Heute Morgen möchten wir uns mit dem Thema Bibelauslegung beschäftigen. Es geht darum: Wie sollen wir eigentlich die Bibel auslegen? Jeder, der die Bibel liest, legt sie automatisch für sich oder für andere aus. Die meisten Bibelleser machen sich jedoch keine Rechenschaft darüber, wie sie das eigentlich tun.
Wir wollen heute Morgen darüber nachdenken, was die Bibel selbst zum Thema Auslegung sagt und wie das überhaupt funktioniert – insbesondere in der Sprache. Wenn wir mit jemandem sprechen, sind wir ständig damit beschäftigt, das zu verstehen und zu deuten, was der andere sagt. Dabei kommt es natürlich auch oft zu Missverständnissen. Das heißt, wir haben dann falsch ausgelegt.
Auch im Alltag sind wir also ständig mit Auslegung beschäftigt, ganz unabhängig von der Bibel. Aber wer macht sich bewusst Gedanken darüber, wie er das, was andere sagen oder schreiben, auslegt und entschlüsselt? Dabei folgen wir alle bestimmten Prinzipien. Zum Teil sind diese Prinzipien falsch, und das führt zu Missverständnissen.
Uns geht es heute nicht um Hermeneutik im allgemeinen Sinn. Hermeneutik ist die Lehre der Auslegung. Gerade in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat man sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Aber wir müssen fragen: Wie verhält es sich bei der Auslegung der Bibel?
Die Bibel als Gottes Wort und ihre Inspiration
Als Erstes müssen wir uns natürlich fragen: Was ist die Bibel eigentlich?
Die Bibel ist nach ihren eigenen Aussagen Gottes Wort, also Gottes Offenbarung in schriftlicher Form. 2. Timotheus 3,16 bezeugt dies. Dabei ist zu beachten: Paulus spricht in 2. Timotheus 3,14 über neutestamentliche Zeugen, von denen Timotheus gelernt hat. In Vers 15 spricht er von den Schriften des Alten Testaments, die Timotheus von Kind auf kennengelernt hat.
Dann fasst Paulus in Vers 16 alle Schriften zusammen, also die Schriften des Alten und des Neuen Testaments: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig geschickt.“
Der Ausdruck, der bei mir mit „eingegeben“ übersetzt ist, kann auch mit „inspiriert“ übersetzt werden. Im Griechischen lautet das Wort Theopneustos, was wörtlich „Gott gehaucht“ bedeutet. Alle Schrift ist also „Gott gehaucht“.
Was bedeutet das? Wenn ich spreche, dann ist mein Luftkanal von den Lungen über den Hals bis in den Rachenraum eine ganz wichtige Angelegenheit. Ohne den Hauch geht es nicht. Alles, was ich spreche, ist von mir gehaucht.
Nun sagt dieses Wort, dass alle Schrift, also die Bibel, altes und neues Testament, von Gott gehaucht ist. Das will sagen: Gott spricht direkt durch die Schrift. Das sagt mehr aus, als wenn wir sagen, die Bibelschreiber waren von Gott inspiriert.
Das stimmt natürlich und wird in 2. Petrus 1,21 erwähnt. Aber das geht viel weiter. Hier steht nicht, die Bibelschreiber sind inspiriert, sondern die Schrift, also das Geschriebene, ist inspiriert.
Das geht noch weiter, denn man könnte denken, die Bibelschreiber hatten göttliche Offenbarungen, die sie dann aufgeschrieben haben. Aber bei diesem Prozess des Aufschreibens könnten auch eigene Dinge hineingekommen sein und Fehler geschehen sein.
Hier aber sagt das Selbstzeugnis der Bibel, dass alle Schrift eben Gott gehaucht ist. Das Geschriebene selbst ist Gottes direkte Rede.
Weiter bezeugt die Bibel von sich selbst, dass sie absolut zuverlässig und unfehlbar ist. Psalm 19,8-11 beschreibt das sehr deutlich. Ich habe das in der Fußnote bereits ausgedruckt, diese wichtigen Wörter: Die Schrift ist vollkommen zuverlässig und richtig.
Im Psalm 12,7 heißt es sogar, dass die Bibel wie Silber ist, „in irdenem Schmelztiegel siebenmal gereinigt“, also siebenmal den Entschlackungsprozess durchlaufen hat. Das soll ausdrücken, dass es überhaupt keine Schlacken im biblischen Text gibt.
Weiter bezeugt die Bibel, dass auch der einzelne Buchstabe feststeht. Der Herr Jesus sagt in der Bergpredigt, Matthäus 5,17: „Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch, bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.“
Das Jota ist im Hebräischen der kleinste Buchstabe, und das Strichlein, das Hörnlein wörtlich, bezeichnet kleine Bestandteile der hebräischen Buchstaben, die ähnlich aussehende Buchstaben voneinander unterscheiden.
Wer kein Hebräisch lesen kann, ist überrascht, wie viele Buchstaben sich nur durch ganz winzige Strichlein unterscheiden. Zum Beispiel sind R und D fast gleich, oder B und K, die sich nur durch ein kleines Strichlein unterscheiden.
Der Herr nimmt Bezug auf diese Hörnchen und sagt also, dass nicht nur kein Jota, sondern auch kein Strichlein von dem Gesetz vergehen soll.
Dieses Selbstzeugnis der Bibel nehmen wir als erlöste Menschen an. Ich erkläre heute nicht, wie ich einem Nichtchristen überzeugend darlegen kann, dass dieses Selbstzeugnis auch die Wahrheit ist.
Wir gehen heute sowieso davon aus, dass die Bibel Gottes Wort ist und dass ihre Aussagen stimmen. Es ist aber wichtig zu sehen, dass die Bibel das von sich selbst bezeugt.
Wenn ich das so vor mir habe und mit dieser Einstellung an die Bibel herangehe, dann gibt mir dieses Wissen Geduld, bei Verständnisschwierigkeiten auf Lösungen zu warten und nicht in Ehrfurchtslosigkeit der Bibel Irrtümer zu unterstellen.
Das ist ganz wichtig. Ich stelle meine Intelligenz unter die Weisheit Gottes in seinem Wort. Wenn ich Dinge nicht zusammenkriege, dann sage ich mir: Gut, ich bringe es nicht zusammen, aber Gott weiß schon wie.
Das ist also eine ganz wichtige Voraussetzung, wenn wir als Christen an die Bibel herangehen. Natürlich kann ich das von einem Nichtchristen nicht erwarten. Der muss zuerst zu dieser Überzeugung kommen.
Aber das ist nicht das Thema heute. Das habe ich anderswo auch schon behandelt.
Die Bedeutung der Urtexte und Übersetzungen
Die Bibel wurde in den Sprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch inspiriert. Diese Sprachen bilden den Urtext. Letzte Genauigkeit ist daher nur im Grundtext zu suchen. Wenn bei der Auslegung Schwierigkeiten und Fragen auftauchen, wie ein bestimmter Text zu verstehen ist, dann ist die letzte Autorität nicht irgendeine deutsche oder englische Bibelübersetzung oder eine andere Sprachfassung. Auch nicht die Lutherübersetzung von 1545. Vielmehr ist der Urtext, also der Grundtext, die letzte Instanz, bei der wir uns informieren müssen.
Ein drittes Prinzip ist: Wenn der Urtext nach seinem eigenen Zeugnis unfehlbar ist, bedeutet das nicht, dass auch die Abschriften und Übersetzungen unfehlbar sind. Beim Abschreiben sind Fehler passiert, und auch bei den Übersetzungen können Fehler auftreten. Übersetzungen sind daher immer nur eine Annäherung an den Grundtext. Dennoch sollte beim Übersetzen so viel Mühe wie möglich aufgewendet werden, um dem Grundtext möglichst nahe zu kommen und nicht Eigenes hineinzulegen.
Die besten Grundtextausgaben für das Alte Testament sind der masoretische Text. Dieser ist veröffentlicht in der Biblia Hebraica Stuttgartensia, vierte korrigierte Auflage, Stuttgart 1990, wie in der Fußnote angegeben. Diese Ausgabe gilt als Standardgrundlage für die Bibelübersetzungen.
Beim Neuen Testament gibt es große Diskussionen darüber, welche Textausgabe des griechischen Neuen Testaments die beste ist. Die besten Argumente sprechen für den Mehrheitstext (Majority Text). In der Fußnote fünf habe ich die neueste und beste Ausgabe davon angegeben: Der Text von Robinson und Pierpoint, „The New Testament in the Original Greek According to the Byzantine Majority Textform“. Dort finden Sie auch eine ausführliche Begründung, warum aus methodologischen, also wissenschaftlichen Gründen der Mehrheitstext der Ausgabe von Nestle-Aland vorzuziehen ist.
Außerdem verweise ich auf eine ganz neue Arbeit von Robinson. Diese ist eine Zusammenfassung einer Konferenz, die im vergangenen Jahr in den USA stattfand. Es handelte sich um ein Symposium über das Neue Testament. Die Argumente darin sind schlicht umwerfend. Die meisten Bibelübersetzer, die auf den Nestle-Aland-Text schwören – das gilt besonders für den deutschsprachigen Raum, wo die modernen Übersetzungen meist darauf aufgebaut sind – kennen diese Argumente im Allgemeinen gar nicht. Sie sind also tatsächlich verblüffend.
Das ist jedoch nicht das Thema heute Morgen, deshalb gehe ich nicht weiter darauf ein. Ich habe anderswo bereits darüber gesprochen, und es wird auch bald schriftlich etwas dazu veröffentlicht. Zusammenfassend gilt: Der Grundtext ist die Referenz.
Die Rolle der menschlichen Sprachen bei der Übermittlung des Wortes Gottes
Nun ein weiterer, vierter Punkt: Die Bibel ist in menschlichen Sprachen aufgeschrieben. Dabei müssen wir jedoch bedenken, dass menschliche Sprachen Gottes Werk sind. Nach 1. Mose 2 und 11, also der Erschaffung von Adam und der Sprachenverwirrung von Babel, sehen wir, dass Gott der Erfinder der Sprachen ist. Nicht der Mensch hat die Sprachen erfunden und geschaffen. Deshalb sind sie geeignete Werkzeuge, um Gottes Wort zu übermitteln.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Zum Beispiel schreibt Karl Barth in seiner kirchlichen Dogmatik, als sogenannter Neoorthodoxer, dazu. Die Neoorthodoxen wollten irgendwie die liberale, moderne Theologie zurückdrängen, waren aber selbst auch liberal und modern. Die Neoorthodoxen sind weder neu noch orthodox. Karl Barth, der übrigens heute in evangelikalen Kreisen immer mehr unter Pastoren, nicht unter den Gemeindegliedern, an Einfluss gewinnt, war ein ganz gefährlicher Mann.
Er schreibt: Die Sprachen sind menschliche Sprachen, und was menschlich ist, ist immer unvollständig und mit Irrtum behaftet. Darum kann die Bibel als Buch gar nicht das vollkommene Wort Gottes sein. Die Bibel ist nicht Gottes Wort, sondern die Bibel enthält Gottes Wort. Aber er hat nicht angegeben, wo genau das zu finden ist, an welcher Stelle. Das kann dann jeder selbst herausfinden. Damit wird das Fundament des christlichen Glaubens entzogen.
Sein Fehlurteil war, dass er nicht darauf geachtet hat, dass die menschlichen Sprachen im Prinzip Gottessprachen sind. In meiner Arbeit, Fußnote sechs mit dem Titel „Ursprung und Entwicklung der Sprachen – Sprachwissenschaft kontra Evolution“, einem Buch, das nächstes Jahr herauskommen soll, habe ich gezeigt, wie man auch anhand der Sprachwissenschaft belegen kann, dass Sprachen unmöglich menschliche Erfindungen sind. Die komplexesten Sprachen, vom Formenreichtum her gesehen, sind die ältesten Sprachen.
Die ältesten Sprachen, die wir kennen, sind dermaßen komplex. Zum Beispiel, als ich Arkadisch gelernt habe, Babylonisch, musste ich für ein Verb fast tausend Formen lernen. Das muss man sich mal im Vergleich mit Schweizerdeutsch vorstellen. Arkadisch ist die zweitälteste Sprache, die wir heute kennen, und wird auf etwa 2500 vor Christus datiert.
Wie sind diese ursprünglichen Urmenschen, wenn man nach der Evolutionstheorie geht, auf die Idee gekommen, solche Sprachen zu bilden, die wir heute nicht einmal selbst erfinden können? Wir können unser Schweizerdeutsch auch nicht einfach frisieren oder neue Formen einführen. Das macht deutlich, dass der Mensch nicht der Urheber der Sprachen ist, sondern dass Gott sie ihm gegeben hat. Gott hat die Sprachen so gemacht, dass sie fähig sind, Gottes Wort weiterzugeben.
Das gilt nicht nur für den Grundtext, sondern auch für die Übersetzungen. Denn wenn wir nicht überzeugt wären, dass alle menschlichen Sprachen fähig sind, Gottes Wort weiterzugeben, könnten wir mit der Bibelübersetzung aufhören. Diese Grundüberzeugung ist ganz wesentlich.
Heute ist die Bibel in über 2200 Sprachen übersetzt worden, zumindest teilweise. Jede Sprache, ob eine Indianersprache, eine afrikanische Bandu-Sprache oder Schweizerdeutsch – es ist gelungen, das Neue Testament in jede dieser Sprachen zu übertragen. Jede Sprache ist ein fähiges Mittel, um Gottes Wort weiterzugeben und zu tragen.
Die Bedeutung des Zusammenhangs für die Wortbedeutung
Nun ein weiterer Grundsatz, der mit dem Wesen der Sprache zusammenhängt. Ganz allgemein gilt: In jeder Sprache erhält ein einzelnes Wort seine eigentliche Bedeutung erst innerhalb eines Satzes.
Wenn ich zum Beispiel „Friede“ sage, was bedeutet das eigentlich? Welcher Friede ist gemeint? Ein Scheinfriede, ein einfacher Waffenstillstand oder einfach nur das Wort „Friede“ an sich? Das Wort allein sagt noch nicht viel aus. Es muss in einem bestimmten Zusammenhang, also in einem bestimmten Satz stehen, damit es seine eigentliche Bedeutung bekommt.
Der Satz wiederum erhält seine Bedeutung erst innerhalb eines ganzen Abschnitts. Und der Abschnitt bekommt erst seine Bedeutung innerhalb eines Buches. Ein einzelnes Buch, wie die Bibel, erhält seine eigentliche Bedeutung erst innerhalb der gesamten Bibel.
Dabei ist zu erkennen: Die Bibel ist nicht einfach ein Buch, das vom Himmel gefallen oder heruntergekommen ist, ohne Bezug zur Welt zu haben. Vielmehr hat Gott in ganz bestimmte Situationen, Umstände und geschichtliche Kontexte hineingesprochen.
Die Bibel selbst ist eingebettet in die von Gott gelenkte Heilsgeschichte. Denn auch die Geschichte ist nicht zufällig, sondern Gott ist der Lenker der Geschichte. Er hat die Bibel innerhalb dieser Geschichte platziert. Deshalb muss die Bibel auch im Umfeld betrachtet werden, in das Gott sie hineingegeben hat.
Wenn wir uns darüber im Klaren sind, wird deutlich, wie wichtig es ist, die Grammatik und die Wortbedeutung – also die Semantik – genau zu beachten. Aber auch die Umwelt der Bibel sollten wir berücksichtigen, ebenso Sitten, Gebräuche, alte Gesetze, Hintergründe und die Geschichte.
Ich gebe ein Beispiel: Offenbarung 2. Dort gibt Jesus Verheißungen für die Überwinder aus Pergamos, in Offenbarung 2, Vers 17: „Wer ein Ohr hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Dem, der überwindet, dem werde ich von dem verborgenen Manna geben, und ich werde ihm einen weißen Stein geben, und auf den Stein einen neuen Namen geschrieben, den niemand kennt als nur der, der ihn empfängt.“
Die Überwinder bekommen also einen weißen Stein und einen neuen Namen darauf. Doch was bedeutet das? Viele Bibelleser denken, ein weißer Stein sei nichts Besonderes. Es gibt ja viele weiße Steine, besonders im Jura-Gebiet. Warum soll das eine besondere Belohnung für Überwinder sein?
Hier hilft ein sprachlicher Schlüssel, ein Wörterbuch. Schauen wir, was das für ein Stein ist. Das griechische Wort für Stein ist hier „psephos“. Der Psephos war nicht irgendein Stein, sondern ein Stimmstein.
Im alten Griechenland mussten Richter über Schuld und Unschuld eines Angeklagten abstimmen. Die Richter, die von der Schuld überzeugt waren, warfen einen schwarzen Stein in die Urne. Die, die von der Unschuld überzeugt waren, warfen einen weißen Psephos hinein.
Der weiße Stein bedeutet also, dass Jesus Christus sagt: „Ich betrachte euch als vollkommen gerecht, gerechtfertigt durch den Glauben an mein Blut.“ Diese Aussage verstehen wir aber erst, wenn wir beachten, dass die Bibel in eine bestimmte Kultur eingebettet ist. Die damaligen Menschen, die Leute von Pergamos, haben das verstanden. Für sie war das selbstverständlich, es kam aus ihrer Welt.
Wir aber leben zweitausend Jahre später und müssen uns Mühe geben, in diesen Zusammenhang zurückzukehren.
Noch etwas: Es gab im alten Griechenland eine andere Sitte. Wenn man jemanden ganz besonders als Gast ehren wollte, ließ man ihm einen weißen Stein überbringen, auf dem sein Name geschrieben war. Es heißt ja, ein Psephos mit seinem Namen darauf geschrieben. Doch der Stimmstein im alten Griechenland trug keinen Namen.
Das ist also eine andere Sache. Man überbrachte einen Stein mit dem Namen des Eingeladenen. So bedeutet es hier, dass der Herr Jesus sagt: Wer überwindet, dem werde ich eine ganz spezielle persönliche Einladung geben.
Und was gibt es zu essen? Das steht ja auch hier: „Dem, der überwindet, den werde ich von dem verborgenen Manna geben.“ Was ist das verborgene Manna?
Das finden wir im Alten Testament. In 2. Mose 16, als das Manna zum ersten Mal in der Wüste fiel, wurde etwas davon gesammelt und in einen goldenen Krug getan. Dieser goldene Krug kam dann ins Allerheiligste in die Bundeslade hinein.
Das Manna spricht von Jesus Christus, dem Brot vom Himmel. Aber das verborgene Manna spricht von ganz besonders verborgenen Herrlichkeiten der Person des Sohnes Gottes.
Das ist die Nahrung in der ganz persönlichen Beziehung, die der Herr mit dem einzelnen Überwinder haben will.
Dann kommt noch hinzu: Der Name kennt niemand außer der, der ihn empfängt. Das zeigt die ganz persönliche Beziehung des Herrn zu einem einzelnen Erlösten, eine Beziehung, in die niemand anderes hineinblicken kann.
Das nur als Beispiel, um zu zeigen, wie die Bibel in ihre Umwelt eingebettet ist. Wir dürfen uns nicht einfach die Augen davor verschließen, denn das hilft uns wirklich, Perlen in Gottes Wort zu entdecken.
Wir haben nun gesehen, dass wir für die Bedeutung des weißen Steins die Umwelt brauchten und für das verborgene Manna das Alte Testament, um die Beziehung und das Verständnis herzustellen.
Voraussetzungen des Lesers für richtige Bibelauslegung
Jetzt kommen wir zu einem ganz neuen Punkt. Zuvor haben wir uns mit der Bibel beschäftigt, mit ihrem Wesen und der Bedeutung für die Bibelauslegung. Doch als Leser begegnen wir der Bibel mit bestimmten Voraussetzungen. Die Bibel selbst nennt klare Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit man sie richtig auslegen kann.
In Johannes 7,17 heißt es: „16 Dazu antwortete ihnen Jesus und sprach: Meine Lehre ist nicht mein, sondern dessen, der mich gesandt hat. 17 Wenn jemand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist oder ob ich aus mir selbst rede.“
Der Herr Jesus macht deutlich, dass eine wichtige Voraussetzung darin besteht, den Willen Gottes tun zu wollen. Nur dann kann man zur Überzeugung gelangen, dass sein Wort wirklich Gottes Wort ist. Daraus entsteht ein inneres Zeugnis im Herzen.
Viele Christen können nicht genau begründen, warum sie glauben, dass die Bibel Gottes Wort ist. Dennoch sind sie felsenfest davon überzeugt. Es ist schade, wenn sie das nicht begründen können, vielleicht weil sie es nicht gelernt haben. Aber das schmälert nichts an ihrem inneren Zeugnis. Dieses Zeugnis wird von Gott gewirkt, wenn wir den Wunsch haben, Gottes Willen in unserem Leben zu tun.
Natürlich kann ein Nichtchrist damit nichts anfangen. Ihn kann man damit nicht überzeugen, wenn man sagt, man habe ein inneres Zeugnis des Heiligen Geistes, das bestätigt, dass die Bibel Gottes Wort ist. Calvin betont in seiner Dogmatik sehr stark die Bedeutung dieses inneren Zeugnisses des Heiligen Geistes. Es ist etwas sehr Wichtiges.
Wir können also andere nicht überzeugen, aber wir selbst besitzen dieses Zeugnis. Es hängt davon ab, ob wir wirklich tun wollen, was Gott will. Wenn wir nicht bereit sind, auf Gottes Wort zu hören und Kompromisse machen wollen, dann erhalten wir auch nicht diese innere Überzeugung. Somit fehlt uns das innere Wissen und das Verständnis der Lehre Christi.
Das ist die grundlegende Voraussetzung, um die Bibel auslegen zu können.
Weiter heißt es in Sprüche 1,7: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis; die Toren verachten Weisheit und Zucht.“
Der weise Salomo, mit dem sich niemand vergleichen möchte, erklärt hier, dass die Ehrfurcht vor Gott der Ausgangspunkt ist, um göttliche Wahrheit erkennen zu können. Ohne eine tiefe Ehrfurcht vor Gott und seiner Majestät sind wir blockiert und können in der Erkenntnis der Bibel keine wirklichen Fortschritte machen.
Außerdem können wir sagen: Ohne Neugeburt ist das Verständnis unmöglich. Jesus sagt in Johannes 3 zu Nikodemus: „Wenn ihr nicht von Neuem geboren werdet, könnt ihr das Reich Gottes nicht sehen.“ Ohne Neugeburt – oder Wiedergeburt, wie man sie auch nennt – sind wir unfähig, Gottes Wort wirklich zu verstehen. Ohne die Innenwohnung des Heiligen Geistes ist das nicht möglich.
Epheser 1,13-14 sagt: „Wer an das Evangelium geglaubt hat, ist versiegelt mit dem Heiligen Geist.“
Das sind klare Voraussetzungen, um die Bibel zu verstehen. Wo steht das? In 1. Korinther 2,14: „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird.“
Dieser Vers macht deutlich: Ein ungläubiger Mensch kann die Schrift nicht wirklich erkennen. Der natürliche Mensch „nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist.“
Weiter lesen wir in Lukas 24,32 von den Emmausjüngern. Nach der Auferstehung begegnete ihnen der Herr und erklärte ihnen auf dem Weg das gesamte Alte Testament in Bezug auf ihn, den Messias. Sie sagen in Vers 32 zueinander: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er auf dem Weg zu uns redete und uns die Schriften öffnete?“
Christus selbst öffnet also die Schrift. In Vers 45 desselben Kapitels heißt es: „Dann öffnete er ihnen das Verständnis, damit sie die Schriften verstehen konnten.“
Hier sehen wir zwei unterschiedliche Dinge: Einerseits öffnet der Herr die Schrift, andererseits öffnet er das Verständnis. Das ist nicht dasselbe. Unsere Fähigkeit zu verstehen muss von Christus geöffnet werden.
Von Natur aus sind wir alle verschlossen – das Gegenteil von geöffnet. Der Herr muss unser Verständnis öffnen. Aber auch die Schrift ist verschlossen, und der Herr muss sie öffnen.
Weiter heißt es in Epheser 1,18, dass der Heilige Geist die Augen des Herzens erleuchten muss. Der Heilige Geist hat die Schrift inspiriert – das ist eine Sache. Aber das reicht nicht aus. Er muss auch die Augen des Herzens erleuchten, damit Schrift und Leser zusammen funktionieren.
Die Bedeutung eines geordneten Christenlebens für das Bibelverständnis
Und nun kommen wir zu einem dritten Punkt. Wenn wir also gesehen haben, dass ohne wirkliche Bekehrung und Neugeburt die Voraussetzungen fehlen, um die Bibel zu verstehen, kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: ein ungeordnetes Christenleben.
Dabei wird Sünde nicht vorab bekannt und vor Gott geregelt. Nach 1. Johannes 1,9 heißt es: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.“ Wenn wir unser Leben also nicht ordnen, ist ein fortschreitendes Bibelverständnis nicht möglich.
Ein Beweis dafür findet sich in 1. Korinther 3. Paulus hat den bekehrten Korinthern doch gerade gesagt, dass der natürliche Mensch nichts annimmt, was vom Geist Gottes ist, sondern nur der Geistliche. Jetzt sagt er aber den bekehrten Korinthern im Anschluss, in Kapitel 3, Vers 1: „Und ich, Brüder, konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christus. Ich habe euch Milch zu trinken gegeben, nicht Speise. Denn ihr vermochtet es noch nicht, aber ihr vermögt es auch jetzt noch nicht, denn ihr seid noch fleischlich.“
Denn da Neid und Streit unter euch ist, seid ihr nicht geistlich, sondern fleischlich und wandelt nach menschlicher Weise. Die Korinther waren schon fünf Jahre bekehrt, als sie diesen Brief bekamen, und Paulus sagt zu ihnen, dass er nicht zu ihnen sprechen konnte wie zu Geistlichen, also zu Menschen, die sich durch den Heiligen Geist leiten lassen. Sie seien fleischlich, das heißt, sie ließen sich von ihren fleischlichen Lüsten leiten. Und da sei Streit und Neid unter ihnen; sie seien neidisch und stritten.
Das ist der Beweis: Sie werden nicht vom Geist Gottes geleitet. Wenn das bei euch der Fall ist, könnt ihr nur Milch trinken, also aus dem Wort Gottes nur ein paar Basisdinge lernen, so wie kleine Babys, aber keine feste Speise. Das heißt, ihr seid fünf Jahre alt, aber immer noch wie Säuglinge. Nach fünf Jahren sollte das eigentlich genug sein, oder?
Bei unseren sechs Kindern haben wir auch früher abgestillt, so meine Frau. Fünf Jahre sind zu lang für Muttermilch. Paulus sagt: Das ist euer ungeordnetes Leben. Wenn wir den Korintherbrief durchlesen, finden wir noch viel mehr Hinweise darauf. Diese Gemeinde war in Unordnung. Es waren echte Gläubige, aber die Unordnung blockierte ihr Verständnis der Bibel.
Wir sehen also: Es gibt einen ganzen Katalog von Voraussetzungen, die der Leser mitbringen muss, um die Bibel richtig auslegen zu können. Die Konsequenz daraus ist, dass es so viele Meinungen unter Christen und so viele verschiedene Auslegungen gibt.
Wahrscheinlich liegt das auch am Problem der Fleischlichkeit. Und wir können das ja im Alltag überprüfen.
Das Zentrum der Bibel: Jesus Christus
Was ist das eigentliche Zentrum der Bibel? In Johannes 5,39 sagt Herr Jesus zu den Führern, zu den religiösen Führern Israels, also zu den großen Rabbinern: „Ihr erforscht die Schriften, denn ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben. Und sie sind es, die von mir zeugen.“ So sagt also der Herr Jesus allgemein von den Schriften des Alten Testaments, dass sie von ihm zeugen.
Die Rabbiner hatten eine wichtige Voraussetzung für das Bibelverständnis: Sie haben die Schriften erforscht. Das ist übrigens auch eine Voraussetzung für den Bibelleser. Ohne Bibellesen kommt man nicht weiter. Ein Bibelleser muss lesen, das ist klar. Das haben die Rabbiner erfüllt, aber sie waren nicht von neuem geboren. Deshalb haben sie nicht erkannt, dass die Schriften des Alten Testaments von Jesus Christus zeugen.
Wenn man sich mit rabbinischer Auslegung und rabbinischen Kommentaren beschäftigt, findet man eine Fülle von Wissen, das man nützlich verwerten kann. Aber das große Problem bei diesem Wissen ist, dass das Zentrum verpasst worden ist. Das rabbinische Judentum hat Jesus Christus nicht als Messias erkannt. Nur diejenigen, die sich bekehrt haben, haben ihn erkannt. Die große Masse aber hat es nicht erkannt, obwohl sie die Bibel gelesen haben.
Sie haben also die Mitte nicht erkannt, dass die Schrift als Zentralthema Jesus Christus hat. Ein ungläubiger Schriftforscher kann viel Information und Wissen zusammenbringen, aber nicht so nutzbringend, dass die eigentliche Aussage der Schrift ans Licht kommt: Jesus Christus. Ein Erlöster kann dieses Wissen hingegen in der richtigen Weise auf Christus beziehen und dann ist es von großem Nutzen.
In Offenbarung 5,6 ist Johannes im Himmel. Er sieht den Thron Gottes, und in Vers 6 heißt es: „Und ich sah inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet, das sieben Hörner hatte und sieben Augen.“ Johannes ist hier im Tempel Gottes im Himmel, aber nicht irgendwo, sondern am zentralsten Ort, im Allerheiligsten. Dort sieht er den Thron Gottes, die Bundeslade, und in der Mitte des Thrones sieht er Jesus Christus, das Lamm.
Das macht deutlich, dass Jesus Christus, das Lamm Gottes, das absolute Zentrum aller Regierungswege Gottes mit uns Menschen ist. Darum ist er auch so zentral in der Schrift. Wenn wir das nicht so sehen, wenn wir die Bibel nicht von der ersten Seite an auf Christus hin lesen, dann verpassen wir die eigentliche Aussage. Die Bibel ist nach ihren eigenen Aussagen christozentrisch.
Einheit und Vielfalt der Bibel
Wir kommen jetzt zu einem neuen, größeren Abschnitt, der sich mit der Einheit und der Vielfalt der Bibel beschäftigt. Die Bibel ist nach ihrem eigenen Zeugnis eine Einheit. In Galater 3,8 wird die Bibel als „die Schrift“ bezeichnet.
Aber wir haben doch in 2. Mose 3,15 einen Vers gelesen, am Anfang, in dem von „aller Schrift“ die Rede ist – also in der Mehrzahl „Schriften“. Außerdem möchte ich noch den bereits verlesenen Vers aus Johannes 5 erwähnen, wo der Herr Jesus den Führern sagt, dass die Schriften von ihm zeugen. Dort haben wir ebenfalls die Mehrzahl „Schriften“ verwendet, im Gegensatz zur Einzahl „Schrift“.
Hat das eine Bedeutung? Ja. Wenn die Bibel den Ausdruck „die Schrift“ verwendet, betont sie die Einheit der Bibel. Wenn sie hingegen von „den Schriften“ in der Mehrzahl spricht, betont sie die Vielfalt der Bibel. Beim Lesen der Bibel sollten wir daher einerseits die Einheit und andererseits die Vielfalt erkennen.
Es ist interessant, wie bei Unterschieden in der Bibelauslegung Konflikte unter Bibelauslegern entstehen. Das liegt oft daran, dass der eine die Einheit überbetont, während der andere die Vielfalt hervorhebt. Ich werde dazu später ein Beispiel geben.
Ein weiterer wichtiger Vers ist 2. Timotheus 2,15. Dort gibt Paulus Timotheus die Anweisung: „Befleißige dich, dich selbst Gott bewährt darzustellen als einen Arbeiter, der sich nicht zu schämen hat, der das Wort der Wahrheit in gerader Richtung schneidet.“
Vielleicht steht in Ihrer Übersetzung etwas wie „das Wort der Wahrheit recht austeilen“ oder Ähnliches. Wörtlich heißt es „das Wort der Wahrheit in gerader Richtung schneiden“. Das ist ein ungewöhnlicher Ausdruck und offensichtlich etwas Schwieriges. Paulus sagt hier, dass man sich Mühe geben muss, ein Facharbeiter zu sein, der vor Gott bewährt ist und sich nicht schämen muss.
Man muss also ein ausgebildeter, vor Gott bewährter Facharbeiter sein, der weiß, wie man die Bibel „gerade schneidet“. Zum Beispiel ist es für einen Schreiner eine Katastrophe, wenn er nach seiner Lehre nicht gerade schneiden kann. Hier sagt Paulus, man müsse in der Lage sein, das Wort der Wahrheit richtig zu teilen oder zu schneiden.
Das heißt, man muss in all der Einheit auch die Unterschiede erkennen und wissen, was man voneinander trennen muss. Nach der Pause werde ich dazu einige ganz konkrete Beispiele geben. Jetzt klingt das vielleicht noch abstrakt, aber wir werden sehen, dass das von ganz praktischer Bedeutung bei der Auslegung ist.
Wir haben jetzt Pause bis viertel nach. Vor der Pause sind wir beim Thema Einheit und Vielfalt der Bibel stehen geblieben: „die Schrift“ und „die Schriften“ sowie Paulus’ Anweisung an Timotheus, sich zu befleißigen, ein Gott bewährter Facharbeiter zu sein, der sich nicht schämen muss und das Wort der Wahrheit richtig „gerade schneiden“ kann.
Es gibt also in der Einheit der Bibel auch vieles, das zu unterscheiden ist. Zum Beispiel können wir im Lauf der Heilsgeschichte von 1. Mose 1 bis Offenbarung 22 verschiedene Zeitalter unterscheiden. Und hier gibt es schon einen Konflikt unter bibeltreuen Auslegern.
Die Ausleger in streng reformatorischer Tradition sagen, es gibt nur zwei Testamente: ein altes und ein neues. Die Dispensationalisten hingegen – „Dispensation“ ist ein anderes Wort für „Zeitalter“ – haben eine andere Einteilung erfunden. Sie behaupten, die Bibel unterscheide verschiedene Zeitalter, was aber nicht direkt aus der Bibel stammt.
Schauen wir dazu in Kolosser 1,26. Dort spricht Paulus vom Geheimnis „Christus in euch“. Er sagt, dieses Geheimnis sei „von den Zeitaltern her und von den Generationen her verborgen gewesen, jetzt aber seinen Heiligen geoffenbart worden“.
Paulus sagt also, in früheren Generationen war dieses Geheimnis unbekannt und verborgen. Es war auch in den früheren Zeitaltern verborgen. Das griechische Wort „Aion“ bedeutet „Zeitalter“ oder „Zeitperiode“. Paulus spricht hier in der Mehrzahl von den Zeitaltern, also mindestens zwei.
Wir haben gelernt, die Einzahl ist eins, die Mehrzahl zwei oder mehr. Also können wir mindestens zwei Zeitalter unterscheiden, die vor Paulus waren. Er sagt, jetzt sei das Geheimnis seinen Heiligen geoffenbart worden.
Dazu passt Epheser 1,21. Dort spricht Paulus über Christus, der auferweckt wurde und jetzt zur Rechten Gottes sitzt, „über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem Zeitalter, in diesem Aion, sondern auch in dem zukünftigen“.
Hier haben wir also zwei Zeitalter: dieses Zeitalter und das zukünftige Zeitalter. Das ist übrigens ein typischer rabbinischer Ausdruck. Die Rabbiner sprechen immer von „Olam Hase“ – diesem Zeitalter, in dem wir jetzt leben – und „Olam Haba“ – dem kommenden Zeitalter, wenn der Messias herrscht.
Paulus spricht hier also vom jetzigen Zeitalter und vom zukünftigen Zeitalter, dem tausendjährigen Reich. Allein anhand dieser beiden Stellen haben wir eine biblische Grundlage, um mindestens vier Zeitalter zu unterscheiden.
Wenn wir die Bibel durchlesen, sehen wir, dass es Perioden gab, in denen andere Regeln und Ordnungen galten. Zum Beispiel in der Zeit des Gesetzes gab es verschiedene Tieropfer, die heute nicht mehr praktiziert werden. Das ist ein deutlicher Unterschied zwischen der Zeit des Gesetzes und der heutigen Zeit der Gnade und Gemeinde.
Auch der Bund, den Gott am Sinai mit Israel schloss, markiert einen Unterschied. Israel war nicht mehr unter Gnade wie vorher, sondern unter Gesetz. Es ist interessant zu sehen, dass Israel auf dem Weg zum Sinai zwar murrte, aber Gott sie nie bestrafte. Erst nach dem Bund am Sinai, als Israel sich verpflichtete, alles zu tun, was Gott gebietet, griff Gott mit Gericht ein, wenn Israel in der Wüste murrte.
Dort sehen wir, dass Israel zuerst unter Gnade war und dann unter Gesetz gestellt wurde. Das ist ein deutlicher Unterschied.
Wir können auch die Zeit im Garten Eden unterscheiden. Das war eine ganz andere Zeit als danach. Damals hatte der Mensch Gemeinschaft mit Gott und Zugang zum Baum des Lebens. Mit dem Fall und der Vertreibung wurde dieser Zugang geschlossen.
Auch die Sintflut markiert einen großen Einschnitt. Nach der Flut setzte Gott unter Noah die obrigkeitliche Gewalt, die Schwertgewalt, ein. Gott sagt: Wer Menschenblut vergießt, durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden.
Kain war ein Mörder, aber Gott sorgte dafür, dass Kain nicht mit dem Tod bestraft wurde. Ab Noah aber hat Gott die obrigkeitliche Gewalt eingesetzt, sodass die Obrigkeit das Recht hat, einen Mörder zu töten.
So können wir verschiedene Zeiten und Zeitalter unterscheiden, in denen bestimmte Grundsätze galten, die in anderen Zeiten nicht gültig waren. „Aion“ meint ein Zeitalter, das von einer bestimmten Art zu leben charakterisiert ist.
Wir müssen diese Dinge unterscheiden, sonst kommen wir auf abwegige Ideen. Zum Beispiel werden Christen heute manchmal unter das Gesetz vom Sinai gestellt und aufgefordert, die Gesetze der fünf Bücher Mose einzuhalten, obwohl das Neue Testament das nicht verlangt.
Oder ein messianischer Jude argumentiert: Jesus Christus war ganz jüdisch, er hat sich jüdisch gekleidet, ist in die Synagoge gegangen, hat die Speisegesetze und den Sabbat beachtet. Deshalb sollten Christen das auch tun, denn er sei ein Vorbild für alle Christen.
Dabei wird übersehen, dass der Herr Jesus nach Galater 4,4 unter Gesetz geboren wurde und sich unter das Gesetz stellte. Durch seinen Tod kam die Wende. Galater 4 erklärt, dass Jesus gestorben ist, um die Erlösten von der Knechtschaft des Gesetzes zu befreien.
Die Evangelien berichten von der Lebenszeit Jesu, die noch unter Gesetz war. Erst mit seinem Tod begann die neue Zeit. Wenn man diese Unterscheidung nicht macht, mischt man alles zusammen und kann jede beliebige Irrlehre verbreiten.
In der Heilsgeschichte müssen wir die großen Bögen und Zusammenhänge sehen. Die Offenbarung hat sich entwickelt und es ist immer mehr dazugekommen. Wir müssen die verschiedenen Heilszeitalter unterscheiden: Unschuld im Paradies, das Gesetz vom Sinai, die Gnadenzeit, das tausendjährige Reich und so weiter.
Wenn wir diese Unterscheidung nicht machen, entsteht ein totales Durcheinander. Zum Beispiel liest man im Alten Testament: Wenn der Gesetzlose sündigt, bestraft Gott ihn, und der Gerechte wird gesegnet. Daraus wird dann geschlossen, dass heute, wenn jemand leidet oder schwer krank ist, das ein Beweis für Gottes Gericht über ihn ist.
Dabei wird nicht beachtet, dass diese Stellen im Alten Testament von einem direkten Eingreifen Gottes sprechen, bei dem klar zwischen Gerechten und Gottlosen unterschieden wird. Diese Aussagen beziehen sich wesentlich auf die Zeit der messianischen Herrschaft.
Heute hat Gott keine direkte Regierung über die Welt, sondern eine indirekte. Er benutzt Völker, um andere zu richten. Es ist nicht so, dass Gott heute direkt und sofort bei Bösem eingreift.
Deshalb sieht man heute oft, dass es dem Gesetzlosen gut geht und dem Gerechten schlecht. Das war das Problem von Asaf, wie es in Psalm 73 beschrieben wird. Gott gab ihm Klarheit darüber.
Im tausendjährigen Reich wird es dagegen so sein, dass Gott Böses unmittelbar richtet. „An jedem Morgen werden die Gesetzlosen hinweggerafft werden“, heißt es in Psalm 101 am Schluss. Diese Aussagen müssen wir den verschiedenen Zeitaltern zuweisen, sonst kommen wir auf abwegige Ideen.
Weiterhin müssen wir unterscheiden zwischen Israel, den Nationen und der Gemeinde. Diese drei Gruppen finden sich zusammen in 1. Korinther 10,32. Dort geht es darum, wie sich Gläubige verhalten sollen, wenn sie von Ungläubigen eingeladen werden.
Vers 31 sagt: „Ob ihr nun esst oder trinkt oder irgendetwas tut, tut alles zur Ehre Gottes, seid ohne Anstoß sowohl Juden als Griechen als auch der Gemeinde Gottes.“
„Griechen“ war damals ein allgemeiner Ausdruck für griechischsprachige Menschen im Römischen Reich, also die Heiden. Die Gemeinde Gottes ist die dritte Gruppe. Diese drei Gruppen gilt es in der Bibel genau zu unterscheiden.
Wir müssen prüfen, ob etwas zu Israel, zu den Heidenvölkern oder zur Gemeinde gesagt wurde. Wenn man Dinge, die zu Israel gesagt wurden, ohne weiteres auf die Gemeinde überträgt, kommt man zu schweren Fehlschlüssen.
Ein Beispiel ist 5. Mose 28,1: Gott sagt zu Israel: „Wenn du der Stimme des Herrn deines Gottes fleißig gehorchst und darauf achtest, alle seine Gebote zu tun, so wird der Herr, dein Gott, dich zur Höchsten über alle Nationen der Erde machen. Alle diese Segnungen werden über dich kommen und dich erreichen.“
Es folgen Segnungen in allen Bereichen des irdischen Lebens: in der Stadt, auf dem Feld, die Frucht deines Leibes, deines Landes, deines Viehs, dein Korb und Backdruck, dein Eingang und Ausgang.
Gott verspricht, dass bei Gehorsam all diese Segnungen kommen werden. Nun wird gesagt: Wenn Christen treu sind, geht es ihnen immer besser. Das ist die Grundlage des Wohlstandsevangeliums, das in einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft auf guten Boden fällt.
Es heißt dort, Christen sollten nicht mit verrosteten Autos fahren. Wer wirklich treu ist, hat einen Mercedes. Wer keinen Erfolg hat, ist selbst schuld, weil er nicht genug Treue zeigt oder die Verheißungen Gottes nicht genug visualisiert.
Solche heidnischen Praktiken finden Eingang ins Christentum. Aber diese Verheißungen sind ganz klar an Israel unter dem Gesetz gerichtet.
Wenn man das auf die Gemeinde überträgt, die nicht unter dem Bund vom Sinai steht, hat man die Zeitalter nicht unterschieden. Dann ist man nach 2. Timotheus 2,15 ein Arbeiter, der sich schämen muss, weil er das Wort der Wahrheit nicht richtig „gerade geschnitten“ hat. Man hat Dinge vermischt, die getrennt werden müssen.
Wir müssen auch verschiedene Bündnisse unterscheiden. Zum Beispiel in 1. Mose 9 der Bund mit Noah, der mit der ganzen Erde geschlossen wurde und solange die Erde besteht gültig ist.
Daraus folgt, dass die Todesstrafe heute noch ein Recht der Obrigkeit ist – aber nicht für die Gemeinde! Wenn wir zwischen den Nationen und der Gemeinde nicht unterscheiden, vermischen wir die Dinge.
Es ist nicht der Auftrag der Christen, die Todesstrafe auszuüben. Das ist die Berufung der Heidenvölker. Der Bund mit Noah gilt, solange die Erde besteht.
Später finden wir den Bund mit Abraham, der nicht mit der ganzen Welt, sondern mit Abraham und seiner Nachkommenschaft geschlossen wurde, speziell mit der Nachkommenschaft durch Isaak. Gott hat ihm das ganze Land Kanaan auf ewig versprochen.
Israel als Nation hat also immer noch ein Recht auf das verheißene Land. In der katholischen Theologie und auch bei den Reformatoren, die in dieser Hinsicht noch recht katholisch waren, wurde gelehrt, dass Israel seit der Verwerfung des Messias alles verloren hat.
Was Gott Israel also verheißen hat, wird dann auf die Gemeinde übertragen. Daraus wird geschlossen, dass Israel kein Recht mehr auf das Land hat. Hier versteht man, warum traditionelle Kirchen im Nahen Osten manchmal israelfeindlich sind.
Das ist eine Folge des Fehlers, nicht mehr zu unterscheiden und nicht zu sehen, dass Israel im Heilsplan Gottes nach wie vor eine Bedeutung hat, die von der Kirche unterschieden werden muss.
Die Kirche hat nicht einfach Israels Vorrechte geerbt. Diese Unterscheidung hat konkrete Auswirkungen bis in die Politik hinein.
Wir müssen auch den Bund vom Sinai vom Bund mit Abraham und vom Bund mit David unterscheiden. Der neue Bund, den Jesus in seinem Blut gegründet hat, ist ein anderes Bündnis.
Im Verlauf der Heilsgeschichte gibt es Bündnisse, die teilweise so lange dauern wie die Erde, andere sind beschränkt. Der Bund vom Sinai dauerte nur bis zum neuen Bund und wurde durch diesen abgelöst. Solche Unterscheidungen sind wichtig.
Außerdem müssen wir zwischen irdischen und himmlischen Segnungen unterscheiden. Israel ist gekennzeichnet durch irdische Segnungen bei Gehorsam, wie in 5. Mose 28,1-14 beschrieben.
Die Gemeinde ist gekennzeichnet durch geistliche Segnungen. In Epheser 1,3 heißt es: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus.“
Wenn man dort weiterlesen würde, fände man nichts von Mercedes. Es sind alles geistliche Segnungen.
Die Gemeinde ist also durch geistliche Segnungen charakterisiert. Wenn ein Christ auch irdische Segnungen hat, sind diese wie ein Supplement. Sie sind nicht Teil von Gottes Abmachung, sondern können von Gott ganz souverän gegeben werden.
Wir können daraus nicht einfach Treue oder Untreue ableiten.
Weiterhin müssen wir unterscheiden, wie man zum Volk Israel gehört und wie man zur Gemeinde gehört.
Zum Volk Israel gehörte man durch natürliche Geburt und wurde am achten Tag beschnitten.
Zur Gemeinde gehört man nicht durch natürliche Geburt. Spurgeon hat gesagt: „Die Gnade fließt nicht im Blut.“ Heute würde man sagen, die Gnade ist nicht im DNA-Code oder den Genen enthalten.
Wenn Eltern sich bekehren, heißt das nicht, dass ihre Kinder automatisch gläubig werden.
Zum Volk Gottes, zum himmlischen Volk Gottes, zur Gemeinde gehört man durch Neugeburt als Folge der Bekehrung. Danach kommt die Taufe, wie im Neuen Testament beschrieben.
Im Lauf der Kirchengeschichte hat man das umgedreht. Man sagte, die Kirche sei die Fortsetzung Israels, deshalb solle man die Kinder gleich taufen, weil sie auch zum himmlischen Volk Gottes gehören.
Das stimmt nicht! Die Kinder haben zwar eine besonders bevorrechtete Stellung. Nach 1. Korinther 7 sind sie gewissermaßen für Gott geheiligt, aber sie gehören nicht zur Gemeinde.
Hier wird die Einheit überbetont. In der reformatorischen Theologie, besonders der alt-reformatorischen, sagt man, es gebe im Prinzip keine Unterscheidung zwischen zwei Völkern Gottes, Israel und Gemeinde, sondern alles sei ein Volk Gottes.
Man spricht sogar in der calvinistischen Theologie von der Kirche ab Adam. Das hat schwere Konsequenzen.
Israel bestand aus bekehrten und vielen unbekehrten Menschen. Es war Gottes irdisches Volk.
Überträgt man das auf die Gemeinde, würde das bedeuten, dass es in der Gemeinde auch eine Vermischung von Gläubigen und Ungläubigen geben darf.
Das Konzept der Volkskirche ist eine direkte Folge dieser Nicht-Unterscheidung zwischen Israel und Gemeinde.
Die Gemeinde ist aber die Gemeinde der Gläubigen. Gott will keine Vermischung.
Die Gemeinde darf nicht aus Gläubigen und Ungläubigen gemischt sein. Das sagt auch 2. Korinther 6 deutlich.
Sehen wir, welche praktischen Konsequenzen es hat, wenn das Wort Gottes nicht richtig „gerade geschnitten“ wird.
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch die Einheit sehen. Im Alten Testament wurden Menschen auf die gleiche Art errettet wie heute.
Sie mussten ihre Sünden bekennen, zu Gott umkehren und seine Vergebung in Anspruch nehmen, oft verbunden mit stellvertretenden Opfern.
Das gleiche Prinzip gilt heute.
Einerseits sehen wir also die einheitliche Linie von Anfang bis Ende. Die Geretteten sind seit Adam alle auf der gleichen Grundlage errettet worden.
Das haben manche Dispensationalisten, die die Zeitalter unterscheiden, übersehen. Sie haben die Einheit aus den Augen verloren und nur die Unterschiede gesehen.
Die Calvinisten hingegen haben immer nur die Einheit betont.
Würde man sowohl die Einheit als auch die Vielfalt anerkennen, kämen sich die verschiedenen Auslegungen viel näher.
Man würde sehen, dass manche Unterschiede eigentlich nur eine Frage der Betonung sind.
Wir sehen einerseits eine einheitliche Linie, andererseits die Unterscheidung zwischen Israel als irdischem Volk und der Gemeinde.
Der Herr Jesus sagt in Matthäus 16: „Auf diesen Felsen werde ich meine Gemeinde bauen.“
Es gab keine Kirche zu Adams Zeit; sie war damals noch zukünftig und wurde erst am Pfingsttag in Apostelgeschichte 2 gegründet.
Die literarische Struktur und der Charakter der Bibelbücher
Wir gehen weiter. Bei der Unterscheidung von Einheit und Vielfalt ist es wichtig zu sehen, dass jedes Bibelbuch seinen eigenen Charakter und eine ihm eigene Schönheit hat. Insgesamt gibt es 66 Bibelbücher. Zählt man die Psalmen als fünf Bücher, sind es siebzig. Wie man sie zählt, ist dabei nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass jedes Buch eine eigene Gestalt besitzt.
Wenn ich mich zum Beispiel entscheide, das Matthäusevangelium zu lesen, muss ich mich fragen: Was ist die Hauptbotschaft darin? Wo finde ich zum Beispiel den Schlüsselvers? Wie kann man das herausfinden? Ganz einfach: Man nimmt einen Bibelkommentar, dort steht es meistens drin. Dennoch möchte ich ermutigen, nicht nur auf Kommentare zu vertrauen, sondern auch selbst solche Dinge zu entdecken.
Wenn ich an ein Buch herangehe, versuche ich beim Lesen zu erkennen, wie der Gedankenverlauf ist. Wir haben gesehen, dass jedes einzelne Wort seine Bedeutung im Satz hat, der Satz im Abschnitt, und der Abschnitt innerhalb des ganzen Buches. Wenn ich das Buch aufmerksam lese und beobachte, wie die Gedanken entwickelt werden, frage ich mich auch: Kann man das Buch irgendwie einteilen? Gibt es eine literarische Struktur? Und wie kann man diese Einteilung finden?
Oft findet man zum Beispiel Refrains, die immer wieder vorkommen. Im Hohenlied etwa gibt es den Refrain: „Ihr Töchter Jerusalems, ich beschwöre euch bei den Hirschkühen des Feldes, dass ihr die Liebe nicht weckt, noch aufweckt, bis es ihr gefällt.“ Dieser Refrain markiert im Text jeweils den Beginn eines neuen Liedes. So kann man das Hohelied in verschiedene Liedstrophen einteilen. Solche Markierungen findet man in vielen Bibelbüchern.
Es gibt auch Strukturwörter, die eine Einteilung anzeigen. Zum Beispiel in Römer 12,1: Dort findet sich nach einer ausführlichen Lehre über die Verdorbenheit des Menschen, die Erlösung in Christus und die Bedeutung von Israel und den Völkern der Satz: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes.“ Dieses „nun“ markiert die Schlussfolgerung aus den vorherigen elf Kapiteln. In Römer 1 bis 11 findet man die lehrmäßige Darstellung, ab Kapitel 12 beginnt die Übertragung auf das praktische Leben.
Ein ähnliches Beispiel findet sich im Kolosserbrief. Dort heißt es in Kapitel 3, Vers 1: „Wenn ihr nun mit Christus auferweckt worden seid, so sucht, was droben ist.“ Auch hier markiert das „nun“ den Übergang vom Belehrungsteil zum praktischen Teil, der die Schlussfolgerung für das tägliche Leben zieht. Gleiches gilt für den Epheserbrief, etwa in Epheser 4,1: Nach drei Kapiteln Belehrung heißt es: „Ich ermahne euch nun, ich der Gefangene im Herrn, dass ihr würdig wandelt.“ Hier beginnt der praktische Teil von Kapitel 4 bis 6.
Auf solche Dinge muss man achten, dann kann man selbst die Einteilung eines Bibelbuches entdecken. Man kann seine Erkenntnisse mit anderen Kommentaren vergleichen. Wenn man zu ähnlichen Ergebnissen kommt, ist das eine ermutigende Bestätigung, dass man auf dem richtigen Weg ist. Wenn man ständig zu Ergebnissen kommt, auf die noch nie jemand anders gekommen ist, ist das eher wie auf der Autobahn ein Geisterfahrer – eine Warnung.
Weiter müssen wir uns bei jedem Buch fragen: Wer hat es geschrieben? Es wird nicht grundlos bei dreizehn Paulusbriefen gesagt, dass sie von Paulus stammen. Das hat Bedeutung. Dann überlegen wir, was der Auftrag von Paulus war, zum Beispiel die Heidenvölker. Wir fragen uns also, wer den Brief geschrieben hat und an wen er gerichtet war. So ist etwa der erste Korintherbrief an die Gemeinde in Korinth gerichtet, der Römerbrief an die Geheiligten in Rom.
Man muss sich auch fragen, an wen der Hebräerbrief geschrieben wurde. Dort wird keine bestimmte Gemeinde genannt, doch aus dem Brief geht hervor, dass er an jüdische Christen, die Hebräer, gerichtet war. Das muss man beim Lesen berücksichtigen.
Außerdem sollte man den Hintergrund kennen, warum ein Buch geschrieben wurde. Im ersten Korintherbrief erkennt man das zum Beispiel aus dem Brief selbst: Paulus nimmt Bezug auf einen Brief der Gemeinde, in dem Fragen zu Ehe und Ehescheidung gestellt wurden. Er geht konkret auf diese Fragen ein. Das ist wichtig, denn in 1. Korinther 7 darf man keine vollständige Abhandlung über Ehe und Scheidung erwarten, sondern die Beantwortung spezifischer Fragen.
Im Galaterbrief sieht man, dass die Gemeinden mit Irrlehren konfrontiert waren. Paulus musste ihnen schnell und eigenhändig diesen Brief schreiben, um auf die Bedrohung durch falsche Lehren zu reagieren. So kann man die Botschaft des Galaterbriefes in den historischen Kontext einordnen.
Man sollte auch fragen, wann das Bibelbuch geschrieben wurde. Das hilft besonders bei den Paulusbriefen, wenn man sie in die Apostelgeschichte einordnen kann. So sieht man zum Beispiel, dass der erste Korintherbrief an Gläubige gerichtet war, die etwa fünf Jahre bekehrt waren. Paulus hatte die Gemeinde gegründet (Apostelgeschichte 18). Wenn man den Brief datieren kann, erkennt man, dass die Gläubigen nach fünf Jahren schon zur Auferbauung anderer befähigt sein sollten. Paulus erwartet in 1. Korinther 14, dass sie sich überströmend um die Gemeinde bemühen. Das ist bemerkenswert, denn sie waren noch keine zwanzig Jahre Christen.
Weiter muss man beachten, dass jeder Schreiber einen eigenen Stil hat. Das erkennt man leicht beim Wortschatz. Die Johannesbriefe haben ein Vokabular, das sich deutlich von dem Paulus’ unterscheidet. Johannes verwendet ein relativ einfaches Vokabular von etwa 800 Wörtern, das an den Wortschatz eines älteren Kindes erinnert. Seine Sätze sind kurz und einfach – ganz anders als die langen, verschachtelten Sätze in Paulusbriefen. So besteht Epheser 1,3-14 aus einem einzigen Satz im Griechischen. Paulus, der im Gefängnis war, preist Gottes Gnade und Segen mit einem Herzen voller Freude. Erst in Vers 14 endet der Satz.
Interessant ist auch 1. Korinther 14, wo es um Weissagung und das Reden zur Auferbauung in der Gemeinde geht. Paulus vergleicht das mit verschiedenen Tempelinstrumenten wie Posaune, Harfe und Flöte. Jedes Musikinstrument hat eine andere Klangfarbe. Wenn ich auf der Harfe ein A zupfe, ist das dieselbe Tonhöhe wie ein A auf der Flöte. Trotzdem klingt es ganz anders. So ist es auch mit den Bibelschreibern: Jeder hat eine andere Klangfarbe. Johannes klingt ganz anders als Paulus, doch sie sind nicht dissonant, sondern in vollkommener Harmonie.
Wir müssen ein Augenmerk auf diese Vielfalt und Unterschiede legen. Dann entsteht kein Problem. In der Reformation etwa wurde Luther, als er durch den Römerbrief die Rechtfertigung aus Glauben allein entdeckte, oft mit dem Jakobusbrief konfrontiert, der von Rechtfertigung aus Werken spricht. Das hat ihn irritiert. Doch es sind nur verschiedene Klangfarben.
Paulus betont im Römerbrief, dass der Mensch von Gott als gerecht erklärt wird allein durch den Glauben an Jesus Christus. Man kann nichts dazu beitragen – Rechtfertigung aus Glauben allein. Jakobus sagt hingegen: Du behauptest, Gläubiger zu sein. Doch die Dämonen glauben auch – und sind verloren. Jakobus fordert, dass sich der Glaube in Taten zeigt. So wird ein Geretteter durch gute Werke sichtbar.
Das sind nur verschiedene Klangfarben. Im Tempelorchester erklangen der Schofahorn, die silberne Posaune, zwei verschiedene Harfen (Nevel und Kinnor), Flöten und weitere Instrumente. Jedes hatte seinen eigenen Klang, und zusammen gaben sie ein harmonisches Orchesterkonzert zur Ehre Gottes.
Interessant ist auch die Frage der Inspiration. Wenn die Schrift Wort für Wort und Buchstabe für Buchstabe von Gott inspiriert ist, müsste sie doch einförmig sein. Warum aber schreiben Johannes, Paulus, Jakobus, Judas und Petrus so unterschiedlich? Sogar Petrus’ zwei Briefe unterscheiden sich, je nachdem, ob er sie mit Silvanus schrieb oder allein.
Hier ist es wichtig, zwischen göttlicher Inspiration und dämonischer Inspiration zu unterscheiden. Wenn Menschen von Dämonen inspiriert werden und Bücher schreiben – und das gab es früher und gibt es heute noch –, wird ihre Persönlichkeit ausgeschaltet. Zum Beispiel nutzte Goethe das automatische Schreiben, und C. G. Jung sagte, er habe von einem Geist diktiert bekommen. Im Spiritismus und Okkultismus wird die Persönlichkeit abgeschaltet, um die Menschen als Werkzeuge zu missbrauchen.
Gott hingegen benutzt Menschen mit ihrer vollen Persönlichkeit. Johannes wurde so geführt, wie Gott es wollte. Er lernte Griechisch und schrieb seine Briefe, sein Evangelium und die Offenbarung mit vollem Bewusstsein. Seine Persönlichkeit war nicht ausgeschaltet, sondern hundertprozentig von Gott gebraucht. So stimmt das, was Johannes schreiben wollte, mit dem überein, was der Geist Gottes sagen wollte. Das ist Gottes Wunder.
Diese Unterscheidung können wir auch heute im Christentum treffen zwischen dämonischer und göttlicher Inspiration. Selbst beim Wort Gottes ist das so in vollkommener Weise.
Hosea hat einen ganz anderen Stil als Jesaja. Hoseas Buch ist sehr aufgeregt geschrieben. Jesaja strahlt oft poetische Ruhe aus und malt die Herrlichkeit des kommenden Messias mit wunderbaren Worten. Hosea musste unter dem Schmerz schreiben, dass seine Frau Ehebruch begangen hatte – genauso wie Israel Gott untreu war. In dieser Aufregung schrieb er sein Buch.
Jesaja hingegen hatte eine gute Frau, die selbst Prophetin war, und Kinder. Sein Leben war ruhiger, und er schrieb aus dieser Ruhe heraus. Doch beides ist von Gott geführt und gewollt, sodass letztlich jeder Buchstabe Gottes Wort ist.
Wir müssen ferner unterscheiden zwischen Poesie und Prosa. Psalm 19 etwa sagt poetisch, dass die Sonne sich freut, am Morgen wie ein Bräutigam aufzustehen und ihre Bahn zu durchwandern. Dabei ist die Sonne im Hebräischen männlich, deshalb der Vergleich mit einem Bräutigam und nicht mit einer Braut.
Man darf daraus nicht schließen, die Bibel lehre, dass die Sonne um die Erde kreise. Das ist poetische Sprache. Wenn heute ein Dichter von der „blauen Kuppel des Himmels“ spricht, meint niemand, er sei verrückt. Es ist eine poetische Ausdrucksweise.
Wenn jemand sagt, 1. Mose 1 müsse man nicht wörtlich nehmen, weil es ein Gedicht, eine Lobhymne auf die Schöpfung sei, ist das Unsinn. 1. Mose 1 ist im Hebräischen hundertprozentige Prosa, ohne erkennbaren Rhythmus. Zum Beispiel: Bereshit bara Elohim et ha-schamayim v'et ha-aretz, beha-aretz heita tohu wa-wohu, bechoschech alpeney te-hum, beruach Elohim merachhefet alpeney ha-mayim, beiyomer Elohim jehi or weihi or – es werde Licht, und es ward Licht.
Das klingt ganz anders als in den Psalmen, die einen Rhythmus haben, etwa Psalm 1: „Aschre ha-isch, ascher lo halach wa atzad reschaim, uvederech hadaim lo amad, uvemon shav lezim lo yashav“ usw. Vom Rhythmus und Inhalt her ist das etwas ganz anderes. Deshalb ist 1. Mose 1 keine Hymne, sondern eine nüchterne Geschichtsbeschreibung in Prosa, so wie Gott es gemacht hat.
Wir müssen ferner unterscheiden zwischen Geschichtsbüchern, wie dem ersten Buch Mose, und Lehrbüchern, wie den Sprüchen und den Briefen von Paulus. Die einundzwanzig Briefe im Neuen Testament sind Lehrbücher. Außerdem unterscheiden wir prophetische Bücher wie Jesaja, Jeremia, Ezechiel, die zwölf kleinen Propheten und die Offenbarung. Diese dürfen wir nicht vermischen.
Aus einem Geschichtsbuch eine allgemeine Lehre abzuleiten, ist gefährlich. Ein Geschichtsbuch erklärt, wie Gott zu einer bestimmten Zeit mit Menschen gehandelt hat. Das kann sich durch die ganze Bibel ziehen, muss es aber nicht.
Ein Beispiel: Die ersten Christen hatten den Besitz gemeinsam (Apostelgeschichte 2 bis 4). Daraus abzuleiten, dass Christen heute eine Gütergemeinschaft anstreben sollten, ist unchristlich. Schon aus dem Geschichtsbuch erkennt man, dass diese Gemeinschaft nur vorübergehend war. Man gab immer wieder vom Privatbesitz in eine gemeinsame Kasse, wenn es nötig war. Es war kein totaler Kommunismus. Nach der Steinigung des Stephanus hatte wieder jeder sein eigenes Hab und Gut.
Eine solche Lehre findet man in den Lehrbüchern des Neuen Testaments nicht. Im Gegenteil, dort gibt es viele Anweisungen zum Umgang mit Besitz. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig.
Oder in Apostelgeschichte liest man, dass die Gläubigen an Pfingsten den Heiligen Geist nach der Taufe empfingen. Daraus abzuleiten, dass alle, die nicht getauft sind, den Heiligen Geist nicht haben, ist problematisch. In Römer 8 heißt es: „Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.“ Die Schlussfolgerung wäre, dass wer nicht getauft ist, nicht zu Christus gehört.
Doch in Apostelgeschichte 8 empfingen die Samariter den Heiligen Geist nach Taufe und Handauflegung der Apostel. Daraus entstand die Lehre, dass man nur durch Handauflegung eines Apostels errettet werden könne. Diese Autorität wurde als notwendig angesehen.
In Apostelgeschichte 10 empfingen die Heiden, die zum Glauben kamen, den Heiligen Geist vor der Taufe. Wir sehen also verschiedene historische Spezialfälle.
Im Lehrbuch Epheser 1,13-14 finden wir den allgemeinen Grundsatz: „Ihr seid versiegelt worden mit dem Heiligen Geist, nachdem ihr das Evangelium geglaubt habt.“ Von hier aus müssen wir das Allgemeine sehen und die Ausnahmefälle unterscheiden.
Weiter müssen wir unterscheiden zwischen Erzählung, Visionen und Apokalyptik. Apokalyptik beschreibt etwa die Tiere, die wie ein Löwe mit Adlerflügeln aus dem Meer kommen, wie in Daniel 7 oder in der Offenbarung, wo ein Tier mit sieben Köpfen aus dem Meer auftaucht.
Wir müssen also unterscheiden zwischen Apokalyptik, Liedern, Gleichnissen und Symbolik. Manche sagen, evangelikale Christen seien beschränkt, weil sie die Bibel wörtlich nähmen. Das ist eine Frechheit oder ein Missverständnis.
Wir nehmen die Bibel so wörtlich, dass wir Gleichnisse als solche verstehen und poetische Texte als poetisch auffassen. Wenn die Bibel von der Sonne spricht, die ihre Bahn mit Freude durchzieht wie ein Bräutigam, nehmen wir das als poetische Sprache.
Wörtlich nehmen heißt gerade, die Bibel genau zu untersuchen und die verschiedenen Ausdrucksarten zu erkennen.
Darum glauben wir nicht, dass nach Offenbarung 13 ein Tier mit sieben Köpfen tatsächlich aus dem Meer kommen und über Europa herrschen wird. Wir verstehen das als apokalyptische Beschreibung eines neuen Europas.
Hilfsmittel zur Bibelauslegung und die Rolle der Gemeinde
Und zum Schluss noch ein kurzer Hinweis zu Hilfsmitteln: Nach Epheser 4,11 und den folgenden Versen hat Christus seiner Gemeinde Gaben gegeben. Dazu gehören Apostel und Propheten, die die Grundlage bilden, sowie Evangelisten, Hirten und Lehrer.
Wir können die Bibel nicht einfach allein lesen und erwarten, dass wir dadurch automatisch zum Ziel kommen. Gott hat die Erlösten in die Gemeinde gestellt, damit alle Gaben zusammenwirken. In 1. Petrus 4 wird ganz klar gesagt, dass jeder Gläubige eine Gnadengabe hat. So sollen alle in den Genuss der verschiedenen Gnadengaben kommen. Gemeinsam kommen wir dadurch vorwärts zum Ziel.
Darum ist es wichtig, dass wir Gemeindezusammenkünfte regelmäßig besuchen – nicht nur dann, wenn wir Lust dazu haben. In Hebräer 10 heißt es, dass wir die Zusammenkünfte nicht versäumen sollen, wie es bei manchen üblich ist, sagt Paulus. Es ist wichtig, dass wir von anderen Gläubigen profitieren – durch Lehrvorträge, Hauskreise und auch schriftliche Bibelkommentare.
Manche Menschen stehen Bibelkommentaren skeptisch gegenüber. Das ist verständlich, denn es gab auch Missbrauch. Dennoch sind Bibelkommentare eigentlich die Frucht von Gaben, die Gott der Gemeinde gegeben hat – sowohl heute als auch in früheren Zeiten. Davon sollen wir profitieren.
Es gibt außerdem Bibellexika, die uns etwas über die Umwelt der Bibel erklären. Konkordanzen und Wörterbücher sind nützlich, nicht nur für diejenigen, die die Grundsprachen beherrschen. Es gibt auch Wörterbücher, die Schlüsselzahlen erläutern und die Referenzen zum Grundtext liefern, sowie Grammatiken und vieles mehr.
Diese Fülle von Hilfsmitteln sollten wir nutzen. Allerdings nicht in der Meinung, dass wir durch menschliche Weisheit Gottes Wort verstehen können. Das ist nur möglich, wenn der Herr selbst sein Wort öffnet und unser Verständnis erleuchtet. Wenn wir unser Leben täglich nach Gott ausrichten und in Gemeinschaft mit dem Vater leben, wirkt der Heilige Geist. Er schaltet unseren Verstand nicht aus, sondern öffnet unser Verständnis. So wird das Wort durch Christus für uns zugänglich.
