Wir haben also gesehen, dass jeder Mensch ein Glaubenssystem hat – ein bewusstes, aber zum größten Teil ein unbewusstes Glaubenssystem.
Das Wichtige ist nun, dass wir das System des christlichen Glaubens, das man wirklich auch in Worte, in Argumente, in Dogmen und Leitsätze zusammenfassen kann, der säkularen Religiosität gegenüberstellen. Auch diese muss Antworten auf genau dieselben grundlegenden Fragen formulieren.
Diese Antworten sind jedoch in den seltensten Fällen direkt formuliert. Vielmehr sind sie gelebte Antworten. Wir können gar nicht anders, als durch unser Leben auf die grundsätzlichen Fragen unseres Daseins zu antworten.
Ich bin gebeten worden, diese sieben Fragen ganz kurz auszuführen.
Die grundlegendste Frage ist die nach dem Sein und nach Gott. Ein säkularer Mensch geht davon aus, dass es keinen persönlich unendlichen Gott gibt. Zumindest ist er sich nicht sicher oder vermutet, dass es vielleicht eine unpersönliche Kraft irgendwo gibt, die nichts mit unserem Leben zu tun hat.
Diese Annahme hat einen tiefen Einfluss auf jeden Moment unseres Alltags. Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass unser gesamtes Leben ohne eine übergeordnete Instanz eines persönlichen, unendlichen Gottes stattfindet.
Ganz wichtig ist jedoch zu wissen, dass wir nie ohne Gott auskommen können. Wir sind auf ihn geschaffen, das heißt: Jeder Mensch weiß intuitiv in sich selbst, dass er einen Empfänger für Gott hat. Diesen Empfänger muss er jedoch häufig niederdrücken, umformulieren oder umdeuten.
Das bedeutet, dass der Mensch im Leben immer einen Ersatz für Gott braucht. Er ist auf einen Ersatzgott, auf einen Götzen, ausgerichtet. Dieser Götze ist jeweils eine Dimension der Schöpfung. Das kann der Mensch selbst sein, ein Gegenüber oder auch ein anderer Gegenstand aus Gottes geschaffener Welt. Zum Beispiel können Tiere, Maschinen oder sogar Ideen zu Göttern werden.
Die erste Frage lautet also: Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es einen Ersatzgott. Jeder Mensch, auch der Säkulare, verfügt über einen Ersatzgott.
Zweite Frage: Die Frage nach dem Menschsein, nach der Identität, nach der Anthropologie.
Das ist die Frage: Wer bin ich? Was macht meine Identität aus?
Der säkulare Mensch geht stark davon aus, dass er seine Identität nicht von einer übergeordneten Instanz erhalten hat. Vielmehr betrachtet er Identität als eine soziale Konstruktion beziehungsweise als soziale Konditionierung. Das bedeutet, sie wird stark von der Umgebung beeinflusst.
Der Mensch ist demnach aufgefordert, sich ständig, immer wieder oder in regelmäßigen Abständen neu zu definieren. Er muss seine Identität in verschiedenen Lebensbereichen immer wieder neu erfinden.
Heute geht diese Entwicklung so weit, dass wir beginnen, den Körper von der Seele abzutrennen – oder es zumindest versuchen. Dabei meinen wir, dass die Seele dem Körper diktiert, welche Form er in der gegenwärtigen Identität annehmen soll.
Das kann so weit führen, dass Menschen ihr Geschlecht umwandeln lassen oder grobe Eingriffe an ihrem Körper vornehmen, weil sie mit der Art, in der sie geschaffen sind, nicht zufrieden sind.
Die zweite Frage, die Frage nach dem Menschen, nach unserer Identität, ist also eine ganz wichtige Frage.
Dritte Frage: Was ist verkehrt an dieser Welt? Jeder Mensch, selbst der hinterletzte, gibt zu, dass etwas nicht stimmt. Etwas entspricht nicht einem inneren Ideal, etwas weicht davon ab, wie es sein sollte.
Interessant ist jedoch, wie diese Abweichung beschrieben wird. Die biblische, christlich-theistische Erklärung nennt sie Sünde. Dabei handelt es sich um eine grundsätzliche Korruption, eine grundlegende Entfremdung und Schuldbeladenheit, in der jeder Mensch von Anfang an als Zustand geboren wird. Aus diesem Zustand heraus begeht er auch sündige Taten.
Der säkulare Mensch hat den Begriff der Sünde abgeschafft oder muss ihn umdeuten. In der Regel versteht er Sünde als eine Projektion auf seine Umgebung. Das bedeutet, er nimmt eine Redefinition der Sünde vor. Was auch immer ihm als Störung begegnet, projiziert er meist in sein Umfeld: auf den Ehepartner, die Kinder, den Vorgesetzten, den Nachbarn, den bösen Staat oder die bösen Banken.
Das heißt, der säkulare Mensch muss Sünde, Störung und das Verkehrte an dieser Welt neu verorten.
Vierte Frage: Was ist die Lösung für dieses Problem?
Parallel zu der Frage, was verkehrt ist und was der Soll-Zustand sein sollte, muss immer auch eine Antwort darauf gefunden werden, wie sich die Abweichung wiederherstellen lässt.
Sehr oft wird als Lösung für das Problem ein sogenannter Götterwechsel angestrebt. Das ist sehr typisch, zum Beispiel wenn etwas an der Arbeit stört. Dann wechselt man die Arbeitsstelle oder den Beruf. Oder man wechselt den Götzen im Sinne davon, dass die Arbeit nicht mehr den ersten Platz einnimmt, sondern zum Beispiel die Freizeit oder andere Dinge in den Vordergrund rücken.
Das heißt, es gibt eine immanente, also eine innerweltliche Lösung für diese Probleme. Auch bei übergeordneten Problemen beginnen Menschen sich plötzlich für die Umwelt zu interessieren. Sie entwickeln eine Leidenschaft, um zum Beispiel Tiere zu schützen, weil das als Ausweg aus ihren Problemen und somit als Lösung zu sein scheint.
Fünfte Frage: Wozu gehöre ich?
Diese Frage betrifft die Zugehörigkeit, insbesondere die gesellschaftliche. Die meisten Menschen, oder fast alle, haben keine aktive Verbindung mehr zur Kirche als dem Leib Christi und ihrem örtlichen Ausdruck. Das bedeutet, sie müssen anderen Orten der Zugehörigkeit angehören.
Sehr oft sind das Vereine, die früher vor allem solche Funktionen und gesellschaftlichen Auffangbecken erfüllten. Heute sind es zusätzlich oder sogar zunehmend Gefäße im Internet. Das heißt, es handelt sich um virtuelle Gemeinschaften, bei denen kein realer Kontakt mehr stattfindet.
Ich glaube, dass diese Gemeinschaften – Internet-Kohorten, Verbände, Tribes und Stämme – einen Ersatz für die Gemeinschaft der Kirche darstellen. Ich habe noch etwas vergessen: Auch die Familie ist hier wichtig.
Ganz wesentlich sind zudem die therapeutischen Angebote. Therapie wird zum Ersatz für die Korrektur, die Belehrung und den Trost, die eigentlich das Wort Gottes durch die Predigten in der Gemeinde vermitteln sollte.
Sechste Frage ist: Wie können wir Bescheid wissen? Das ist die Frage nach dem Wissen – woher beziehen wir das, was wir wissen?
Sehr viele Menschen treffe ich an, und das ist der säkulare Hauptfokus. Sie treffen eine eklektische Auswahl aus ganz vielen Informationen. Diese Informationen werden durch einen Filter geleitet, der ihnen oft gar nicht bewusst ist. Sie speisen ihre Überzeugungen und Filtereinstellungen, wie gesagt, durch die Medien.
Oftmals können sie die Quelle ihrer Überzeugungen nicht mehr nennen. Sie wissen nicht mehr, woher diese stammen – ob von den Eltern, von Gleichaltrigen, von den Medien, von der Schule oder von irgendwo anders.
Eine ganz wichtige Frage ist: Wie können wir Bescheid wissen? Woher stammen unsere Quellen und wie zuverlässig sind diese Quellen?
Die siebte Frage lautet: Woher können wir wissen, was wahr ist? Ich übersetze diese Frage mit: Was passt mir?
Das ist die höchste Instanz – der eigene Verstand, der Thron der Vernunft, der Thron des eigenen Ichs, vor dem sich alles verbeugen muss. Jeder Mensch nimmt Maß, oder zumindest die meisten säkularen Menschen tun das, an sich selbst oder an anderen Menschen. Daraus definieren sie wechselnd, was für sie gerade Wahrheit darstellt.
Wahrheit gibt es im zweifachen Sinne. Zum einen sind da die Naturgesetze, an denen wir kaum zweifeln. Sie gehören zum faktischen Bereich unseres Lebens. Sobald sie jedoch den ethischen Bereich betreffen, wie zum Beispiel Fragen nach Beziehungen, deren Auflösung, Scheidung, Familie, Kinder, Unterordnung oder Eltern, kommen Relativierungen ins Spiel.
In diesen Bereichen definiert sich jeder seine eigene Vorliebe. Diese Vorlieben können sich sehr schnell ändern. Hier spricht man von ethischem Relativismus. Der säkulare Mensch orientiert sich an dem, was gerade seine Vorliebe ist.
Jeder, der behauptet, es gebe im ethischen Bereich absolute Vorgaben im Sinne einer übergeordneten moralischen Instanz, gilt als intolerant.
Das sind diese sieben Fragen. Ich wiederhole sie noch einmal:
Woran glaube ich? Wofür würde ich mein letztes Hemd geben?
Die zweite Frage ist ganz wichtig: Wer bin ich? Was macht meine Identität aus?
Die dritte Frage lautet: Was ist verkehrt in dieser Welt?
Die vierte Frage beschäftigt sich damit, wie ich eine Lösung für diese Probleme finden kann. Wie kommt es zur Wiederherstellung?
Dann folgt die Frage: Wozu gehöre ich? Diese Frage betrifft die soziale Zugehörigkeit und die Information – worüber muss ich Bescheid wissen?
Und die letzte, siebte Frage ist: Was passt mir?
Diese sieben Fragen habe ich so formuliert, dass wir sie jederzeit im Gespräch mit einem säkularen Menschen einsetzen können. Dabei sollen wir liebevoll, aber auch klar sein und durch Rückfragen die Filtereinstellungen des Gegenübers erklären lassen.