Die Kraft und Bedeutung der Liebe Christi
Nur fünf Worte lese ich in 2. Korinther 5,14: Die Liebe Christi drängt uns. Im Lateinischen sind es sogar nur vier: Caritas Christi urget nos. Wenige Worte für viel Inhalt.
Das Hauptwort lautet im Griechischen agape, im Lateinischen Caritas, auf Deutsch Liebe. Also ist von der Liebe die Rede. Diese Liebe hat nicht die Eigenschaften der Milch, die zuerst süß und sahnig ist, dann aber gerinnt, verdickt, versauert, verklumpt – einfach unangenehm wird. Saure Milch gibt es, Magerquark, Ökospeisen und Diätfutter.
Nein, die Liebe aus 2. Korinther 5 ist nicht wie Milch, sondern wie Most. Most ist zuerst süß und erfrischend, doch dann gärt er, tränkt, treibt und zwingt – einfach herrlich. Apfelmost gibt es, Traubensaft, Kellerwein, Herzenswärmer und Magenschmeichler.
Also ist diese Mostliebe, nicht die Milchliebe, gemeint, wenn der Apostel schreibt, die Liebe drängt uns, treibt uns, zwingt uns. Sie will uns nicht den kalten Kaffee servieren, sie will uns nicht den warmen Kuchen garnieren. Sie will nicht das Süße oder die Sahne unseres Lebens sein.
Diese drängende, treibende, zwingende Liebe will in uns und mit uns etwas bewirken.
Persönliche Beispiele der Liebe als treibende Kraft
Ich denke zum Beispiel an die Liebe meiner Mutter. Sie war eine herzensgute Frau. In Sachen Pädagogik hielt sie nichts von Zuckerbrot und Peitsche. Mit großer Geduld konnte sie sagen: „Und wenn du es jetzt immer noch nicht gelernt hast? Dann sage ich es dir noch einmal.“ Die Liebe dieser Mutter zwingt zum Dank.
Oder ich denke zum Beispiel an die Liebe meines Vaters. Er war ein aufrechter Mann. Weil er im Dritten Reich als Rechtsanwalt Zigeuner verteidigte, bekam er Probleme mit der geheimen Staatspolizei. In der ersten Nacht nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er eingezogen. Die Liebe zum Vater zwingt zum Lob.
Oder ich denke zum Beispiel an die Liebe zu meiner Braut. Sie war ein bezauberndes Wesen. Ich sang mit Friedrich Schiller: „Oh, dass sie ewig grünen möge die schöne Zeit der jungen Liebe.“ Die Liebe zur Braut zwingt zum Preis – Preis the Lord.
Und die Liebe zu Christus, zu was zwingt sie? Zum Dank, gewiss, aber zu noch mehr. Zum Lob, gewiss, aber zu mehr. Zum Preis, gewiss, aber zu mehr. Die Liebe Christi zwingt zum Dienst.
Die Liebe Christi als treibende Kraft zum Dienst
Wer nur ein warmes Herz bekommt – etwa achtunddreißig Komma fünf Grad –, wenn er an Gott, den Vater, denkt, der weiß noch nichts von der Liebe Christi. Wer nur ein gutes Gefühl bekommt, ähnlich wie bei einer Cola, wenn er an Gott, den Sohn, denkt, der weiß ebenfalls noch nichts von der Liebe Christi. Und wer nur einen erhöhten Pulsschlag verspürt, so wie beim Briefeschreiben, wenn er an Gott, den Heiligen Geist, denkt, der hat die Liebe Christi ebenfalls noch nicht wirklich erfahren.
Diese Liebe will nicht nur innerlich fühlbar sein, sondern äußerlich spürbar werden. Sie besetzt Augen und Ohren, beschlagnahmt Hände und Füße und riskiert Kopf und Kragen. Die Liebe Christi zwingt zum Dienst.
Gleichsam in Zeitlupe ist dies im Leben des Apostels Paulus geschehen. Dort können wir es nachverfolgen. Und weil seine Lebensgeschichte keine Heldengeschichte, sondern eine Wiederholungsgeschichte ist, gilt es, genau hinzuhören.
Die Liebe Christi zwingt zum Absteigen, zum Aussteigen, zum Einsteigen und zum Aufsteigen.
Der erste Schritt: Die Liebe Christi zwingt zum Absteigen
Zum Ersten: Die Liebe Christi zwingt zum Absteigen.
Der junge Saulus aus Tarsus, das in Kilikien liegt, war ein ganz normaler Typ. Etwas klein, vielleicht einen Meter sechzig groß, einstimmig, aber sonst okay. Er ging zur Schule, weil er nicht als Feigenpflücker sein Leben verbringen wollte, der nicht einmal das ABC beherrscht. Er ging zur Universität, weil er nicht Angestellter oder ein kleiner Beamter bleiben wollte, der vielleicht dauernd vor dem Abteilungsleiter kuschen muss.
Er ging zum Staat, weil dort die Aussichten auf einen lukrativen und einflussreichen Job besonders gut waren. Er wollte nach oben, er wollte die Karriereleiter hinauf. Saulus wollte aufs hohe Ross. Das ist wohl normal. Wer von uns geht schon zur Schule, weil er nichts Schöneres und Herrlicheres als Vokabeltests und Mathearbeiten kennt? Wer von uns geht schon zur Universität, weil es nichts Packenderes und Aufregenderes als Prüfungen und Examen gibt? Wer von uns geht schon zum Staat oder zum Bund oder zum Dienst, weil Arbeit und Stress das Honiglecken des Lebens sind?
Keiner will ein armer Hund bleiben, keiner will als dummer Esel durchs Leben traben, keiner will zum großen Kamel aufsteigen. Wir wollen aufs hohe Ross. Karriereritter lautet oft unser Wunsch. Nur wer oben ist, ist spitze – so wie Saulus, der hoch zu Ross auf der A-eins von Jerusalem nach Damaskus galoppierte. Natürlich war das noch keine vierspurige Autobahn, sondern nur eine Kriegsspur für vierbeinige „PKW“.
Dort saß der Herr aus Tarsus, inzwischen Geheimagent der jüdischen CIA und Abwehrspezialist in Diensten des Klerus, gut im Sattel. Seine Razzia gegen die Christensekte sollte auf das ganze Land ausgedehnt werden. Natürlich war er von der Richtigkeit seiner Sache überzeugt, so wie der gottesfürchtige Calvin auch, der in Genf den guten Servet verbrennen ließ.
Inspektor Saulus hatte den Kopf in den Nacken geworfen, und auf einmal war er selbst vom Pferd geworfen. „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Dieses Wort traf ihn wie ein Blitz. Er taumelte, verlor jede Orientierung, stürzte vom hohen Ross und blieb im Dreck liegen. Nicht nur seine freche Stirn war getroffen, nicht nur sein Dickkopf war gespalten, nicht nur sein Großmut war gestopft, auch sein festes Herz war im Eimer.
Die Liebe Christi demonstrierte einen Crash. Vor Damaskus lag ein Absteiger, ein Wrack. Ein Trümmerhaufen, ein Totalschaden des alten Menschen. So war diese Wirkung immer. Romano Guardini sagte einmal, Gott erschüttere die Welt von oben her. Er holt jeden vom hohen Ross.
Der eine sitzt auf seiner Vernunft, die Maß und Richtschnur für ihn ist. Der andere trabt mit seinem frommen Mäntelchen daher, das fadenscheinig und zerschlissen ist. Der Dritte sitzt fest im Sattel seiner Rechtschaffenheit, die Recht tut und niemand scheut. Der Vierte reitet die alte Tour, dass Religion Opium für das Volk sei. Alle miteinander sind wir stolze Reiter, die gerne den Kopf hochtragen. Deshalb zwingt Gott uns zum Abstieg.
In meiner Bibel steht nicht nur: „Der Herr ist mein Hirte, ich bin bei euch alle Tage, fürchtet euch nicht.“ In meiner Bibel steht auch: „Du bist mir ein Gräuel mit deinem Stolz, du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden, du lässt Gott einen guten Mann sein, ich will mit dir nichts mehr zu tun haben.“ Wer ihn hört, der taumelt und stürzt. Wer ihn versteht, der schlägt auf und ist am Boden. Wer ihn verspürt, der gehört zum alten Eisen. Die Liebe, die nur träumen lässt, ist nicht die Liebe Christi.
Saulus stammelt: „Ich elender Mensch!“ Luther klagt: „Ich zerschlagene Kreatur!“ Vielleicht kam es uns auch über die Lippen: „Ich bin am Ende.“ Ich verstehe Søren Kierkegaard, der gesagt hat, Menschen von solchem Kaliber, die das aushalten, werden nicht mehr geboren. Und wenn wir auch anfangen, diese Liebe echt zu spüren, dann steigen wir ab, dann sind wir am Boden.
Der zweite Schritt: Die Liebe Christi zwingt zum Aussteigen
Aber nicht am Ende, denn – und das ist das Zweite – die Liebe Christi zwingt zum Aussteigen. Saulus lag also k. o. auf dem Kopfsteinpflaster. Wäre damals schon das Handy erfunden gewesen, hätte der Staatssekretär den Notarzt unter 110 gerufen. Dieser wäre mit Blaulicht angerast oder per Helikopter eingeflogen, hätte einen schweren Schock bei dem hohen Beamten diagnostiziert und die sofortige Überführung in die Unfallklinik von Damaskus angeordnet.
Aber weil es weder Telekom noch Krankenwagen noch Hospital gab, führten sie ihn per Hand in die Stadt und brachten ihn im Haus des Judas in der Geraden Straße unter. Dort hatte Paulus eine Erscheinung.
Ich hörte von einem Pfarrer, der mitten in der Predigt stockte, schwankte und auf der Kanzel in die Knie ging. Die Gemeinde erstarrte vor Schreck. Kurz darauf war er jedoch wieder fit und sagte: „Liebe Gemeinde, eben hatte ich eine Erscheinung – eine Alterserscheinung.“
Saulus hatte keine Alterserscheinung, sondern eine Gotteserscheinung. Vor seinem erblindeten Auge erschien ein gläubiger Mann namens Ananias, der ihm sagte: „Du wirst jetzt sehen, du wirst jetzt wiedersehen, du wirst dich jetzt als Aussteiger wiedersehen.“
Und Saulus sagte nicht: „Das ist der Hammer, aussteigen, das ist der Knaller, umsatteln, das ist der Schuss, Karriere ade.“ Dafür brauche er Bedenkzeit, Zeit, mit seiner Familie zu reden. Was wird Mutter sagen, wenn der Sohnemann den moralischen Krieg führt und freiwillig auf die Altersversorgung verzichtet? Zeit, mit seinen Freunden zu reden. Was wird der Duzfreund sagen, wenn der Senkrechtstarter den Bogen nimmt und im freien Fall irgendwo abschmiert? Zeit, mit seinem Chef zu reden, wenn der Scharfmacher weich wird und den Abschied nimmt.
So schnell schießen die Preußen nicht, so heiß werden die Poms nicht gegessen, so dringend ist es nie. Aber die Apostelgeschichte berichtet im Originalton: Er wurde sehend, stand auf, ließ sich taufen, nahm Speise und stärkte sich. Im Galaterbrief gibt er einen persönlichen Kommentar dazu ab: „Ich besprach mich nicht mit Fleisch und Blut.“
Aussteiger auf Befehl. So wie der Fischer Petrus am See Genezareth. Er lief nicht zur Oma, ob sie die Aufgabe des Fischereibetriebes verschmerzen könne. Er lief nicht zum Bruder, ob er das Geschäft alleine betreiben könne. Er lief nicht zum Rabbi, ob solch eine fristlose Kündigung nach der Tora rechtens sei. Sogleich verließ er die Netze und folgte Jesus nach.
Aussteiger auf Befehl, so wie der Schuster William Carey in England. Er fragte nicht die Tante, ob sie traurig wäre, wenn er den Hammer weglegte. Er fragte nicht den Kollegen, ob er die restlichen Schuhe fertigen könne. Er fragte nicht die Kirchenoberen, ob sie überhaupt eine Mission in Übersee benötigen würden. William Carey schob den Dreifuß beiseite und reiste nach Indien.
Aussteiger auf Befehl, sowie unzählig viele nach ihm, die sich nicht den Puls fühlten, ob es jetzt dran sei. Die keine lange Auszeit nahmen, ob dieser Riesenschritt gewagt werden könne. Die nicht ein ewiges Palaver begannen, ob, wie, wann, wo und warum überhaupt dies nötig sei. Sie quittierten ihren Dienst und akzeptierten ihren Dienst: Aussteiger auf Befehl.
Und Sie: Sind Sie denn so sicher, dass das Studium der richtige Ausbildungsweg für Sie ist? Sind Sie so gewiss, dass der gut bezahlte Posten das richtige Berufsziel für Sie ist? Sind Sie felsenfest überzeugt, dass man nur in der Familie mit Mann, Frau und zwei Kindern glücklich werden kann?
Wie sagte Marie Durand jede Woche während ihrer siebenunddreißigjährigen Gefangenschaft um ihres Glaubens willen? „A votre disposition“ – zu Deutsch: „Ganz zu deiner Verfügung.“ Und wenn du willst, dass ich einen anderen Platz einnehme, ganz zu deiner Verfügung. Und wenn du willst, dass ich meinen Beruf stecke, ganz zu deiner Verfügung. Und wenn du willst, dass ich meine Karriere an den Nagel hänge, ganz zu deiner Verfügung.
Schieben Sie es nicht auf die lange Bank! Die lange Bank ist der beste Sitzplatz des Teufels. Schieben Sie es nicht auf den nächsten Tag. Der morgige Tag ist kein Problemlöser! Schieben Sie es nicht anderen zur Entscheidung hin – andere können nicht für Sie entscheiden. Heute müssen Sie das tun. Das ist der Kairos.
Die Griechen haben diesen Begriff illustriert. Sie zeichneten einen jungen Mann, der mit wehenden Haaren davonstürmte. Kairos meint, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Kairos ist der wesentliche Punkt, der entscheidende Zeitpunkt.
So ist der Kairos zum Beispiel der Start beim Hundertmeterlauf. Kommt der Läufer beim Startschuss nicht aus den Startlöchern, dann reißt auch der beste Endlauf nichts mehr aus dem Feuer. Oder Kairos ist der Zeitpunkt beim Backen. Zieht der Bäcker den Kuchen zu spät aus dem Ofen, dann ist er Kohle. Tut er es zu früh, dann hat er Kaugummi.
Es gibt einen Kairos, in dem Gott ruft und in dem wir uns aufmachen können. Oder man kann diesen Zeitpunkt verpassen, so wie man einen Bus verpasst.
Heute will sie Jesus fragen, wo sie im Aufstieg oder auf der Höhe des Lebens sind. Heute will sie Jesus fragen und nicht erst im Alter, wenn der Psalter zu Ehren kommt. Heute will sie Jesus fragen und nicht erst nach dem zweiten Schlaganfall, wenn man alles hinter sich hat. Heute will sie Jesus fragen: Sind Sie ganz für mich bereit?
Von Alexander dem Großen wissen wir: Wenn er eine Stadt belagerte, ließ er drei Kerzen anzünden. Solange diese Kerzen brannten, bot er Gnade und Frieden an. War aber die dritte Kerze abgebrannt, dann gab es nur noch Schrecken und Gericht.
Jesus ist die dritte Kerze. Er hat das letzte Wort, nach ihm kommt keiner mehr. Deshalb hat die biblische Botschaft etwas Drängendes. Sie redet nicht wie ein Philosoph, der auch eine Meinung hat, sondern wie ein Vermittler, den man spürt, weil er wachend ist.
Versäumt nicht die Stunde, versucht nicht zu fliehen, überhört nicht den Ruf. „Ich besprach mich nicht mit Fleisch und Blut“, schrie Paulus und zog nach Arabien. Aussteiger auf Befehl! Die Liebe Christi zwingt zum Aussteigen.
Der dritte Schritt: Die Liebe Christi zwingt zum Einsteigen
Und das Dritte: Die Liebe Christi zwingt zum Einsteigen. Du wirst Zeuge sein – so wird Paulus nun unmissverständlich klargemacht, dass er keine Woche lang Aussteiger bleiben kann. Ihm bleiben nur wenige Tage zum Umsteigen, dann wird er Einsteiger im diplomatischen Dienst. Botschafter an Christi Stadt heißt sein neuer Titel.
Weil es viele Länder auf dieser Erde gibt, die solche Karrierebeamte nötig haben, wird allen Aussteigern unmissverständlich zugerufen: So seid nun Botschafter an Christi Stadt. Aber haben wir dazu das Zeug?
Mein Nebensitzer in der Rottweiler Schule war ein Ass, der Primus, die Flagge am Schulschiff. Ich gehörte mehr zum Kiel, aber auch der Tiefgang ist wichtig. Er sah blendend aus, während bei mir schon damals das Schwefeldioxid ein Haarsterben verursachte.
Beim Aufsatz war es immer dasselbe: Er gab nach dreißig Minuten ab und ging spazieren. Ich setzte meine ganze Gehirnmasse in Bewegung, um die Seiten zu füllen. Und wenn die Arbeit zurückkam, hatte er seine Eins, und bei mir war Sabbat, Sonntag, Heiliger Abend, wenn ein Drei-minus das Machwerk zierte.
Später erhielt er den Scheffelpreis, hohe Prädikate und einen Freiplatz bei der Studienstiftung. Heute ist er Spitzenbeamter, Diplomat, Botschafter in Spanien. Ich bin Rentner auf der Schwäbischen Alb.
Botschafter der Welt müssen sprachbegabt, weltgewandt und hoch gebildet sein. Aber Botschafter des Himmels müssen nur eines sein, nämlich versöhnt mit Gott.
Wer also diesen Jesus kennt, der in der Krippe geboren wurde, der gehört zum auswärtigen Amt Gottes. Wer diesen Jesus kennt, der am Kreuz gestorben ist, gehört zum diplomatischen Chor Gottes. Wer diesen Jesus bekennt, der aus dem Grabe auferstanden ist, gehört zu den Botschaftern Gottes, die nur eines laut weitersagen müssen: Lasst euch versöhnen!
Deshalb war ihm das Kreuz so wichtig, weil nur dort eine Versöhnung zwischen Gott und den Menschen geschehen kann.
Den Korinthern schrieb er es so: „Als ich zu euch kam, hielt ich es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus, den Gekreuzigten.“ (1. Korinther 2,2) Er schrieb also nicht: „Als ich zu euch kam, hielt ich es für richtig, die Hochschule zu besuchen. Dort debattieren die glänzendsten Rhetoriker und machen im Wettstreit den Besten unter sich aus. Schließlich bin ich kein galiläischer Hinterwäldler, der nur stottern kann, sondern römischer Rechtsgelehrter, der bei Professor Gamaliel die brillante Rede studiert hat. Auch auf diesem Parkett weiß ich mich sehr wohl zu bewegen. Mit hohen Worten, geschliffener Sprache und getrechselten Sätzen sind sie alle zu überzeugen.“ Aber Paulus schreibt so nicht.
Er schrieb auch nicht: „Als ich zu euch kam, hielt ich es für richtig, die Lehrhalle zu mieten. Dort philosophieren die klügsten Großmeister und führen in ihre tiefsten Geheimlehren ein. Schließlich bin ich kein zwielichtiger Wundertäter, der gar mit dem Leibhaftigen im Bunde steht, sondern göttlicher Geheimnisträger, der vor Damaskus dem Lebendigen höchstpersönlich begegnet ist. Auch in solchen Sitzungen weiß ich mit der Elite umzugehen. Mit weißen Worten, gnostischem Denken und religiösen Mysterien kann ich sie auf die höchste Stufe der Eingeweihten führen.“ Aber Paulus schreibt so nicht.
Er schreibt auch nicht: „Als ich zu euch kam, hielt ich es für richtig, den Aphrodistetempel zu reinigen. Dort erwarten tausend Tempeldirnen die Besucher und machen die Stadt zum griechischen Sodom. Schließlich bin ich keine Unschuld vom Lande, die naiv durch die Säulenhallen streift, sondern kirchlicher Saubermann, der wie sein Meister für Scytheon Ordnung sorgt. Dieses sprichwörtliche korinthische Leben ist eine Schande für den ganzen Peloponnes. Mit scharfen Worten, gefluchtener Geißel und heiligem Eifer sind sie zu vertreiben.“ Aber Paulus schreibt so nicht.
Er schreibt auch nicht: „Als ich zu euch kam, hielt ich es für richtig, die Slums in den Hafenstraßen kennenzulernen. Dort vegetieren die Ärmsten der Armen und nagen neben den Bonzenvillen am Hungertuch. Schließlich bin ich kein satter Etablierter, der die Lazarus übersieht, sondern ein armer Wohnsitzloser, der von Ort zu Ort zieht. Irgendeiner muss den Mund aufmachen und Initiative zeigen. Mit starken Worten, gezielten Aktionen und lauten Demonstrationen muss Ungerechtigkeit bekämpft werden.“ Aber Paulus schreibt so nicht.
Im zweiten Kapitel des Korintherbriefes lesen wir es so: „Als ich zu euch kam, hielt ich es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.“ (2. Korinther 2,2)
Und wenn sie sagen: „Weißt du denn nicht, wie wichtig das Debattieren für die Wahrheit ist, wie wichtig das Philosophieren für die Weisheit, das Agieren, Politisieren und Demonstrieren für die Gerechtigkeit ist?“ Bleibt Paulus bei seinem Proklamieren: „Ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als Jesus, den Gekreuzigten.“
Er sagt dies nicht im Brustton der Überzeugung, sondern in Schwachheit, in Furcht und mit großem Zittern. Aber in der Gewissheit, dass für die Wahrheit, Weisheit und Gerechtigkeit in der Welt, ja für unsere ganze Seligkeit, nur ein einziger Name von alles entscheidender Bedeutung ist: nämlich Jesus Christus.
Nur in ihm gibt es Versöhnung. Deshalb: Lasst euch versöhnen! In den Herzen muss es gehört werden, in denen Unglaube, Zweifel und Ungehorsam miteinander streiten – lasst euch versöhnen! In den Familien, in denen zwischen Alten und Jungen ewig Streit ist – lasst euch versöhnen! In den Wohnblocks, in denen Türnachbarn keine Silbe mehr miteinander reden – lasst euch versöhnen! In den Chefetagen, in denen nur noch mit Ellenbogen verletzt wird, und in den Machtzentralen, in denen aufgerüstet und hochgerüstet wird – lasst euch versöhnen!
Es gibt keinen anderen Ausweg aus dem sich anbahnenden Chaos.
Arbeitslosigkeit gibt es in dieser Botschafterlaufbahn nicht. Massenentlassungen sind in diesem Amt nicht zu befürchten. Botschafter an Christi Statt kann es gar nicht genug geben.
Und so wie die weltlichen Diplomaten ein VIP tragen und damit unter besonderen Schutz des Staates gestellt sind, so tragen auch seine Leute dieses „very important person“ – eine sehr wichtige Person – und stehen unter dem besonderen Schutz dieses Gottes.
Wenn sie mich belächeln, weiß ich, ich bin ein Fippgottes. Wenn sie mich bekämpfen, weiß ich, ich bin ein Fippgottes. Wenn sie mich aus dem Weg räumen wollen, bin ich ein Fippgottes.
Meinen persönlichen Schutz hat er übernommen.
Wie sagte Martin Luther, als er in große Not geriet? Der Papst hatte ihn in den Bann getan und der Kaiser in die Reichsacht. Als Vogelfreier war er in äußerster Lebensgefahr. „Wo willst du denn jetzt bleiben?“, fragte ein Freund. Seine Antwort lautete: „Subkölodei unter dem Himmel Gottes.“
Botschafter an Christi Stadt, Fipp Gottes bleiben unter dem offenen Himmel. Wem aber der Himmel offen ist, dem sind auch die finstersten Talwege sonnenhell.
Die Liebe Christi zwingt zum Einsteigen.
Der vierte Schritt: Die Liebe Christi zwingt zum Aufsteigen
Aber auch noch das Vierte: Die Liebe Christi zwingt zum Aufsteigen. Natürlich ist auch bei Gott Aufstieg angesagt. Seine Kinder sind keine Pfarrerskinder, von denen es heißt: Vater versetzt, Kinder sitzen geblieben. Botschafter Christi sind Karriereritter. Deshalb fragen wir gespannt: Zu was können sie es denn bringen?
Der Vorstand der Kleintierzüchter bringt es zum goldenen Stallhasen, der Kommandant der freiwilligen Feuerwehr bringt es zur goldenen Spritze, der Rektor der Schule bringt es zum Bundesverdienstkreuz am Bande, der Chef des Konzerns zum Purlemirit – und der Botschafter Jesu Christi bringt es bis zum Kreuz: zum Holzkreuz, zum Standkreuz, zum Pestkreuz.
„Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss“, heißt es bei Paulus. Bei Jesus gibt es nur Kreuzritter und Kreuzträger. Aber dieses Kreuz trägt man nicht auf der Brust mit viel Lametta und Glitzersternchen, sondern auf dem Rücken – mit viel Druck und Rückenschmerzen.
Wer mit dem Kreuz zu tun bekommt, bekommt es ins Kreuz. Paulus berichtet von seinem Pfahl, den ihm Gott ins Fleisch getrieben hat. Eine unbekannte Krankheit quälte ihn Tag und Nacht. Oft genug meinte er, darunter zu zerbrechen. Dann ging er auf die Knie: „Lieber Gott, ich bin fix und fertig, so kann ich nichts mehr für dich tun, mach mich wieder gesund!“ Doch Gott hat ihn nicht gesund gemacht.
Nichts war es mit Kraft und Stärke und Selbstbewusstsein. Paulus litt an Schwachheit, so wie der Reformator Luther auch, der mit vierundvierzig Jahren ein kranker Mann war. So wie der Diakonissenhausvater Fliedner, der lebenslang an Migräne litt. So wie der Erweckungsprediger Hofacker, der nach drei Dienstjahren mit dreiunddreißig Jahren starb. So wie viele – alles keine strahlenden Siegertypen, sondern geschlagene und gebeutelte.
Auch wenn heute sehr viel von Heilung, Heilungswundern und Wunderheilern die Rede ist, bleibt es dabei: Schwachheit ist die Berufskrankheit im Dienst der Botschaft Jesu.
Deshalb wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen der Dienst schwerfällt. Deshalb machen Sie sich keine Gedanken, wenn Sie nicht mit „Halleluja“ an die Sache herangehen. Deshalb überlegen Sie nicht lange, wenn Sie bei ihm Kreuzschmerzen bekommen.
Das Kreuz ist das Bundesverdienstkreuz des Himmels, der pure Merit des Reiches Gottes, die höchste Auszeichnung. Denn damit sind Sie genau so hoch wie der Gekreuzigte selbst. Sie sind in seine Nähe gehoben, in seine Nähe gerückt, in seine Gemeinschaft gestellt.
Für Kreuzträger gilt: Niemand kann sie aus meiner Hand reißen.
Zeugnis eines Kreuzträgers und Botschafters
Die Liebe Christi zwingt zum Kreuz hin. Von einem solchen Kreuzträger und Botschafter will ich noch berichten.
Einer erzählte, wie er im Sommer 1939 auf dem Appellplatz von Buchenwald stand – grenzenlos allein, unheimlich gefangen, ohne Glauben und entschlossen, in der nächsten Nacht in den elektrischen Zaun zu gehen. Da hörte man an diesem Ort des Grauens und der Verzweiflung eine laute, klare Stimme über den Platz schallen, auf dem zwanzigtausend Menschen standen. Diese Stimme kam aus einer Bunkerzelle heraus: „Jesus Christus spricht: Ich bin bei euch alle Tage.“
„Durch diese Stimme bin ich gerettet worden“, erzählte der ehemalige Häftling, „denn von da an wusste ich, dass einer bei mir ist.“ Es war die Stimme des rheinischen Pfarrers Paul Schneider, der diese mutigen Worte aussprach und so seinen Botschafterdienst wahrnahm.
Er war selbst den nazistischen Schergen ausgeliefert worden. Im Mai 1937 hatten sie ihn in Haft genommen, nach Buchenwald gebracht und später in Dunkelarrest eingekerkert. Als eines Tages Lagerkommandant Schober dort erschien und ihm die Lüge unterbreitete: „Ihre Frau ist mit ihrem jüngsten Kind tödlich verunglückt“, entgegnete Schneider: „Geht Ihnen das nicht ans Herz?“ – „Gewiss. Aber noch mehr bedrückt mich die furchtbare Behandlung der Häftlinge durch Sie.“ Darauf schrie der Kommandant Wudenbrand: „Das sollst du mir büßen, du Lump!“
Und Pfarrer Schneider büßte Hunger, Schläge und Dunkelheit. Trotzdem benutzte er den einzigen Luftkanal, um seine Botschaft loszuwerden. Schließlich hat man ihn mit Hilfe von Spritzen für immer stumm gemacht.
Paul Schneider ist mit solchem Zeugenmut und Botschafterdienst keine Ausnahmeerscheinung geblieben. Die Kette von Zeugen, die sich nicht an die Devise des Schriftstellers Bertolt Brecht hielten, dass man seinen Rücken nicht dazu habe, ihn gerben zu lassen, ist nie abgerissen. Immer gab es solche, die den Wehruf ernst nahmen: „Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht predige.“
Immer gab es solche, die den Mund nicht halten konnten wegen der weltbewegenden Offenbarung, die in Jesus Christus geschehen ist. Und es wird sie immer geben bis an das Ende der Welt. Einfach deshalb, weil es für Botschafter an Christi Statt nie heißt „Matthäus am letzten“, sondern weil es für sie in Matthäus am letzten heißt: „Mir ist alle Macht gegeben, darum geht hin in alle Welt“ und „Siehe, ich bin bei euch alle Tage.“
Weil wir in Glaubenssachen oft ein Gedächtnis wie ein Sieb mit faustgroßen Löchern haben, deshalb noch einmal: Die Liebe Christi streichelt und tätschelt nicht, sondern zwingt sie. Steigen Sie ab vom hohen Ross, steigen Sie aus dem alten Trott, steigen Sie ein in seinen Dienst. Steigen Sie auf bis zum Kreuz Jesu – es lohnt sich!