle, denn normalerweise bestimmt Gott die Menschen zur Ehe. Es gibt zwar Ausnahmefälle, aber in diesen Fällen gibt Gott die Kraft zur Ehelosigkeit, damit die Geschlechtlichkeit nicht ausgelebt wird. Die Geschlechtlichkeit ist vorhanden, darf aber nur innerhalb der Ehe gelebt werden. Gott gibt dann besonders Kraft dazu.
Die meisten Menschen sind jedoch nicht zur Ehelosigkeit bestimmt. Das hat unzählige Priester und Nonnen bis heute in die Sünde fallen lassen. Deshalb wird diese Lehre als eine Lehre von Dämonen bezeichnet. Heinrich Bullinger stammte aus einer solchen Verbindung. Dennoch hat Gott ihn als wunderbares Werkzeug der Reformation gebraucht.
Es ist wichtig, so etwas zu erkennen. Manche Menschen meinen, ihr Hintergrund oder ihre Vergangenheit blockiere sie. Doch Gott schaut nicht auf solche Dinge. Egal, wie dein Hintergrund ist oder was du erlebt hast, wenn du dich von Gott formen lässt, kann er dich als Gefäß für seine Zwecke gebrauchen.
Bullinger war kein politisch aktiver Pfarrer, und das brauchte Zürich auch nicht. Zürich benötigte damals vor allem einen guten Seelsorger – und den fanden sie in Bullinger.
1566 veröffentlichte Bullinger das Zweite Helvetische Bekenntnis. Dabei muss man sagen, dass es kein allgemein verbindliches Erstes Helvetisches Bekenntnis gibt. Was Bullinger vorlegte, ist jedoch eine wunderbare Zusammenfassung des protestantischen Glaubens.
Im ersten Teil schreibt er über die Schönheit des Wortes Gottes und die Inspiration der Bibel. Er erklärt, dass die Bibel sich selbst auslegt und man dazu nicht den Papst braucht. Weiter beschreibt er die Einheit Gottes: Es gibt nur einen Gott, aber in der Gottheit eine Dreieinigkeit aus drei Personen.
Er schreibt über Jesus, den einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen. Anders als die katholische Kirche lehrt, gibt es keine Maria, keine Heiligen, keine Priester, Kardinäle, Bischöfe oder den Papst als Mittler zwischen Mensch und Gott. Viele Mittler – nein! Die Bibel sagt in 1. Timotheus 2, dass es einen Mittler gibt, nämlich den Menschen Christus Jesus.
Bullinger behandelt auch die Vorsehung Gottes und den Ernst des Verlorengehens. Gleichzeitig betont er Gottes Liebe, die das Verlorengehen nicht möchte. Gott will das Beste für jeden Einzelnen. Doch wenn der Einzelne die Gnade Gottes nicht ergreift, geht er verloren.
Alle Schweizer Städte und auch benachbarte europäische Länder haben das Bekenntnis von Bullinger angenommen. Man hört heute wenig über Bullinger, doch er spielte eine sehr wichtige und schöne Rolle. In Aarau gibt es sowohl ein Bullingerhaus als auch ein Zwinglihaus.
Wenn man jedoch die Schüler in Aarau fragen würde, wer Bullinger ist, wüssten die meisten kaum etwas zu erzählen. Dabei hat er eine bedeutende und schöne Rolle gespielt.
Johannes Calvin und die reformierte Theologie
Wir kommen zu Calvin, dem dritten großen Reformator. Er wurde 1509 geboren und starb am 27. Mai 1564. Calvin war Franzose und studierte Jus, also Rechtswissenschaft, in Orléans und Bourges. Das erklärt auch seinen juristischen, scharfsinnigen Gerechtigkeitssinn. Man sieht, wie die frühe Prägung und Bildung eines Menschen später auch seinen Dienst für Gott beeinflussen. Diese Prägung wirkte bei ihm einseitig, ähnlich wie bei Luther. Doch erst die Kombination verschiedener Prägungen bringt das Richtige und Wahre hervor. Jeder Reformator hatte gewissermaßen alles in sich.
Man nimmt an, dass sich Calvin etwa 1533 zu Gott bekehrte. Er erlebte also eine deutliche Umkehr in seinem Leben. Von 1534 bis 1536 war er in Basel, wo er sein erstes Hauptwerk verfasste: die „Institutio“. Dieses Werk ist ein Grundwerk des evangelischen Glaubens. Darin zeigt sich seine außergewöhnliche Begabung für klare und scharfsinnige Gedanken. Es ist erstaunlich, dass er sich 1533 bekehrte und schon wenige Jahre später eines der wichtigsten Werke über den christlichen Glauben schrieb.
1536 kam Calvin nach Genf. Der Reformator Farel, der die Reformation in der französischen Schweiz ausgelöst hatte, wollte unbedingt, dass Calvin in Genf blieb. Calvin wirkte dort bis 1538, wurde dann aber vertrieben, weil die Leute seine strengen Ideen ablehnten. Sie fühlten sich von ihm bevormundet und wollten nicht, dass er seine Vorstellungen mit Gewalt durchsetzt. So musste Calvin Genf verlassen.
Von 1538 bis 1541 lebte er in Straßburg und leitete dort die französische Emigrantengemeinde. 1541 kehrte er nach Genf zurück und baute dort sein Kirchenwesen ganz nach seinen Vorstellungen auf. Seine Idee war ein Gottesstaat, den er in Genf verwirklichen wollte. Für ihn stand die Herrlichkeit Gottes über allem, und der Mensch müsse sich freiwillig Gottes Willen beugen. Falls er das nicht tue, müsse er eben mit Gewalt dazu gebracht werden.
Calvin selbst war kein harter Mensch, sondern eher feinfühlig. Doch sein Eindruck von Gottes Größe, Macht und Herrlichkeit brachte ihn auf diese Idee. Heilsgeschichtlich betrachtet ist zu sagen, dass die Zeit, in der Gott seine Gerechtigkeit auf der Erde durchsetzen wird, noch kommt – nämlich im tausendjährigen Friedensreich. Dann wird Gottes Gerechtigkeit auf der Erde herrschen, aber diese Zeit war zu Calvins Lebzeiten noch nicht angebrochen. Calvin war in dieser Hinsicht zu früh. Deshalb müssen wir die heilsgeschichtlichen Epochen in der Bibel unterscheiden. Wenn wir das nicht tun, kann das verhängnisvolle Folgen haben.
Die Gottesdienste in Calvins Genf waren streng, aber würdig. Es gab Aufseher mit Stöcken, die Leute schlugen, wenn sie einnicken. Das war ein ganz anderer Stil als heute. Es gab keine Puschen oder Gefühlsausbrüche bis zur Ekstase. Stattdessen wurde für Ordnung gesorgt.
1549 kam es zum Konsensus Tigurinus, einer Verständigung zwischen Zürich und Genf. Es gab Spannungen wegen der unterschiedlichen Reformationsentwicklungen in Genf mit Calvin und in Zürich. Man wollte in der Schweiz die Einheit bewahren. Die Verständigung gelang durch Heinrich Bullinger, der nicht mit dem Holzhammer vorging, sondern klar sagte: „Calvins Lehre von der doppelten Prädestination, also dass Gott die einen zum ewigen Leben und die anderen zur Verdammnis bestimmt, glauben wir nicht und wollen sie in Zürich nicht übernehmen.“ Diese Lehre blieb also auf Genf beschränkt.
Andererseits erkannte Bullinger die reformierte Abendmahlslehre Calvins als sehr wertvoll an und übernahm sie. Calvin merkte, dass man nicht alles ablehnte, sondern auch Gutes akzeptieren konnte. Die Abendmahlslehre Calvins wurde zur reformierten Lehre, die bis heute in vielen Freikirchen gilt.
1553 wurde in Genf der Arzt Michael Servet verbrannt, weil er die Dreieinigkeit Gottes leugnete, also die Trinität. Damit griff er das Fundament des christlichen Glaubens an. Calvin setzte durch, dass Servet verbrannt wurde. Das war eine Katastrophe und völlig unbiblisch, aber es entsprang Calvins überzogener Staatslehre. Für ihn hatte nicht die Kirche Einfluss auf den Staat, sondern der Staat musste von der biblischen Lehre durchdrungen sein.
Calvin erreichte in Genf einen klaren Sieg und volle Anerkennung. Vier Jahre später gründete er eine Schule. 1564 starb er am 27. Mai. Sein Nachfolger wurde Theodor Beza, ein würdiger Mann, der jedoch nicht mehr mit der Härte Calvins wirkte.
Theologische Grundgedanken Calvins
Wichtige Grundgedanken in der Theologie von Calvin
Ein zentraler Begriff in Calvins Theologie ist die Gloria Dei, die Ehre Gottes. Diese Ehre Gottes ist für Calvin von großer Bedeutung. Er war überwältigt von der Größe, Macht, Majestät und Herrlichkeit Gottes, die über allem steht. Aus einem falschen Verständnis davon hat er auch die Lehre der doppelten Prädestination entwickelt. Nach dieser Lehre hätte Gott die einen zum Heil bestimmt und die anderen zum Verderben, weil er über allem steht und frei entscheiden kann, wie er will.
In der Bibel finden wir jedoch keine doppelte, sondern nur eine einfache Prädestination. Die Prädestination des Neuen Testaments gründet sich immer auf die Vorsehung Gottes, auf seine Vorkenntnis. Ein Bild dafür findet sich in Römer 8. Wir kennen Prognosen beispielsweise von der Wettervorhersage. Die Meteorologen bestimmen nicht, ob es morgen schneit, sondern sie erkennen voraus, wie das Wetter sein wird. Ihre Vorkenntnis hat keinen Einfluss auf das Wetter selbst.
Dieser Vergleich ist zwar schwach, weil Gottes Vorkenntnis natürlich vollkommen und perfekt ist. In Römer 8, Vers 29 heißt es: „Denn welche er zuvor erkannt hat, die hat er auch zuvor bestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein.“ Gott wusste also im Voraus, welche Menschen wirklich bereit sind, die Gnade Gottes anzunehmen. Die Bekehrung ist eine Willenssache. Natürlich könnte sich der Mensch gar nicht bekehren, wenn Gott ihn nicht zieht. Aber Gott zieht nicht nur eine bestimmte Gruppe von Menschen, sondern alle Menschen zu sich.
Die einen geben nach, die anderen bleiben störrisch und gehen verloren. In seiner Vorkenntnis sieht Gott, wer nachgeben wird. „Nachgeben“ ist hier nicht ein großes Werk, sondern eher wie beim Seilziehen: Wenn man merkt, dass man nicht mehr kann, gibt man nach und hat verloren. Wenn der Mensch dem Zug Gottes nachgibt, ist das keine Leistung seinerseits. Aufgrund seiner Vorkenntnis bestimmt Gott dann im Voraus, wer Söhne und Töchter Gottes werden und dem Bild seines Sohnes gleichförmig sein werden.
In 1. Petrus 1, in den ersten Versen, sagt Petrus zu den Gläubigen: „Ihr seid auserwählt nach der Vorkenntnis Gottes.“ Diese Vorkenntnis ist eine Prognose, die vorausgeht. Das war auch die Ansicht von Bullinger. Niemand muss Calvin deshalb als Arminianer abtun. Bullinger erkannte ebenfalls die wichtige Rolle von Gottes Vorkenntnis und betonte die Verantwortung des Menschen bei der Bekehrung.
Calvin dachte jedoch, wer nicht will, der müsse gezwungen werden. Die weltliche Macht sollte durch die Kirche vollständig durchdrungen und beherrscht werden.
Nun zur Abendmahlslehre Calvins: Er sagte nicht einfach, das Abendmahl sei nur eine Erinnerung an Christus, wie es zunächst in Zürich vertreten wurde. Vielmehr meinte er, Christus werde gewissermaßen mit dem Herzen aufgenommen. Es ist eine innere Angelegenheit der Herzensbeziehung zu dem gestorbenen und auferstandenen Christus.
Dies führte dazu, dass die Abendmahlsfeiern in Genf sehr ehrfürchtig und würdig waren – echte evangelische Abendmahlsfeiern. Calvin war damit klarer als Luther, der noch sehr katholisch dachte. Die Lehre von der Transsubstantiation, die Luther zwar abgeschwächt hat, geht letztlich auf die griechische Philosophie zurück. Wenn die Materie als schlecht angesehen wird, muss man gewisse materielle Dinge geistlich überhöhen. Dieses Denken führt dazu, dass das Materielle als minderwertig gilt, aber bestimmte materielle Dinge geistlich überhöht werden.
Hegel, ein Philosoph aus pietistischen Kreisen, sagte einmal, er könne nicht zu einer Kirche gehören, bei der eine Maus göttlich werden könnte. Damit meinte er die katholische Lehre von der Hostie. Wenn eine Maus in die Kirche geht, die Hostie isst und im Tabernakel aufbewahrt wird, sei das nicht vorstellbar. Das ist eine Kritik an der katholischen Lehre, die er als reine Magie bezeichnete. Christi Leib und Blut würden nicht wirklich Teil von Brot und Wein. Das sei magisches Denken, das in die Irre führe.
Calvin war damit klarer als Zwingli, der das Abendmahl nur als Gedächtnisfeier ansah. Zwingli ging zu stark ins andere Extrem. Es geht wirklich darum, dass im Abendmahl eine ehrfürchtige Herzensbeziehung erlebt wird. Das Brot und der Wein sind ganz normal.
Erster Korinther 11 zeigt, dass ein Gläubiger, der in der Sünde nicht geordnet ist, nicht am Abendmahl teilnehmen darf. Die Sünde muss geordnet werden. Deshalb setzte sich in der Reformation durch, dass vor dem Abendmahlsonntag „sauberer Tisch“ gemacht wurde. Es war allen klar, dass das Leben geordnet sein muss. Ohne ein geordnetes Leben geht man nicht zum Abendmahl.
Gleichzeitig kann man nicht argumentieren, das Leben sei in Ordnung und man müsse deshalb nicht zum Abendmahl gehen. Man muss das Leben ordnen und zwar vorher.
Die Gegenreformation und der Jesuitenorden
Gut, jetzt kommen wir zur Gegenreformation. Die Grundlage der Gegenreformation, die wir bereits beim Konzil von Trient besprochen haben, war die innere Erneuerung der katholischen Kirche. Die katholische Kirche erkannte natürlich, dass eine Reformation möglich war, weil vieles einfach nicht stimmte.
Deshalb musste die Kirche erneuert werden, aber nicht im Sinn der Reformation – also nicht nach dem Prinzip „allein die Schrift“, „allein durch Glauben“ oder „allein durch Gnade“. In dieser Zeit wurde die Einheit der Kirche noch viel stärker betont und machtvoll nach außen demonstriert. Man wollte zeigen: Wir halten zusammen, was bei den Evangelischen fehlte. Diese hatten durch äußere Bekämpfungen weniger Gelegenheit, sich auf innere Erneuerungen zu konzentrieren. Zudem gab es bei ihnen innere Auseinandersetzungen.
Es ist klar, dass, sobald man eine starke Führung nicht mehr hat, die alles diktiert, sondern stattdessen betont, dass der einzelne Mensch vor Gott steht – denken wir an Martin Luthers Worte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“ – dann entstehen verschiedene Ansichten. Jeder denkt: „Ich sehe es so.“ Und wenn andere sagen: „Ach so, du siehst es so“, gibt es plötzlich unterschiedliche Meinungen. Was soll man damit machen?
Die katholische Kirche betonte deshalb: Wir sind eine Einheit, anders als die Evangelischen, die miteinander Probleme haben. In dieser Zeit wurde das Mystische stark gefördert, vor allem die mystische Erfahrung der Liebe Gottes im Gottesdienst. Es wurde auch kritisiert, dass es in der katholischen Kirche zu kalt sei. Deshalb entstanden Bewegungen, die sich um mehr Wärme in der Kirche bemühten, damit die Menschen nicht zu den Protestanten überliefen.
Interessanterweise entstand in dieser Zeit der Jesuitenorden, der eine Schlüsselrolle im Kampf gegen das Evangelium spielte. Ignatius von Loyola (1491–1556) war ein spanischer Adliger. Bereits 1522, also genau in den Anfangstagen der Reformation, weihte er sich dem Dienst an Maria, der Himmelskönigin. Das tat er, nachdem er eine schwere Krankheit überlebt hatte, und gründete den Jesuitenorden zu ihren Ehren.
Maria, die Himmelskönigin, die Regina Coeli, ist eine Übernahme aus der babylonischen Religion. Denn Astarte war die Himmelskönigin, und dieser Kult verbreitete sich über verschiedene Stufen bis nach Europa. Zum Beispiel war der Artemiskult in Ephesus nichts anderes als der Astartekult – also eine Muttergöttin. Die Babylonier, ein semitisches Volk, nannten diese Astarte „die Himmelskönigin“. Auch in der Bibel wird sie mehrfach erwähnt, zum Beispiel im Buch Jeremia als „Himmelskönigin“.
Ignatius von Loyola weihte sich also dieser Gottheit und gründete den Orden zu ihren Ehren. Wichtig in diesem Orden war die Askese, die neu betont wurde. Zudem gab es eine Lehre von Dämonen, wie sie in 1. Timotheus 4 beschrieben wird, sowie Visionen. Ignatius schrieb das Werk „Exercitia spiritualia“ – die geistlichen Übungen. Dabei handelt es sich um ein Training in Askese und geistlichen Übungen, die dazu führen sollen, dass man Gott sehen kann.
Mystische Erfahrungen und Visionen wurden betont. Warum? Im Gegensatz zur Reformation, die „allein die Schrift“ betonte, wollte die Gegenreformation, dass man Dinge sehen und mystisch erleben kann.
Loyola verlangte von den Ordensmitgliedern, 15 Jahre Theologie, Philosophie und ein weltliches Studium zu absolvieren. So sollten sie auch auf die Aristokratie Europas vorbereitet sein, um mit ihr gut sprechen zu können. Sie sollten in jeder Hinsicht überlegen sein und die Gegenreformation anführen.
Ignatius reformierte die Kirche – ich setze das in Anführungszeichen – er reformierte sie zur Kampfkirche gegen das Evangelium. So kam es zu heftigen Verfolgungen der Protestanten.
Ich muss vielleicht noch erklären: Im Konzil von Trient wurden auch die Apokryphen ganz klar als Gottes Wort definiert. Das sind Zusatzschriften, die im Alten Testament der katholischen Bibelausgaben angehängt sind. Im Judentum hingegen wurden die Apokryphen eindeutig ausgeschlossen – man darf nicht einmal sagen „ausgeschlossen“, denn sie wurden nie aufgenommen, sondern immer klar abgetrennt.
Im Judentum war klar – und das lehrt auch der Talmud –, dass nach den Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi der Heilige Geist von Israel wich. Ich habe das zweimal im Talmud gefunden. Deshalb wurde klargestellt, dass all diese Apokryphen, die nach dem letzten Propheten Maleachi geschrieben wurden, nicht inspiriert sind und nicht als Gottes Wort gelten.
Auch Josephus Flavius schrieb im ersten Jahrhundert über die biblischen Bücher des Alten Testaments. Er sagte: „Wir sind bereit, unser Leben für diese Schriften hinzugeben. Es gibt zwar noch andere Schriften, aber diese haben niemals das gleiche Ansehen bekommen. Wir sterben nur für diese Schriften, die zum Alten Testament gehören.“
In den Apokryphen findet man jedoch Lehren und Irrlehren, wie zum Beispiel das Beten für Tote oder das Zahlen von Geld für Tote (1. Makkabäer 12). Da die Reformierten nur akzeptierten, was biblisch belegt ist, sagten sie: „Gut, dann müssen wir die Apokryphen ganz klar in unsere Bibel aufnehmen, damit wir sagen können: Es steht geschrieben.“ Das war ihr Trick.
Streitigkeiten innerhalb der Reformation
Kommen wir nun zu den innerreformatorischen Streitigkeiten. Ich habe erklärt, dass die katholische Kirche als Machtblock ein starkes Kollektiv war. Das Kollektiv, das Ganze, galt und zählte – nicht der einzelne Mensch. Es ging nicht um den einzelnen Menschen und sein Gewissen vor Gott. Es ging nicht darum, was der Einzelne in der Bibel erkennt, sondern das wurde alles durch die Kirche ganz klar diktiert.
Die Reformatoren erkannten jedoch, dass für Gott der einzelne Mensch wichtig ist. Es geht um die persönliche Hinwendung im Glauben an den Herrn Jesus Christus, um die persönliche Annahme seines Opfers – ohne eigene Leistung und ohne dass durch Sakramente auf magische Weise etwas vermittelt wird.
Die Betonung der Individualität führte dazu, dass jeder sagte: „Ich sehe es halt so, und du siehst es so.“ Das führte zu Streitigkeiten. Den Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli haben wir bereits gesehen. Es gab zudem den sogenannten synergistischen Streit zwischen Pfäffinger und Illyrikus. Ich habe den Fremdwortbegriff bewusst gelassen, weil man ihn in den Büchern oft so findet. Pfäffinger und Illyrikus waren spätere Reformatoren.
Außerdem gab es den Streit zwischen den Gnesiolutheranern und Melanchthon. Gnesiolutheraner bedeutet „echte Lutheraner“. Die echten Lutheraner nach Luthers Tod sagten zu Melanchthon: „Du bist gar nicht richtig lutherisch, wir sind wirklich so, wie Luther es wollte.“ Das führte zu heftigen Auseinandersetzungen.
Melanchthon war kein Kämpfer, was für ihn sehr schlimm war. Nach Luthers Tod wusste er oft nicht mehr, was er tun sollte. Er war ein Mann, der Luther brauchte, um seine Aufgaben wirklich erfüllen zu können.
Es gab auch den sogenannten antinomistischen Streit zwischen Agricola und Melanchthon. Man sieht, der arme Melanchthon hatte viel zu kämpfen. Weiterhin gab es den oseandrischen Streit zwischen Oseander und Melanchthon und den majoristischen Streit zwischen Major und Nikolaus von Amsdorff. Es wurde viel gestritten.
Wenn Unterschiede entstehen, müssen wir mit den Unterschieden biblisch umgehen. Ein gutes Beispiel ist, wie Bullinger mit Galvan umging. Bullinger konnte einen „Sicherheitsgürtel“ um Genf bilden. Er sagte nicht einfach: „Ja, gut, wir sind halt ein bisschen anders als du. Ich meine, es ist sowieso alles nicht so klar in der Bibel, oder Galvan?“ Nein, er war ganz klar überzeugt.
Aber er wollte nicht mit dieser Sache das Porzellan zerschlagen und alles kaputtmachen. Stattdessen bildete er einen Sicherheitsring um Genf. Wer aber einfach scheu ist davor, Probleme wirklich zu lösen, und nicht einfach Porzellan zerschlagen oder Stricke zerreißen will, der braucht viel mehr Energie. So kam es zu vielen Streitigkeiten.
Diese Streitigkeiten hatten erhebliche Folgen. Zum Beispiel wurde Flacius Illyricus, ein Jugoslawe, durch den synergistischen Streit in den Jahren 1556 bis 1560 innerlich so verletzt, dass er sich nicht mehr davon erholte. Das hat ihn total fertiggemacht, gebrochen – als Mann und als Mensch.
Tief enttäuscht über all diese Streitigkeiten starb Melanchthon 1560. Er hatte es nicht überwunden. Das ist tragisch. Es war ein so hoffnungsvoller Aufbruch, und dann solche enttäuschenden Ereignisse.
Wir haben auch gesehen, dass in dieser Zeit viele Kriege ausbrachen, in denen die katholische Kirche versuchte, die Protestanten zu unterdrücken. So gab es den Bauernkrieg 1524. Das Ergebnis war eine brutale Unterdrückung der Bauern. Luther war ohnehin gegen diesen Krieg.
1531 fand der Kappelerkrieg in der Schweiz statt. Das Ergebnis war die Niederlage der Evangelischen. Danach erkannte man, dass man so etwas nicht mehr machen durfte. Glücklicherweise gab es in der Schweiz danach keinen solchen Krieg mehr.
1546 bis 1555 dauerte der Schmalkaldische Krieg in Deutschland. Das Ergebnis war der Augsburger Friede. Man sagte: Wo der Fürst katholisch ist, wird die Region katholisch; wo der Fürst protestantisch ist, wird die Region protestantisch.
1559 bis 1579 gab es in Holland die Revolte gegen die katholischen Spanier. Dort erhoben sich die Reformierten und führten eine Revolution durch. Das war sicher falsch, dass man das kriegerisch machte. Es führte zur Spaltung der Niederlande: Im Norden die protestantische Union, im Süden und in Belgien die katholische Liga.
1618 bis 1648 fand der Dreißigjährige Krieg statt. Das war eine absolute Katastrophe. Deutschland wurde dadurch vollständig auf den Boden gebracht, auf den Nullpunkt. Es zerstörte die Menschen.
In dieser Zeit, während des Dreißigjährigen Krieges, wurde Paul Gerhardt geboren. Er erlebte diese schwere Zeit und das führte bei vielen Gläubigen zu mehr Innerlichkeit und Innigkeit im Glauben. Er wusste, was Not bedeutet. Einmal hatte seine Frau wirklich kein Brot mehr im Haus. Paul sagte: „Wart mal!“ Er ging zwei Stunden in sein Zimmer und kam ohne Brot, aber mit einem Lied heraus, das er gedichtet hatte:
„Befiehl du deine Wege und was dein Herz erkränkt, der allertreusten Pflege des, der die Himmel lenkt.“
Diese Lieder entstanden aus solchen Umständen heraus.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg herrschte eine allgemeine Ermüdung der Menschen. Die Evangelischen wurden müde, gelähmt, apathisch. Man war nicht mehr interessiert an Lehrfragen, weil das nur zu Streit führte.
In dieser Zeit habe ich nichts über Frankreich und die Verfolgung der Hugenotten gesagt, das wäre noch ein großes Kapitel für sich. Der französische Philosoph Voltaire (1694 bis 1778) förderte die Aufklärungszeit wesentlich mit. Er prägte den Ausspruch „Le dogme apporte le fanatisme“ – das Dogma führt zum Fanatismus.
Damit meinte er: Hört auf mit all dem biblischen Zeug, das macht die Menschen nur fanatisch. Was wir brauchen, ist die Ratio, die Vernunft des Menschen. Diese wurde in der Aufklärungszeit geradezu vergöttert, besonders während der Französischen Revolution.
Damals führte man eine Statue der Vernunft, der Ratio, in die Notre-Dame ein. Sie wurde als Göttin der Vernunft verehrt. Jeder wusste, was das für eine Frau war – eine Hure.
Schon Luther hatte in seiner Ablehnung der heidnischen Philosophie in der Kirche gesagt: „Die Vernunft ist eine Hure.“ Wenn die menschliche Vernunft nicht Gottes Wort untergeordnet wird, entsteht ein verführerisches und zerstörerisches Eigenleben.
All diese Religionskriege und Streitigkeiten gaben der Aufklärung Aufwind. Sie führten zu der Auffassung: „Hört auf mit dem dummen Zeug!“ Das löste die Aufklärung wesentlich aus und förderte sie. Gleichzeitig bewirkte sie einen massiven Abfall von Gott und seinem Wort in Europa, zuerst im 18. und 19. Jahrhundert, besonders unter Akademikern.
Im 20. Jahrhundert setzte sich dieser Trend fort und erfasste breite Volksschichten – Hunderte von Millionen Menschen in Europa. Das ist eine Spätwirkung der Aufklärung. Die heutige Orientierungslosigkeit und Unmoral sind Spätwirkungen dieser Zeit. Die Aufklärung wurde wesentlich durch Streitigkeiten und Glaubensfragen ausgelöst.
Wenn man das so betrachtet, bekommt man einen Schock und sieht, wie schlimm Streitigkeiten unter Gläubigen sind. Aber man darf deshalb nicht sagen, dass Lehrfragen unwichtig sind. Wir müssen Probleme wirklich lösen.
Ein wunderbares biblisches Beispiel finden wir in Apostelgeschichte 15. Das war eine der ersten großen Lehrfragen, die geklärt werden mussten – in Jerusalem. Es wurde heftig diskutiert, es gab viel Wortstreit. Doch man unterdrückte die Diskussion nicht. Jeder konnte sich äußern.
Schließlich kamen klärende, von der Bibel her wunderbar begründete Beiträge. Am Ende konnten alle sagen: „Es hat dem Heiligen Geist und uns gut gefallen.“ Die Lehrfragen wurden geklärt, ohne dass man sich die Köpfe einschlug.
Wir können sehr viel aus diesen Dingen lernen.
Abschließende biblische Perspektiven zur Reformation
Wir haben noch fünf Minuten Zeit. Ich möchte kurz auf zwei wichtige biblische Texte in Verbindung mit der Reformation hinweisen.
In den Sendschreiben der Offenbarung Kapitel 2 und 3 finden wir Briefe an sieben Gemeinden, die am Ende des ersten Jahrhunderts in der heutigen Türkei existierten. Diese Sendschreiben sind gleichzeitig symbolisch eine Darstellung der gesamten Kirchengeschichte vom ersten Jahrhundert bis zur Entrückung der Gemeinde. Die Reihenfolge, in der sie dort stehen, ist ganz wunderbar.
Ich habe mir als Teenager einmal den Spaß erlaubt auszurechnen, wie viele Möglichkeiten es gegeben hätte, diese sieben Gemeinden falsch anzuordnen. Wie kann man sieben Stühle auf verschiedene Arten anordnen? Eigentlich ganz einfach: sieben Fakultät. Auf dem Taschenrechner ergibt das 5040. Also 5039 falsche Möglichkeiten. Und in Offenbarung 2 und 3 haben wir die 5040. richtige Reihenfolge.
Die Gemeinde Sardes weist prophetisch auf die Reformation hin. Aber interessanterweise finden wir in Offenbarung 17 bis 18 eine Darstellung Babylons. Babylon wird als Hure bezeichnet, es ist eine Stadt symbolisch und zugleich eine Frau.
In der Offenbarung haben wir jedoch noch eine Stadt, die ebenfalls eine Frau ist: das neue Jerusalem in Offenbarung 21. Es ist eine Frau. Johannes wird in Offenbarung 21, Vers 9 gesagt: „Komm, ich will dir die Braut des Lammes zeigen.“ Er geht auf einen hohen Berg und sieht die Stadt, das neue Jerusalem. Diese Braut, die Frau des Lammes, die Frau des Erlösers, ist die Gemeinde. Sie besteht aus allen wahren Erlösten von Pfingsten bis zur Entrückung.
Sie sind eine Stadt, denn sie werden einmal mit Christus herrschen – nicht jetzt, sondern in der Zukunft. Calvin war etwas zu früh mit seiner Sichtweise, habe ich gesagt. Das Wort Stadt heißt auf Griechisch „Polis“, wovon unser Wort Politik stammt. Die Kirche hat heute nicht den Auftrag, als Kirche Politik zu betreiben – das kommt noch. Sie ist eine Polis, aber auch eine Frau, eine Braut, eine reine Braut.
Dagegen steht Babylon, ebenfalls eine Stadt, aber eine Hure. In Offenbarung 17 wird gesagt: „Ihr Sitz ist auf den sieben Hügeln“, dem Septemcollis. Das ist seit dem Altertum der bekannte Name für Rom, die Siebenhügelstadt. Es heißt auch, sie sitzt in der Stadt, die das Königtum über die Könige der Erde hat – letzter Vers von Offenbarung 17.
Welche Stadt hatte damals, zur Zeit von Johannes, das Königtum? Nur Rom. Und es heißt weiter von dieser Hure: „Sie war betrunken vom Blut der Heiligen und der Zeugen Jesu.“ Es ist eine Tatsache, dass in der Kirchengeschichte Hunderttausende von wahren Christen durch Verfolgungen der katholischen Kirche, der Kirche von Rom, ermordet wurden.
Man könnte noch viele weitere Details erkennen. Schon Luther hat diesen Zusammenhang zwischen Babylon in der Offenbarung und Rom erkannt.
Nun möchte ich kurz aus Offenbarung 3 eine Beurteilung der Reformation durch den Herrn Jesus, den Sohn Gottes, selbst lesen. Wir haben all das Wunderbare und Gute gesehen, aber auch die Mängel der Reformation.
Der Herr sagt in Offenbarung 3, Vers 1 in der Mitte: „Ich kenne deine Werke, dass du den Namen hast, dass du lebst, und bist doch tot. Sei wachsam und stärke das Übrige, das sterben will; denn ich habe deine Werke nicht völlig erfunden vor meinem Gott. Gedenke nun, wie du empfangen und gehört hast, und bewahre es und tue Buße!“
Wenn man dieses Wort speziell auf die protestantische Kirche bezieht, wie sie sich weiterentwickelt hat, dann gilt es besonders für das 19. Jahrhundert. In dieser Zeit kam die ganze Bibelkritik auf. Die Bibel wurde zersetzt und zerfetzt, bis zur „Gott-ist-tot-Theologie“ von Rudolf Bultmann.
Dann kommt dieser Aufruf: „Gedenke nun, wie du empfangen hast“ – in der Reformation von Gott empfangen und gehört. „Bewahre es und tue Buße!“ Das ist der Aufruf an den Protestantismus, an die Reformation heute. Gedenke zurück!
Doch was hat man allgemein gemacht? Verrat an der Reformation. Sola Scriptura, sola fide, sola gratia.
Der Herr sagt weiter: „Wenn du nun nicht wachst, so werde ich über dich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, um welche Stunde ich über dich kommen werde.“ Bei der Wiederkunft Christi kommt er wie ein Dieb in der Nacht als Richter.
Aber es gibt einige wenige Namen in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben. Sie werden mit mir einhergehen in weißen Kleidern, denn sie sind es wert. „Wer überwindet, der wird mit weißen Kleidern bekleidet werden, und ich werde seinen Namen nicht auslöschen aus dem Buch des Lebens und werde seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln.“
Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
Darf ich bitten, dass jemand zum Schluss noch mit uns betet?