Einführung: Gottes Umgang mit Menschen im Alten Testament
Ich habe ja schon gestern Abend angekündigt, dass wir die Fortsetzung machen. In den nächsten Tagen beschäftigen wir uns mit Menschen aus dem Alten Testament und wollen beobachten, wie Gott mit ihnen umgegangen ist.
Gestern haben wir uns mit dem ersten Ehepaar beschäftigt und gesehen, wie geduldig Gott ist. Obwohl er Strafe angedroht hat, gibt er ihnen Zeit zur Besinnung. Außerdem haben wir gesehen, dass Gott Fragen stellt.
Heute wollen wir uns einen Menschen oder auch zwei ansehen, über die, glaube ich, in unseren Kreisen wenig gepredigt wird. Es ist sicherlich nicht so erhebend, wenn man über Mord redet. Ich habe das Thema mal so überschrieben: Mord, Außeneid, die Frage, woher kommt die Kriminalität?
Meine Frau und ich gehen seit einiger Zeit ins Gefängnis. In letzter Zeit geht meine Frau mehr als ich, und zwar in ein Frauengefängnis in der Nähe von Willich bei Krefeld. Man fragt sich immer wieder: Wofür brauchen wir Menschen überhaupt Gefängnisse?
Auf den Färöer-Inseln gibt es kaum Kriminelle. Das sind ja die Inseln, die zu Dänemark gehören und ganz im Norden im Meer liegen. Ich habe gehört, dass ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung dieser Inseln zu den Brüdergemeinden gehören und fast alle auf den Färöer-Inseln evangelischen Glaubens sind. Dort brauchen sie keine Polizisten, sie müssen ihre Häuser nicht abschließen und haben keine Angst, dass etwas gestohlen wird. Man sollte das überall einführen, oder?
Ich kenne einen jungen Mann, der seinen Zivildienst in der Justizvollzugsanstalt Höfe Scheideweg gemacht hat. In seinem Herzen hatte er den Wunsch: Ich will in die Mongolei. Nachdem er seinen Zivildienst beendet hatte, flog er nach Ulaanbaatar und schrieb sich an der Universität dort ein. Er lernte die mongolische Sprache.
Nachdem er geheiratet hatte und seine Frau mitgenommen hatte, ging er zum Justizministerium und fragte sich durch bis ins Vorzimmer des Justizministers. Er wollte mit dem Minister sprechen. Immer wieder wurde er gefragt: Was wollen Sie von ihm? Er antwortete: Ich will in die mongolischen Gefängnisse. Was wollen Sie dort? Ich will den Inhaftierten von Jesus erzählen. Und was soll das bringen? Wenn die Inhaftierten Christen werden, sind sie nicht mehr kriminell.
Die Beamten sagten, das könnten sie sich nicht vorstellen. Wer hat gesagt, dass er ihnen das beweisen kann? Der junge Mann. Er schaffte es, dass vier hochrangige Offiziere aus dem mongolischen Justizministerium mit ihm nach Deutschland zur Justizvollzugsanstalt Höfe Scheideweg bei Hückeswagen fuhren. Dort wohnten sie einen Monat mit in einer Wohngemeinschaft. Er musste alles übersetzen.
Diese Offiziere gingen mit in die Gefängnisse, sprachen mit den Gefangenen und stellten fest, wie sich das Leben bei diesen Menschen verändert hatte. Auf dem Rückflug fragten sie den jungen Mann: Ihr hattet immer so ein Buch, aus dem ihr gelesen habt. Was war das? Er antwortete: Das ist die Bibel. Können wir auch so ein Buch haben? Er gab ihnen allen eine Bibel.
Später bekam er von höchster Stelle die Genehmigung, in alle Gefängnisse der Mongolei zu gehen.
Die Ursprünge von Kriminalität und Gottes Umgang mit dem Sünder
Woher kommt Kriminalität, und wie verschwindet sie wieder? Das ist wohl das Urübel schlechthin bei uns Menschen. Der erste Mörder ist kein Unbekannter.
Wir stellen bei dieser Geschichte fest: Selbst um einen Kriminellen kümmert sich Gott. Das erstaunt mich sehr und macht mir Mut, auch heute mit Kriminellen zu sprechen und ihnen das Evangelium zu zeigen.
Wir wollen uns anhand des Textes, den wir gleich lesen, fünf Fragen stellen:
- Zunächst die Umstände des Geschehens.
- Welche Probleme hat Kain, und woher kommen diese Probleme?
- Wie geht Gott vor?
- Wie erreicht er das Herz?
- Wie löst er den Fall – oder wie löst er ihn nicht?
- Was lernen wir daraus für die praktische Seelsorge?
Von daher möchte ich zunächst einmal den Text lesen. Wir schlagen gemeinsam auf im 1. Buch Mose, Kapitel 4, und ich lese die ersten sechzehn Verse:
„Und der Mensch, damit ist Adam gemeint, erkannte seine Frau Eva, und sie wurde schwanger und gebar Kain. Und sie sagte: ‚Ich habe einen Mann mit dem Herrn hervorgebracht.‘ Und sie gebar noch einmal, und zwar seinen Bruder, den Abel. Und Abel wurde ein Schafhirt, Kain aber wurde ein Ackerbauer.
Und es geschah nach einiger Zeit, da brachte Kain von den Früchten des Ackerbodens dem Herrn eine Opfergabe. Und Abel brachte auch von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr blickte auf Abel und auf seine Opfergabe, aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht.
Da wurde Kain sehr zornig, und sein Gesicht senkte sich. Und der Herr sprach zu Kain: ‚Warum bist du zornig? Und warum hat sich dein Gesicht gesenkt? Ist es nicht so: Wenn du Recht tust, erhebt sich dein Angesicht. Wenn du aber nicht Recht tust, liegt die Sünde vor der Tür, und nach dir wird ihr Verlangen sein; du aber sollst über sie herrschen.‘
Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel: ‚Lass uns aufs Feld gehen.‘ Und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn.
Und der Herr sprach zu Kain: ‚Wo ist dein Bruder Abel?‘ Und er sagte: ‚Ich weiß es nicht. Bin ich meines Bruders Hüter?‘ Und er, Gott, sprach: ‚Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden her. Und nun verflucht seist du von dem Ackerboden hinweg, der seinen Mund aufgerissen hat, das Blut deines Bruders von deiner Hand zu empfangen.
Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir nicht länger seine Kraft geben. Du sollst unstet und flüchtig sein auf der Erde.‘
Da sagte Kain zu dem Herrn: ‚Zu groß ist meine Strafe, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du hast mich heute von der Fläche des Ackerbodens vertrieben, und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen und werde unstet und flüchtig sein auf der Erde. Und es wird geschehen: Jeder, der mich findet, wird mich erschlagen.‘
Der Herr aber sprach zu ihm: ‚Nicht so! Jeder, der dich erschlägt, soll siebenfach büßen.‘ Und der Herr machte an Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder erschlägt, der ihn fände.
So ging Kain weg vom Angesicht des Herrn und wohnte im Land Nod, östlich von Eden.“
Die Herausforderung, über Kain zu predigen
Wahrscheinlich wird so wenig darüber gepredigt, weil es keine erbauliche Geschichte ist, oder? Kriminalgeschichten lesen wir in der Regel nur in Krimis, und die enden meist gut. Der Mörder wird gefangen genommen und bestraft.
Aber bei dieser Geschichte hat man den Eindruck, sie endet nicht. Kommt Gott nicht zu seinem Ziel? Das ist schon eigenartig – eine solche Geschichte gleich zu Beginn der Bibel. Warum steht so eine Geschichte überhaupt in der Bibel?
Die Umstände der Geburt Kains und Abels
Nun schauen wir uns zunächst die Umstände des Geschehens an. Kein ist das erste Kind auf dieser Erde, das geboren wird. Was muss das für Adam und Eva gewesen sein? Gott hatte ihnen gesagt, dass sie Nachkommen bekommen würden und dass ein Nachkomme einmal der Schlange den Kopf zertreten würde.
Außerdem hatte Gott Eva gesagt, dass die Geburt nicht einfach werden würde, sondern mit Schmerzen verbunden sein würde, wenn sie schwanger ist. Und dann wird sie schwanger. Ich weiß nicht, wie ihre Schwangerschaft verlaufen ist, denn darüber wird nichts berichtet. Aber es muss sich erfüllt haben, was Gott gesagt hat: Sie wird Schmerzen gehabt haben.
Endlich, endlich ist es so weit, und der erste Junge wird geboren. Welche Hoffnungen setzen die beiden Eltern in ihn? Das ist bei uns Menschen ja auch so: Der Erstgeborene ist etwas Besonderes. Ich kann mich sehr gut daran erinnern. Damals war es noch nicht üblich, dass man die Geburt zu Hause erleben konnte. Väter durften auch noch nicht bei der Geburt dabei sein. Man durfte dann nur hinter einer Glasscheibe das Windelpaket sehen.
Ich erinnere mich noch sehr gut an die Geburt unseres ersten Kindes. Wir Väter standen alle vor dieser Glasscheibe, und dahinter war der Raum mit all den kleinen Bettchen. Ein Kind nach dem anderen wurde aus dem Bettchen gehoben. Dann wurde ein richtig großes Baby gezeigt, und ich dachte, das kann nicht unseres sein. Ich drehte mich um, und hinter mir stand ein anderer Vater. Unser Baby war das kleinste, glaube ich.
Das war schon spannend. Doch ich bin froh, dass wir unser drittes und viertes Kind zu Hause bekommen haben. Ich habe so gedacht: Adam und Eva hatten keine Hebamme dabei, keine ärztliche Betreuung. Sie erleben das zum allerersten Mal und wissen nicht, wie das geht. Sie können nicht die Schwiegermutter fragen, keinen Kurs machen, keine Schwangerschaftsgymnastik kennen – all das gab es nicht.
Ich erinnere mich noch, als unser drittes Kind geboren wurde: Die Hebamme legte das Kind mir in die Arme und sagte: „Herr Platte, gucken Sie, was Sie angerichtet haben.“ Eva sagt: „Ich habe einen Mann mit Gott empfangen.“
In der Regel suchen Eltern dann einen Namen aus. Bei christlichen Eltern sind es oft christliche Namen, weil man versucht, einen Wunsch oder eine Erwartung hineinzulegen. Ich komme noch aus einer Zeit, in der das nicht ganz so war, auch unter Christen. Ich habe noch einen sehr deutschen Namen, den ich nie schön gefunden habe. Aber was bleibt einem anderes übrig, oder?
Ich bin nicht so hart wie Eva. Eva nennt ihn Kein, was so viel wie „erworben“ oder „Gewinn“ bedeutet. Sie fühlt sich offensichtlich reich beschenkt durch Gott und staunt über das Wunder. Sie sagt: „Ich habe einen Mann erworben mit dem Herrn.“ Das ist auch eigenartig, denn sie sagt nicht: „Ich habe ein Baby bekommen“, sondern „einen Mann erworben“.
Ich sagte gestern schon, dass sie offensichtlich erwartet, dass er derjenige ist, der die Frage der Schuld löst. Wir haben gelesen, dass sie dann noch einmal schwanger wird, und sie scheint enttäuscht zu sein. Sie nennt ihn Abel, was „Hauch“ oder „Nichtigkeit“ bedeutet. Man kann vermuten, dass Abel im Vergleich zu Kein ein sehr schwächliches Baby war. Sie merkt, so einfach ist es nicht.
Dann wachsen die beiden heran. Es steht geschrieben, dass Kein ein Ackerbauer wird, Abel ein Schafhirte. Diese Berufe gab es vorher noch nicht. Im Grunde ist das Ausprobieren. Sie mussten alles zum ersten Mal ausprobieren. Wahrscheinlich hat niemand mit seinem Vater ausprobiert, welche Körner essbar sind, was man damit machen kann, wie man die Körner mahlt oder wie man Brot backt. All das musste ja neu erfunden werden.
Man könnte sich auch fragen: Warum wird Abel Schafhirte? Was hat er mit den Schafen gemacht? Lammfleisch konnten sie noch nicht essen, denn sie waren noch Vegetarier. Wofür braucht man dann Schafe?
Wir merken, dass Adam und Eva ihren Kindern etwas erzählt haben. Sie haben wahrscheinlich erzählt, dass ihre ersten Kleider von Gott kamen, Röcke aus Fell. Also wird Abel gesagt haben: „Tja, wenn wir mehr werden, brauchen wir mehr Kleider.“ Also brauchen wir mehr Fell. Das heißt, sie haben entdeckt, dass man aus Wolle etwas machen kann, und dass man die Milch gut trinken kann.
Ich finde das ein spannendes Leben: Alles neu entdecken, alles neu erfinden.
Die Opfergaben und Gottes Reaktion
Nach einiger Zeit haben wir gelesen, dass die beiden etwas opfern. Auch das ist, glaube ich, eine eigenartige Sache, die wir nur zwischen den Zeilen lesen können. Woher mögen sie auf den Gedanken gekommen sein, Gott etwas zu opfern? Und welche Bedeutung hatte das, was sie opferten?
Wir haben gelesen, dass Kain dem Herrn eine Opfergabe von den Früchten des Ackerbodens brachte. Darüber können wir sicherlich spekulieren: Was war der Beweggrund des Opferns? Sie kannten noch nicht das Buch Levitikus, in dem Gott seinem Volk Anordnungen gab, was, wie, warum und aus welchem Grund sie opfern sollten.
Später gab es verschiedene Opferarten im Volk Israel: Dankopfer, Friedensopfer, Schuldopfer, Sündopfer und Speisopfer. All das wussten sie damals noch nicht. Ich habe den Eindruck, dass beide irgendwie dankbar waren, weil Gott ihnen Gelingen gegeben hatte. Sie wollten sich bei Gott bedanken.
Die eigentliche Bedeutung eines Opfers finden wir erst später in der Bibel. Doch dann ist es eigenartig, wie Gott reagiert. Am Ende von Vers 4 heißt es: Der Herr blickte auf Abel und seine Opfergabe, aber auf Kain und seine Opfergabe blickte er nicht.
Wir fragen uns: Ist Gott ungerecht? Beide brachten etwas durch Gott, vermutlich beide aus Dankbarkeit. In vielen Gemälden wird das so dargestellt, um es deutlich zu machen. Ich weiß nicht, ob ihr die Bilder von Carl Friedrich von Schnau, auch bekannt als Carlsfeld, kennt. Er malt als erkennbares Zeichen, dass der Rauch von Kains Opfer nach unten steigt, während der Rauch von Abels Opfer in den Himmel aufsteigt.
Er will damit ausdrücken: Gott nimmt das Opfer von Abel an, aber das Opfer von Kain nicht. Nun könnten wir spekulieren: Warum nimmt Gott das Opfer von Abel an, aber das von Kain nicht?
Wenn wir den alttestamentlichen Text lesen, können wir nur spekulieren. Aber im Neuen Testament finden wir einen Hinweis. Im Hebräerbrief, Kapitel 11, Vers 4, steht: "Durch Glauben brachte Abel Gott ein besseres Opfer dar als Kain. Durch diesen Glauben erhielt er das Zeugnis, gerecht zu sein, indem Gott Zeugnis gab zu seinen Gaben. Und durch diesen Glauben redet er noch, obwohl er gestorben ist."
Das Neue Testament beleuchtet also den eigentlichen Herzensgrund des Opferns. Es wird deutlich, dass Kain zwar eine Handlung vollzieht, aber mit seinem Herzen nicht dabei ist. Sein Herz ist anders. Gott sieht das Herz an und nicht in erster Linie das, was getan wird. Und das ist bis heute so.
Man kann in den Gottesdienst gehen und ganz unterschiedliche Herzenseinstellungen haben. Zum Glück kann ich eure Herzen nicht sehen. Das ist wahrscheinlich gut so, sonst hätten ihr oder ich rote Ohren. Wir haben ganz verschiedene Beweggründe, warum wir etwas für Gott tun – auch wenn in der Gemeinde der Klingelbeutel herumgeht. Ich hoffe sowieso, dass das kein Klingelbeutel, sondern ein Raschelbeutel ist.
Es wurde einmal gesagt, wir sollten Scheinwerfer sein. Doch der Beweggrund kann ganz unterschiedlich sein. Gott sieht das Herz an. Wir wissen aus dem Neuen Testament, dass als die Witwe zwei Schärflein in den Opferkasten warf, der Herr Jesus sagte, sie habe viel mehr gegeben als alle anderen. Er sieht das Herz.
So sieht er auch hier das Herz von Kain und von Abel. Ich weiß nicht, woran Kain gemerkt hat, dass Gott sein Opfer nicht angenommen hat. Ich glaube nicht, dass er es am Rauch gemerkt hat, sondern er hat es in seinem Herzen gespürt. Er wird gemerkt haben: Ich habe keine Beziehung zu Gott, ich habe keinen inneren Frieden.
Die Reaktion Kains auf Gottes Ablehnung
Und er reagiert, wie wir Menschen eigentlich alle reagieren: Wir suchen dann nicht die Schuld bei uns, sondern bei jemand anderem. Er wird zornig auf seinen Bruder. Dabei ist er doch nicht schuld daran, oder? Aber er gönnt ihm das nicht, er gönnt ihm nicht diesen inneren Frieden. Er möchte ihn haben – und das ist Neid.
Davon kann sich kein Mensch freisprechen, oder? Es gibt immer Menschen, die mehr haben, die mehr können, die ein schöneres Auto, ein schöneres Haus, eine schönere Frau oder liebere Kinder haben – einfach alles. Und wir können neidisch werden. Niemand sucht die Ursache bei sich selbst.
Wir merken, wenn Gott redet, kann das eine völlig unterschiedliche Wirkung bei uns Menschen haben. Wir können zur Buße kommen, und das ist das, was Gott gerne möchte. Wir können aber auch zornig auf andere werden und neidisch sein.
Nun finde ich interessant, dass hier steht: „Da wurde Kain zornig, und sein Gesicht senkte sich.“ Wer bei der Malerikonferenz an dem einen Abend dabei war, an dem ich etwas über Kindererziehung gesagt habe, wird wissen, dass ich diese Stelle hier zitiert habe.
Jede Mutter weiß: Wenn ein Kind etwas ausgefressen hat, kann es die Mutter nicht angucken. Das Kind wundert sich, dass die Mutter immer etwas merkt. Aber es ist interessant – das hat Gott in unser Leben so einprogrammiert. Wenn du etwas in deinem Herzen gegen einen anderen hast, dann kannst du ihm nicht in die Augen schauen.
Oder du musst schon ziemlich üben, dann bekommst du so einen starren Blick, lächelst gequält und setzt ein frommes Gesicht auf. Und du merkst sehr schnell: Sobald du etwas gegen einen anderen hast und du ihn begrüßt, dann schaust du an ihm vorbei und nicht ihn an.
Ich habe oft gedacht, die Sitten in den verschiedenen Ländern sind ja sehr unterschiedlich. In den östlichen Ländern, wie begrüßt man sich da? Küsschen rechts, Küsschen links, in Ungarn auch noch in der Mitte, oder in Russland, glaube ich, auch in der Mitte. Der Vorteil, rechts und links ein Küsschen zu geben, ist, dass man einander dabei nicht in die Augen schauen muss.
In den östlichen Ländern verneigen sich die Menschen und lassen den Kopf unten. Gott hat uns Menschen in unserem Verhalten etwas einprogrammiert: Wenn wir offen miteinander sind, können wir uns anschauen.
Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Sache auch in der Kindererziehung: Kleinkinder merken sofort, wenn wir uns anschauen, während wir miteinander sprechen. Denn in diesem Blick kann man sehr schnell erkennen, ob alles stimmt oder nicht.
Sein Gesicht senkte sich. Wir nennen das vielleicht Gewissen. Unser Gewissen ist belastet, und wir können den anderen nicht anschauen.
Gottes Gespräch mit Kain und die Warnung vor der Sünde
Ich finde es interessant, wie Gott in solchen Momenten reagiert. Gott warnt niemanden erst dann, wenn der Mord geplant ist, sondern schon vorher. Er spricht Kain an und fragt ihn: Warum ist dein Gesicht gesenkt? Was ist in deinem Herzen? Was haben wir gestern gesehen?
Gott stellt Fragen, obwohl er doch alles weiß. Und auch hier sind es gleich zwei Fragen: Warum bist du zornig? Warum hat sich dein Gesicht gesenkt? Er möchte, dass niemand einfach darüber hinweggeht, was sich in seinem Inneren abspielt.
Wenn Kain nicht ehrlich zu Gott gewesen wäre, hätte er sagen müssen: Gott, ich verstehe dein Verhalten nicht. Was habe ich falsch gemacht? Ist es nicht so: Wenn du Recht tust, erhebt sich dein Gesicht. Wenn du aber nicht Recht tust, liegt die Sünde vor der Tür, und ihr Verlangen ist nach dir. Du aber sollst über sie herrschen.
Seit dem Sündenfall steckt der Bürzel der Sünde in uns, und er versucht, uns immer niederzukriegen. Gott hat uns Menschen mit einem freien Willen geschaffen. Er hätte ja durchaus sagen können: Ich schaffe einen Menschen, der nicht anfällig für die Sünde ist – sozusagen ein Computerprogramm, das Viren nicht zulässt. Das hätte er machen können.
Aber Gott gibt uns den freien Willen, damit wir selbst entscheiden können. Er wollte keine Marionetten, sondern Menschen, die aus freiem Entschluss gehorsam sind. Und Gott versucht, Kain das mit dieser Frage und Aussage deutlich zu machen.
Er sagt: Wenn so etwas kommt, pass auf! Wenn du merkst, du kannst dem anderen nicht mehr in die Augen sehen, dann steht die Sünde vor deiner Herzenstür. Jetzt kommt es darauf an, wie du dich entscheidest. Die Sünde hat Verlangen nach dir, aber du sollst über sie herrschen. Dein Wille ist gefragt.
Heute stellen wir uns oft als Opfer hin: Der Teufel hat mich verführt. Dann sind wir Opfer. Aber hier steht klar: Du hast die Verantwortung für dein Verhalten. Du kannst Ja sagen zur Sünde, aber auch Nein. Und wir wissen, dass wir oft den Kürzeren ziehen.
Der Römerbrief macht das sehr deutlich. Paulus sagt: Ich möchte Gott gehorsam sein, aber ich schaffe es nicht. Gott sagt ihm hier noch nicht: Du schaffst es nicht aus eigener Kraft, also bitte mich um Hilfe. Im Römerbrief Kapitel 8 wird uns dann gezeigt, dass Gott uns den Heiligen Geist gibt, damit wir das schaffen.
Das wusste Paulus damals noch nicht, aber Gott will ihm bewusst machen: Nein, du hast selbst Verantwortung für dein Verhalten. Und niemand sollte die Erfahrung machen, dass er es aus eigener Kraft gegen die Sünde schafft. Wir brauchen die Hilfe Gottes – und dafür das, was Abel getan hat, nämlich ein stellvertretendes Opfer.
Aber Kain reagiert nicht auf Gottes Warnung. Gott hat sozusagen in den Versen 6 und 7 in den Wind geredet. Gott zwingt niemanden. Er lässt den freien Willen. Und wir merken: Gott verhindert nicht das Böse.
Diese Frage wird heute immer wieder gestellt: Warum kann Gott das zulassen? Warum lässt Gott Kriminalität zu? Warum lässt er zu, dass bis heute immer noch gemordet wird? Gott verhindert das nicht. Er stellt uns in die Verantwortung und erwartet eine Entscheidung von uns.
Erfahrungen aus der Gefängnisarbeit und die Verantwortung des Einzelnen
Wir merken das bei den Gesprächen in den Gefängnissen immer wieder. Oft dauert es lange, bis ein Inhaftierter versteht: Ich habe gesündigt.
Ich kann mich sehr gut erinnern: Vor über zwanzig Jahren war ich im Gefängnis in Köln-Ossendorf. Dort war eine Frau inhaftiert, zu mehrfach lebenslänglich verurteilt. Sie war ein sogenannter Todesengel. Sie war mit dem Urteil nicht einverstanden.
Sie bekam die Gelegenheit, ein Gnadengesuch einzureichen, aber sie lehnte es ab. Warum? Voraussetzung für ein Gnadengesuch ist, dass ich das Urteil anerkenne. Das ist biblisch, oder? Gott kann uns nur in Jesus Christus begnadigen, wenn wir anerkennen, dass wir Sünder sind.
Es hat ungefähr zwanzig Jahre gedauert, bis sie heute sagt: „Ich weiß, ich bin schuld.“ Kein Mensch reagiert auf Gottes Warnung. Und wie oft ist das auch in unserem Leben so, dass Gott einen Warnschuss abgibt, eine rote Ampel hinstellt und sagt: Überlege, wo stehst du? Warum bist du zornig?
Ich glaube, das ist oft der Fall, auch in unserem ganz praktischen Leben. Oder warst du noch nie zornig? Hast du noch nie einen dicken Hals gehabt? Warst du noch nie wütend auf deinen Chef? Und dann fragst du dich: Warum? Du wirst genau wie kein anderer die Schuld immer beim anderen suchen, oder? Wenn der sich verändert, dann bin ich nicht mehr zornig.
Die Bibel sagt: Du bist für deinen Zorn verantwortlich und nicht jemand anderes. Er ist für sein Verhalten vor Gott verantwortlich, aber du bist für dein Verhalten verantwortlich. Wenn in deinem Herzen Zorn gegen einen anderen ist, dann bist du verantwortlich.
Leider wird das selbst bei Christen nicht immer verstanden. Kein Mensch überfährt die Alarmanlage Gottes. Er bringt seinen Bruder aus Zorn und Neid um. Er hat den Bruder getötet, ich weiß nicht, ob er ihn erschlagen hat oder was genau passiert ist. Und Gott kommt wieder zu ihm.
Ich muss mich wundern: In dieser Geschichte spricht Gott viermal mit Kein, einem Kriminellen. Aber obwohl Gott mit ihm redet, erreicht er sein Herz nicht. Wieder stellt Gott eine Frage: Kein, wo ist dein Bruder Abel?
Wusste Gott das nicht? Natürlich wusste er es. Und wir empfinden die Antwort von Kain schon frech, oder? „Ich weiß nicht. Bin ich meines Bruders Hüter?“ Gott, du hast auf Abel nicht aufgepasst, hättest es ja verhindern können.
Merken wir, Kain reagiert im Grunde wie sein Vater auch. Auch Adam hatte nicht gesagt: „Gott, du hast Recht, ich habe gesündigt.“ Das hat er von seinem Vater gelernt. Er schiebt die Schuld weg. Was geht mich mein Bruder an?
Hier macht Gott deutlich, dass Kain die Schuld nicht verstanden hat. Kain – und auch wir heute – sind nicht nur für uns alleine da. Wir haben Verantwortung für unsere Mitmenschen. Kain, wo ist dein Bruder Abel?
Vielleicht spricht Gott dich heute an: Wo ist dein Bruder aus der Gemeinde? Du sagst, ich kann mich nicht um jeden kümmern. Und Gott spricht zu dir: Was hast du getan?
Gott lässt sich nicht abblocken, und er macht deutlich: Kein, auch wenn du es heimlich getan hast, ich habe es gesehen. Horch, das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden her.
Man könnte fragen: Was hat das Blut Abels geschrien? „Es schreit zu Gott vom Ackerboden her!“ Das Blut Abels schrie nach Rache, schrie nach Strafe.
Wir finden im Neuen Testament eine interessante Stelle in Hebräer 12,24. Dort wird gesagt, dass es ein anderes Blut gibt, das spricht: das Blut des Herrn Jesus. Da steht, das Blut des Herrn Jesus spricht lauter als das von Abel. Das Blut Jesu spricht von Vergebung und Gnade, nicht von Rache und Vergeltung.
Gott macht Kain deutlich: Dein Verhalten wird Folgen haben. Er kündigt ihm an: Das Blut deines Bruders ist auf den Ackerboden gefallen, und du bist Ackerbauer. Die Folgen sind, wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir nicht länger seine Kraft geben.
In einem Vortrag über Kindererziehung habe ich gesagt: Gott straft immer im Verhältnis zu dem, was getan worden ist. Kein hatte das Blut seines Bruders auf den Ackerboden vergossen, und Gott sagt: Der Ackerboden wird dir nicht mehr die Kraft geben, die du als Ackerbauer brauchst.
Das heißt, die Strafe, die Gott gibt, steht im Verhältnis zu dem, was er getan hat. Und Kein merkt sofort: Das ist das Ende meines Berufs. Gott sagt: Ja, du wirst unstet und flüchtig sein.
Wenn wir die Geschichte später weiterlesen, merken wir, Kein flieht dann. Er ist nicht mehr Ackerbauer, sondern baut eine Stadt. Am Ende, in Vers 16, steht: „Er geht weg vom Angesicht des Herrn und wohnt im Lande Not.“ In der Anmerkung steht, das heißt „Land der Heimatlosigkeit“.
Gott straft. Aber die Strafe Gottes ist nie endgültig, es sei denn, wir tun keine Buße. Gott versucht bei Kein an seinem Herzen zu arbeiten, damit er umkehrt und eingesteht: Ja, ich habe gesündigt.
Aber Kain lügt und handelt bewusst gegen Gottes Warnung. Deshalb gibt Gott ihm die Strafe.
Kains Reaktion auf die Strafe und Gottes Schutz
Und das ist für mich schon erstaunlich. Viele alte Maler haben versucht, diese Szene darzustellen. Hier sehen wir ein Gemälde von Tiziano. Gerade eben hatten wir ein Bild von Rembrandt.
Wie geht Gott mit ihm um? Er stellt ihn zur Rede, zeigt ihm den Fluch und die Strafe und macht ihm deutlich, dass er unstet und flüchtig sein wird.
Und wie ist die Reaktion von Kain? Selbst die Androhung der Strafe bringt ihn nicht zur Buße, sondern er bäumt sich gegen die Strafe auf. Er hat Angst vor Rache. Er sagt in Vers 13: „Zu groß ist meine Strafe, als dass ich sie tragen könnte. Sieh, du hast mich heute von der Fläche des Ackerbodens vertrieben, und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen. Ich werde unstet und flüchtig sein auf der Erde, und es wird geschehen, jeder, der mich findet, wird mich erschlagen.“
So reagieren wir Menschen. Keiner hat Furcht vor Gott, tut Buße und bittet Gott um Gnade. Stattdessen hadert er mit Gott. Sein Gottesbild ist: Gott ist ungerecht, er hat mein Opfer nicht angesehen, und jetzt ist die Strafe viel zu hoch.
Merken wir, was für ein Gottesbild Kain hat? Er sieht in Gott nur den strafenden Polizisten, aber nicht den, der Gnade und Vergebung gibt. Er hat nicht verstanden, was Gott bei Adam und Eva gemacht hatte, als er sie mit Fellen von Tieren bekleidete.
Leider sind viele Menschen auch heute so.
Mich erstaunt, dass Gott in Vers 15 dann noch einmal zu ihm spricht und ihm Schutz vor der Blutrache gibt: „Der Herr aber sprach zu ihm: Nicht so! Wer Kain erschlägt, soll siebenfach bestraft werden.“ Und der Herr machte an Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder erschlüge, der ihn fände.
So ging Kain vom Angesicht des Herrn und wohnte im Land nordöstlich von Eden.
Praktische Lehren für Seelsorge und Umgang mit Sünder
Wir könnten fragen: Was lernen wir daraus für uns selbst und auch für die Seelsorge? Handle wie Gott und versuche einem Menschen, der gesündigt hat, die Beweggründe seines Handelns deutlich zu machen. Gott gibt Erkennungsmerkmale für falsches Denken.
Vielleicht machst du dadurch einem anderen oder dir selbst bewusst: Kann ich dem anderen in die Augen sehen? Ist alles geregelt? Kann ich Gott in die Augen sehen? Handle wie Gott, sprich Schuld direkt an, ziehe den Menschen zur Verantwortung und mache die Folgen bewusst. Wecke möglichst Buße.
Als Mensch schützt du ihn vor der Rache anderer. Das merken wir besonders, wenn wir in die Gefängnisse gehen und mit den Inhaftierten sprechen. In der Regel fragen wir nie danach, was sie gemacht haben. So vermeiden wir Vorurteile und können in jedem Inhaftierten wirklich den Menschen sehen, den Gott retten will.
Das ist eines der Schönsten Erlebnisse: Wenn wir erleben, dass tatsächlich ein Inhaftierter zum Glauben kommt. Ein Inhaftierter versteht sehr schnell den Unterschied zwischen der Strafe, die der Richter verhängt, und der Schuld, die von Gott vergeben werden kann.
Ich habe einmal in Köln erlebt, dass ein junger Mann einen Tag vor seiner Entlassung sich in seiner Zelle erhängt hat. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, er werde mit seiner Schuld nicht fertig. Jeder Inhaftierte weiß: Wenn ich meine Strafe hier abgesessen habe und rauskomme, habe ich meine Schuld immer noch.
Ein Richter kann nur bestrafen. Strafe kann abgesessen werden, aber damit ist die Schuld nicht weg. Schuld muss vergeben werden. Und das ist die Botschaft, die wir den Menschen bringen.
Zeugnis aus der Gefängnisarbeit und Einladung zur Umkehr
Voriges Jahr war ich mit im Gefängnis und sprach dort mit einer inhaftierten Frau. Sie fragte mich, da sie zum ersten Mal in der Kontaktgruppe war: „Warum kommt ihr?“ Ich antwortete: „Wir haben die beste Botschaft, die es gibt.“
Sie wollte wissen: „Was ist das für eine Botschaft?“ Daraufhin gab ich ihr eine Bibel und schlug 1. Johannes 1,9 auf. Ich bat sie, den Vers laut vorzulesen. Ich hoffe, ihr kennt den Vers alle. Nun sagten wir ihn gemeinsam laut.
Nachdem sie den Vers gelesen hatte, schaute sie mich an und fragte: „Von allen?“ Ich sagte: „Lies noch mal.“ Sie las den Vers erneut. Dann fragte sie: „Auch von den Schlimmen?“ Ich antwortete: „Lies noch mal.“ Wieder las sie den Vers vor und sagte dabei auch „von Mord“. Ich sagte: „Lies noch mal.“
Dann flüsterte sie: „Auch von vielen Morden.“ Ich forderte sie erneut auf: „Lies noch mal.“ Sie schaute mich an und meinte: „Das ist ja Wahnsinn! Das müsste doch jeder hier im Knast wissen.“ Ich sagte: „Deswegen kommen wir. Merken wir etwas? Ich wünsche mir, dass das draußen alle begreifen. Das ist die beste Botschaft, die es gibt.“
Am liebsten würde ich es Kain zurufen: „Kain, du brauchst nicht wegzulaufen. Geh vor Gott auf die Knie und tu Buße!“ Vielleicht nehmen wir das einfach mit: Gib selbst dem Sünder den Schutz vor der Rache der Menschen.
Unterscheide zwischen dem Sünder und der Sünde. Gott hasst die Sünde, aber er liebt den Sünder. Er möchte, dass der Sünder zu ihm umkehrt. Dafür hat er alles geschaffen. Unser Herr ist dafür gestorben, damit jeder Sünder zurückkommen kann zu Gott und Vergebung findet. Amen.
