Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Wir wollen noch einmal beten, Herr, und dich nun bitten: Heilige uns in der Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Liebe Gemeinde,
in vielen Wohnungen und Häusern hängt seit dieser Woche wieder ein bunter Adventskalender. Heute wurde bereits das dritte Türchen geöffnet. Nun bewegen wir uns ganz zielorientiert innerhalb der nächsten drei Wochen auf das finale, größte Fenster dieses Kalenders zu. Dann ist endlich Weihnachten.
Der Adventskalender hilft vor allem den Kindern beim Warten und erinnert uns täglich an das große Ziel. Die Idee dazu hatte ursprünglich Johann Hinrich Wichern. Er war der geniale Leiter des Rauhen Hauses in Hamburg, einer Zuflucht für Jungen, die irgendwie vom Wege abgekommen waren, mit dem Leben nicht klarkamen oder auffällig geworden waren. Der Theologe und Pädagoge Wichern hatte ein großes Herz für diese Kinder.
1838 fand er für die Weihnachtszeit einen besonderen Clou, damit die Kinder das Warten auf Weihnachten besser aushalten konnten. Wahrscheinlich haben sie ihn immer wieder genervt und gefragt: „Wie viele Tage sind es noch bis Weihnachten?“ Wichern nahm ein altes Wagenrad, verband es mit einem Holzkranz und steckte zwanzig weiße Kerzen darauf sowie vier große rote für die Sonntage. Fertig war der erste Adventskalender.
Bei den täglichen Andachten durften die Kinder jedes Mal eine Kerze mehr anzünden. Je näher sie dem Heiligen Abend kamen, desto heller wurde es. Wicherns Beispiel machte sehr schnell Schule – in den Familien und in öffentlichen Einrichtungen. Es entwickelten sich ganz verschiedene Formen von Adventskalendern.
Manche Familien malten 24 Kreidestriche an eine Tür im Haus. Das ist ja mal zur Nachahmung vielleicht empfohlen. Gut, dass die Kinder schon im Kindergottesdienst sind. Täglich durften die Kinder dann einen Strich wegwischen. So konnte man ebenfalls zuschauen, wie Weihnachten immer näher rückte.
Im 19. Jahrhundert kamen dann sogenannte Weihnachtsuhren auf. Das waren große Scheiben mit 24 Strichen, in deren Mitte ein Zeiger befestigt war. Diesen Zeiger durfte man jeden Tag einen Strich nach vorn schieben.
Typisch ist, dass die Nazis im Kampf um die Herzen der Menschen den Adventskalender am liebsten aus dem öffentlichen Leben verbannt hätten. Sie versuchten, den Leuten einen Ersatz unterzujubeln. Die Reichspropaganda wurde fündig und erfand einen sogenannten Vorweihnachtskalender mit Backrezepten und Bastelhinweisen. Die Leute sollten sich dann Runen und Sonnenräder an den Baum hängen.
Später distanzierten sich auch die Kommunisten in der DDR ganz bewusst vom Begriff des Adventskalenders, weil „Advent“ ja ein christliches Wort ist, das „Ankunft“ bedeutet – die Ankunft des Herrn. Die Kommunisten in der DDR sprachen deshalb, ähnlich wie die Nationalsozialisten, lieber von einem Vorweihnachtskalender. Sie verbanden Engel und alle religiösen Motive ab und ersetzten sie durch Marktplätze, Autos, Tiere, Wintersport-Szenen oder Weihnachtsmänner.
Vielleicht ist noch eine Information wichtig: Der erste Schokoladenkalender wurde laut Chronik erst 1958 erfunden, er ist also noch gar nicht so alt. Die entscheidende Idee kam jedoch von Wichern. Er wollte damit sagen, dass wir ganz bewusst auf Weihnachten zugehen, uns vorbereiten und uns darauf freuen. Und wenn die Zeit um ist, begegnen wir dem vollen Licht in der Person des Retters Jesus Christus. Nur dort ist es hell.
Das ist auch das Thema unserer Predigt heute Morgen: Nur dort ist es hell.
Jetzt schlagen wir noch einmal kurz die Brücke zurück zu Joseph aus dem Alten Testament, den wir in den vergangenen Wochen näher kennenlernen durften. Das gesamte Alte Testament versteht sich als ein großer Adventskalender, der seine Leser Tür um Tür näher an den Advent des Christus heranführt.
Das ist eigentlich das Alte Testament: ein großer Adventskalender, nur geht das eben ganz langsam, nicht innerhalb von 24 Tagen, sondern innerhalb von einigen Tausend Jahren. Hinter einem Türchen finden wir zum Beispiel Abraham, circa 2000 vor Christus, Josephs Eintreffen in Ägypten, das wir auf kurz nach 1900 vor Christus datiert haben, und so geht es immer weiter.
Unser Herr selbst hat dieses Adventskalenderprinzip seinen Jüngern erklärt. Im Gespräch mit den Emmaus-Jüngern am Tag seiner Auferstehung lesen wir das in Lukas 24. Jesus sagte zu den Jüngern: "Musste nicht der Christus dies leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?" (Lukas 24,26). Er begann bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.
Weiter im selben Kapitel, Lukas 24, ab Vers 44, spricht Jesus zu ihnen: "Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen." Da öffnete er ihnen das Verständnis, sodass sie die Schrift verstanden.
Das ist das Prinzip. In diesen Versen sagt Jesus ganz deutlich, dass wir im Alten Testament auf seine Ankunft vorbereitet werden. Auf eine geheimnisvolle Weise sind in vielem, was die Glaubensmänner damals erlebten, versteckte Hinweise auf Jesus Christus zu finden. Auch dort im Alten Testament, wie Lukas 24,27 sagt, wird von ihm, also von Jesus, geredet.
Und wenn wir nun, um im Bild zu bleiben, das Türchen zu Joseph noch einmal öffnen, finden wir dahinter ein besonders strahlendes Bild. Es ist ein besonders deutlicher Hinweis auf Jesus. Wahrscheinlich gibt es im ganzen Alten Testament keine andere Person, deren Leben so viele Parallelitäten zu Jesus aufweist wie Joseph, der Sohn Jakobs. Joseph selbst konnte das damals noch gar nicht wissen, weil Jesus noch nicht gekommen war.
Die exegetische Literatur ist wirklich voll davon. Es wird ausführlich darüber diskutiert, und es gibt sogar eigene Bücher, die sich ausschließlich dem Vergleich zwischen Joseph und Jesus widmen. Zum Beispiel das Buch von William Macdonald mit dem Titel "Joseph erinnert mich an Jesus" – ein ganzes Buch über diese Frage. Das ist offensichtlich ergiebig.
Natürlich muss man auch aufpassen, sich nicht in Spekulationen zu verlieren. Dennoch sind einige Analogien einfach nicht zu übersehen. William Macdonald schreibt in seinem Buch dazu: "Die Ähnlichkeiten sind unübersehbar. Wir können Josefs Geschichte nicht lesen, ohne an den Retter der Welt zu denken." Josef lebte zweitausend Jahre vor Jesus, und Menschen, die sich natürlich nicht absprechen konnten, schrieben die Biografien beider. Trotzdem besteht eine frappierende Vergleichbarkeit. Das wird deutlich, sobald wir uns dem Wort zuwenden.
Einige Beispiele: Beide werden von ihrer Familie zeitweilig verstoßen. Beide beginnen ihren Dienst in der Öffentlichkeit mit etwa dreißig Jahren. Von Joseph haben wir das gelesen, und von Jesus heißt es in Lukas 3,23: "Als Jesus auftrat, war er etwa dreißig Jahre alt."
Beide werden unter bedrängten Umständen für einige Zeit nach Ägypten gebracht. Jesus kurz nach seiner Geburt, Joseph mit siebzehn Jahren. Der eine, Jesus, muss fliehen, der andere, Joseph, wird verschleppt. Beide widerstehen der Versuchung, hinter der Satan steckt. Beide erweisen sich als überlegene Ratgeber in Situationen, die sonst niemand mehr übersieht und bewältigt.
Vom Messias heißt es in Jesaja 9: "Er ist ein wunderbarer Ratgeber." Und das war auch Josef. Beide müssen den Weg tiefer Erniedrigung antreten, um anschließend zu großer Macht und Herrlichkeit erhöht zu werden. Beide ertragen Leid, das sie nicht verdient haben, um anschließend umso strahlender über das Leid zu triumphieren.
Beide haben die Aufgabe, Sünde und Schuld anderer aufzudecken und dann auch den Weg zur Vergebung und Versöhnung zu bahnen. Man muss also sehen, dass hier keine verwegenen Spekulationen vorliegen, um diesen Vergleich an den Haaren herbeizuziehen. Man muss einfach die Analogien im Text erkennen.
Diesen Befund hat der Alttestamentler Helmut Frey ebenfalls formuliert. Er nennt diese Vorboten auf Christus, die sich hinter den früheren Türchen des Adventskalenders verbergen, einen Widerschein, den der Kommende über die Jahrhunderte hinweg in den Menschen des Glaubens weckt.
Diesen Widerschein findet er zum Beispiel bei Abraham, bei Mose und bei David. Dann resümiert Frey und sagt, dass die Josefs-Geschichte besonders vielgestaltig vom Hinweis auf Christus erfüllt ist.
Das ist natürlich ein weiterer Hinweis auf die göttliche Inspiration der Bibel. Der Heilige Geist hat etwa 1900 Jahre vor dem Kommen Jesu diese Vorhinweise auf Jesus in die Josefs-Berichte eingebaut, auch in das Leben von Josef selbst. Weder Josef noch der Schreiber der Genesis konnten dies wissen.
Anschließend folgt das persönliche Bekenntnis von Frey, nachdem er das aufgezeigt hat. Dieses möchte ich wörtlich vorlesen:
Er schreibt dort: „Manche mag vielleicht das Aufspüren solcher Beziehungen zwischen einzelnen Zügen der alttestamentlichen Erzählung und dem neutestamentlichen Geschehen ärgerlich sein. Möchte er sich dann längere Zeit in die Josefs-Geschichte vertiefen, wird sein Widerstand gegen diese Betrachtungsweise der Schrift einfach an der Macht der Schrift selber zerbrechen.“
Dann folgt das persönliche Zeugnis, ebenso wie der Widerstand des einst historisch-kritisch eingestellten Verfassers an ihr zerbrochen ist.
Professor Frey sagt: „Ich war mal ein echter Bibelkritiker, aber die Texte sind mir einfach zu stark geworden. Ich wollte es erst nicht wahrhaben, aber die Texte haben mich überführt. Sie haben meine Vorurteile weggewischt und mich auch gezwungen, diese offensichtlichen Bezüge zwischen Joseph und Jesus zu sehen.“
Und was den Fall Joseph nun besonders spannend macht, auch wenn er ja nicht der einzige ist: An seinem Leben sehen wir nicht nur, wie Gott in der Geschichte handelt. Das haben wir uns ja schon oft vor Augen geführt. Gott lässt sich von Widrigkeiten nicht hindern. Oft gebraucht Gott gerade das Böse, um daraus Gutes entstehen zu lassen.
Wir haben an Joseph also nicht nur gesehen, wie Gott in der Geschichte wirkt, sondern durch die Parallelen zu Jesus bekommen wir auch Hinweise darauf, wie Gott persönlich ist. Es geht also nicht nur darum, wie Gott handelt, sondern auch darum, wie er ist.
Jetzt könnte man natürlich fragen: Wozu braucht es da Joseph oder Mose? Warum geht Gott bei seiner persönlichen Annäherung an diese Welt, die ihm ja sowieso gehört, einen so weiten Weg durch die Geschichte? Warum muss es diesen heilsgeschichtlichen Adventskalender geben, der sich über Jahrtausende hinwegzieht? Warum macht Gott nicht einfach direkt? Warum müssen erst so viele kleine Türchen geöffnet werden, bis uns Gott schließlich das große Fenster der Heiligen Nacht aufmacht?
Warum? Einen Hinweis darauf finden wir bereits im Hebräerbrief. Dort heißt es am Anfang, Hebräer 1: Nachdem Gott vor Zeiten vielfach und auf vielerlei Weise zu den Vätern durch die Propheten geredet hat, hat er in diesen letzten Tagen zu uns durch den Sohn gesprochen.
Gott hat viele Türchen für uns vorbereitet, hinter denen wir Informationen erhalten. Vielfach und auf vielerlei Weise hat er in diesen letzten Tagen zu uns gesprochen – durch den Sohn.
Er hat die Menschen vorbereitet, und zwar auf diesen letzten, entscheidenden Schritt. Warum? Damit wir ihn umso besser verstehen können. Damit wir Jesus besser in Gottes Plan und in die Geschichte einordnen können.
Gott hat das lange vorbereitet und entfaltet, damit wir ganz sicher wissen können, dass sich hier ein göttlicher Plan entfaltet. Einen Ratschluss Gottes, wie Paulus das genannt hat, einen Ratschluss, den Gott von Ewigkeit her gefasst hatte.
Genauso hat Jesus dann auch auf diese Vorboten im Alten Testament verwiesen. Er unterstützte genau diese Interpretation, wenn er seine Jünger vergewissern wollte und ihnen Mut machen wollte – gerade in Situationen, in denen es äußerlich nach Scheitern aussah.
Da öffnete Jesus ihnen diese Türchen und sagte: „Schaut euch das an!“ Zum Beispiel in den Leidensankündigungen, als die Luft immer dünner wurde, kurz vor der Kreuzigung. In Lukas 18,31 sagt Jesus: Es wird alles vollendet werden, was bei den Propheten über mich geschrieben steht. Schaut es euch an.
Es ist gut denkbar, dass Jesus auch gesagt hat: „Ihr wisst doch, was über Josef steht. Er musste ganz tief fallen, jahrelang ins Gefängnis, und dann hat Gott ihn zu großer Macht und Herrlichkeit erhöht. Bei mir wird es genauso sein, nur noch viel strahlender und umfassender.“
Verstehen Sie: Alle kleinen Türchen im heilsgeschichtlichen Adventskalender sind für uns eine starke Glaubenshilfe. Sie zeigen nämlich, dass Gott die Geschichte nicht aus dem Ruder laufen lässt.
Sie zeigen, dass Gott seine Pläne unfehlbar verwirklicht – auch wenn wir manche Wege nicht verstehen.
Das Timing von Advent ist kein Zufallsprodukt. Jesus ist nicht einfach irgendwann im Lauf der Geschichte aufgetaucht und dann war er eben da. Die Bibel sagt vielmehr: Als die Zeit erfüllt war.
Galater 4,4 sagt das Paulus: „Als die Zeit erfüllt war, als es genau passte, als der ideale Zeitpunkt gekommen war, den Gott beschlossen hatte, da sandte er uns seinen Sohn.“ Paulus hätte auch schreiben können: Als all die kleinen Türchen in Gottes Adventskalender nach und nach geöffnet worden waren, da sandte Gott seinen Sohn. Nur dort wird es hell, nur dort.
Wir können froh sein, dass es diese vielen kleinen Fenster vorher gibt. Für Gottes Volk Israel bedeuteten sie zusätzlich, wenn ich das so sagen darf, eine therapeutische Hilfe, um das Volk auf die Begegnung mit dem Messias vorzubereiten. Denken Sie an eine Augenoperation: Wenn jemand eine schwere Augenoperation hatte, wird er danach nicht sofort dem grellen Sonnenlicht ausgesetzt. Wahrscheinlich bekommt er erst einmal eine Binde vor die Augen, dann vielleicht eine Sonnenbrille, damit er sich schrittweise an das Licht gewöhnen kann.
Paulus hatte bei seiner Bekehrung erlebt, was das Licht bewirkt, wenn es einen unvorbereitet trifft. Er erblindete zunächst. Aber Gott hat sein Volk vorbereitet, nach und nach sehende Augen für den Messias zu bekommen. Gerade seinem eigenen Volk gegenüber hat Paulus diese Vorboten, diese alttestamentlichen Hinweise oft als eine missionarische Denkhilfe verwendet.
Paulus nutzte sie gegenüber den Israeliten als apologetisches Argument und sagte: Seht her, es steht in unseren eigenen Heiligen Schriften. Er zeigte, wie das Alte Testament das Porträt des Messias Mosaikstein für Mosaikstein, Puzzleteil für Puzzleteil, Türchen für Türchen zusammensetzt – und dann ist er da.
Wir haben das große Privileg, diese Berichte über Josef schon mit Augen zu lesen, die durch das Neue Testament geschärft sind. Das ist unser Vorteil. Für die meisten von uns ist es heute nicht der erste Advent, sondern wir wissen, was hinter dem 24. zu finden ist. Nur dort ist das Licht, nur hinter dem 24.
Und in diesem Licht, in diesem Licht wollen wir nun im weiteren Verlauf der Predigt noch einmal die letzten Verse von Genesis 41 lesen. Dabei wollen wir speziell nach der Nähe zwischen Joseph und Jesus suchen.
Ich lese noch einmal die letzten Verse 53 bis 57 aus Kapitel 41 vor.
Zur Situation noch ein kurzer Hinweis: Wir steigen in die Zeit ein, als die sieben fetten Jahre vorbei sind und die sieben mageren Jahre begonnen haben. Es ist also genau alles so gekommen, wie Joseph es dem Pharao vorausgesagt hatte.
Sie erinnern sich, mit diesem Vorwissen konnten sie sieben Jahre lang umsichtig wirtschaften. Wir hatten in Vers 48 gelesen – nur noch einmal zur Erinnerung: „Und Joseph sammelte die ganze Ernte der sieben Jahre.“
Mit „die ganze Ernte“ ist in diesem Zusammenhang die Abgabe von einem Fünftel gemeint, die Joseph vorher festgelegt hatte. Er hat sich also nicht entschlossen, die ganze Ernte einzukassieren, sondern es geht hier vom Kontext her um den Fünftel. Das wird auch noch einmal bestätigt in diesem Kapitel in den Versen 34 und 35, wo es heißt: „Sorge dafür, dass er Amtleute im Land verordne und nehme den Fünftel in Ägyptenland in den sieben reichen Jahren und lasse sie sammeln den ganzen Ertrag der guten Jahre.“
Also ist der Fünftel der ganze Ertrag. Und so ist das auch in Vers 48 gemeint: Joseph sammelt den ganzen Ertrag, also diese zwanzig Prozent, ein. Dadurch kann er alle versorgen und ist für die schweren Jahre gerüstet.
Weiter mit Vers 53: „Als nun die sieben reichen Jahre im Land Ägypten um waren, da fingen die sieben Hungerjahre an zu kommen, wie Joseph gesagt hatte. Und es entstand eine Hungersnot in allen Ländern, aber in ganz Ägypten war Brot.“
Als nun ganz Ägyptenland auch Hunger litt, schrie das Volk zum Pharao um Brot. Doch der Pharao sprach zu allen Ägyptern: „Geht hin zu Joseph, was er euch sagt, das tut.“
Als nun im ganzen Land Hungersnot herrschte, tat Joseph alle Kornhäuser auf und verkaufte den Ägyptern. Denn der Hunger wurde mit der Zeit immer größer im Land. Und alle Welt kam nach Ägypten, um bei Joseph zu kaufen, denn der Hunger war groß in allen Ländern.
Drei Ähnlichkeiten entdecken wir hier zwischen Joseph und Jesus. Die erste ist, dass sich beide um das elementare, also das existenzielle Bedürfnis der Menschen kümmern. Das ist unser erster Punkt: das elementare Bedürfnis.
Es fehlt nicht an irgendetwas, sondern es fehlt – woran? Am Brot. Es geht nicht um Luxus oder Abwechslung, nicht um exotische Gewürze, sondern vor allem um Brot. Es geht darum, zu überleben und nicht zu verhungern.
Wir hatten neulich schon gesehen, an welcher Stelle das ägyptische System verletzbar war: War die Nilschwemme zu niedrig, vielleicht weil zu wenig Regen im Sudan gefallen war, dann konnte weniger Land bebaut werden. Es gab Versorgungsengpässe, bisweilen sogar Hungersnöte. Joseph hat nun die schicksalhafte Aufgabe, diese elementare Not zu bewältigen, von der die ganze Existenz Ägyptens abhängt – das elementare Bedürfnis.
Auch bei den Israeliten war von frühester Zeit an Brot das Hauptnahrungsmittel. Es beginnt schon in der Urgeschichte, in 1. Mose 3,19, wo Gott sagt: „Du sollst im Schweiße deines Angesichts dein Brot essen.“ Brot wird so zum Oberbegriff für die gesamte Nahrung, die wir brauchen. Deshalb lehrt der Herr Jesus uns im Vaterunser zu beten: „Unser täglich Brot gib uns heute.“
Sogar für uns ist das noch sprichwörtlich, wenn wir sagen: „Solange das Brot noch auf dem Tisch ist, kommen wir noch durch.“ Brot wird in der Bibel zu einem Synonym für die Grundausstattung, die der Mensch unbedingt braucht, um zu überleben – die Grundausstattung, die wir als Menschen insgesamt benötigen.
Die klassische Stelle dafür ist Jesaja 55. Wir können das jetzt nicht im Einzelnen auslegen, aber ich möchte vor allem auf Vers 2 hinweisen, wo Gott sagt: „Warum gebt ihr Geld aus für das, was kein Brot ist, und euren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch einen köstlichen Laben!“
Der Zusammenhang macht deutlich, dass es hier nicht nur um körperliche Versorgung geht, sondern um das geistliche Überleben der Menschen. Es geht um das Brot der Seele, um die Frage: Rettung oder Verdammnis, Himmel oder Hölle, Überleben oder ewige Verdammnis. Darum geht es. Wir brauchen ein Brot, das unseren tiefsten Hunger stillt, unser elementarstes Bedürfnis.
Und wissen Sie, worin das Problem besteht? Dass wir diesen Hunger oft gar nicht bemerken, dass wir unser elementarstes Bedürfnis oft nicht verstehen. In der medizinischen Diagnostik gibt es den Begriff des „Hidden Hunger“, des verborgenen Hungers. Ich habe versucht, das zu recherchieren.
Der Bedarf an Kalorien und Makronährstoffen ist zwar gedeckt, aber es mangelt an Mikronährstoffen. Das Problem ist, dass ein solcher Mangel lange unentdeckt bleiben kann – etwa an Eisen, Jod, Zink oder Vitamin A. Das heißt: Während du deinen Mangel an Makronährstoffen sehr schnell spürst, ist das bei den Mikronährstoffen meist nicht der Fall. Es ist ein verborgener Hunger, und das kann gravierende Folgen haben, besonders bei Kleinkindern und Babys, die sich noch in der Entwicklung befinden.
Dieser verborgene Hunger, wenn er nicht erkannt wird, kann gefährlich werden. Auch unsere Seele kann unter einem solchen Hidden Hunger leiden – einem verborgenen Hunger, der uns nicht bewusst ist und der uns trotzdem Schritt für Schritt immer mehr schädigt und Dinge in unserem Leben anrichtet, die nicht mehr wiedergutzumachen sind.
Wissen Sie, was dazu beiträgt, dass wir unseren echten Hunger nicht erkennen, dass wir dieses Elementarbedürfnis nach dem wahren Brot nicht spüren? Dass wir so viel anderes in uns reinstopfen, was wir gar nicht brauchen. Deshalb sagt Jesaja hier in 55,2 am Anfang auch: „Warum gebt ihr Geld aus für das, was nicht wirklich satt macht?“ Ihr besorgt euch ja Sachen, aber nur die falschen. Ihr gebt euch mit Fastfood und Popcorn zufrieden und merkt nicht, wie ihr dabei im Inneren verhungert.
Dann fährt Jesaja in Vers 3 fort: „Neigt eure Ohren her, sagt Gott, und kommt her zu mir, hört, so werdet ihr leben. Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen.“ Gott sagt: Ihr braucht mich, das macht satt. Du wirst in deiner Seele nur satt, wenn du in eine echte Gemeinschaft mit deinem Schöpfer zurückfindest, wenn du mit ihm versöhnt wirst und Frieden bekommst.
Deshalb sagt Gott: Kommt! Und damit wir genau wissen, wohin wir kommen sollen, hat Gott Advent gemacht, hat Gott uns Jesus geschickt. So wissen wir, dass er das unzugewandte Gesicht Gottes ist. Jesus sagt: „Komm zu mir und rufe mich an, und ich werde dich erhören.“ Das elementare Hungerbedürfnis des Menschen ist sein Bedürfnis nach Gott.
Sören Kierkegaard hat das in seinen erbaulichen Reden 1844 klassisch auf den Punkt gebracht. Er sagte: „Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit.“ Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit – Kierkegaard.
Das heißt: Was unser Menschsein ausmacht, ist, dass wir Gott brauchen. Ein Tier braucht Gott nicht, eine Pflanze braucht Gott nicht. Klar, ohne Gott können auch sie nicht überleben, aber sie haben kein Bedürfnis nach Gott und keinen Bedarf nach Gott. Das macht unser Menschsein aus: Wir brauchen Gott, und ohne ihn verhungern wir bei lebendigem Leibe.
Darin liegt auch das Geheimnis unserer Menschenwürde. Wir sind auf Gott bezogen, weil wir sein Ebenbild tragen, die Imago Dei. Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde. Gott schuf nicht die Tiere zu seinem Bilde, Gott schuf nicht die Pflanzen zu seinem Bilde, aber den Menschen schuf er zu seinem Bilde.
Darum kann auch unser Lebenshunger nirgendwo anders wirklich gestillt werden. Wir können ihn übertönen, verdrängen oder überdrüssig werden, aber niemals satt. Die Bibel kämpft nun darum, uns dieses elementare Bedürfnis vor Augen zu führen und uns immer wieder bewusst zu machen: Du brauchst Gott, sonst gehst du zugrunde. Du gehst kaputt, du trocknest ein, ohne es zu merken.
Die Bibel ist oft wie ein Arzt, der seinen übergewichtigen, infarktgefährdeten Patienten händeringend anfleht, endlich seine Ernährung umzustellen und mehr Sport zu machen.
Das ist nun die erste Gemeinsamkeit, die wir in diesen Versen finden: Das elementare Bedürfnis. Sowohl bei Joseph als auch bei Jesus geht es um ein elementares Bedürfnis, um Brot – bei Joseph äußerlich, bei Jesus innerlich.
Deshalb hat der Herr Jesus auch gesagt in Johannes 6,35: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Jesus sagt zu dir: Ich bin dein elementares Bedürfnis. Wenn du mich nicht findest und nicht zu mir kommst, wird dein Leben krachend scheitern. Früher oder später wird es deutlich werden, aber es wird krachend scheitern.
Deshalb hat Johannes in seinem ersten Brief geschrieben, 1. Johannes 5: „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.“
„Ich bin das Brot des Lebens“, sagte der Herr Jesus. Und wissen Sie, welches Wunder Jesus zu Beginn dieses Kapitels vollbracht hatte? In Johannes 6,35 sagte er: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Und wissen Sie, welches Wunder am Anfang dieses Kapitels steht? Das Brotwunder, die Speisung der fünftausend.
Dieses Brotwunder, das Jesus wirklich getan hat, benutzt er dann wie ein Gleichnis und sagt: Ja, ich gebe euch das Brot, aber ihr braucht ein Brot, das viel wichtiger ist als dieses, das ich euch jetzt für eure knurrenden Mägen gegeben habe. Ihr braucht das Brot für eure lechzenden Seelen. Und das kann nur ich euch geben. Ich bin das Brot des Lebens.
Und zwei Verse vorher hatte Jesus schon gesagt, in Johannes 6,33: „Denn Gottes Brot ist das, was vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt.“ Gottes Brot ist das, was vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt. Ich bin das Brot des Lebens. Deutlicher kann man es nicht sagen.
Das ist die erste Parallele, das elementare Bedürfnis, um das sich beide kümmern: Joseph und Jesus.
Dann gibt es ein zweites Thema: den universellen Mangel, dem sie sich gegenübersehen. Universal meint hier weltumspannend, jeden Menschen einschließend. Es ist ein universaler Mangel.
Noch einmal, ab Vers 54b: „Und es ward eine Hungersnot in allen Landen, aber in ganz Ägyptenland war Brot.“ Dann erreicht die Not auch Ägypten selbst. „Als nun ganz Ägyptenland auch Hunger litt, schrie das Volk zum Pharao um Brot.“ Und noch einmal in Vers 56: „Als nun im ganzen Lande Hungersnot war.“ Am Ende von Vers 57 heißt es: „Alle Welt kam nach Ägypten zu Joseph, denn der Hunger war groß.“
In allen Landen also – der Text führt uns das hier viermal vor Augen. Der Mangel ist universal, zunächst im Ausland, aber schließlich auch in Ägypten selbst. Eine Regel ohne Ausnahme, keiner kann sich davon freimachen.
Noch etwas ist interessant: Der letzte Vers, also Vers 57, ist wie mit einer Klammer mit demselben Wort zusammengehalten. Das wird manchmal unterschiedlich übersetzt. Hier in Luther 84 heißt es am Anfang von Vers 57 „alle Welt“ und am Ende von Vers 57 „in allen Landen“. Aber eigentlich steht im Hebräischen dasselbe Wort, und das ist „Kol Ha'aretz“, die ganze Welt. Die ganze Welt ist betroffen, eine Regel ohne Ausnahme. Alle Welt kam nach Ägypten.
Der Dienst von Joseph bekommt hier eine weltweite Wirkung, eine weltweite Dimension. Das elementare Bedürfnis nach Brot, das nicht gestillt wird, führt zu einem universalen Mangel. Das heißt, es gibt keinen Winkel in der ganzen Welt, wohin man vor diesem Mangel flüchten könnte.
Die nächsten Verse, ab Kapitel 42, Vers 1, werden zeigen, dass auch Gottes auserwähltes Volk – zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein, nämlich Jakob und seine Familie – vor diesem Mangel nicht verschont bleibt. Nicht nur die Heiden, nicht nur Ägypten, sondern auch das Volk Gottes.
In Kapitel 42 heißt es: „Als aber Jakob sah, dass Getreide in Ägypten zu haben war, sprach er zu seinen Söhnen: Was seht ihr euch lange an? Siehe, ich höre, es sei in Ägypten Getreide zu haben. Zieht hinab, kauft uns Getreide, dass wir leben und nicht sterben.“ In Vers 5 wird noch einmal betont: „Denn es war auch im Lande Kanaan Hungersnot.“
Alle sind betroffen von dieser elementaren Not, ohne Ausnahme.
Der Apostel Paulus wird das später über die Herzensnot ganz genauso sagen. Hören Sie, was der Apostel in Römer 3,9 schreibt: „Ja, was sagen wir denn nun? Haben wir Juden einen Vorzug vor Gott? Gar keinen, denn wir haben soeben bewiesen, dass alle Juden wie Heiden unter der Sünde leben.“
Der universelle Mangel betrifft Juden wie Heiden. Keiner kommt hier irgendwie aus der Falle heraus. Denn der leibliche Mangel, den Joseph bekennen muss, ist genauso universal wie der seelische Mangel, den Jesus bekämpfen muss.
Oder wie Johannes schreibt im ersten Brief Kapitel 5: „Die ganze Welt liegt im Argen.“ Umfassender kann man das nicht mehr sagen. Die ganze Welt liegt im Argen, die ganze Welt kam nach Ägypten, um bei Joseph zu kaufen.
Der russische Maler Ilja Glasunow, der inzwischen verstorben ist, hat diese Diagnose mit einem aufwühlenden Gemälde dargestellt. Vielleicht schauen Sie es sich heute Nachmittag oder in der Woche einfach im Internet noch einmal an: „The Mystery of the Twentieth Century“ – das Geheimnis des zwanzigsten Jahrhunderts, 1999.
Auf achtzehn Quadratmetern trifft man dort zwischen Blut und einem riesigen Stacheldraht, der sich durch das gesamte Bild hindurchzieht, viele bekannte Gesichter: Leonid Bresniew, John F. Kennedy, die Beatles, Jean-Paul Sartre, den existenzialistischen Philosophen, der gesagt hat, das Leben sei sinnlos, aber wir seien verdammt zu leben. Ernest Hemingway ist dabei, der berühmte Schriftsteller und Nobelpreisträger, der seinem Leben ein Ende setzte, weil er kein lohnendes Ziel mehr finden konnte und sagte: „Mein Weg geht nach Nirgendwo und ohne Ende nach Nirgendwo.“
Natürlich fehlen auch weitere Politiker nicht auf diesem Bild: Mussolini, Fidel Castro, die Massenmörder Hitler, Stalin, Mao Zedong. Aber auch Charlie Chaplin oder Alexander Solschenizyn, der mutige Literat, der das Elend der russischen Gulags aufdeckte.
Ein flammender Atompilz wirft ein bedrohliches Licht auf die Szene. Die Atmosphäre des Gemäldes atmet Weltuntergangsstimmung. Glasunows Bild liest sich wie eine Illustration zum Befund des Propheten Jesaja.
Jesaja schreibt: „Finsternis bedeckt das Erdreich und dunkel die Völker.“ Universal, kein Winkel verschont. Finsternis bedeckt das Erdreich und dunkel nicht nur einige Völker, sondern die Völker.
Glasunow hat an beiden Seiten des Bildes sein eigenes Porträt eingezeichnet. Wenn man nach links schaut, sieht man Glasunow in etwas jüngeren Jahren, und wenn man nach rechts schaut, den alten Glasunow. Er schaut einen an, gerade der Ältere, als wollte er sagen: Ich kann es nur malen, ich kann nicht eingreifen, ich kann es nicht ändern.
The Mystery of the Twentieth Century.
Auch in unserem Bibeltext hier ist der Hunger und die Not riesengroß, der Mangel universal. Aber mittendrin ist eine einzige Person, die handelt und hilft. Mittendrin ist einer, zu dem alle kommen können.
Alle Welt kam nach Ägypten, um bei Joseph zu kaufen, um bei diesem Einzelnen. Sicher hatte er einige Mitarbeiter, aber er trug die Verantwortung, und er musste am Ende seinen Kopf hinhalten.
Hier haben wir eine dritte und entscheidende Parallele zwischen dem Dienst von Josef und dem Dienst von Jesus.
Zunächst hatten wir gesehen, dass es erstens ein elementares Bedürfnis gab – Stichwort Brot. Daraus erwuchs zweitens der universelle Mangel, dem sie sich gegenüber sahen. Nun braucht es drittens den genialen Erlöser. Das ist das Dritte, was sie verbindet: der geniale Erlöser.
Josef findet den Ausweg, er hat die Lösung. Nicht aufgrund seiner eigenen Kraft und Intelligenz, wie er selbst immer wieder betont. Sondern weil Gott sie ihm schenkt. Seine Prognose stimmt, seine Strategie funktioniert, seine Wirkung ist phänomenal. Alles wird gut.
Als in der späteren Phase der sieben Hungerjahre viele Ägypter mit ihren Vorräten ans Ende kommen, als es nicht mehr reicht, wenden sie sich an die höchste politische Instanz, die es dort gibt – den Pharao. Sie können nicht mehr klarkommen und flehen den Pharao um Hilfe an.
Was bekommen sie da für eine Antwort? „Aber der Pharao sprach zu allen Ägyptern: Geht hin zu Josef, was er euch sagt, das tut. Dann seid ihr richtig beraten.“ Er ist der geniale Erlöser für unser Land und in diesem Fall auch für die ganze Welt.
„Was er euch sagt, das tut.“ Wenn man schon etwas länger die Bibel liest, wird bei dieser Formulierung „Was er euch sagt, das tut“ aufgehorcht haben. Das kennen wir doch. Genau, das sind die Worte Marias bei der Hochzeit zu Kana, als der Wein ausgeht. Maria vertraut auf Jesus und gibt den Dienern eine Anweisung mit genau denselben Worten: „Was er euch sagt, das tut.“
Josef konnte wirklich viel ausrichten für die Ägypter, ebenso für sein eigenes Volk, wie wir ab Kapitel 42 im Buch Genesis genauer sehen werden. Er konnte viel bewirken, und trotzdem waren auch seine Mittel begrenzt. Er konnte zwar das Bedürfnis nach irdischem Brot in dieser Epoche stillen, aber wir wissen ja, dass wir das Brot vom Himmel brauchen.
So müssen wir sagen: Josef bleibt ein starker Fingerzeig, ein leuchtender Hinweis auf den noch größeren genialen Erlöser. Der Gott, dem Josef vertraute, hatte ja auch damals schon längst angekündigt, dass er diesen finalen genialen Erlöser einmal schicken würde.
Auch Jesaja, mehr als tausend Jahre nach Josef, hoffte noch auf diesen größeren Erlöser, den er als Prophet ankündigen durfte. Wie machtvoll hatte Jesaja das getan! Er kündigte an, dass dieser große Erlöser in Bethlehem geboren werden würde (Jesaja 7). Dass er der Sohn Gottes wäre: „Ein Kind ist uns gegeben, ein Sohn ist uns geboren, und die Herrschaft wird auf seiner Schulter ruhen. Er wird den Frieden bringen und ist der wunderbare Ratgeber.“
Jesaja schrieb auch, dass dieser Messias am Kreuz für uns sterben würde (Jesaja 53). Darum konnte Jesaja im Frieden sterben, als er alt war. Obwohl der geniale Erlöser zu seinen Lebzeiten noch nicht gekommen war, wusste Jesaja, dass er noch kommen wird. Und dass er alles gut machen wird.
Das wird auch für uns reichen, die wir auf ihn gehofft haben – für Jesaja, Josef und Abraham. Es wird für alle reichen, was der große Messias einmal vollbringen wird. Deshalb konnten sie getrost sterben.
Jesaja gab aber auch denen eine Stimme, die ihre Sehnsucht spürten – die ja auch seine eigene Sehnsucht war. Sie hatten ein Türchen nach dem anderen im Adventskalender von Gottes Heilsgeschichte geöffnet. Sie hatten von Josef erfahren und von Mose gehört. Sie waren durch die Propheten gestärkt worden – ein Türchen nach dem anderen.
Aber ihn selbst, ihn, der alles klar machen würde für uns, den hatten sie noch nicht gesehen. Ihn, in dem wir endlich ganz bei Gott sein dürfen. Das war der letzte Vorbehalt. Gott hatte seine Boten geschickt, seine Macht erwiesen, aber er selbst war ihnen noch nicht nahegekommen.
Da blieb immer noch diese letzte Grenze – eine göttliche Verborgenheit. Die letzte, wichtigste Tür in diesem Adventskalender blieb versiegelt.
So legte Jesaja seine ganze Sehnsucht in dieses Gebet: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und herniederführst!“ (Jesaja 64,1). Ein Aufschrei der Sehnsucht! Vielleicht hast auch du schon so gebetet: „Ach, Herr, dass du den Himmel zerrissest und ich endlich deine Macht in meiner Not sehen kann!“
Und Gott sagt dir: „Ich bin doch da.“ Gott hat dieses Gebet erhört, er hat diese Sehnsucht erfüllt. Darum dürfen wir heute voller Glück Advent feiern. Denn als die Zeit erfüllt war, sandte Gott uns seinen Sohn.
Martin Luther beschrieb diesen Qualitätssprung von Josef und den Propheten hin zu Jesus so: „Die Propheten sind die Sterne und der Mond, aber Christus ist die Sonne.“ Die Propheten sind die Sterne und der Mond, aber Christus ist die Sonne. Nur dort ist es hell.
Denn nur er konnte sagen: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Josef konnte sagen: „Ich gebe euch Brot, damit ihr überlebt.“ Aber Jesus konnte sagen: „Ich bin das Brot des Lebens, das euch wirklich heil machen kann.“
Er allein ist der wahre geniale Erlöser.
Und zum Schluss möchte ich Sie noch einmal vor das Bild von Ilja Glasunow führen: Blut, Stacheldraht, Massenmörder. Die tapferen Dissidenten, das ganze Elend des zwanzigsten Jahrhunderts und aller Jahrhunderte.
Doch das Schönste an diesem Bild habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Überall in dem Dunkel von Glasunows Gemälde erscheint oben, in der Mitte, in einem strahlenden goldenen Lichtkegel Jesus Christus. Er schwebt über all diesem Elend in einem glänzenden weißen Gewand, das seine völlige Reinheit und Heiligkeit symbolisiert.
Ja, das ganze Gemälde wirkt wie ein einziges Zitat aus Jesaja 60: „Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker.“ Und wie geht es weiter? „Aber über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ Er ist der geniale Erlöser.
Dann wandert mein Blick noch einmal nach unten zu Albert Einstein, den Glasunow natürlich nicht in dieser Galerie vergessen hat. Ich denke an ein unerwartetes Zitat von Einstein, als er sagte: „Es gibt nur eine Stelle in der Welt, wo es kein Dunkel gibt, und das ist die Person Christi. In ihm hat Gott sich am deutlichsten vor uns hingestellt.“
Es gibt nur eine Stelle in der Welt – und das kann man auf diesem Bild auch sehen – wo es kein Dunkel gibt, und das ist die Person Christi. In ihm hat Gott sich am deutlichsten vor uns gezeigt. So wie seinerzeit alle Welt nach Ägypten kam, um bei Joseph zu kaufen, weil kein anderer in der Lage war, ihren Hunger zu stillen, so ist heute alle Welt eingeladen, persönlich zu Jesus zu kommen.
Die Weihnachtsbotschaft hat diese universale Reichweite: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe.“
Zu Jesus zu kommen heißt nichts anderes, als mein Herz für ihn zu öffnen und ihn anzuflehen, mit mir Verbindung aufzunehmen und meine Schuld zu vergeben. Er will alles wegnehmen, was ich in meiner Ignoranz zwischen mir und Jesus, zwischen mir und dem Vater im Himmel aufgebaut habe – in einem gottlosen Leben, egal wie gut es vor den anderen dargestellt gewesen sein mag.
Aber er will kommen, er will vergeben, er will alles heil und rein machen. Machet die Tore weit!
Von Albert Einstein wissen wir nicht, ob er am Ende seine eigene Herzenstür für den König geöffnet hat. Das wäre eigentlich nur logisch gewesen, diesen letzten Schritt noch zu gehen.
Aber es ist eine Sache, Jesus zu bewundern, eine andere Sache zu sagen, dass er die einzige Stelle in dieser Welt ist, an der ich kein Dunkel erkennen kann, und dann andererseits doch das Herzstück seiner Botschaft zu verwerfen – so, wie es Einstein in einem Brief aus dem Jahr 1950 tat.
Dort schreibt Einstein: „Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott. Und ich habe dies auch nie bestritten, sondern habe es immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht. Wenn in mir etwas ist, das religiös genannt werden kann, dann ist es die grenzenlose Bewunderung für die Struktur der Welt, soweit unsere Wissenschaft sie enthüllen kann. Aber ich glaube nicht an einen persönlichen Gott.“
Verstehen Sie, wir wissen nicht, was in seinen letzten Stunden noch passiert ist. Aber wenn wir diese Äußerung zur Grundlage nehmen, ist Einstein ein tragisches Beispiel dafür, dass man Jesus bewundern kann, dass man ihn in gewisser Weise achten kann und ihn am Ende trotzdem verwerfen kann.
Warum? Weil man sich nicht vor ihm beugen will, weil man nicht persönlich verbindlich werden und sein Leben vor diesen Gott bringen will und seine Abhängigkeit von ihm zugeben will. Genau das war ja der Grund seines Kommens: uns mit dem persönlichen Gott in Kontakt zu bringen.
Wie hätte er das deutlicher zeigen sollen? Jesus ist ja selbst Gott. Und Jesus ist der Beweis, dass Gott – auch Gott, sein Vater – Person ist. Jesus hat gesagt: „Wer mich sieht, der sieht auch den Vater.“
Das heißt, die letzte, größte Tür des Adventskalenders ist sperrangelweit offen, und nur dort ist es hell, seitdem Jesus kam. Und seitdem Jesus kam – und das steht am Schluss – kann keiner von uns dieser persönlichen Frage mehr ausweichen.
Wenn ich das in einem Bild sagen darf: Wir können nicht mehr dieser Frage ausweichen, was du persönlich mit dieser ausgestreckten Hand tun wirst, die Gott dir in seinem Sohn entgegenreicht. Vielleicht heute zum ersten Mal. Vielleicht hat Gott dich schon öfter in deinem Leben gerufen.
Es ist nicht meine Frage, die ich dir stelle, sondern es ist Gottes Frage, die er dir stellt.
Deshalb kleide ich sie zum Schluss lieber in Worte des bayerischen Theologen Hermann von Betzel, der im frühen zwanzigsten Jahrhundert wirkte und die Gottesfrage so auf den Punkt brachte:
Er geht dir nach an dein Bett, ob du wohl abends einmal an ihn denkst. Du bist müde, ziehst dich aus und legst dich hin, liest noch einen kurzen Roman, machst die Lampe aus und vergisst ihn, der dich geliebt hat.
Dann bleibt er an deinem Bett und rüttelt dich nachts einmal wach. Er fragt, ob du ihn um seine Liebe und Vergebung bitten willst. Du drehst dich um und nimmst eine Tablette, um wieder schlafen zu können.
Am nächsten Morgen stehst du wieder auf für deinen vollen Arbeitstag. Irgendwann, auf der Höhe des Tages, lässt er dich dein Herz spüren. Er fragt, ob du nicht einmal nach ihm fragen willst, ob du nicht einmal ihn bitten willst: Herr, nun komm!
Allmächtiger Herr und Gott, danke, dass du auf der Suche nach uns Menschen bist, dass du uns trotz unserer Ignoranz und Gottlosigkeit nicht aufgegeben hast. Danke, dass die Genialität und Präzision deines Planes so nachvollziehbar ist in diesem großen Kalender der Heilsgeschichte, den du uns in deinem Wort enthüllst.
Ja, und danke, dass wir schon das Ende kennen dürfen, Herr Jesus, dass wir schon von dir wissen dürfen, der du als Mensch in diese Welt gekommen bist. Danke, dass der Weg frei ist und dass du auch für uns das Brot des Lebens geworden bist.
Danke, dass du da bist, Herr. Wir bitten dich, wir bitten dich wirklich innig, dass noch viele unserer Zeitgenossen das erkennen, dass sie den verborgenen Hunger ihrer Seele endlich wahrnehmen und zugeben, dass nur du diesen Hunger stillen kannst.
Herr, wir brauchen dich, und wir wollen nicht aufhören, dich zu ehren, anzubeten und darüber zu staunen, dass du wirklich gekommen bist, dass du zu uns gekommen bist und dass du uns so lieb hast. Amen.