Unser Gott, heute ist ein wunderschöner Vorfrühling. Draußen scheint die Sonne, und gerade spazierten hier noch 50 bis 60 junge Leute eine lockere Shoppingrunde. Jetzt sitzen wir über deinem Buch. Vielleicht geht es uns ähnlich wie den jungen Leuten damals, die nach Jerusalem pilgerten, weil wieder Passa war. Es war eine Zeit, in der man sich traf und tausende Menschen in der Stadt feierten.
Doch vor dem Stadttor lag dieser Galgenberg. Ganz unpassend winden sich dort Sterbende in ihren Schmerzen. Niemand hat Lust, an einem Festtag dorthin zu schauen.
Herr, wir beten, dass wir jetzt irgendwie auf Golgatha ankommen, wenn wir...
Psalm 22 lesen. So wie damals Mose in der Wüste unterwegs war und seine Schafe hütete, mit nichts rechnete, und plötzlich brannte da der Busch. Und du sagst ihm: Zieh deine Schuhe aus, das hier ist heiliger Boden.
Herr, wir beten auch, dass wir jetzt heiligen Boden betreten, weil du uns da dein Herz zeigst. Amen!
Psalm 22 – ich verbinde so viel mit diesem Psalm. Ich habe mich nicht wie Luther drei Tage in ein Zimmer eingeschlossen, nur mit Salz und Brot. Aber ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich diesen Psalm entdeckt habe.
Ich will euch an ein paar Entdeckungen teilhaben lassen, und ich finde es atemberaubend.
Stellt euch David vor, den Hirten oder den König, den Psalmdichter. Wie schreibt ihr diese erste Strophe auf? Wer von euch liest mal bitte nur die ersten sieben Verse betont und laut vor?
Der Vorleiter nach Nisbu erworben wurde, ein Psalm von David:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Du bist fern von meiner Rettung, von den Worten meines Flehens.
Mein Gott, ich rufe bei Tage, und du antwortest nicht,
und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.
Doch du bist heilig, denn du wohnst unter den Lobgesängen Israels.
Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du rettetest sie.
Zu dir schrieben sie um Hilfe und wurden gerettet,
sie vertrauten auf dich und wurden nicht zuschanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mann,
ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.
Was hier steht – und ich hoffe, ihr habt das alle schon mal am Stück gelesen – passt überhaupt nicht in die Erlebniswelt von David. Das hat er nie durchgemacht, was hier steht.
Dieser Psalm führt uns direkt nach Golgatha, und er steigt so steil ein: Mein Gott, mein Gott! – wie ein Aufschrei.
Und ich sage euch: Damals, als die Pilger, die Abertausenden in Jerusalem, ankamen, hatten sie ihr Passopfer dabei. Sie trugen ihre Sonntagskleidung und ihre besten Gewänder. Sie freuten sich auf das Fest in Jerusalem.
Plötzlich hörten sie diesen Schrei: „Elohim, Elohim, Lama Sabachtani.“ Das kannte jeder Jude. Es wäre so, als würde jetzt jemand hier anfangen zu rufen: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Das kennt man ja – das ist die Nationalhymne.
Als Jesus am Kreuz stöhnte: „Elui, Eloi, Lama Sabachthani“, wusste jeder Jude genau, was gemeint war. Er zitierte Psalm 22. Dieser Psalm beginnt auf merkwürdige Weise, mit den Worten: „Die Hirschkuh in der Morgenröte“ – was ist das denn? Viele überblättern diesen Vers. Doch in diesem Psalm ist alles bedeutungsvoll.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ So beginnt dieser Psalm. Er war Allgemeingut, die Juden kannten ihn auswendig. Man nimmt an, dass Jesus ihn am Kreuz vollständig gebetet hat.
Drei Verse daraus werden im Neuen Testament zitiert (Psalm 22; siehe auch Matthäus 27,46; Markus 15,34).
Gleich zu Beginn hören wir die Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es klingt, als würde sich jemand mit beiden Händen an seinen Gott festklammern und rufen: „Mein Gott, mein Gott, verlass mich doch nicht!“
In diesem Psalm begegnet uns viermal die Mutter, aber niemals der Vater. Wir finden einen Gott, der fern ist, der sich abgewandt hat. Trotzdem beginnt dieser Schrei mit der Bitte: „Mein Gott, mein Gott, sei nicht fern, verlass mich nicht, sei da!“
Ich wünschte, ich könnte das noch besser veranschaulichen. Es geht um Psalm 22. Eigentlich sagt dieser Psalm, dass hier zwei Menschen vollkommen innig verbunden sind: Vater und Sohn. So innig, dass sie alle Zeit eins waren. Jesus sagt in den Evangelien: „Mein Vater ist alle Zeit bei mir, weil ich stets das ihm Wohlgefällige tue.“ Das beschreibt das Leben von Jesus – voll und ganz Liebe.
Doch Psalm 22 zeigt, dass etwas auseinandergerissen wird. Gott wendet sich ab von seinem Sohn. Das ist die Botschaft dieses Psalms.
Der Psalm beginnt mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott“, und doch bleibt dieser Gott sein Gott. Dann begegnen wir merkwürdigen Bildern, wie dem des Hörnerbüffels. Was hat das zu bedeuten? Was ist das für ein Geheimnis?
Lesen wir weiter: Hier fühlt sich jemand wie ein Wurm...
Und dann Vers acht: Alle, die mich sehen, spotten über mich, reißen die Lippen auf und schütteln den Kopf. Sie sagen: „Vertraue auf den Herrn! Er wird ihn retten, der ihn befreit, wenn er Gefallen an ihm hat.“
Doch du bist es, der mich aus dem Mutterleib gezogen hat, der mich vertrauen ließ an den Brüsten meiner Mutter. Auf dich bin ich geworfen von Mutters Schoß an. Von meinem Mutterleib an bist du mein Gott.
Hier steht zum vierten Mal: Mein Gott, sei nicht fern von mir, denn Drangsal ist nahe, und kein Helfer ist da. Viele Stiere haben mich umgeben, gewaltige Stiere von Basern haben mich umringt. Sie haben ihr Maul gegen mich aufgesperrt wie ein reißender und brüllender Löwe.
Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und alle meine Gebeine haben sich zertrennt. Wie Wachs ist mein Herz geworden, es ist geschmolzen inmitten meiner Eingeweide. Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Tonscherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen.
Unter den Staub des Todes liegst du nicht.
Ich habe euch gestern schon erzählt: Ich war gestern noch auf einer Intensivstation bei Hans, der im Sterben liegt. Er hatte eine Darmoperation und kann seitdem nicht mehr essen und nicht mehr trinken. Er wird jetzt nur noch künstlich ernährt.
Während er erzählte, klebte seine Zunge am Gaumen, und ich konnte ihn nicht mehr verstehen. Ich gab ihm dann mit so einem Schnabelbecher einen kleinen Tropfen, damit er wieder die Zunge bewegen konnte. Schlucken kann er nicht; irgendwie klappt das nicht mehr. Aber er brauchte Feuchtigkeit im Mund.
Da konnte ich mir so vorstellen: Meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und trotzdem hat der Herr noch die Kraft, an diesem Kreuz Worte zu anderen zu sagen. Er hat die anderen im Blick.
Ich habe euch hinten an der Tafel eine SMS oder irgendeine WhatsApp-Nachricht geschrieben. Stell dir vor, du bekommst so eine Botschaft:
"Guten Tag, es ist schon so lange her, dass ich mich gemeldet habe. Bevor du jetzt traurig wirst, liest du es lieber noch mal."
Liest du es noch mal?
"Guten Tag, es ist schon so lange her, dass ich mich gemeldet habe. Bevor du jetzt traurig wirst, liest du es lieber noch mal."
Da ist noch ein Trennfehler drin. Und plötzlich denkst du: „Ey, da ist ja ein Chiffre drin.“ Da steht „Geliebte“, also die ersten Buchstaben. Ganz vorne sind die ersten Buchstaben „Geliebte“. Das war nur ein Baukasten mit diesen Buchstaben.
Eigentlich wollte er eine ganz andere Botschaft senden, aber das Mädchen war so blöd, hat es weggewischt oder nicht gemerkt und sich nicht darauf gemeldet. Er wollte ihr die Liebe gestehen, und sie hat es nicht bemerkt. Geliebte!
So ist es auch bei diesem Psalm. Ich habe so oft über diesen Psalm hinweg gelesen und dachte: „Komisch, Stiere von Basern, Büffel, sagt mir nichts.“ Aber jetzt möchte ich euch ein Chiffre zeigen, das sich in diesem Psalm versteckt.
Hebräer, Juden, die ihre Sprache beherrschen, sagen sofort: Der Ton ist abgehackt. Es sind gar keine vollständigen Sätze, sondern eher: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Fern von mir, von meinem Gestöhn.“ Es klingt wirklich wie ein hervorgepresstes Stöhnen, wie ein Seufzen.
„Mein Gott, ich rufe, du hörst nicht.“ Auch im Stil ist deutlich, dass das irgendwie ein Gestammel ist, ganz abgehackt. Jesus hat am Kreuz diesen Psalm gebetet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Wisst ihr, wie das letzte Wort in diesem Psalm heißt? Psalm 22, das letzte Wort. Getan – gibt es eine andere Übersetzung? Ja, wörtlich steht dort: „Denn er hat es vollbracht.“
Dieser Psalm beginnt mit dem Ausruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und er endet mit dem Wort „vollendet“, „vollbracht“, „getan“, „gemacht“, „tetelestai“ – zum Ziel gebracht.
Das ist die Spannweite von Psalm 22. Ich habe euch hier den Text mitgebracht, damit ihr ihn vor Augen habt.
Und Leute, wir haben einen Psalm, der tausend Jahre vor Christus von David verfasst wurde. Die Juden haben ihn schon Jahrhunderte lang gesungen, sie kennen ihn, doch sie merken nicht, was sie da singen. Ihnen fehlte der Lösungsbogen.
In der ersten Strophe wendet sich der Leidende an seinen Gott: "Mein Gott!" Das ist die erste Adresse.
In der zweiten Strophe behandelt er das umherstehende Volk, die Menschen um ihn herum. Er sagt: "Ich bin der Verachtete vom Volk." Sie sehen ihn, spotten über ihn. Er ist ihren Blicken preisgegeben, hängt nackt in der Mittagszeit vor den Stadttoren. Alle sehen ihn, alle gehen vorüber. Die Vorbeischreitenden, das Volk, sie sehen, spotten, verziehen die Lippen und schütteln den Kopf.
Dann folgt die dritte Strophe: "Stiere haben mich umgeben." Waren da Tiere? Wurde da Vieh getrieben? Was war das? Stiere von Basern oder Barschern, wie ein Löwe? Was bedeutet das? Ich habe bereits gesagt: Die Psalmen sind metaphorisch, poetisch, sie enthalten Bildsprache. Dort standen nicht tatsächlich Büffel ums Kreuz.
In der vierten Strophe heißt es: "Hunde haben mich umgeben." Eine Rotte von Übeltätern umzingelt mich. Diese waren es, die meine Hände und Füße durchgraben haben.
Merkst du, was hier geschieht? Diese Verse zeigen der Reihe nach, was unserem Herrn Jesus am tiefsten geschmerzt hat.
Das Erste war Gott, der Vater, der alle Zeit bei ihm war. Diese innigste Beziehung wurde auf einmal gekappt. Für ihn war das das Schlimmste, das Schrecklichste. Gott war nicht mehr da, er hatte sich abgewandt, war weggedreht und für ihn nicht mehr verfügbar. Das war das Grässlichste.
Dann war da Jesus. Er lebte drei Jahre unter dem Volk. Er hat Tausende gesättigt, Hunderte, wenn nicht sogar Tausende, geheilt. Er hat Menschen vom Tod auferweckt. Er ging umher, tat Gutes und heilte. Noch ein paar Tage vorher rief das Volk: Hosianna, da kommt der Retter! Hosianna! Sie breiteten ihre Kleider aus. Vielleicht waren noch Eselsabdrücke auf ihren T-Shirts.
Und jetzt stehen sie da und sagen: „Hä, warum hängt der jetzt da?“ Wenn Gott gefallen wäre, dann würde Gott ihn jetzt retten. Dann könnte er jetzt vom Kreuz steigen. Wisst ihr, was das Einzige ist, was diese Leute im Zug noch tun? Sie schütteln den Kopf.
Ich finde das so krass: Das Einzige, was ein Gekreuzigter überhaupt noch bewegen kann, ist den Kopf. Wenn man sieht, wie jemand am Kreuz hängt, wälzt und windet er sich die ganze Zeit mit rasenden Schmerzen. Es scheint so, als wäre das das Einzige, was das Volk noch fertigbrachte. Sie haben ihn noch nachgeäfft, nachgemacht. „Guck mal, wie er zuckt!“ Sie spotten über ihn, verziehen die Lippen und machen sich noch über ihn lustig.
Das macht das Volk. Das war für den Herrn das Schlimmste. Das hier war die zweite Stufe: das Volk, dem er nur Gutes getan hatte. Sie hatten kein Empfinden dafür.
Und dann kommt eine dritte Gruppe, vielleicht kann mal eine aufschlagen. Fünfter Mose 33,17 ist ein Segensspruch von Mose über einen Stamm, ich glaube über Joseph. Er sagt: Ihr werdet euch mal durchsetzen, ihr werdet die oberen Zehntausend, ihr werdet die Mächtigsten, wie ein Büffel, wie ein Stier.
Ihr müsst wissen: Büffel und Stiere waren damals die größten und stärksten bekannten Tiere in Israel, die Mächtigsten. Ich glaube, genau darum geht es hier.
Wer steht um das Kreuz? Die Obersten des Volkes, die Hohenpriester. Sie hatten Jesus immer mehr in die Enge getrieben. Sie suchten, wie sie ihn greifen könnten, suchten falsche Zeugen, schickten Verhaftungskommandos. Sie haben die ganze Sache initiiert, bis sie ihn endlich hatten, bis sie die Maus in der Falle hatten.
Diese Stiere haben ihn umringt, also förmlich in die Enge getrieben, bis sie ihn im Garten dann endlich kriegten, nachts. Sie haben ihr Maul aufgesperrt wie ein Löwe, ihn in Gerichtsverhandlungen gezerrt und gezeigt, was sie an Macht haben. Aber sie hatten nicht die Macht, ihn zu töten. Wer hatte diese Macht? Rom. Und das ist hier die vierte Gruppe.
Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt. Matthäus 15,26: Er antwortete und sprach: Es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen.
Moment mal, steht hier jetzt nicht vor einer Dame? Es ist nicht recht, das Brot von den Kindern zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen? Was meint er damit? Das ist ja eine Beleidigung, oder?
Was waren in den Augen der Juden die Hunde? Die Heiden, alle, die mit Gott keinen Vertrag haben, galten als die Hunde. Hier in dem Psalm lesen wir: Hunde haben ihn umringt, eine Rotte von Übeltätern hat ihn umzingelt. Und dann steht hier: Sie waren es, sie haben meine Hände und Füße durchgraben.
Wer, wer schlug dem Herrn Jesus die Nägel in die Hände? Und es endet damit: Rette mich aus meiner Seele, von dem Schwert. Die Römer hatten das Schwertrecht, nur sie durften Todesurteile vollstrecken. Meine einzige aus des Hundes Tatze.
Übrigens, die Römer nannten die Geißel genau so: die Tatze. Die Römer unter Pilatus’ Kommando geißelten ihn, und sie schlugen ihn, sie peitschten ihn aus. Und alles passt. Ich bin komplett geplättet, wie kann das sein?
Das Volk, die Obersten, die Soldaten. Und auch in dieser Staffelung das, was dem Herrn am nächsten war: Sie. Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun, während sie mir die Nägel hier reintreiben. Sie haben keine Ahnung, was hier läuft. Sie erfüllen gerade die Schrift, aber sie merken es gar nicht.
Die haben schon eine sehr große Verantwortung, die Obersten des Volkes. Sie haben es aus Neid getan, aus Eifersucht. Aber hier, das Volk, dem ich doch jetzt drei Jahre lang begegnet bin mit ausgebreiteten Armen: Warum spotten sie noch? Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?
Diese vier Gruppen finden wir im Psalm 22, und ich finde das unfassbar – einfach hammermäßig! Mehrmals geht es um Rettung, und mehrmals um Fernbleiben, um Fernsein, um Abstand nehmen. Fern von meiner Rettung – die Worte meines Gestöhns: „Gott, sei nicht fern! Du aber, Herr, sei nicht fern!“
Warum ist da diese maximale Distanz? Was ist passiert? „Sei nicht fern!“ Dreimal wird das betont: fern!
Und ich bitte euch, wenn ihr die Bibel lest, macht es mit Stiften! Markiert euch Dinge, die auffällig sind, die mehrfach auftauchen. Das hat alles irgendwie eine Bedeutung. In Gottes Wort ist nichts beiläufig oder zufällig. Sucht da drin!
Dann sagt der Herr: „Warum rettest du mich nicht?“ Es war doch zu allen Zeiten so, wenn jemand nach dir rief, du hast gerettet. Zu dir schrien sie um Hilfe, sie wurden gerettet. Ich schreie – und nichts passiert. Ich bin wie ein Wurm.
Und dann legt das Volk noch eine Schippe drauf: „Ja, wenn Gott gefallen hat, soll doch jemand ihn jetzt retten!“
Und dann hängt da Jesus, Jeschua, der Retter, die Rettung, und ist rettungslos verloren. Von ihm ist die Rettung fern, kein Helfer ist da. „Eile mir zu Hilfe, rette meine Seele, meine einzige, vom Schwert, vom Tod, rette mich!“
Was passiert? Nichts.
So ungefähr könnte ich mir die Szene vorstellen: Jerusalem, ein riesiges Gelände. Ein großer Teil des Stadtgebiets war das Tempelgelände. Zum Passafest platzte die Stadt aus allen Nähten. Menschen kamen aus allen Winden, aus allen Himmelsrichtungen. Nicht nur aus Israel, sondern auch aus der Diaspora, aus anderen Ländern reisten Juden nach Jerusalem zum Fest.
In der Stadt gab es keine freien Zimmer mehr. Alles war voller Pilger. Sie zogen in Pilgergruppen durch die Stadt, begleitet von Gesängen. Man sang die Hallelpsalmen, die Jubelpsalmen, auf dem Weg zum Passa.
Auch Jesus sang an seinem letzten Abend mit seinen Jüngern das Hallel. Diese Hallelpsalmen sind die Stufenlieder, die man am Passa sang. Stell dir vor, Tausende strömen durch die Straßen in Richtung Tempel, aus allen Richtungen, und sie singen.
In diesem Psalm heißt es: „Gott, du wohnst unter den Lobgesängen Israels.“ Alle fühlten sich ganz fromm, während sie hier feierten. Sie hatten festliche Gefühle. Doch sie sahen nicht, dass hier die Musik spielte, dass hier das zentrale Ereignis der Weltgeschichte stattfand.
Vor den Stadttoren, vor der Mauer, da hing der Herr Jesus zwischen zwei Verbrechern. „Du wohnst unter den Lobgesängen Israels, du bist heilig, unantastbar.“ Aber ich? Ich bin das krasse Gegenteil. Ich bin ein Wurm.
Warum ein Wurm? Der Wurm ist die niedrigste Kreatur, ein Primitivling, ein Nichtsnutz. Man könnte ihn einfach als Wurm bezeichnen. Er ist wertlos und wehrlos, hat keine Waffen und nichts, womit er sich verteidigen könnte. Man kann ihn einfach zertreten.
So heißt es auch in diesem Psalm: „In den Staub des Todes legst du mich.“ Das ist ein krasser Gegensatz zu den Lobgesängen Israels. Ich bin ein Wurm, in den Dreck getreten, ich bin nichts und zu nichts gemacht.
Das hier ist auch unfassbar. Warum ruft Jesus am Kreuz nicht: „Ihr Jünger, wo seid ihr? Warum habt ihr mich im Gehen verlassen?“
Er sagt nicht: „Johannes, ich sehe dich doch, komm her! Petrus, hol dir dein Schwert, rette mich!“ Auch nicht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Warum sagt er nicht: „Maria, Maria, warum hast du mich geboren? Ich verfluche den Tag meiner Geburt!“ Nein, alles, was ihm widerfährt, bringt er in Verbindung mit seinem Gott.
Man könnte sagen: „Du bist es, der meine Hebamme war, du bist es, der mich aus dem Mutterleib gezogen hat, der mir Vertrauen eingeflößt hat an meiner Mutterbrust.“
Und dann sagt er auch nicht: „Ihr Römer, ihr Schufte, warum bringt ihr mich um?“ Stattdessen sagt er: „In den Staub des Todes legst du mich.“
Alles, was ihm widerfährt, widerfährt ihm von Gott. Und ich glaube, das ist eine wichtige Lebenshaltung für uns alle: zu erkennen, dass, was immer passiert, Gott seine Hand im Spiel hat. Gott weiß doch, was gerade geschieht.
Dieser Psalm ist ein beeindruckendes Drehbuch für Golgatha. So unglaublich das auch klingt, ich habe hier ein Zitat von Benedikt Peters.
Übrigens, kennt jemand von euch diese Reihe? Diese türkisen Bibelkommentare sind ein Muss, wenn man die Bibel mit Gewinn lesen möchte. Wenn ihr Schätze aus den Generationen vor euch heben wollt, dann besorgt euch so etwas. Es ist ein Genuss, einen Kommentar zu einem Psalm zu lesen.
Benedikt Peters kann Hebräisch, geht tief in den Text hinein und zitiert andere Gelehrte aus allen Jahrhunderten. Hier schreibt er zum Beispiel: „Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben.“ Das seltene hebräische Wort, das hier steht, „Karach“, muss man mit „durchgraben“ oder „durchbohren“ übersetzen. Auf Englisch heißt es „pierced“.
Dass man es so verstehen muss, wussten schon die jüdischen Übersetzer des griechischen Alten Testaments. Sie haben für dieses Wort im Griechischen das Wort „durchgraben“ eingesetzt, in der Septuaginta. Das war noch im zweiten Jahrhundert vor Christus, also in der alten griechischen Übersetzung der Bibel. Dort steht: „Sie haben meine Hände und Füße durchgraben“ beziehungsweise „durchbohrt“.
Erst die Masoreten haben es in nachchristlicher Zeit, im achten Jahrhundert, so vokalisiert, dass man nicht mehr „durchbohren“, sondern stattdessen „binden“ oder etwas Ähnliches verstehen muss. Dahinter steckt natürlich Absicht. Es sollte dieser zu deutliche Hinweis auf den Kreuzestod des Messias, Jesus, verhüllt werden.
Dieser Psalm ist ein eindeutiger Hinweis auf Golgatha. Dort heißt es: „Sie haben meine Hände und Füße durchbohrt.“
Vorhin habe ich bereits gesagt, dass wir in Jesaja 53 lesen, dass er misshandelt wurde, seinen Mund nicht auftat und sein Blut vergoss. Das mag zwar auch bei manchen Sterbenden, vielen Unfallopfern oder Gewaltopfern vorkommen.
Doch im Psalm 22 finden sich so präzise Details, die nur am Kreuz geschehen können. Zum Beispiel steht dort: „Alle meine Gebeine könnte ich zählen“ und in Vers 15: „Wie Wasser bin ich hingeschüttet, alle meine Gebeine haben sich zertrennt.“
Wenn ein Gekreuzigter am Kreuz hängt, werden nach und nach die Glieder ausgerenkt. Die Menschen, die den Gekreuzigten sehen, schütteln ihre Köpfe. Die Römer wiederum schütteln währenddessen ihre Würfelbecher.
Stellen Sie sich vor, ein Sterbender ist noch ganz bei Bewusstsein und sieht zu, wie zu seinen Füßen seine letzten Habseligkeiten bereits verteilt werden, wie sie herumflattern. Das wäre vergleichbar mit einer Unfallstelle: Dort liegt ein Wrack im Straßengraben. Jemand geht hin, sieht, dass noch jemand darin liegt, entdeckt eine Apple Watch und nimmt sie einfach mit. Danach geht er weiter.
Dieser Psalm ist noch viel eindrucksvoller, denn er hat eine zweite Hälfte. Die ersten vier Strophen zeigen uns der Reihe nach, was dem Herrn ins Herz geschnitten hat: die Verlassenheit von Gott, das Volk, das nur Gutes von ihm empfangen hat, die Obersten des Volkes und die Heiden, die Römer.
Doch dieser Psalm, Psalm 22, hat einen Wendepunkt. An dieser Stelle ändert sich die ganze Stimmung komplett. Wo genau ist dieser Punkt? An welcher Stelle klingt der Psalm plötzlich ganz anders? Ist es Vers 20? Ja, der Wendepunkt ist tatsächlich genau bei Vers 22.
Dort heißt es nämlich: „Rette mich aus dem Rachen des Löwen, von den Hörnern der Büffel!“ Du hast mich erhört. Plötzlich kommt Zuversicht hinein. Du hast mich erhört! Die ganze Zeit zuvor heißt es: Warum hörst du nicht? Warum bist du fern? Ich rufe, doch du antwortest nicht. Und plötzlich: Ja, du hast mich erhört.
Vers 22 markiert diesen Wendepunkt sehr deutlich. Ab hier bekommt der Psalm einen ganz anderen Klang. Er geht nun so weiter: „Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern, inmitten der Versammlung will ich dich loben.“
Ihr, die den Herrn fürchtet, lobt ihn als seine Nachkommen. Schaut noch einmal in den Lösungsbogen. Plötzlich geht es nicht mehr um das Fernsein und das Bitten „Rette mich“, sondern es kommt eine ganz andere Betonung: Loben, loben, Lobgesang, loben – viermal.
Die Folge von Psalm 22 ist: Wir sollen Psalmen singen, wir sollen Gott loben und ihn verherrlichen. Daraus ergibt sich auch die Aufforderung zum Verkündigen, zum Weitersagen. Das müssen alle wissen.
Man kann sagen, die erste Hälfte – oder eigentlich zwei Drittel – des Textumfangs beschreibt die Tat von Golgatha. Das hintere Drittel zeigt das Resultat von Golgatha. Was kam dabei heraus? Die ersten beiden Drittel entsprechen Karfreitag, das hintere Drittel ist Ostern.
Ist euch schon einmal aufgefallen, dass der Herr Jesus seine Jünger nie „Brüder“ genannt hat? Er nannte sie „Kinder“ oder sagte: „Habt ihr nichts zu essen?“ oder „Ihr schwerfälligen Menschen“. Er sagte auch: „Ich habe euch Freunde genannt.“ Ja, er hat sie nie Brüder genannt.
Wo nennt er sie zum ersten Mal Brüder? In Johannes 20, Vers 17. Ich schlage das mal auf: „Ich will mich nicht ansehen, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“
Merkt ihr was? Zu Beginn des Psalms schreit Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Alle, die zu dir schrien, wurden gerettet. Wann immer im Alten Testament die Väter zu dir riefen, hast du sie doch gerettet. Sogar eine Hagar hast du gerettet, als sie Durst hatte und du ihr diese Quelle gezeigt hast.
„Mein Gott, warum bist du fern? Warum hörst du mich nicht?“ Und hier kommt die Antwort: Die Tat von Golgatha war das Resultat von Golgatha. Jetzt, nach der Auferstehung, kann er uns Brüder und Schwestern nennen.
„Ich kann euch jetzt zu meinem Gott bringen, zu meinem Vater. Es ist jetzt unser Gott, unser Vater.“ Versteht ihr? Das ist genau die Aussage in Johannes. „Ich fahre jetzt auf zu meinem Vater, aber jetzt sagt den Brüdern: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“
Ab jetzt sind wir Familie. Ab jetzt. Das ist die Folge von Golgatha.
So ähnlich wie in den ersten beiden Dritteln steht Jesus in der Mitte – als der Geschmähte, als der Verpönte, als der Angespuckte, den man nachgeäfft hat. Man legte ihm noch am Kreuz eine Schippe drauf, mit Hohn und Spott.
„Sie haben mein Herz gebrochen“, sagt Jesus, weil das Volk nicht einmal Mitempfinden zeigt. Er wartet auf Mitleid, auf einen Tröster – doch da ist keiner. Das ist der Anfang.
Dann kippt der Psalm in Vers 22: „Du hast mich erhört, jetzt will ich deinen Namen verkündigen, deinen Namen loben.“ Von da an richtet sich das Ganze nach außen. Der Herr ist in der Mitte. „Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern, sie sollen das Lob verkündigen, und zwar in Intervallen bis ans Ende der Erde.“
Wir sehen hier in Psalm 22: „Ich will meinen Brüdern deinen Namen verkünden, inmitten der Gemeinde will ich dich loben.“ Bemerkenswerterweise waren alle zwölf Jünger Juden, ebenso die hundertzwanzig in der Urgemeinde. Alle waren Juden, darunter auch seine leiblichen Brüder oder Israels Brüder. Deshalb steht hier auch: „Alle, die den Herrn fürchten“, Vers 24, „lobt ihr alle vom Samen Jakobs.“
Zuerst waren es nur Juden. Dann aber öffnet Gott den Kreis und sagt: „Hey, geht hin in alle Welt, zu allen Nationen.“ Petrus hat diesen Sprung fast nicht geschafft, als er zu Cornelius gesandt wurde.
Erst dann lesen wir in Vers 26: „Von dir soll mein Loblied handeln in der großen Gemeinde.“ Das ist erst der zweite Zug in der Apostelgeschichte. Anfangs kamen nur Juden zum Glauben, zum Beispiel die 5000, die sich bekehrt hatten, und die dazu kamen. Gott tat eine Menge hinzu.
Aber dann kommt dieser Sprung: „So und jetzt geht bis ans Ende der Welt, geht über Samaria hinaus bis an die Enden der Erde – eine große Gemeinde“, Vers 26.
Damit ist es aber noch nicht zu Ende. In Vers 28 steht: „Daran werden gedenken und zum Herrn umkehren alle, Enden der Erde werden vor ihm anbeten.“ Das ist die Phase, in der wir gerade sind: Das Evangelium läuft bis an die Enden der Erde, bis es alle gehört haben.
Und auch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, sondern es heißt in Vers 31: „Ihm auch noch Nachkommenschaft dienen, die noch gar nicht geboren ist, sie werden kommen.“ Vers 32: „Dem Volk, das noch geboren werden soll, dass er es vollbracht hat.“
Diese Tat von Golgatha hat eine Auswirkung, sie sendet Schockwellen bis ans Ende der Erde, bis ans Ende der Zeit.
Ein krasser Psalm, Psalm 22.