Das außergewöhnliche Kommen des Heilands
Es ist ja schon etwas Außerordentliches, liebe Gemeinde, was damals begonnen hat: Der Heiland, der Retter Gottes, ist zu uns gekommen. Gott hätte genug Gründe gehabt zu sagen: „Mir ist die Welt schnuppe, die Menschen sollen noch sehen, wo sie hinkommen.“
Gott hätte ja auch, wie er es seit Urzeiten getan hat, einzelne Segensträger bringen können. Und wer wollte, hätte sich bei ihnen ergötzen können. Aber nun heißt es: Für euch ist der Heiland geboren, Christus, der Herr – und gemeint sind wir.
Sehen Sie, wir haben ja sehr unterschiedliche Lebensgeschichten. Wir haben verschiedene Geschmäcker, und nach unseren unterschiedlichen politischen Überzeugungen will ich gar nicht fragen. Wir Älteren sind hier, die wir auf ein langes Leben zurückblicken und auf manche armseligen Bescherungen.
Und Sie, die Jungen, sind da, die das Leben noch vor sich haben. Aber eins ist uns allen gemeinsam, allen miteinander: Das macht unser Menschsein aus, dass wir alle von einer Mutter in diese Welt hineingeboren wurden. Oder es sind ein paar andere da, nicht? Jeder Mensch hat eine Mutter.
Und nun benutzt der Sohn Gottes diesen Eingang in die Welt.
Die Bedeutung der Menschwerdung Gottes
Wissen Sie, das ist keine rührende Geschichte, sondern eigentlich eine ganz alltägliche Geschichte. Sie zeigt uns deutlich, dass alle Menschen, die eine Mutter haben, für diese da sind.
Der große Gott, der ewige Sohn Gottes, der eigentlich auf dem Thron Gottes hätte sitzen können, nimmt es nicht als zu wenig an, wie wir von einer Mutter geboren zu werden – geboren von der Mutter Maria.
Wozu das gut sein soll, fragen unsere jungen Leute. Die Engelchöre bringen uns auf die Spur. Wenn dort gejubelt wird: „Ehre sei Gott in der Höhe“, dann müsste bei uns, die wir uns in der Bibel noch besser auskennen sollten, sofort der Gedanke auftauchen, dass das eine Formulierung aus dem Propheten Jesaja ist.
Jesaja Kapitel 57 enthält eines der größten Bibelworte: So spricht der Hohe und Erhabene: „Siehe, ich wohne in der Höhe.“
Wenn es heißt: „Ehre sei Gott in der Höhe“, so spricht Gott: „Ich wohne in der Höhe und bei denen, die gedemütigt im Herzen und zerschlagener Seele sind, damit ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen.“
Gottes Nähe zu den Gedemütigten
Liebe Freunde, Gott will bei uns wohnen.
Ich hatte einen Freund, der mit mir im Reisedienst und im Jugendwerk unterwegs war. Wenn er nach langen Freizeiten und Besuchen in den Kreisen nach Hause kam, sagte er oft: „Jetzt möchte ich wohnen.“ Für ihn bedeutete das, kein Telefon mehr zu haben und keinen Besuch zu empfangen. Er wollte einfach mal er selbst sein.
Wo wir wohnen, hinter unseren Haustüren und Glastüren, da wollen wir wir selbst sein. Liebe Gemeinde, genau da sind wir – wir selbst.
Die schönste Zeit in den vier Jahrzehnten meines Dienstes war die Aufgabe als Gemeindepfarrer, wenn man hinter Glastüren kommen darf. Wissen Sie, wenn Sie heute Menschen fragen: „Wie geht es Ihnen eigentlich?“, dann kommen Unternehmern oft die Tränen in die Augen. Ebenso den Arbeitslosen, den Alkoholabhängigen und den scheinbar gesunden Menschen. Auch den jungen Leuten, die mit ihren Eltern nicht zurechtkommen, und den Eltern, die über ihre Kinder klagen.
„Wie geht es Ihnen eigentlich?“ Wenn man so alt ist wie ich, fragt man sich oft: Was ist eigentlich aus meinem ganzen Leben geworden? Von all dem, was ich erstrebt und geschafft habe – was davon ist es überhaupt wert, ins große Hauptbuch eingetragen zu werden?
Dann springt manchmal auch die Frage an: Haben denn die Menschen, die so schwer mit mir tun – und davon gibt es einige – Unrecht? Ich tue doch oft selbst schwer mit mir. Und vollends, wenn die Frage einen anspringt: Hat Gott mich eigentlich auf seine Seite gestellt? Hätte er dazu nicht ein Recht?
Wie oft habe ich Schwindelgeschäfte mit Gott gemacht, ihm alles Mögliche versprochen, wenn ich in der Not war, und es dann vergessen, sobald die Augenblicke der Not vorbei waren. Gott könnte doch sagen: „Du bist tot für mich.“
Hört, so spricht der Hohe und Erhabene: „Ich wohne in der Höhe.“ Ja, Ehre sei Gott in der Höhe! „Und ich wohne bei denen, die gedemütigten Herzens und zerschlagener Seele sind.“ Sind sie es? Gott möchte bei ihnen wohnen.
Hinter unseren Glastüren, hinter unseren Haustüren wissen wir, dass der Teufel nicht bloß in Tschetschenien, im Sudan und in Beirut los ist, wo die Bomben explodieren – auch in der Heiligen Nacht. Sondern auch bei uns im Betrieb, der scheinbar teufellos ist. Auch bei uns in der Kirche, die teufellos scheint, und bei uns in der Nachbarschaft, unter den Erben Opas – wie viel Zerstrittenheit dort herrscht. Und dass er bei mir los ist.
Die Herausforderung des Glaubens im Alltag
So spricht der Hohe der Heiligen: Ich möchte doch bei euch wohnen. Euch ist der Heiland geboren, Christus, der Herr, der Starke.
Nicht weit von hier, in Möttlingen, hat im letzten Jahrhundert der Pfarrer Johann Christoph Blumhardt erlebt, wie es ist, wenn der Teufel los ist – und eine Änderung kam nicht. Weder durch Beschwörungsformeln noch durch Teufelsaustreibungsgebete, auch nicht durch medizinische Praktiken oder psychologische Tricks.
Vielmehr hat Johann Christoph Blumhardt in einer Nachtstunde gesagt: „Jetzt haben wir lange genug gesehen, was der Teufel kann. Lieber Heiland, jetzt wollen wir einmal sehen, was du kannst.“ Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Liebe Gemeinde, es hat damals angefangen. Aber wir sollen doch nicht bloß zurückblicken. Wenn Sie jetzt nach Hause gehen, in Ihre Häuser, die so festlich vorbereitet und geschmückt sind, dann denken Sie daran: Im Untergrund sind die Spannungen und Enttäuschungen oft nur durch eine Papierwand von uns getrennt.
Gehen Sie heim mit der gespannten Erwartung: „Jetzt wollen wir doch auch einmal sehen, was Du, Jesus, der Heiland, heute, 1996, kannst.“ Er kann. Amen.