Ernte
Wir haben uns nicht verlesen, liebe Gemeinde. Jesus sagt: Die Ernte ist groß. Wir haben uns nicht verhört. Jesus sagt: Die Ernte ist groß. Wir haben uns nicht vertan. Jesus sagt: Die Ernte ist groß.
Wenn er gesagt hätte: Der politische Druck ist groß, dann wäre alles verständlich. In Rom regierte Julius Caesar Augustus. Nach seinem glorreichen Sieg über den Varus wurde dieser Oberbefehlshaber in Germanien vom Senat zum Princeps des römischen Reiches gewählt. Überall zog er die Zügel an und regierte auch in Judäa durch seine Prokurator Pontius Pilatus mit eiserner Faust. Aber Jesus sagt nicht: Der Druck ist groß, sondern die Ernte ist groß.
Wenn er gesagt hätte, die kirchliche Not ist groß, dann wäre alles begreiflich. In Jerusalem waltete Kaiphas seines hohepriesterlichen Hirtenamtes. Unter seinem Hirtenstab wurden die Schafe gehetzt, die Krippen hochgehängt und die Stalltüren verschlossen. Immer wenn mit kräftigen Drohungen die Hölle heiß gemacht wird und mit unverständlichen Predigten die Krippen hochgehängt werden, dann greift in der Kirche die Not um sich. Aber Jesus sagt nicht: Die Not ist groß, sondern die Ernte ist groß.
Wenn er gesagt hätte, das persönliche Leid ist groß, dann wäre alles einzusehen. In Kapernaum, im Haus des Petrus, lag eine hochfiebrige, sterbenskranke Frau. Am Seeufer, auf dem Gebiet der Gadarener, hausten zwei Geisteskranke in ausgedienten Gräbern. Auf der Liege, die durchs Dach heruntergeliftet wurde, stöhnte ein querschnittsgelähmter Mann. Mitten auf der Ausfallstraße, voll von Karren und Kamelen, schrien ihm zwei Blinde nach. Die Welt ist ein Hospital, in dem wir entweder als Patienten oder als Besucher mitleiden. Aber Jesus sagte nicht, das Leid ist groß, sondern die Ernte ist groß.
Warum? Warum, dieser Satz? Warum diese unerhörte Aussage?
Denken Sie an ein Ährenfeld, droben im Gäu oder drunten im Tal. Für uns ein Bild des Jubels. Lachen dringt aus jeder Ecke. Der Bauer hat im Frühjahr gesät. Dann ist die gute Saat aufgegangen. Dann sind die Halme gewachsen. Dann sind die Ähren gereift. Jetzt ist alles reif für den Eingriff, reif für den Zugriff, reif für den Schnitter. Genau so denkt Jesus an ein Menschenfeld, drinnen in der Stadt oder draußen auf dem Land. Für ihn ein Bild des Jammers. Weinen dringt aus jeder Ecke. Der Teufel hat nach Matthäus 13,39 gesät. Dann ist eine böse Saat aufgegangen. Dann sind die Schwierigkeiten gewachsen. Dann sind die Menschen gereift. Jetzt ist alles reif für den Eingriff, reif für den Zugriff, reif für Jesus. Nur er kann vor dem Verdorren eingreifen. Nur er kann vor dem Verfaulen zugreifen. Nur: er kann vor der totalen Missernte unseres Lebens bewahren. Wenn also der Druck groß wird, weil die Mächtigen mit Ideologien und Waffenarsenalen auftrumpfen und ihre Untertanen ganz klein und kurz halten, dann ist nicht Ende, sondern Ernte. Wenn also die Not groß wird, weil die Oberhirten nicht mehr weiden und den Schafen das frische Wasser vorenthalten, dann ist nicht Ende, sondern Ernte. Wenn also das Leid groß wird, weil das Hospital Erde die Kranken kaum mehr fassen kann und auch ich schon einen Bettplatz darin nötig habe, dann ist das nicht das bittere Ende, sondern die große Ernte. Schaut her, die Welt ist reif zum Untergang! Nein, entschieden nein: Schaut her, das Feld ist reif zur Ernte. Ich bin jesusreif. Sie sind jesusreif. Wir alle sind jesus-christus-reif.
Und nun wird uns gesagt, dass im Gegensatz zum Schnitter Tod, der seine schreckliche Teufelsernte völlig einsam bewerkstelligt, dieser Schöpfergott seine helfende Jesusernte nicht mutterseelenallein einbringen will. Gott will Arbeiter für seine große Ernte. Gott braucht Arbeiter für seine große Ernte. Gott ruft Arbeiter für seine große Ernte. Also Erntearbeiter gesucht, aber bitte nicht irgendwelche, sondern ...
1. Erntearbeiter, die wie Jesus sehen
Leider haben wir im Auge einen Geburtsfehler, der uns zur Erntearbeit untauglich macht. In unserem Sehfeld taucht nämlich immer wieder ein blinder Fleck auf. Und genau darin verschwinden ausgewachsene Personen, obwohl uns diese direkt vor der Nase liegen. Dieses Sehloch auf der Netzhaut ist am besten bei jenem Priester zu beobachten, der am Feierabend schleunigst vom Tempel nach Hause pressierte. Als er aber um die Ecke bog, lag vor ihm ein Bündel Mensch, blutig wie ein Tier, ein Haufen Elend, röchelnd wie ein Sterbender, eine einzige Jammergestalt, reif zum Eingreifen und Zugreifen. Aber Hochwürden blinzelte nur herum, ob denn die Banditen nicht hinter dem Busch auf ihr nächstes Opfer lauern. Hochwürden linste nur voraus, ob denn die Ehefrau seine todgefährliche Situation erahnt. Hochwürden schielte zurück, ob denn der Tempelweg als Fluchtweg nicht versperrt ist. Der Tempelherr sah alles, nur das nicht vor seinen Füßen. Herumsehen, voraussehen, zurücksehen, aber das direkt bei uns übersehen, das ist der Augenschaden. Dieser Fleck macht uns blind für die Ernte. Arbeitern müssen es ganz blicken, so wie Jesus. In seinem Sehfeld tauchen sie alle auf, die Tauben und Blinden, die Lahmen und Krüppel, die Aussätzigen und Blutflüssigen, der Text sagt: die Verschmachteten und Zerstreuten, die Abgerackerten und Erschöpften, die Kaputten und am Boden Liegenden. Keiner muss befürchten, dass ausgerechnet er im Sehschatten dieses Herrn liege. Schon vor der Geburt hat er ein Auge auf uns geworfen. Trotz vielen Irrwegen sind wir ihm nicht aus den Augen gekommen. Jeden hat er im Auge, mehr: Jeden hat er im Kopf, mehr: Jeden hat er im Herz, mehr: Jeden hat er in seinem Innersten. Das meint der Begriff "jammern", "erbarmen", "barmherzig sein". Bedrückte gehen ihm ganz nahe. Notleidende gehen ihm ganz tief. Leidtragende gehen ihm an die Nieren. Er weiß, dass sie mehr brauchen als ein Pflästerchen für jedes Wehwehchen. Auch mit ein paar salbungsvollen Worten ist ihnen nicht viel geholfen. Und ein "heile heile Segen, drei Tage Regen" bleibt ein infantiler Hokuspokus. Allein die Aufhebung der Gottesferne, das Nahen des Himmelreiches, die Gegenwart des Heilandes kann Druck, Not und Leid beseitigen. "Es ist in keinem andern Heil, auch in keinem andern Heilung, es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, auch nicht über dem Himmel, als allein der Name Jesus."
So müssen wir das auch sehen, wenn wir zum Ernteeinsatz Gottes taugen wollen. Wer den griesgrämigen Alten im Dachgeschoss, der immer die gleichen Stories erzählt, wer den aufmüpfigen Jungen von nebenan, der immer sein Moped aufheulen lässt, wer die aufsässige Frauensperson vom Nachbarhaus, die immer nur Gift und Galle spuckt, wer diese und andere einfach übersieht, der ist augenkrank. Nicht umsonst wird der fast therapeutische Aufruf in der Bibel ständig wiederholt: Siehe, siehe, siehe! Diese Sehübungen sind Medizin gegen den blinden Fleck. Also Erntearbeiter gesucht, Erntearbeiter, die wie Jesus sehen, und ...
2. Erntearbeiter, die zu Jesus flehen
Eigentlich sollten sie jetzt losziehen, so wie wir damals als 10jährige Erntehelfer. Der Weizen im Neckartal war wunderschön gewachsen und stand reif auf den Feldern. Aber es regnete Tag um Tag, schon fast zwei Wochen lang. Schade war's um das Getreide, wo es in diesen Kriegsjahren so bitternötig gebraucht wurde. Pflanzen und Menschen ließen die Köpfe hängen. Als aber auf einmal die Sonne durchbrach, rief der Kreisleiter Frauen und Männer, Arbeiter und Bauern, Lehrer und Schüler zur Ernteschlacht. Mit Jubel klappten wir Mathebücher und Vokabelhefte zu, ließen alles liegen und stehen und zogen hinaus auf die Felder.
Müsste Jesus nicht zur Ernteschlacht aufrufen? Müssten Jünger jetzt nicht alles stehen und liegen lassen? Müssten Erntearbeiter jetzt nicht ran an die Arbeit? Aber Jesus ruft nicht zuerst zur Feldarbeit, sondern zur Heimarbeit. Er ruft nicht zuerst zum Hände anlegen, sondern zum Hände zusammenlegen. Er ruft zum Gebet. "Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende." Alle Aktionen Gottes müssen mit Gebet beginnen. Wo nicht gebetet wird, wird nichts. Auf seine segnende Hand kommt's an, nicht auf die eigene Faust.
Denn in seinem Dienst braucht es geschickte Leute. Das sind nicht unbedingt tüchtige Leute, die keine zwei linken Hände haben. Das sind nicht unbedingt kräftige Leute, die anpacken und zu packen können. Das sind auch nicht unbedingt qualifizierte Leute, die möglichst noch ein Agrardiplom in der Tasche haben. Geschickte Leute sind im wahrsten Sinne des Wortes geschickt, gesendet, gerufen. Ein geschickter Mensch ist ein berufener Mensch. Er weiß sich nicht selber zu Höherem berufen, sondern vom Höchsten gerufen. So wie ein Jesaja, der im Tempel innehielt und sagte: "Hier bin ich! Sende mich!"
Und weil es uns an solchen geschickten Frauen und Männern fehlt, deshalb müssen wir am Flehen bleiben: Herr, in unseren Krankenhäusern und Pflegeheimen sind es zu wenige, die die notwendigen Dienste übernehmen wollen. Manche Stationen können schon gar nicht mehr belegt werden, obwohl Bettplätze dringend gesucht werden. Sende du Arbeiter in die Pflege. Und Herr, in unseren Fabriken und Büros sind es zu wenige, die noch eine Lippe für dich riskieren. Es ist genierlich, deinen Namen in den Mund zu nehmen. Sende du Arbeiter in die Arbeitswelt. Und Herr, in unseren Rathäusern und Parlamenten sind es zu wenige, die sich dir verantwortlich wissen. Deine Gebote sind nicht mehr Richtschnur politischen Handelns. Sende du Arbeiter in die Politik. Herr, in unseren Kreisen und Gruppen sind es zu wenig, die Aufgaben übernehmen. Alles andere wie Sport und Freizeit geht vor. Sende du Arbeiter in die Gemeinde. Und Herr, in unseren Missionen und Missionsschulen sind es zu wenige, die deinem Auftrag der Weltmission gerecht werden können. Menschen in Afrika, Asien und Südamerika warten auf dein Wort. Sende du Arbeiter in die Mission.
Wer so betet, soll sich auf Überraschungen gefasst machen. Wer so bittet, soll nicht erschrecken, wenn ihm eines Tages der Geist die Frage auf die Seele legt: Wen soll ich senden? Wer so fleht, der kann zu dem Schluss kommen: Sende nicht diesen oder jenen, Herr, sende mich.
Erntearbeiter gesucht, die zu Jesus flehen, und ...
3. Erntearbeiter, die mit Jesus gehen
Schließlich bleibt der Erntehelfer nicht in der Scheune sitzen und wartet, bis die Wagen kommen. Er geht ringsum auf alle Äcker und Felder und lädt auf. Die Ernte ist ja groß. Schließlich bleibt der Heiland nicht in dem Haus sitzen und wartet, bis die Menschen kommen. Er geht ringsum in alle Städte und Dörfer und lädt ein. Die Ernte ist ja groß. Schließlich sollen auch wir nicht in der Kirche sitzenbleiben und warten, bis die Leute kommen. Wir müssen ringsum gehen an alle Haustüren und Glastüren und jeden dazuladen. Es stimmt schon, was jener erfahrene Seelsorger gesagt hat: "Der Schlüssel zu dem Herzen der Leute hängt hinter der Glastür." Dort müssen wir hin und es sagen: Wir sind nicht mehr von allen guten Geistern verlassen, seif Jesus den unreinen Geistern den Meister gezeigt hat. Wir sind nicht mehr allen Krankheiten hilflos ausgeliefert, seit Jesus die Krankheit zum Tode überwunden hat. Wir sind nicht mehr mit allen Gebrechen belastet, seit Jesus dem Teufel das Genick gebrochen hat. Die Heil- und Wunderkraft Jesu ist seither ungebrochen. Auch wenn sie uns nicht immer wie ein Zauberstab zur Verfügung steht, geschehen in seinem Namen auch mitten unter uns Zeichen und Wunder als Vorschau des kommenden Reiches, in dem kein Leid und keine Tränen und kein Schmerz und kein Tod mehr sein wird. Es kommt der Tag, an dem politischer Druck und kirchliche Not und persönliches Leid der Vergangenheit angehören werden und die Gegenwart erfüllt ist von der strahlenden Verheißung: "Siehe, ich mache alles, alles neu." Bis dahin haben wir alle Hände voll zu tun, denn die Ernte ist groß. Aber keine Angst, wir müssten es alleine machen. Jesus macht mit. Keine Angst, wir müssten es alleine schaffen. Jesus schafft mit. Keine Angst, wir müssten diesen Weg alleine gehen, Jesus geht mit.
Erntearbeiter gesucht, Erntearbeiter, die wie Jesus sehen, die zu Jesus flehen und die mit Jesus gehen. Jeder ist dazu geschickt.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]