Einführung in das Thema der Gottesfinsternis
Das Thema heute Morgen hat einen ungewöhnlichen Titel. Vielleicht waren Sie im ersten Moment auch ein wenig schockiert: „Das Problem der Gottesfinsternis im zwanzigsten Jahrhundert“.
Das Wort „Gottesfinsternis“ ist eine Wortschöpfung aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Es wurde in Anlehnung an den Begriff „Sonnenfinsternis“ geprägt. Bei einer Sonnenfinsternis wird das Licht der Sonne verdunkelt, obwohl die Sonne selbst noch in voller Leuchtkraft strahlt. Auf der Erde sind wir bei einer totalen Sonnenfinsternis jedoch zum großen Teil vom Licht der Sonne beraubt.
Analog dazu soll der Ausdruck „Gottesfinsternis“ eine Zeit beschreiben, in der das Licht Gottes nicht mehr so wahrnehmbar ist wie in anderen Zeiten. Das bedeutet jedoch nicht, dass Gott nicht mehr da ist oder sich nicht offenbart. Vielmehr erleben und erfahren wir Menschen Gott in solchen Zeiten nicht mehr auf die gleiche Weise wie zuvor.
Der Begriff wurde vor allem durch Martin Buber bekannt. Nach der schrecklichen Vernichtung von 6,8 Millionen Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure in Europa konnte er nach Amerika fliehen. In den 1950er Jahren, kurz nach dem sogenannten Holocaust, hielt er dort einen Vortrag mit dem Titel „Gottesfinsternis“.
Martin Buber ist vielen durch seine Bibelübersetzung bekannt. Dabei hat er auch viel wortschöpferisch gearbeitet und versucht, den Klang des Hebräischen in die deutsche Sprache zu übertragen. In seinem Vortrag in den USA, der später auch als kleines Büchlein veröffentlicht wurde, beschreibt er die Problematik, dass Gott nicht mehr gleich wahrnehmbar ist und irgendwie verborgen scheint.
Diese Problematik hängt eng zusammen mit dem schrecklichsten Weltkrieg und der grausamsten Vernichtung eines Volkes, die die Menschheit je erlebt hat. Dabei treten Fragen in den Vordergrund wie: Wie konnte es überhaupt möglich sein, dass Gott nicht eingegriffen hat? Warum hat Gott so etwas zugelassen? Wo ist Gott?
Die historischen und kulturellen Hintergründe der Gottesfinsternis
Man kann sagen, dass das 20. Jahrhundert durch zwei der schrecklichsten Kriege der Weltgeschichte geprägt ist. Der Erste Weltkrieg war ein absoluter Höhepunkt, und man dachte, so etwas dürfe nie wieder geschehen. Doch der Zweite Weltkrieg war noch viel schlimmer.
Diese Erfahrungen haben das 20. Jahrhundert massiv geprägt und tiefste Verwundungen ausgelöst, die bis heute anhalten. Deshalb ist das Problem der Gottesfinsternis aufgekommen und wurde intensiv diskutiert. Es gab verschiedene Theologen, die in der Nachkriegszeit sagten, dass man seit der Judenvernichtung nicht mehr auf die gleiche Weise über Gott reden könne wie früher.
Neben dem Aufbrechen der Bosheit des Menschen im schlimmsten Sinne ist das 20. Jahrhundert auch gekennzeichnet durch einen überwältigenden Aufschwung in Wissenschaft, Medizin und Technik. Viele Menschen entwickelten dadurch die Haltung oder den Spruch, dass fast alles oder sogar alles machbar sei. Der Mensch könne alles erreichen, und man könne fast alles oder schließlich alles erklären.
Diese Entwicklungen haben natürlich stark dazu beigetragen, dass Gott immer mehr aus dem Alltagsleben und aus dem Denken verdrängt wurde – ganz besonders bei den Menschen in Europa und Nordamerika.
Hinzu kommt die Evolutionslehre von Darwin, die zwar bereits im 19. Jahrhundert aufkam, aber erst im 20. Jahrhundert unter vielen Intellektuellen populär wurde. Die Theorie drang jedoch erst im 20. Jahrhundert in alle Volksschichten vor.
Die Meinung entstand, dass man die Entstehung des Lebens, die Entwicklung von Pflanzen, Tieren und Menschen vollständig durch natürliche Prozesse erklären könne. Diese Prozesse würden nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten ablaufen, sodass Gott für die Erklärung gar nicht mehr nötig sei.
Früher musste man Gott zur Erklärung des Ursprungs aller Dinge heranziehen. Heute aber denken viele Menschen, dass dies nicht mehr notwendig ist. Deshalb glauben viele, dass man den Ursprung des Lebens ohne Gott erklären kann.
Gesellschaftliche Veränderungen und ihre Auswirkungen auf den Glauben
Ein weiterer Punkt ist, wie Gott aus unserer Gesellschaft verdrängt worden ist. Das hängt sicherlich auch mit der zunehmenden Mobilität und Schnelllebigkeit unserer Zeit zusammen. Durch Auto, Zug und Flugzeug ist man heute sehr schnell an einem anderen Ort, oft ohne große Probleme. Das bedeutet, man kann praktisch jeden größeren Flughafen der Welt innerhalb von 24 Stunden erreichen. Die Welt ist dadurch sehr klein geworden, alles scheint machbar zu sein. Man kann schnell hierhin und dorthin reisen.
Auch haben wir viele Mittel, um das Leben zu beschleunigen. Wenn wir an die Zeit denken, als die drei Männer Abraham besuchten (1. Mose 19), sieht man den Unterschied deutlich. Die drei Männer kamen, und Abraham lud sie ein. Was musste er dafür tun? Er musste zuerst ein Kalb schlachten. Stell dir vor, jemand käme heute überraschend zu Besuch – könnten wir dann schnell ein Kalb schlachten? Wahrscheinlich nicht.
Interessant ist auch, dass Abraham selbst viel geholfen hat, das Essen vorzubereiten, und die Männer bediente, nicht Sarah. Außerdem musste man schnell Brot backen. Heute machen wir das viel einfacher: Wenn jemand überraschend kommt, geht man zum Tiefkühler, holt etwas heraus, erwärmt es in der Mikrowelle – und in kurzer Zeit ist das Essen fertig.
Unser Verhältnis zu den Alltagssachen hat sich also völlig verändert. Wie können wir noch mit voller Überzeugung das Gebet „Unser täglich Brot gib uns heute“ sprechen, wenn wir doch Essen für eine ganze Woche im Tiefkühler haben oder sogar noch mehr? Wie kann man das Gebet noch auf den heutigen Tag beziehen, wenn man längst vorgesorgt hat und alles schnell verfügbar ist?
Zur Schnelllebigkeit gehört auch, dass man alles schnell erreichen kann. Dazu kommen die Massenmedien, Telefon, Fax, Videotext. Wenn man morgen verreisen möchte, ist das kein Problem: Man bucht schnell ein Ticket und hat es meist schon am nächsten Tag. Es ist nicht nur fast alles machbar, sondern auch alles sehr schnell machbar.
Was machen wir am Samstagabend, wenn wir Geld brauchen und alle Banken geschlossen sind? Dann geht man einfach zum Postomat und holt sich Geld. Man kann alles so schnell haben und alles, was man will. Das hat natürlich Gott weitgehend verdrängt, denn früher musste man anbeten, um etwas Spezielles zu erhalten. Heute kann man vieles selbst regeln.
Ein konkretes Beispiel: Wenn ein Ehepaar keine Kinder bekommt, was hat man biblisch gemacht? Isaak hat zwanzig Jahre für seine Frau gebetet (1. Mose). Dann wurde das Gebet erhört. Heute geht man zum Gynäkologen, und in einem großen Prozentsatz der Fälle kann dieser helfen, sodass Kinder geboren werden. Wo braucht man da noch Gott? Man kann es ja selbst machen. Das hat Gott massiv aus unserem Denken verdrängt.
Auch die Angst vor Krankheiten ist bei vielen gewichen. Wenn etwas passiert, kann man eine Spritze bekommen, sich impfen lassen oder operiert werden. Die Abhängigkeit von Gott ist weitgehend verdrängt worden, weil wir auf allen Gebieten abgesichert sind.
Auch die Angst vor finanziellen Problemen im Alter ist nicht mehr so präsent. Früher dachte man, wenn man viele Kinder hat, könnten diese einen im Alter versorgen. Dieses Denken braucht man heute nicht mehr, denn es gibt die AHV und Pensionskassen, je nach Fall auch die zweite und dritte Säule. Die zweite und dritte Säule sind zusätzliche Versicherungsmöglichkeiten zur Altersversorgung, die Standard ist.
Gerade bei Krankheiten, die früher das ganze Vermögen hätten kosten können, sind wir heute abgesichert. In der Bibel gibt es Beispiele, etwa die Frau, die unter Blutfluss litt (Evangelium). Sie gab ihren ganzen Besitz für Ärzte aus, die ihr nicht helfen konnten. Heute haben wir Krankenkassen, die zahlen und zahlen.
Konkret kenne ich einen Bekannten, der ein neues Herz bekommen hat. Das kostet natürlich einiges, etwa 50.000 Franken, dazu kommen ständige Nachkontrollen. Das Herz hat er nicht selbst bezahlen müssen. In diesem Sinne versucht er, sich fit zu halten. Sobald es aber um große Beträge geht, muss man keine Angst mehr haben, dass man dadurch in finanzielle Not gerät oder sein ganzes Vermögen verliert.
Man ist auch gegen Unfälle versichert, hat eine Hausratversicherung – im Kanton Aargau ist das sogar vorgeschrieben – sowie Sozialversicherungen. Was passiert, wenn man arbeitslos wird? Das ist natürlich ein Schlag, aber nicht mehr so existenziell, dass man verhungern müsste. Man weiß, man ist abgesichert. Verhungern muss niemand, dafür gibt es Möglichkeiten.
Weitere Versicherungen sind die Motorfahrzeugversicherung, Haftpflichtversicherung, Reiseversicherung und Diebstahlversicherung. Alle Lebensbereiche sind abgesichert. Somit ist die Frage, wie man heute noch auf Gott in der Not vertrauen kann, nicht mehr dieselbe wie früher.
Die neue Art von Mensch im zwanzigsten Jahrhundert
Durch die Schnelllebigkeit, die ständige Erklärbarkeit und die vielen Absicherungen hat sich im zwanzigsten Jahrhundert eine neue Art von Mensch entwickelt. Man könnte diese Art von Mensch im Abigland mit dem verlorenen Sohn aus Lukas 15,11-13 vergleichen. Dieser Sohn hat sich emanzipiert. Er sagt zu seinem Vater: „Jetzt ist genug, ich gehe. Gib mir mein Erbteil, ich will selbständig und unabhängig sein.“
Wir wissen, dass der Vater in diesem Gleichnis ein Bild für Gott ist. Der verlorene Sohn macht sich also unabhängig von Gott. Er ist selbständig und emanzipiert. Er braucht den Vater nicht mehr, nur noch das Geld, und dann kann er gehen. Das ist eine sehr treffende Beschreibung des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert im Abigland.
Oft habe ich erlebt, dass wenn man mit Menschen über Gott und eine Beziehung zu Gott spricht, das Argument kommt: „Ich brauche Gott nicht für dies oder das.“ Oder: „Ich kann auch ohne Gott glücklich sein.“ Dabei müsste man erklären, dass der Hauptpunkt des Evangeliums nicht ist, wie der Mensch glücklich werden kann. Das ist gar nicht die zentrale Frage.
Es gibt Menschen, die glücklich sind und keine Beziehung zu Gott haben. Was genau Glück im Detail bedeutet, ist eine andere Frage. Aber viele fühlen sich wohl, haben vielleicht eine funktionierende Ehe und eine schöne Familie. Das Evangelium hat jedoch nicht in erster Linie zum Ziel, zu erklären, wie man eine glückliche Ehe oder eine wunderbare Familie führt. Das könnte alles Nebenwirkungen sein.
Die Hauptsache ist, wie man mit Gott ins Reine kommen kann. Das ist der Punkt. Es ist also nur eine begrenzte Nützlichkeit zu denken: „Ich brauche Gott nicht, um dies oder das ausleben zu können, so wie ich lebe.“
Das bedeutet nicht, dass die meisten Menschen im Abigland Atheisten sind, die sagen: „Es gibt keinen Gott.“ Im Gegenteil, der größte Teil der Schweizer glaubt an etwas Höheres. Wobei man davon praktisch nichts sieht.
Ob das bekannt ist: In Deutschland hat jemand in einer Fußgängerzone auf einem Stuhl gestanden und ein Schild hochgehalten mit der Aufschrift: „Ich bin ein höheres Wesen.“ Das illustriert gut, wie wenig dieser Ausdruck eigentlich aussagt. Er hat das gemacht, damit die Leute ihn ansprechen und mit ihm ins Gespräch kommen. Er hat die Leute nicht angesprochen, sondern ist einfach da gestanden und hat gewartet, bis jemand ihn anredet.
Biblische Perspektiven auf Gottesfinsternis
Wir können dazu ein paar Verse lesen. Psalm 10, Vers 1, liest das bitte jemand vor:
„Warum, Herr, stehst du fern, versteckst dich in Zeiten der Not?“
Vielleicht auch noch der nächste Vers.
Im Hintergrund erläutert der Doktor Jürgen Hellingen, dass diese Verse die Erfahrungen widerspiegeln, die Menschen in Zeiten von Anschlägen und Bedrängnissen gemacht haben. Wenn man zum Beispiel daran denkt, wie die Juden vernichtet wurden, ist das ein treffendes Beispiel.
In der Zeit der Drangsal und des Zweiten Weltkriegs mit seinen schrecklichen Menschenvernichtungen war die Frage „Warum bist du fern? Warum greifst du nicht ein, wenn gesetzlose Menschen andere einfach vernichten?“ besonders präsent. Diese Verse umschreiben ein Stück weit die Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts, die unsere Zeit geprägt haben.
Dann Psalm 14, Vers 1. Kann wieder jemand lesen?
„Der Tor spricht in seinem Herzen: Es ist kein Gott.“
Das hätte David vor etwa dreitausend Jahren geschrieben. Das zeigt, dass Atheisten, die behaupten, Gott existiere nicht, nicht modern sind. Schon vor dreitausend Jahren gab es Menschen, die sagten: „Es ist kein Gott.“ Modern übersetzt wäre das: „Gott existiert nicht.“ Das ist das Problem des Atheismus.
Noch ein Vers: Zephanja 1, Vers 12. Zephanja ist einer der letzten Propheten im Alten Testament, der viertletzte.
„In jener Zeit wird es geschehen, dass ich Jerusalem mit Leuchten durchsuchen werde und die Männer heimsuchen, die auf ihren Dächern festsitzen und in ihrem Herzen sagen: Der Herr wird nichts Gutes tun und nichts Böses.“
Es geht mir hier um den Schlusssatz aus Vers 12. Es gibt Menschen, die sagen: „Der Herr macht nichts Gutes und nichts Böses.“ Sie bestreiten nicht unbedingt die Existenz Gottes, aber sie bestreiten, dass es einen Gott gibt, der eingreift und aktiv in der Geschichte und in unserer Gesellschaft handelt. Das beschreibt sehr gut den Geist des zwanzigsten Jahrhunderts.
Wenn wir uns der Problematik, die ich versucht habe zu schildern, im Licht der Bibel nähern, wird noch Folgendes deutlich: Ich habe das bisher vor allem aus der Sicht von Menschen beschrieben, die keine Beziehung zu Gott haben. Aber wir merken als Christen, dass wir diese Problematik ebenfalls empfinden.
Darum habe ich bei der Beschreibung des Themas auf der Einladung darauf hingewiesen, dass bibeltreue Christen allgemein gerne Bücher von bekannten Missionaren wie Hudson Taylor oder Jim Elliot lesen. Das hat verschiedene Gründe, aber sicher auch damit zu tun, dass man sieht, welche Erfahrungen diese Menschen tagtäglich mit Gott gemacht haben. Das löst eine gewisse Wehmut aus, und man fragt sich: Warum haben die das so erlebt – und ich nicht?
Wenn sich jeder fragen würde, wann er Gott das letzte Mal ganz unmittelbar und deutlich erlebt hat, dann könnte die Antwort lauten: vor zwei Jahren. Oder andere sagen: letzte Woche. Aber wenn man dann fragt, wann das vorherige Mal war, dann ist es doch meist lange her, etwa vor zwei Jahren und einer Woche.
Es ist also auch ein Problem, das Christen empfinden: Wie kann ich Gott unmittelbar in meinem persönlichen Leben erleben? Wir sind ja auch Teil dieser Gesellschaft.
Wir haben heute zum Beispiel nicht mehr die Probleme wie Menschen früher, wenn das Haus abgebrannt ist und sie wirklich nichts mehr hatten. Heute gibt es Hunderttausende von Versicherungen, man kann sein Recht einklagen und hat Anspruch darauf, dass das Haus wieder aufgebaut wird. Früher standen Menschen oft völlig mittellos da, ohne solche Rechte.
Auch Naturereignisse erleben wir anders. Zum Beispiel ein Gewitter: Wer hat beim letzten Gewitter sofort dankbar gesagt: „Gott ist groß“? Wahrscheinlich kaum jemand. Schnell denkt man: „Das sind elektrische Entladungen, das ist einfach zu erklären.“
Das heißt, wir haben heute im Allgemeinen nicht mehr die gleiche unmittelbare Beziehung zu Naturereignissen wie manche Menschen früher.
Das bedeutet, dass wir auch als Christen die Problematik der Gottesfinsternis empfinden. Den Beweis dafür werden wir noch sehen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass im zwanzigsten Jahrhundert sehr starke Bewegungen unter Christen versucht haben, das Problem der Gottesfinsternis zu lösen. Sie haben versucht, Antworten zu finden, damit Gott wieder richtig offenbar wird und in unserer Kultur strahlt.
Ich betone noch einmal: Ich spreche nicht über die Dritte Welt, denn dort ist die Situation oft sehr anders. In unserer Kultur hingegen gibt es zwar auch deutliche Aufbrüche und Erweckungen. Das Christentum breitet sich in der Dritten Welt stark aus, aber im Westen ist das nicht der Fall.
Es ist übrigens in 2000 Jahren Kirchengeschichte zum ersten Mal die Feststellung, dass das Christentum rückläufig ist. Das hat es noch nie gegeben. Unabhängig davon, mit welcher Methode das geschehen ist und was man unter Christianisierung versteht: Im frühen Jahrhundert hat sich das Christentum im Westen ausgedehnt. Heute sehen wir zum ersten Mal ein Zurückgehen. Darum spricht man von einer postchristlichen Zeit, also einer nachchristlichen Zeit.
Das ist ein ganz neues Phänomen.
Natürlich wird oft behauptet, es gäbe auch im Westen Erweckungen und ein massives Wachstum. In Amerika versucht man das mit Zahlen zu belegen.
Man konnte zeigen, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Megakirchen von 100 auf 4000 gewachsen ist. Eine Megakirche in Amerika ist eine Kirche, die am Sonntagmorgen mehr als tausend Gottesdienstbesucher hat.
Man kann also tatsächlich zahlenmäßig nachweisen, dass in den letzten etwa zwanzig Jahren die Zahl der Megakirchen von 100 auf 4000 gestiegen ist.
Aber ein paar kluge Leute haben dann versucht, eine zahlenmäßige Erhebung für die USA insgesamt zu machen. Die Feststellung war, dass es nicht mehr bibeltreue Christen gibt als vorher, sondern die Zahl eher rückläufig ist.
Wie erklärt man das? Durch Abwanderung.
Das heißt, kleine Gemeinden erleben ein massives Schrumpfen zugunsten großer Kirchen mit großer Infrastruktur. Das Wachstum von 100 auf 4000 Megakirchen hängt damit zusammen, dass viele aus kleinen Gemeinden abgewandert sind und diese sehr stark vom Aussterben bedroht sind.
Das ist eine gewaltige Problematik.
Das Thema heute Morgen soll ein Versuch sein, dass man sich dieser Problematik bewusst wird und versucht, sie im Licht der Bibel zu sehen. Dabei wollen wir herausfinden, welche Möglichkeiten die Bibel bietet, um in unserem Leben eine Veränderung zu bewirken.
Biblische Beispiele für Gottesfinsternis
Jetzt könnten wir unter dem zweiten Titel „Gott verbirgt sein Angesicht“ einige Stellen daraus lesen. Ich habe bewusst viele Bibelstellen aufgeführt. Das bedeutet nicht, dass man alle unbedingt lesen muss. Aber wer gerne mehr Material für sich haben möchte, findet hier einiges.
Beginnen wir mit 5. Mose 32,20. Gott sagt dort: „Ich will mein Angesicht verbergen.“ Es gibt also viele Stellen in der Bibel, die davon sprechen, dass Gott sich vor den Menschen verbergen will. Die Problematik der Gottesfinsternis ist somit keine philosophische Erfindung, sondern etwas, das direkt aus der Bibel entnommen werden kann.
Ein weiteres Beispiel ist Jesaja 64,7. Dort heißt es: „Aber nun, Herr, du bist unser Vater, wir sind der Ton, und du bist unser Töpfer.“ Interessanterweise ist für mich eher der Vers davor bedeutsam: „Da war niemand, der deinen Namen anrief, der sich aufraffte, an dir festzuhalten, denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen und uns preisgegeben wegen unserer Sünden.“ Das ist ein eindrücklicher Vers. Im Zusammenhang bezieht er sich auf Israel, das in der Endzeit gerettet wird. Man kann das aber auch auf unsere Kultur übertragen: „Du hast dein Angesicht vor uns verborgen und uns vergehen lassen durch unsere Missetaten.“
Ich habe nicht alle Stellen aufgelistet, aber es sind schon viele. Es gibt noch deutlich mehr Stellen, in denen Gott gewissermaßen das Gericht ankündigt, indem er sich zurückzieht und sich dadurch verwirkt.
Vielleicht noch eine interessante Stelle aus Amos 8,11-12: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht Gott der Herr, dass ein Hunger ins Land kommen wird, nicht ein Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn, es zu hören. Sie werden von einem Meer zum andern ziehen, vom Norden bis zum Osten, um das Wort des Herrn zu suchen, und doch nicht finden.“
Diese Stelle ist sehr erschütternd. Gott kündigt hier ein Gericht an: Er schickt einen Hunger – den Hunger nach Gott, nach Gottes Wort. Menschen suchen, unternehmen weite Reisen, werden aber dennoch nicht fündig. Das entspricht stark der Erfahrung unserer westlichen, sterbenden Kultur. Menschen suchen etwas Höheres, eine tiefere Offenbarung, finden aber Gottes Offenbarung nicht, obwohl sie sich sehr bemühen.
Beispiele aus der Bibelgeschichte
Man könnte uns fragen, welche Beispiele von Zeiten der Gottesfinsternis wir in der Bibel finden. Ein Beispiel sehen wir in Richter 6, in der Zeit von Gideon, also in der Richterzeit. Das Volk Israel war in das verheißene Land eingezogen, und die Zeit der Richter hatte begonnen. Diese Zeit war jedoch geprägt von stetigem moralischen Niedergang auf allen Gebieten – politisch, moralisch und so weiter.
Gideon begegnet Gott, genauer gesagt dem Engel des Herrn. Im Alten Testament erscheint Gott oft in der Gestalt des Engels des Herrn. Engel bedeutet hier eigentlich „Gesandter“. Es handelt sich dabei nicht um einen Engel im engeren Sinne, sondern um den Gesandten des Herrn. Neutestamentlich gesprochen ist es immer der Sohn Gottes in einer Gestalt, die für den Menschen erträglich ist, oft einfach wie ein gewöhnlicher Mensch.
In Richter 6,11 können wir das nachlesen. Es ist eine Zeit, in der die Midianiter und Amalekiter eine Wirtschaftsblockade gegen Israel errichtet hatten. Sie versuchten, Israel auszuhungern, und Gideon suchte nach einem Ausweg. In den Versen 6,11-13 heißt es: Die Midianiter hatten das Land verwüstet, und Gideon schlug die Weizenfelder der Feinde um, um sie zu vertreiben. Der Engel Jehovas erschien ihm und sprach: „Jehova ist mit dir, du tapferer Held.“ Gideon erwiderte: „Mein Herr, wenn Jehova mit uns ist, warum hat uns dann all das getroffen? Wo sind all deine Wunder, von denen unsere Väter uns erzählt haben? Hat Jehova uns nicht aus Ägypten herausgeführt? Warum hat er uns nun verlassen und in die Hand der Midianiter gegeben?“
Hier sehen wir also, wie Gideon den Gruß erhält: „Der Herr ist mit dir, du tapferer Held.“ Doch sofort stellt er die Frage: „Wenn der Herr mit uns ist, warum leben wir in so einer schlimmen Zeit? Warum erleben wir einen solchen Niedergang im Volk Gottes? Warum gibt es Unterdrückung? Unsere Vorfahren haben uns von gewaltigen Zeichen und Wundern erzählt, doch wir selbst erleben nichts davon.“ Das sind Fragen, die in einer Zeit der Gottesfinsternis für Israel auftauchen.
Ganz am Ende der Richterzeit kommen wir dann ins erste Buch Samuel. Dort finden wir die Geschichte von dem kleinen Jungen Samuel, der von seiner Mutter der Stiftshütte geweiht wurde, also im Tempeldienst eingesetzt war. Wir kennen die Situation, wie Gott nachts Samuel rief. Man muss sich vorstellen, dass Samuel etwa fünf Jahre alt war. Seine Mutter hatte ihn noch gestillt – im Nahen Osten dauert das oft etwa vier Jahre. Nachdem sie ihn abgestillt hatte, brachte sie ihn zum Hohenpriester Eli, damit er dort als Helfer im Tempeldienst dienen konnte.
Samuel schlief bei der Stiftshütte, höchstwahrscheinlich unter der Decke, die über das eigentliche Tempelhaus gespannt war. Dort gab es auf beiden Seiten einen Raum, und auch im Allerheiligsten hatte er wahrscheinlich seine Matte zum Schlafen. Plötzlich hörte er nachts eine Stimme: „Samuel, Samuel!“ Er stand auf und ging zum alten Eli, dem Hohenpriester, und sagte: „Du hast mich gerufen.“ Eli antwortete: „Ich habe dich nicht gerufen, geh wieder schlafen.“
Man muss sich vorstellen, dass es für Eltern, vor allem junge Eltern, krisenhaft ist, wenn Kinder in der Nacht kommen. Für den alten Eli war es ebenso ungewöhnlich, und er schickte Samuel wieder schlafen. Doch die Stimme rief erneut: „Samuel, Samuel!“ Samuel ging wieder zu Eli und sagte, dass er gerufen worden sei. Schließlich erkannte Eli, dass es Gott sein könnte, der Samuel rief. Er gab ihm den Rat, beim nächsten Mal zu antworten: „Rede, Herr, dein Knecht hört.“ Samuel tat dies, und Gott gab ihm eine Offenbarung – eine Gerichtsankündigung für den Hohenpriester.
Nun lesen wir in 1. Samuel 3,1 den Hintergrund dieser Geschichte und dieser Zeit: „Der junge Samuel diente dem Herrn vor Eli; zu jener Zeit war das Wort des Herrn selten, und Visionen waren nicht häufig.“ Das bedeutet, dass es zu dieser Zeit selten Visionen gab und Gott sich nicht oft offenbarte. Eli dachte zunächst nicht daran, dass Gott Samuel rufen könnte. Es war keine normale Erfahrung, sondern eine Zeit, in der Gott im Verborgenen war.
Dies zeigt uns, wie oft wir idealisierte Vorstellungen von biblischen Zeiten haben. Wir denken, dort sei ständig etwas geschehen, Gott habe sich immer offenbart. Doch auch in biblischen Zeiten gab es Abschnitte, in denen Gott im Hintergrund war, verborgen.
Ein weiteres Beispiel ist das Buch Esther. Die babylonische Gefangenschaft war bereits vorbei, und viele Juden konnten zurück ins Land gehen, doch viele blieben in Babylon und Persien. Das Buch Esther spielt im fünften Jahrhundert vor Christus. In dieser Zeit versuchte Haman, im gesamten Persischen Reich die Juden auszurotten. Das Reich reichte damals von Indien bis Ägypten und sogar bis Äthiopien, also dem Gebiet des heutigen Somalia südlich von Ägypten.
Haman wollte die gesamte jüdische Bevölkerung vernichten, was noch schlimmer gewesen wäre als das, was Hitler hätte anrichten können. Denn das Persische Reich war riesig, und eine Ausweichmöglichkeit in andere Länder gab es kaum. Das Buch Esther fällt dadurch auf, dass der Name Gottes kein einziges Mal erwähnt wird. Weder „der Herr“, noch „Jahwe“, noch „Gott“ oder irgendein anderer Ausdruck kommt vor.
Dies war ein großes Problem im Judentum, und man fragte sich, ob das Buch überhaupt zur Bibel gehört. Doch im Judentum wurde dies erklärt, indem man auf 5. Mose 31,20 verwies: „Ich werde mein Angesicht vor ihnen verbergen.“ Es war eben die Zeit, in der Gott sich verborgen hielt, weshalb sein Name nicht genannt wird.
Das Eigentümliche an diesem Buch ist, dass es trotz des verborgenen Gottesnamens dennoch gewaltige Gotteserfahrungen enthält. Wer das Buch Esther kennt, weiß, dass Esther zum König gehen musste, um sich für ihr Volk einzusetzen. Ihr Adoptivvater forderte sie auf, zum König zu gehen. Der König fragte Esther, was sie wünsche, und versprach ihr bis zur Hälfte seines Königreichs. Sie bat um ein Nachtessen mit ihm und Haman. Am nächsten Abend wiederholte sie die Einladung.
Dieses Nachtessen war der entscheidende Moment, an dem Haman gestürzt werden konnte. Das Timing Gottes ist in diesem Buch bis in die letzte Sekunde genau abgestimmt. Auch die Geschichte, dass der König selbst in einer bestimmten Nacht nicht schlafen konnte und aus den Chroniken vorlesen ließ, ist bemerkenswert. Zufällig kam man auf die Stelle, in der Mordechai dem König das Leben gerettet hatte. Der König fragte, wie Mordechai dafür belohnt worden sei, und erfuhr, dass er keine Belohnung erhalten hatte.
In diesem Moment kam Haman in den Hof und wollte die Ermordung Mordechais verlangen. Doch alles verlief anders als geplant. Das ganze Buch zeigt Gottes Führung bis in die letzte Sekunde, sodass sein Volk letztlich vor der Vernichtung gerettet wird – obwohl der Name Gottes nie erwähnt wird.
Man kann hier auch an Sprüche 3,5-6 denken: „Vertraue auf den Herrn von ganzem Herzen und verlass dich nicht auf deinen Verstand! Auf allen deinen Wegen erkenne ihn, und er wird deine Pfade ebnen.“ Dieses Vertrauen auf Gott, auch wenn er verborgen ist, wird hier deutlich.
Wer die Zeit richtig studiert und all die sogenannten Zufälle betrachtet, kann Gott erkennen. Es ist interessant, dass Rabbiner sich nicht damit zufriedengaben, dass Gottes Name im Buch Esther nicht vorkommt. Sie fanden ihn schließlich viermal als Akrostichon, das heißt, dass die Anfangsbuchstaben von vier aufeinanderfolgenden Wörtern zusammengenommen den Namen Gottes JHWH ergeben. Diese versteckten Hinweise sind an mehreren Stellen im Text zu finden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dies zufällig geschieht, ist sehr gering. So ist Gott zwar im Hintergrund verborgen, aber wer genau hinsieht und ein feines Gehör und Auge hat, kann ihn auch in einer Zeit der Gottesfinsternis deutlich erkennen.
Die Zeit zwischen Altem und Neuem Testament als Gottesfinsternis
Bevor wir eine Pause machen, sollten wir diesen Abschnitt noch schnell zu Ende bringen. Eine weitere eindrückliche Zeit der Gottesfinsternis ist die sogenannte zwischentestamentliche Zeit.
Das letzte Buch des Alten Testaments ist der Prophet Maleachi, der um etwa 420 v. Chr. geschrieben wurde. Das nächste Bibelbuch findet sich erst im Neuen Testament. Somit gibt es eine Zeitspanne von über 400 Jahren, in der kein Schriftprophet mehr in Israel aufgestanden ist.
Im Talmud, den ich bereits zitiert habe – es handelt sich dabei mehr als einmal um den Sanhedrin 11a – heißt es nach den Propheten Sacharja, Haggai und Maleachi: „Wicht der Heilige Geist von Israel!“ Man hat also erkannt, dass diese Zeit ohne Propheten etwas ganz Ungewöhnliches war.
Im apokryphen Buch der Ersten Makkabäer, Kapitel 9, Vers 27, wird die Verfolgungszeit unter den Makkabäern beschrieben. Dort heißt es, dass es in Israel keine Trübsal gegeben habe wie seit der Zeit, als es keine Propheten mehr gab. Man war sich also bewusst, dass keine Propheten mehr da waren und dass Gott sich irgendwie zurückgezogen hatte.
Das steht in starkem Gegensatz zu 2. Mose 19, wo sich das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten am Horeb versammelt hat. Dort hörten sie sogar die Stimme Gottes vom brennenden Berg Sinai, als Gott ihnen die Zehn Gebote mündlich übermittelte. Die Erscheinung war so erschreckend, dass selbst Mose sagte: „Ich bin voll Furcht und Zittern.“
Direkte Offenbarungen Gottes gab es damals sehr deutlich. Schon in Ägypten gab es viele Zeichen und Wunder, und auch während der Wüstenwanderung geschahen zahlreiche Wunder: Jeden Tag außer am Sabbat wurde Manna vom Himmel gegeben, das mehrere Millionen Menschen vierzig Jahre lang versorgte. Wasser kam aus dem Felsen, und die Kleider verfielen in all den Jahren nicht, sondern blieben intakt. Man kann sich kaum vorstellen, wie zerlumpt die Menschen im Land Kanaan angekommen wären, wenn diese Wunder nicht geschehen wären.
Außerdem gab es eine sehr dichte und deutliche Offenbarung durch die Stiftshütte, die ständig sichtbar war. Die Wolkensäule führte das Volk: nachts als Feuersäule, tagsüber als Wolkensäule. Sie bewegte sich von Ort zu Ort, und die Menschen mussten nur auf sie achten, um am richtigen Ort anzukommen.
Größer kann man sich den Gegensatz kaum vorstellen. Auf der einen Seite eine Zeit, in der sich Gott sehr deutlich offenbart hat, und auf der anderen Seite Zeiten, in denen Gott sich auch in biblischen Zeiten plötzlich über lange Zeiträume völlig zurückgehalten und verborgen hat.
Ich würde sagen, wir machen jetzt etwa eine Viertelstunde Pause. Danach kommen wir zum zweiten Teil, in dem wir versuchen, im zwanzigsten Jahrhundert das Problem zu lösen.
Versuche der Theologie und Christenheit, die Gottesfinsternis zu überwinden
So sehen wir es in der liberalen Theologie. Dort wurde versucht, das Eingreifen Gottes und sein direktes Handeln in der Geschichte einfach wegzudiskutieren. Die Erfahrungen aus biblischen Zeiten, in denen Gott sich übernatürlich gezeigt hat, werden als reine Fantasie der damaligen Menschen betrachtet. Man geht davon aus, dass sie in einer mythischen Welt lebten.
Die liberale Theologie versucht, eine Antwort auf die Gottesfinsternis zu finden, indem sie sagt, es gibt gar keine Gottesfinsternis. Etwas anderes habe es nie gegeben. Es gibt keine übernatürliche Offenbarung. Die biblischen Berichte seien vielmehr Ausdruck dessen, was Menschen in einem anderen Weltbild erlebt zu haben meinten oder sich erhofften. Sie stellten ihre innersten Glaubenserfahrungen auf diese Weise dar. So wird das Problem gelöst, indem man behauptet, es gebe gar kein Problem.
Ein anderer Versuch, das Problem zu lösen, ist der Ritualismus. Dieser ist nicht neu, sondern uralt. Dabei glaubt man, Gott könne durch bestimmte religiöse Riten erlebt werden. Zum Beispiel denkt man beim Abendmahl, dass etwas Mystisches geschieht: Der Wein werde in das eigentliche Blut Jesu verwandelt, das Brot in den Leib Christi. Wer an diesen Riten teilnimmt, könne Gott auf diese Weise erleben.
Ähnlich wird die Taufe verstanden. Wenn ein Kind getauft wird, geschieht tatsächlich etwas, und durch diese Sakramente oder religiösen Handlungen wird das Kind gewissermaßen zum Glied der Kirche. Es kann so am Heil der Kirche Anteil bekommen. Dieses Verständnis lässt sich auf viele weitere Beispiele ausweiten, in denen Menschen durch rituelle Handlungen Gott direkter und unmittelbarer erleben möchten.
Im Bereich der bibelgläubigen Christen des 20. Jahrhunderts lassen sich drei Wellen beobachten, die eng mit dem Problem der Gottesfinsternis verbunden sind. Die erste Welle ist die sogenannte Pfingstbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die zweite ist die charismatische Bewegung in den 1960er Jahren. Die dritte Welle wird ebenfalls als „dritte Welle“ bezeichnet und fand in den 1980er und 1990er Jahren statt.
Es ist interessant, dass gerade unser Jahrhundert durch diese drei Wellen geprägt ist. Das zeigt deutlich, dass das Problem der Gottesfinsternis in unserer Kultur vorhanden ist und Christen das Bedürfnis haben, Gott direkter und wirklicher zu erleben.
Die Pfingstbewegung entstand in den USA, weil die Kirchen dort damals sehr ausgetrocknet und leblos waren. Es wuchs die Sehnsucht, Gott zu erleben und einen geistlichen Aufbruch zu erfahren. Die Bewegung breitete sich nach Europa aus, schlug sich jedoch vor allem in eigenen Gemeinden außerhalb der bestehenden Kirchen nieder.
Der zweite Aufbruch kam in den 1960er Jahren mit der charismatischen Bewegung. Im Gegensatz zur Pfingstbewegung war die charismatische Bewegung nicht auf eigene Gemeinden beschränkt. Sie drang in alle bestehenden Kirchen ein und hatte nie das Ziel, neue Gemeinden zu gründen. Vielmehr ging es darum, alle bestehenden Gemeinden zu einem Neuaufbruch zu bewegen und so eine Lösung für das Problem der Gottesfinsternis zu finden.
Die dritte Welle findet in unserer Zeit statt. Es wird davon gesprochen, dass im Westen bald eine große Erweckung stattfinden werde. Dabei sollen sogar größere Wunder und Zeichen geschehen als zu den Zeiten der Apostel.
Ich möchte hier nicht auf eine detaillierte biblische Beleuchtung dieses Themas eingehen, da dies nicht das Hauptthema ist. Dennoch möchte ich zeigen, dass das Problem der Gottesfinsternis real ist und dass viele versuchen, es zu lösen. Oft wirkt es so, als wolle man Gott fast zwingen, sich zu offenbaren, anstatt geduldig auf sein Handeln zu warten.
Die zentrale Frage lautet: Ist es überhaupt möglich, dass Gott aus seiner Verborgenheit herauskommt? Was kann dies auslösen? Darauf möchte ich noch etwas konkreter eingehen.
Diese Fragen betreffen die Christenheit, doch einen ähnlichen Aufbruch findet man auch im säkularen Bereich. Dort, wo man mit dem Christentum eigentlich nichts zu tun haben will, wächst die Sehnsucht nach Mystik, Okkultismus und Esoterik. Esoterik ist in der Schweiz bereits ein Milliardenmarkt. Man muss sich vorstellen, wie stark die Ausrichtung auf Esoterik in den letzten Jahren zugenommen hat.
Der Wunsch, etwas Höheres zu erleben, mehr als die trockene Wirklichkeit bietet, ist groß. Man merkt, dass fast alles erklärbar und machbar scheint. Das führt jedoch zu einer inneren Leere, denn es gibt letztlich keine wirkliche Antwort auf die tiefsten Fragen des Herzens. Diese bleiben unbeantwortet und lassen den Menschen im Stich.
So entsteht ein Drang nach sinnlichen Erfahrungen. Besonders eindrücklich ist dabei Amos 8,11-12: „Sie werden von Meer zu Meer gehen und von dort nach jenem Ort, um Gottes Wort zu hören. Sie haben einen Hunger danach, doch sie werden es nicht finden.“ Dies ist ein Gottesgericht, das zeigt, dass die Suche nach Antworten oft erfolglos bleibt.
Zum Bereich der sinnlichen Erfahrungen gehören auch Drogen und Rockmusik, die bewusst ekstatische Erfahrungen hervorrufen wollen. Interessanterweise brach dieser Drang nach Ekstase und übernatürlichen Erfahrungen besonders in den 1960er Jahren auf – also zur gleichen Zeit, als auch die charismatische Bewegung entstand.
Praktische Erfahrungen mit Gottesnähe im Leben der Christen
Nun möchte ich ein wenig Zeit auf den letzten Punkt verwenden, der sehr praktisch wird. Wenn wir uns überlegen, wie wir Gott erleben können und ganz konkret in unserem Leben erfahren, was die Bibel dazu zeigt, ist das sehr interessant. Fragt man Christen, in welchen Situationen sie Gott besonders deutlich erlebt haben, bekommt man verschiedene Antworten. Man kann diese jedoch in einigen Punkten gut zusammenfassen.
Viele sagen, sie haben die Gegenwart von Jesus oder Gott ganz speziell erlebt, wenn es ihnen furchtbar schlecht ging, also in tiefster Not. Dazu kann man Jesaja 57, Vers 15 lesen. Kann jemand das vorlesen?
„Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind. Um den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen zu beleben.“
Dieser Vers drückt das sehr deutlich aus. Gott sagt, er wohnt im Himmel, aber auch ganz speziell bei denen, die innerlich zusammengebrochen sind und sich vor Gott beugen. Das ist die Erfahrung unzähliger Christen, die sagen: Ich habe keine Stimme gehört, ich habe niemanden gesehen, aber ich habe so konkret erlebt, dass Gott da ist – fast greifbar. Ich habe erfahren, dass der Herr wirkliche Realität ist und ganz konkret bei mir ist. Eine Erfahrung, die man biblisch durchaus bestätigt findet.
Gott ist ja allgegenwärtig – das heißt, wie in Jeremia 23, Kapitel 23, erfüllt Gott das ganze Weltall. Wie kann man dann sagen, Gott wohnt hier oder dort? Das kann man so erklären: Gott hat auch in der Stiftshütte gewohnt, er hat in Jerusalem auf dem Berg Zion gewohnt, im Tempel. Aber das hat nie bedeutet, dass Gott darin gefasst oder begrenzt wäre. Das hat auch Salomo bei der Einweihung des Tempels gesagt: „Das Haus kann Gott nicht fassen, Himmel und Himmel der Himmel können dich nicht fassen, wie viel weniger dieses Haus, das ich dir gebaut habe“ (1. Könige 8,27). Das ganze Weltall kann Gott nicht fassen; er erfüllt es zwar, aber darin ist er nicht gefasst. Gott ist unendlich.
Trotzdem hat er in diesem Haus in Jerusalem gewohnt. Das bedeutet, an diesem Ort hat er sich speziell offenbart. An diesem Ort konnte man Gott ganz besonders erleben. Das bedeutet „wohnen“: Der Allgegenwärtige wohnt an bestimmten Orten, das heißt, er offenbart sich und ist erlebbar ganz speziell an diesem Ort. Deshalb sagt Gott: „Ich wohne im Himmel und bei dem, der innerlich völlig zerschlagen ist und ihn neu beleben will.“
Vielleicht noch Psalm 91, Vers 15. Dort heißt es: „Ich werde bei ihm sein in der Bedrängnis.“ Im Hebräischen wird das besonders betont: „Ich werde bei ihm sein in der Bedrängnis.“ Gerade in der Not ist Gottes Nähe also besonders erlebbar.
Man muss aber sagen, dass eine Krise im Leben immer eine Entscheidungszeit ist. Das Wort „Krise“ drückt das schon aus. Eine Krise ist zum Beispiel auch eine Wasserscheide, bei der das Wasser entweder auf die eine oder die andere Seite fließt. Das ist ein Entscheidungspunkt.
Es ist tatsächlich so, dass man in der Not entweder Gott näherkommen oder sich von ihm entfernen kann. In diesem Sinne ist nicht eindeutig, was in der Not passiert. Doch wir haben gelesen, dass Gott in Jesaja 57 sagt: Bei dem, der einen demütigen Geist hat, ist er. Wer sich also ganz bewusst von Gott demütigt und seine Majestät und Größe anerkennt, erlebt seine Nähe.
Die Not kann natürlich auch zu Rebellion führen. Dann passiert genau das Gegenteil: Menschen sagen, gerade in der Not habe ich gemerkt, dass Gott nicht da ist. Aber der, der sich Gott unterstellt und ihn als einzige Kraft und Hilfsquelle sieht, erlebt, dass Gott bei ihm wohnt.
Viele Christen sagen, sie haben das besonders erlebt, wenn sie vor Gott eine Wende erfahren haben, wenn sie ihr Leben durch Demut und reuevolle Umkehr neu geordnet haben. Noch einmal Jesaja 57 und Psalm 34, Vers 18 (in manchen Übersetzungen Vers 19): „Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die zerschlagenen Geistes sind.“ Auch dieser Vers bestätigt, dass derjenige, der von Gott zerbrochen ist, Gottes Nähe ganz besonders erleben darf.
Andere Christen berichten, sie haben die Nähe des Herrn ganz besonders beim Singen erlebt. Vielleicht klingt das eigentümlich oder man lacht darüber. Schaut man aber biblisch genauer hin, steckt da viel mehr dahinter.
Psalm 22, Vers 4 sagt: „Doch du bist heilig, der du wohnst unter dem Lobgesang Israels.“ Das ist ein Kreuzpsalm, in dem Jesus am Kreuz über Gottesverlassenheit klagt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und in diesem Psalm heißt es: „Doch du bist heilig, der du wohnst unter den Lobgesängen Israels.“
Das könnte bedeuten, dass Gott im Tempel in Jerusalem wohnt oder im Heiligtum. Aber es heißt ausdrücklich, dass er unter den Lobgesängen Israels wohnt oder thront. Wer sich noch an das Modell des Zweiten Tempels erinnert, das ich einmal an einem Bibelstudientag gezeigt habe, weiß, dass es im Frauenvorhof eine Tribüne mit 15 halbkreisförmigen Stufen gab, auf der der Priesterchor und das levitische Orchester standen. Dort fanden die großen Gottesdienste des Volkes Israel statt.
Der Herr Jesus zeigt am Kreuz, dass Gott unter den Lobgesängen Israels wohnt. Das heißt, gerade in der Tempelmusik konnte man Gottes Nähe ganz konkret beim Singen erleben.
Denkt man das noch weiter, merkt man, wie stark das neutestamentlich verankert ist. In Epheser 5, Verse 17-21 heißt es: „Werdet mit dem Geist erfüllt, redet untereinander in Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern und singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen.“
Hier haben wir das Thema Singen im Neuen Testament. Es wird aber in Verbindung gebracht mit dem „Werdet mit dem Geist erfüllt“, also mit dem Heiligen Geist.
Das ist interessant, denn man könnte denken, das Lied singt man ab, und der Text ist ja schon längst vorgegeben. Da braucht man doch keine Erfüllung mit dem Heiligen Geist. Doch die Bibel sagt ausdrücklich: „Werdet mit dem Geist erfüllt“ – und dann redet man miteinander in Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern, vielleicht auch mit einigen Erklärungen.
Der Ausdruck „werdet mit dem Geist erfüllt“ steht im Griechischen im Imperativ Präsens, also in der Gegenwart. Es gibt im Griechischen zwei verschiedene Imperativformen: den Imperativ Präsens und den Imperativ Aorist. Der Imperativ Aorist bedeutet, mach das einmal jetzt, als momentanen Befehl. Der Imperativ Präsens bedeutet aber, mach das immer wieder, also mit Wiederholung.
Hier ist es der Imperativ Präsens, was bedeutet: „Werdet immer wieder neu erfüllt.“ Dann kommt das mit den Liedern.
Es gibt auch den Ausdruck „voll Geist sein“, der einen Zustand beschreibt, zum Beispiel bei Barnabas: „Er war ein Mann voll Heiligen Geistes“, oder bei Jesus: „Er war voll Geist“ (Lukas 4,1), als er in die Wüste ging. Das ist ein Zustand, in dem jemand sein Leben unter der Leitung des Geistes Gottes führt.
Wenn aber von „erfüllt werden“ die Rede ist, ist das eine ganz spezielle Situation. Zum Beispiel in der Apostelgeschichte wird berichtet, dass Paulus, als er das Evangelium verkündete, mit dem Heiligen Geist erfüllt wurde, um eine besondere Aufgabe zu erfüllen. Er sprach dann zu einem Magier und sagte ihm, er solle blind werden.
Das „Erfülltwerden“ ist also etwas, das immer wieder geschieht, besonders wenn man eine bestimmte Aufgabe hat. Man bekommt in dem Moment vom Geist Gottes Kraft, um die Aufgabe zu erfüllen.
Auch das Singen ist ein „Werdet immer wieder erfüllt mit dem Geist“, um etwas Bestimmtes zu tun.
Vergleicht man das mit 1. Chronik 25, Vers 1, so heißt es dort von den levitischen Sängern, sie hätten beim Singen geweissagt. Die Psalmen wurden im Tempel nicht einfach gesungen, um das Lied durchzusingen. Das Repertoire der 150 Psalmen wurde bewusst als Weissagung vorgetragen, also als Botschaft, die in der Kraft des Geistes weitergegeben wurde.
In 1. Korinther 14, Vers 3 heißt es: „Wer weissagt, redet zu den Menschen zur Erbauung, Ermahnung und Tröstung.“ Das rückt das christliche Singen in ein ganz anderes Licht. Singen bekommt eine prophetische Dimension.
Wer Lieder so bewusst singt und aus voller Überzeugung und mit dem Heiligen Geist erfüllt ist, gibt eine göttliche Botschaft weiter.
Viele Christen haben erlebt, dass sie durch bestimmte Lieder so tief getroffen wurden, dass sie sich vom Herrn ganz direkt angesprochen fühlten. Sie können sagen: „Ich habe den Herrn ganz besonders beim Singen erlebt.“
Auch das Gebet ist eine Situation, in der man Gott nahe sein kann. Johannes 16, Vers 24 sagt: „Bittet, so wird eure Freude vollkommen sein.“ Durch Gebetserhörungen kann man die Realität und Nähe Gottes ganz konkret erleben.
Dabei ist wichtig, dass man im Namen betet. Das bedeutet, dass man nicht irgendetwas beten kann, sondern im Einklang mit dem Willen des Sohnes Gottes.
Viele haben auch erlebt, wie Gott sich beim Lesen der Bibel offenbart und zu ihnen redet. Psalm 119, Vers 130 sagt: „Die Eröffnung deiner Worte leuchtet und gibt Einsicht den Einfältigen.“
Das bedeutet, dass Gottes Wort uns erleuchtet. Man erlebt, dass Gott durch das geschriebene Wort in der jetzigen Situation direkt zu uns spricht. Das alte Buch ist nicht nur eine Sammlung alter Geschichten, sondern lebendig und aktuell.
Andere Christen berichten, sie haben den Herrn ganz besonders im Dienst für ihn erlebt. Das ist eine interessante Erfahrung: Wenn man eine bestimmte Aufgabe erfüllt, bekommt man eine ganz spezielle Freude und merkt die Kraft, die man für die Aufgabe erhält. Man ist erfüllt mit dem Geist.
Ein passender Vers dazu ist Matthäus 28, Verse 19-20, die letzten Verse des Matthäusevangeliums: „Geht hin und macht alle Nationen zu Jüngern, tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu bewahren, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“
Dieser Auftrag ist ein konkreter christlicher Dienst für den Herrn Jesus Christus. In Verbindung mit diesem Auftrag sagt er: „Ich bin bei euch.“ Viele können bezeugen, dass sie im Dienst für die Sache des Herrn eine besondere Freude und Nähe des Herrn erlebt haben.
Wer hat nicht schon erlebt, dass er spontan in ein Gespräch gekommen ist und genau in dem Moment die richtigen Worte oder Ideen hatte, die wirklich Wirkung zeigten?
Auch in Gemeinden gibt es solche Erfahrungen. In 1. Korinther 14, Verse 24-25 heißt es: „Wenn alle prophezeien und ein Ungläubiger oder Unkundiger hineinkommt, wird er von allem überführt und sein Herz wird offenbar, sodass er Gott anbetet und bekennt, dass Gott wirklich unter euch ist.“
Das heißt, wenn ein Ungläubiger in einen Gottesdienst kommt, in dem alle Weissagungen zur Erbauung, Ermahnung und Tröstung dienen und die Bibel genau auf die Bedürfnisse der Anwesenden angewandt wird, wird das Verborgene seines Herzens offenbar.
Manche haben erlebt, dass nach einer Predigt jemand gefragt hat: „Wer hat denn über mich geredet?“ Das Wort Gottes ist so lebendig und konkret, dass es das Innere des Menschen enthüllt.
So kann man erleben, dass Gott wirklich unter euch ist.
Heute gibt es keinen Tempel mehr in Jerusalem. Im salomonischen Tempel war die Wolkensäule sichtbar über dem Allerheiligsten und zeigte die Gegenwart Gottes an. Aber die Wolkensäule ist von Israel weg.
Wo ist die Schechina heute? Im Neuen Testament kann man sagen: Dort, wo Gott wirklich unter euch erlebt wird, ist Schechina erlebbar.
Das zeigt, wie gewaltig der Auftrag der christlichen Gemeinde ist, an einzelnen Orten ein Zeugnis zu sein, wo Ungläubige hineinkommen können. Für sie ist das nicht zerstörend oder hochtrabend, sondern sie werden direkt angesprochen durch das, was sie hören, und kommen zum Schluss: Da ist Gott. Da ist Schechina.
Das hängt auch mit Matthäus 18, Vers 20 zusammen, wo Jesus sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Dort ist Schechina, dort sollte Gegenwart Gottes erlebt werden.
Viele können bezeugen, dass sie das konkret so erlebt haben.
Das zeigt uns, dass wir als Gemeinde aller Erlösten eine ganz wesentliche Aufgabe in dieser westlichen Welt haben. Durch die Gemeinde kann Gott erlebt werden.
Es gab vor einigen Jahren eine Untersuchung in Deutschland, bei der etwa 17.000 Gläubige befragt wurden, wie sie zum Glauben gekommen sind. Das Überwältigende daran ist, dass etwa 95 Prozent durch persönlichen Kontakt mit einem Christen zum Glauben kamen.
Ein kleiner Prozentsatz kam durch Radiobotschaften oder Bücher ohne Kontakt mit Christen zum Glauben. Aber bei den 95 Prozent kam natürlich auch hinzu, dass sie christliche Radioprogramme hörten oder Bücher lasen.
Das zeigt, dass es ganz wesentlich ist, dass persönlicher Kontakt mit Christen besteht, damit jemand Gott erkennen kann. Das, was Christen ausstrahlen, ist ein ganz wesentlicher Bestandteil.
Auch Jesaja 60 spricht vom gläubigen Überrest Israels in der Endzeit. Dort wird er aufgerufen, aufzustehen und zu leuchten.
Jesaja 60, Verse 1-3: „Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir. Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker, aber über dir geht der Herr und seine Herrlichkeit erscheint über dir. Und die Heiden werden zu deinem Licht ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht.“
In diesem Text wird Zion angesprochen, die Stadt, die in der Bibel weiblich ist. Daher ist auch der Befehl „Steh auf“ in weiblicher Form.
Das kann man auf die christliche Gemeinde heute übertragen: Steh auf, leuchte, denn dein Licht ist gekommen und die Herrlichkeit des Herrn ist über dir. Das ist Schechina.
Das zeigt noch einmal, wie wesentlich für die Mission die sogenannte Freundschaftsevangelisation ist. Es müssen persönliche Kontakte geschaffen werden, damit Menschen durch das Erleben von Christen die Herrlichkeit Gottes erfahren und zum Glauben kommen können.
Als Buchautor ist es natürlich frustrierend zu wissen, dass durch Bücher allein praktisch niemand zum Glauben kommt. Das Wesentliche ist, wer die Bücher gibt, wer mit den Menschen redet, wer Kontakt hat und zeigt, was es heißt, als Christ zu leben.
Das ist der entscheidende Schlüssel, um einer Gesellschaft, die in Gottesfinsternis lebt, wie unsere, eine Chance zu geben, als Licht zu leuchten.
Nun haben wir schon zwei Minuten Überzeit, aber die Pizza ist ja noch nicht da, oder? Also noch kurz zu den letzten zwei Punkten.
Gotteserfahrung in der Natur und der Schöpfung
Dann kommen wir noch einmal zurück auf das Gewitter. Hiob 37,5 sagt: Gott donnert wunderbar mit seiner Stimme.
Vieles könnte sich auch darauf beziehen. Ich habe Gott, seine Existenz und seine Größe ganz besonders erlebt beim Ansehen und Erforschen der Natur. Dabei stellt sich die Frage: Wie ist überhaupt unser Verhältnis zur Natur?
Wir sehen, wie stark wir als Christen säkularisiert sind. Säkularisiert bedeutet eigentlich „verweltlicht“. Doch mit Verweltlichung ist oft ein Katalog von über zehn Punkten gemeint. Das ist aber nicht biblisch gemeint. Verweltlichung umfasst die ganze Art von Gedanken, die Menschen ohne Gott kennzeichnen.
Wie sehen wir die Natur? Viele Christen haben die Vorstellung von einer Uhr, die aufgezogen ist. Gott hat am Anfang die Welt erschaffen, die Uhr aufgezogen, und jetzt tickt sie einfach ab. Er hat der Sonne bestimmte Energiemengen gegeben, und sie brennt jetzt einfach langsam aus, und so weiter.
Wenn wir jedoch Kolosser 1,16-17 lesen, sehen wir etwas ganz anderes. Dort geht es um den Herrn Jesus, den Sohn Gottes. Er ist der Schöpfer und Erhalter des ganzen Universums. Dort steht: „Im Himmel und auf der Erde wurde alles geschaffen, das Sichtbare und das Unsichtbare, seien es Throne, Herrschaften, Gewalten oder Mächte. Alles ist für ihn und durch ihn geschaffen, und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn.“
Vers 16 klingt zunächst wie die Uhr, die aufgezogen wurde: Durch den Sohn Gottes ist alles erschaffen worden, sichtbar und unsichtbar. Aber Vers 17 geht weiter: „Und alle Dinge bestehen zusammen durch ihn.“ Man kann den griechischen Ausdruck auch so übersetzen: „Alle Dinge werden durch ihn zusammengehalten.“
Das bedeutet nicht nur, dass er der Schöpfer ist, sondern auch der Erhalter der Schöpfung. Man kann sehr genau berechnen, wie die Ladung eines Elektrons oder eines Atoms ist, mit welcher Kraft ein Atom aufgebaut ist. Doch niemand kann erklären, was ein Elektron letztlich ist. Keiner weiß es. Man weiß genau, wie die Ladung ist, aber nicht, was es im Letzten ist.
Das heißt, man kann es untersuchen und erforschen, aber letztlich muss man zugeben, dass man überhaupt nicht weiß, was es ist. Man kann es nicht erklären.
Was wir aus diesem Bibelwort lernen, ist: Die Erklärung, was für Kräfte die Schöpfung zusammenhalten, ist der Sohn Gottes selbst. Daraus ergibt sich eine ganz andere Sicht auf die Natur.
Natur ist nicht einfach etwas, das für sich abläuft. Gott wirkt in der Natur und in den Naturgesetzen. Wir sind so verweltlicht und denken, Naturgesetze seien einfach festgelegt: Gott hat sie am Anfang eingesetzt, und jetzt laufen sie von selbst ab.
Deshalb haben wir Schwerkraft: Wenn man etwas loslässt, fällt es herunter. Man kann das tausendmal ausprobieren, und es passiert immer dasselbe. Doch wenn man sich fragt, warum es herunterfällt, wissen wir als Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts: Eine Masse zieht eine andere Masse an. Je größer die Masse, desto größer die Anziehungskraft.
Dann stellt sich die Frage: Warum ziehen sich Massen überhaupt an? Niemand kann das beantworten. Es ist einfach so. Warum sollte Masse Masse anziehen? Man kann es nicht erklären. Es ist einfach so.
Was ist also das Naturgesetz? Etwas, das immer so ist? Oder besser gesagt, meistens so ist? Denn in der Bibel gibt es Beispiele, in denen Naturgesetze scheinbar außer Kraft gesetzt werden.
Im Alten Testament wird berichtet, wie ein Hammer auf dem Wasser schwamm. Im Neuen Testament, Matthäus 14, läuft Jesus auf dem See Genezareth, und Petrus kann es auch. Dort gilt das Naturgesetz plötzlich nicht.
Auch in der Chemie haben wir gelernt, dass ein Ziegelstein theoretisch vom Boden aufs Dach fliegen könnte. Atome sind ständig in Bewegung, und je heißer ein Körper ist, desto schneller bewegen sie sich. Wenn alle Atome eines Körpers einen Moment in dieselbe Richtung ausschlagen würden, könnte ein Ziegelstein vom Boden aufs Dach fliegen.
Das ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
Naturgesetze sind eigentlich Beschreibungen des üblichen Handelns Gottes. Wenn Gott nicht üblich handelt, nennen wir das ein Wunder.
So haben wir einen ganz anderen Blick auf die Natur.
Natürlich können wir sagen, wenn es blitzt, ist das eine Entladung von Elektrizität. Aber das erklärt letztlich nichts.
Gott hält bis ins Letzte die Hand in der Natur und in den Naturkräften.
Darum waren die Menschen nicht verweltlicht, die wie Elihu sagen konnten: „Gott donnert wunderbar mit seiner Stimme.“ Ihm war klar, dass Gott nicht nur der Schöpfer, sondern auch der Erhalter ist, der heute noch ganz konkret in der Natur wirkt.
So sehen wir es auch im Buch Jona: Jona konnte schreiben, dass Gott den Fisch bestellt hat, den Ostwind bestellt hat und einen Wurm bestellt hat. Alle Dinge in der Natur mussten Gott folgen und seinen Plänen dienen.
In Römer 1,20 steht ein interessanter Vers, der davon spricht, wie Gott sich in der Schöpfung offenbart hat. Dort heißt es: „Denn sein unsichtbares Wesen, nämlich seine ewige Kraft und Göttlichkeit, wird seit der Erschaffung der Welt an den Werken erkannt, so dass sie keine Entschuldigung haben.“
Gott hat sich durch die Erschaffung der Welt offenbart. Dort heißt es, seine Göttlichkeit kann in dem Geschaffenen wahrgenommen werden.
Wörtlich heißt es im Griechischen – und das steht auch in der Fußnote der alten Elberfelder Übersetzung – „erkannt“ im Sinne von „mit dem Verstand ergriffen“. Das bedeutet, dass man mit dem Verstand erkennen kann, wenn man die Natur untersucht, dass es einen Schöpfer geben muss.
Gott offenbart sich also auch durch die Schöpfung. Wer einen offenen Intellekt hat, kann Gott darin erleben. Der Intellekt darf nicht verschlossen sein, sondern muss offen bleiben. Genau darum geht es.
Gotteserkenntnis durch Geschichte und Prophetie
Und dann noch ein letzter Punkt: Gott kann man auch in seinem Handeln in der Geschichte erkennen. Ich habe einige Stellen aus Hesekiel aufgeführt. Dort kommt ein Refrain 77 Mal vor. Gott sagt etwas voraus, und wenn es dann in Erfüllung geht, sagt er: „Und sie werden erkennen, dass ich der Ewige bin.“ In allen Varianten erscheint dieser Refrain 77 Mal.
Das bedeutet, Gott hat den gesamten Lauf der Geschichte in der Hand. Wenn man sich die Ereignisse näher anschaut und sieht, wie sich das prophetische Wort erfüllt hat, können wir erkennen, dass Gott wirklich existiert.
Ich möchte nur noch ein Beispiel anführen: Hesekiel 39, Vers 28. Gerade in Verbindung mit der Rückführung der Juden aus allen fünf Kontinenten nach zweitausend Jahren Zerstreuung ins Land der Väter heißt es dort in Vers 27 und 28: „Wenn ich sie aus den Völkern zurückgebracht und sie aus den Ländern ihrer Feinde gesammelt habe, dann werde ich mich vor ihnen als heilig erweisen. Und sie werden erkennen, dass ich der Herr, ihr Gott, bin.“
Das steht in Zusammenhang damit, dass die Juden zwar unter allen Völkern zerstreut wurden, Gott sie aber wieder zurückführt in das Land der Väter. Auch hier haben wir den Refrain zum letzten Mal, zum 77. Mal: „Und sie werden wissen, dass ich, der Herr, ihr Gott bin.“
Wenn wir uns nur die jüdische Geschichte der vergangenen zweitausend Jahre anschauen und was die Bibel darüber gesagt hat und wie sich die Bibel erfüllt hat, ist es möglich, auch in einer Gesellschaft, in der Gottesfindung oft als schwierig gilt, Gott durch den Lauf der Geschichte zu erkennen.
Es ist jetzt ein bisschen spät. Ich hoffe, dass der Nachmittag etwas interaktiver wird, sodass es mehr in eine Gesprächsform übergeht und weniger wie ein Vortrag abläuft wie heute Morgen. Das ist weniger ermüdend. Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht eingeschlafen. Aber es ist wirklich ein Thema, das lebendig und hochaktuell ist.