
Herzlich willkommen zum Podcast der EFH Stuttgart mit Thomas Powileit und Jörg Lackmann. Unser Podcast möchte zum praktischen Christsein herausfordern und zugleich zum theologischen Denken anregen.
Das Leben auf dieser Erde ist voller Spannungen. Als Menschen neigen wir natürlich dazu, Spannungen auflösen zu wollen. Doch das ist nicht immer sinnvoll.
Heute betrachten wir sechs Bereiche, in denen wir Spannungen auf dieser Erde nicht einfach auflösen können. Es handelt sich um die Gegensatzpaare Zukunft und Gegenwart, Stellung und Zustand, Gottes Werk und unser Werk, Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit sowie Geist und Körper.
Wenn wir lernen, diesen Spannungen nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sie auszuhalten, wird das große und positive Auswirkungen auf unser persönliches Glaubensleben und auch auf unser theologisches Denken haben.
Jörg, ich weiß, dir ist dieses Thema sehr wichtig: Spannungen nicht aufzulösen, sondern auszuhalten, weil sie oft nicht auflösbar sind.
Bei vielen Themen, die uns bewegen, ist es ja so, dass der Impuls dazu von außen kommt. Wo ist dir das Thema Spannungen zum ersten Mal oder so intensiv begegnet?
Das war in einem Buch vor Urzeiten, vor etwa dreißig Jahren oder so. Und zwar von Erich Sauer. Er war Leiter der Bibelschule und Missionsschule Wiedenest und hat das Buch 1937 geschrieben. Es heißt „Der Triumph des Gekreuzigten“.
Er war damals eine sehr bekannte Persönlichkeit. Er hat auch Vortragsreisen in Amerika gemacht. Ich habe gerade vor ein, zwei Wochen in der systematischen Theologie seinen Namen wieder gelesen. Dort wurde er auf Englisch übersetzt, und ein anderes Buch von ihm, das über achtzig Jahre alt ist, wurde erwähnt.
Er hatte damals eine sehr große Ausbreitung und war bekannt für Heilsgeschichte. Das hier sind nur sechs Seiten aus dem Buch, aber da habe ich damals ein paar Sachen verstanden, die mir später immer wieder hilfreich waren. Deswegen dachte ich, man könnte das mal thematisieren.
Na ja, wenn ich das so höre – Spannungsfelder, und ich habe sie ja eben gerade aufgezählt – dann klingt das natürlich zunächst mal theoretisch. Die Frage ist ja: Was muss ich mir denn darunter genau vorstellen?
Vielleicht fangen wir mal mit der Spannung zwischen Zukunft und Gegenwart an. Was bedeutet das praktisch? Kannst du dazu etwas sagen?
Die Grundthese von ihm ist, dass es biblische Aussagen gibt, die nicht vollständig auflösbar sind. Man muss also Spannungen stehen lassen. Ich gehe vielleicht mit einem Beispiel weiter, weil das Theoretische schwer zu erklären ist.
Erz sagt zum Beispiel unter der Rubrik Zukunft und Gegenwart: Wir haben ewiges Leben und wir ergreifen ewiges Leben. Für beides gibt es Bibelstellen. In Johannes 3,36 steht: „Wer an den Sohn glaubt, der hat ewiges Leben.“ Wir leben ja beide noch nicht ewig, wir sind ja noch sterblich, aber wir haben das ewige Leben.
Jetzt gibt es aber 1. Timotheus 6,12, und da steht: „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen worden bist.“ Hier ist es spannend, wie man das beides zusammenbringt. Es scheint fast wie ein Widerspruch.
Hier ist es natürlich relativ einfach, das zusammenzubringen. Man kann sagen: Jesus ist für dich gestorben, deswegen hast du das ewige Leben schon, obwohl du natürlich noch sterben kannst. Im Kern hast du es schon. Und dass du das in dein Leben integrierst, dazu musst du es ergreifen.
Aber da ist trotzdem eine gewisse Spannung da. Diese Spannung findet sich auch in anderen Gegensatzpaaren, die man unter Zukunft und Gegenwart zusammenfassen könnte.
Praktisch bedeutet das für den Alltag, dass wir wissen: Die Erlösung wird kommen, darauf warten wir – das ist Zukunft. Aber irgendwie wollen wir die Erlösung auch schon heute in unserem Leben spüren. Da merkt man, dass es nicht ganz einfach ist, das unter einen Hut zu bringen.
Genau, und das Positive ist: Wir haben die Erlösung. Das ist eine sehr sichere Zusage und Verheißung. Nicht „Wir werden eines Tages mal…“, sondern „Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben“ – schon jetzt eben.
Und trotzdem ist diese Spannung da. Diese Spannung entsteht, weil die Erlösung zwar in der Vergangenheit geschehen ist, aber etwas in der Zukunft betrifft. Das Ewige kommt in diese Zeit hinein und dadurch entsteht, ich sage mal so, ein Riss im Zeitkontinuum – oder um es modern auszudrücken:
Da passt es nicht ganz zusammen, weil wir noch Menschen sind, noch sterblich. Aber die Ewigkeit kommt in unsere Zeit, rettet uns, und doch ist noch nicht alles vollendet. Das erzeugt eine Spannung, die nicht komplett auflösbar ist.
Das sehen wir auch im nächsten Punkt zum Beispiel. Wir haben die Erlösung und wir erwarten die Erlösung. Es gibt Verse für beides.
In Epheser 1,7 steht: In ihm, in Christus, haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden. Und in Römer 8,23 steht: Wir erwarten seufzend die Sohnestellung, die Erlösung unseres Leibes. Das hatten wir letztlich schon.
Also, wir haben die Erlung auch schon. Sie ist Vergangenheit, aber sie ist natürlich noch nicht komplett, weil unser Körper ja noch erlöst werden muss. Er ist noch nicht verherrlicht, und da erwarten wir diese Sohnestellung.
Es gibt auch noch einen zweiten Vers. Wir sind auch Söhne Gottes und erwarten die Sohnschaft. Auch das ist wieder eine Spannung, dass die Sohnschaft noch kommt. Das haben wir gerade schon gelesen.
Wo steht, dass wir Söhne Gottes sind? Das steht in Römer 8,15. Sieben Verse davor heißt es: Denn alle, die durch den Geist Gottes geleitet werden, die sind Söhne Gottes. Trotzdem erwarten wir die Sohnschaft erst. Das sind einfach Spannungen.
Hier ist ein Bild dahinter mit dieser Sohnschaft: Ich bin ja, wenn ich jetzt Sohn bin, von Geburt an Sohn. Aber die Sohnschaft ist praktisch das Erwachsenwerden, dass ich voll da hineinwachse.
Beispiel: Du bist Handwerkssohn, dein Vater hat eine Metzgerei. Du gehst als Lehrling in einen anderen Betrieb und kommst als Geselle zurück. Jeder deiner Kollegen weiß natürlich, du bist kein normaler Geselle, weil du bist der Sohn vom Chef. Du bist aber nicht der Chef, denn das bist du noch nicht.
Und das ist genau diese Situation: Wir sind schon Söhne, aber wir haben es noch nicht ganz. Genauso wie derjenige, der da ist, und jeder wird sich hüten, ihn als normalen Mitarbeiter zu behandeln, weil er der zukünftige Chef sein wird, aber er ist es noch nicht ganz.
Das ist aber doch eine Spannung, genauso wie es im Betrieb eine Spannung ist: Wie gehe ich mit dem um, der mich kennt, seitdem ich fünf bin, der aber später der Chef sein wird? So ist es in unserem Leben auch eine Spannung. Wir haben die Erlösung, sie kommt erst noch.
Und diese Spannungsfelder – da sind ein paar Dutzend, die Eri Sauer aufführt – fand ich sehr interessant vom Denken her. Wir versuchen, die immer in eine Richtung aufzulösen. Und es gibt Probleme im Heiligungsleben, es gibt Probleme in der Theologie.
Als ich das damals gelesen hatte, habe ich verstanden, dass man manchmal einfach solche Dinge aushalten muss, die eben dadurch kommen, dass die Ewigkeit in die Zeit kommt, die Zukunft in die Gegenwart. Und dass alles so ein bisschen durcheinander wirbelt.
Wir begegnen einfach Gott, und das ist nicht mehr diese normale Welt. Deswegen gibt es ein paar Sachen, in denen einfach Spannungen da sind, die man nicht lösen kann. Die man einfach aushalten muss.
Ein Thema, das wir hier auch besprechen, ist Stellung und Zustand. Das ist ein spannendes Thema. Ist es überhaupt biblisch, Stellung und Zustand zu unterscheiden? Oder ist das nicht eher ein typischer theologischer Kunstbegriff, hinter dem man sich versteckt? So nach dem Motto: „Sorry, ich kann eben nicht anders, als zu sündigen, aber meine Stellung in Christus ist ja in Ordnung. Was kümmert mich da mein Zustand?“
Kannst du dazu etwas sagen, Stellung und Zustand?
Es sind natürlich keine biblischen Begriffe, aber das heißt nicht, dass sie deswegen unbiblisch sind. Sie beschreiben eine biblische Wahrheit. Allerdings, was du sagst, das ist natürlich oft der Fall: „Es steht doch nicht in der Bibel, das kann doch gar nicht sein, das ist falsch.“ Nein, die Tatsache steht da, und die Theologie muss das irgendwie beschreiben. Deshalb findet sie ein Wort dafür, weil viele verschiedene Stellen zusammengeführt werden. Und dann gibt es eben Worte, die sehr passend sind. Stellung und Zustand trifft es nun mal sehr gut, finde ich.
Dazu hatten wir übrigens schon einen Podcast, den wir jetzt nicht in die Tiefe gehen wollen. Das war Podcast Nummer drei: „Sünde, wie du sie besiegen kannst“. Dort hast du über Römer 6 bis 8 Stellung und Zustand gesprochen. Aber nehmen wir vielleicht mal so aus diesem Spannungsfeld Stellung und Zustand einen Text: Kolosser 3,2-5. Da kann man ein paar Sachen sehen, denn hier sind gleich mehrere Ebenen miteinander verwoben.
„Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit. Tötet daher eure Glieder, die auf Erden sind: Unzucht usw.“
Hier haben wir Zustand und Stellung – oder eher von der Reihenfolge her chronologisch: Stellung und dann Zustand. Er sagt hier: Heiligungsleben – trachtet nach dem, was droben ist. Du sollst also nicht einfach so normal auf dieser Welt leben, sondern du wirst eines Tages in der Zukunft ankommen, in der Ewigkeit bei Gott sein. Lebe auch danach!
Er begründet das mit dem „Denn“: Warum soll ich so leben, also mein Heiligungsleben in der Gegenwart? „Denn ihr seid gestorben.“ Das ist unsere Stellung. Bin ich tot? Ja, in Sünden. Aber wovon bin ich gestorben? Ich bin der Sünde gestorben, das können wir an anderen Stellen sehen.
Das ist von der Stellung her rechtlich richtig, weil ich in Christus gesehen werde. Ich bin in Christus gestorben, mit ihm am Kreuz und sogar auferstanden mit ihm und verherrlicht. Aber das muss natürlich Realität werden. Und da sehen wir diese Spannung.
Jetzt ist es interessant: Viele versuchen, das in die eine oder andere Richtung aufzulösen. Die einen sagen: Heiligung, Heiligung! Die anderen sagen: Gnade, Gnade! Wenn du eine Predigt über Gnade machst, bekommst du eine E-Mail: „Warum betonst du nicht die Heiligung?“ Und wenn du nur über Heiligung predigst, bekommst du eine E-Mail: „Warum hast du nicht über Gnade geredet?“ So ist es in der Praxis.
Hier im Text sind beides zusammen. Warum? Weil beides zusammengehört. Einmal die Stellung in der Gnade, in der wir sind, aber dabei bleibt es nicht stehen. Auf der einen Seite wäre es, als wäre man vom Pferd gefallen. Sondern die Heiligung ist auch da. Beide Wahrheiten sind vorhanden.
Und warum? Weil wir eben noch auf dieser Erde leben und in dieser Spannung sind. Wir können das nicht ungestraft auflösen. Wenn wir das tun, hat das Folgen. Hier wird es zusammengebracht: Ich soll heilig leben, weil ich die Stellung in Christus habe.
Jetzt kommt die dritte Ebene dazu, die Zukunft: „Und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden.“
Dazu möchte ich mal ein Beispiel bringen: Kürzlich habe ich im Fernsehen gesehen, wie eine Statue verhüllt war. Zwei Adlige haben sie enthüllt. Ich ahne, welche das war. Ja, das waren inzwischen zwei mittelalte Herren, fast schon, die von ihrer Mutter eine Statue enthüllt haben in England. Diese Statue war noch total verhüllt. Jeder wusste, sie ist da, aber sie war noch nicht offenbar.
Und genau so ist es hier: Unser Leben ist verborgen in Christus, und wenn er offenbar wird, wird es offenbar werden. Wir haben schon die komplette Heiligung, wir sind schon vollkommen – das steht in anderen Versen. Wir sind gestorben, alles schon passiert. Aber es ist noch eine Hülle darüber, und die wird erst weggenommen, wenn er wiederkommt.
Das macht die Spannung aus: Die Statue ist schon da, wir haben alles in Christus, aber im realen Leben ist es noch nicht sichtbar.
Jetzt darf man aber nicht auf der anderen Seite so leben, als ob es nicht da wäre. Beide Seiten müssen gesehen werden. Das ist eben eine Spannung. Aber ich meine, in dieser Spannung leben wir jeden Tag – jedenfalls ich.
Es klingt natürlich toll: Die Statue ist da, das Heiligungsleben ist da, Christus wohnt in mir oder so. Aber wenn mich jemand ärgert, reagiere ich eben nicht immer sanftmütig. Da kann ich mich innerlich manchmal richtig aufregen.
Die Frage ist dann: Was nützt es mir, dass ich eigentlich diese Stellung habe und ihm in der Praxis immer ähnlicher werde?
Manchmal finde ich es wirklich eine Spannung, wie du sagst, oder eher verwirrend, wenn ich solche Verse lese.
Das ist auch irgendwo verwirrend, wenn du versuchst, sagen wir mal, einen Fünf-Punkte-Plan im Kopf zu haben. Fünf-Punkte-Pläne können sehr gut sein, sie haben ihre Berechtigung. Aber manchmal bilden sie die Realität einfach nicht so ab.
Ich denke, wenn man beide Seiten sieht, wird man einfach realistischer.
Gehen wir vielleicht zum anderen Thema: Gottes Werk und unser Werk. Das ist ebenfalls ein Spannungsfeld. Was muss ich tun, und was muss Gott tun? Was ist Gnade Gottes, und was ist mein Part?
Ich gehe jetzt nur auf einen Vers ein, der ganz bekannt ist: Philipper 2,12-13. Er kommt sofort bei diesem Thema zur Sprache und muss behandelt werden. Paulus schreibt dort: „Darum, meine Geliebten, wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit, verwirklicht eure Rettung mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbringen wirkt nach seinem Wohlgefallen.“
Das Vollbringen ist bei mir noch nicht ganz abgeschlossen, aber es kommt noch. Hier haben wir also beide Seiten: Die Verwirklichung eurer Rettung mit Furcht und Zittern – das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass Gott in euch wirkt, sowohl das Wollen als auch das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.
Die eine Seite sagt also: Du musst deine Heiligung bewirken. Die andere Seite sagt: Du hast gar nichts damit zu tun, es ist nur Gottes Wille, und er vollbringt es.
Diese Sache wird ja auch bei der Trauung, habe ich jetzt gelernt, thematisiert. Wenn jemand sagt „Ich will“ und die beiden ihre Hände aufeinanderlegen, dann legt der Pfarrer seine Hand darauf und zitiert genau diesen Vers: „Gott schenke zu eurem Wollen das Vollbringen.“
Das ist nötig. Eine Ehe ohne Gottes Gnade – egal wie verliebt die Partner sind – funktioniert nicht. Das ist auf beiden Seiten wichtig. Aber das ist ja ein ganz heißes Thema.
Wir tun also etwas, und Gott tut etwas. Dabei taucht natürlich die Frage auf: Wie frei ist eigentlich unser menschlicher Wille? Das ist die große Frage. Aber vielleicht vorher noch einmal zu den Auswirkungen im konkreten Heiligungsleben, bevor wir zur Theologie kommen.
Wir können das jetzt natürlich zu beiden Seiten auflösen, und das ist die Tendenz von uns Menschen. Wir haben immer die Tendenz, von diesen beiden Wahrheiten, die beide wahr sind, nur eine Seite zu betonen. Erich Sauer sagt dazu, das sei wie parallele Linien, die sich auf der Erde nie schneiden, aber in der Ewigkeit werden sie sich schneiden.
Bitte keine Mathematiker, die mir widersprechen – ich bin da nicht so fit. Aber auf der Erde schneiden sich diese Linien nicht, in der Ewigkeit schon. Das hier ist nicht aufzulösen. Du musst mit beiden Seiten zurechtkommen.
Meistens versuchen wir, in eine Richtung aufzulösen. Ein Extrem ist zum Beispiel der Aktionismus – die Haltung, dass du alles selbst machen musst, dass du deine Heiligung allein bewirken musst. Dabei nimmst du dir den ganzen Druck auf dich und wunderst dich dann, wenn du irgendwann zusammenbrichst, weil du nicht mehr kannst, und denkst, Gott sei so streng.
Das andere Extrem ist der sogenannte Quietismus. Ich liebe dieses Wort, das vom englischen „quiet“ kommt. Es bedeutet, dass wir nur in Gott ruhen. Das war im 18. oder 19. Jahrhundert sehr populär. Zur Heiligung kümmert man sich gar nicht, sondern lässt Gott einfach alles machen.
Beide Extreme sind falsch. Man muss so arbeiten, als gäbe es Gott nicht, und gleichzeitig so wenig tun, dass Gott alles ist. Das ist ein Widerspruch, ein Paradoxon, das auf der Erde nicht auflösbar ist, aber im Himmel schon.
Im Himmel werden wir nicht mehr mit Furcht und Zittern unsere Rettung vollbringen müssen. Dort sind wir vollkommen. Gott hat uns so verändert, dass unsere menschliche Natur nicht mehr sündigt. Gott ist in vollkommenem Maße in uns, schon jetzt als Anzahlung auf das, was später kommt.
Diese Sohnschaft, dieses andere Bild, wird erst bei der Wiederkunft Christi vollständig sichtbar werden. Das wäre jetzt die Heiligungsdimension.
Jetzt hast du gerade theologisch etwas angesprochen: den menschlichen Willen, den freien Willen. Ja, natürlich, der Kelch geht nicht an mir vorüber – der freie Wille. Das ist jetzt natürlich ein heißes Thema, vor allem in den letzten Jahren, weil einige Verlage in diesem Bereich aufgekommen sind. Vor zehn, zwanzig Jahren war das noch nicht so ein Thema.
Jetzt gibt es ziemlich Streit: Hat der Mensch einen freien Willen, oder hat er keinen? Es gibt berühmte Schriften dazu. Luther hat zum Beispiel „Vom unfreien Willen“ geschrieben, eine ganze Schrift. Wesley hat später, um 1730 oder 1740, von der freien Gnade dagegen gepredigt – allerdings nicht gegen Luther, sondern gegen Whitfield, damals seinen Mitpastor oder Mitevangelisten bei den Methodisten.
Das ist eine Auseinandersetzung, die, glaube ich, schon ziemlich 1500 Jahre alt ist. Heute nennt man das Calvinismus, aber das gab es genauso schon bei Augustinus und Pelagius im fünften Jahrhundert, oder Luther mit Erasmus, und später im Methodismus im achtzehnten Jahrhundert bei Whitfield und Wesley. Diese Frage begleitet uns also seit 1500 Jahren: freier Wille oder nicht freier Wille? Der Dauerbrenner.
Wir haben für beide Seiten Texte. Ich lese mal für die eine Seite etwas vor: Matthäus 23,37: „Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken unter die Flügel sammelt, aber ihr habt nicht gewollt.“ Das klingt ziemlich nach freiem Willen.
Jetzt machen wir die Gegenposition, Apostelgeschichte 13,48, zum Aufwärmen, bevor wir zum richtigen Krachertext kommen: „Als die Heiden das hörten, wurden sie froh und priesen das Wort des Herrn, und es wurden alle, die gläubig waren, zum ewigen Leben bestimmt.“ Hier gibt es also Leute, die zum ewigen Leben bestimmt sind. Das klingt ziemlich nach nichtfreiem Willen.
Das Erste. Aber da könnte man vielleicht noch dies und jenes anführen. Aber Römer 9,11 ist jetzt der Krachertext. Der ist natürlich schon ein bisschen heftiger. Es geht um Esau und Jakob. „Als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, damit der gemäß der Auserwählung gefasste Vorsatz Gottes bestehen bleibe, nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Berufenden.“ Also vorgeburtlich, bevor sie Gutes oder Böses getan hatten, wurden sie auserwählt. Und zwar nicht aufgrund von Werken. Da könnte man sagen: Na ja, sie haben halt geglaubt und Gott hat es vorhergesehen. Aber da steht ausdrücklich „sondern aufgrund des Berufenden“. Das spricht doch relativ stark gegen ein reines Vorhersehen. Das ist schon ziemlich stark Vorherbestimmung.
Jetzt kannst du dir die Köpfe einschlagen oder einen Schritt zurückgehen und sagen: Es ist seit 1500 Jahren ein Streitpunkt, der immer wiederkehrt. Heute nennt man es Calvinismus, aber das ist nur ein Etikett. Wie gesagt, unter Augustinus vor 1500 Jahren war dieselbe Frage: freier oder unfreier Wille – genauso da. Ich mag auch diese Etikettierung nicht, nach dem Motto: „Dieser Text ist ja Calvinistisch, Bapper drauf, und da musst du nicht mehr nachdenken, weil du bist entweder dafür oder dagegen.“ Beide Positionen stehen in der Bibel drin. Da muss man sich auseinandersetzen.
Das finde ich jetzt so interessant. Deswegen habe ich mir diesen Text von Erez Sauer von damals so gemerkt: Wir sind halt in dieser Spannung drin – zwischen menschlichem Willen und göttlichem Willen. Diese Spannung ist da. Vielleicht sollten wir mehr lernen, diese Spannung länger auszuhalten.
Beim Puzzeln ist das genauso: Wenn du ein Puzzle machst, hast du da ein blaues Puzzleteil, da ein blaues Puzzleteil, und noch ein blaues Puzzleteil. Du sagst überall: „Hm, das ist jetzt blau.“ Und dann hast du drei rote. Wenn du es aber zusammenfügst, merkst du auf einmal: „Ach, ist doch nicht mehr ganz so. Es kommt doch an ganz verschiedene Stellen.“ Du musst so lange Geduld haben, bis du wirklich alle Puzzleteile zusammengesammelt hast.
Ich komme jetzt zum Punkt, wo ich raus will – ich schweife gerade ein bisschen ab, ich bin zu lang. Worauf will ich hinaus? Nicht zu schnell dich auf eine Seite schlagen, sondern wirklich die Bibel in aller Konsequenz reden lassen. Und da gern auch mal Schriften von den Gegnern lesen – nicht nur die eigenen, wo es sehr leicht ist, mit deinem Argument, dass jeder dir zunickt.
Rede mal dein Argument, wo jeder dir in deiner Gemeinde zustimmt. Geh mal in eine andere Gemeinde, die etwas anderes glaubt. Die zerlegen dir das aber ruckzuck. Die werden das deutlich machen. Viele Argumente sind schlecht, das muss man ehrlich sagen. Sie wirken nur bei Befreundeten, die nicht gut durchdacht sind.
Man sollte hier wirklich mit etwas mehr Demut rangehen, Etikettierungen und Ausgrenzungen gar weglassen und diese Spannungen länger aushalten. Das wäre, denke ich, theologisch sehr hilfreich, weil die Spannungen einfach da sind.
Gerade bei dieser Diskussion Arminianismus und Calvinismus wird heute viel diskutiert. Ich glaube, es wäre gut, wenn man auch den anderen ein bisschen stehen lässt und sagt: „Okay, das ist meine Position, das ist deine Position.“ Dass man Spannungen einfach aushalten kann. Vielleicht hat Gott auch bewusst manches nicht aufgelöst, und wir möchten das gerne in theologische Raster aufgelöst haben.
Ein Raster, das immer wieder auftaucht und Spannung erzeugt, ist natürlich die Beziehung zwischen Himmel und Erde. Darauf geht auch Erich Sauer ein. In welcher Spannung leben wir hier eigentlich?
Wir leben zum Beispiel auf der Erde, sind aber gleichzeitig mitversetzt worden in die heimlichen himmlischen Örter, wie es im Epheser 2 heißt. Das ist natürlich eine Spannung. Unser Bürgerrecht ist im Himmel, sagt der Philipperbrief 3,20. Wir sind mitversetzt in die himmlischen Regionen.
Manchmal fühlt man sich dabei gar nicht so, zum Beispiel wenn ich mich über einen Autofahrer ärgere, der gerade vor mir rüberzieht. Dann fühle ich mich nicht gerade so, als ob ich in den himmlischen Örtern wäre. Aber von der Stellung her ist das korrekt, theologisch gesehen. Und diese Stellung muss man irgendwie auf die Erde bringen.
Hier kommen wir vielleicht in den seelsorgerlichen Bereich und überlegen, wie man das anwenden könnte. Ich habe einmal von einem Seelsorger gelesen, der einen interessanten Tipp gab: Wenn jemand zu ihm berichtet, wie toll sein Gebetsleben sei, wie intensiv das Bibellesen und welche mystischen Erfahrungen er mache, fragt er immer nach dem Tagesablauf.
Er stellt dabei fest, dass, wenn die Person morgens nicht normal aufstehen und ihre Arbeit verrichten kann, das ganze „ach so schöne Geistliche“ oft wertlos ist. Denn es ist dann eigentlich nur eine Flucht aus dem Leben. Das ist die Aussage dieses Seelsorgers.
Das zeigt also diese Spannung: Wir leben auf der Erde, sind aber schon im Himmel. Gleichzeitig kann es passieren, dass wir in Richtung Himmel aufgelöst werden – auf eine falsche Weise.
Genauso kann man es natürlich umgekehrt machen: Als Christ so leben, als ob es keine Ewigkeit gäbe, und hier alles anhäufen – Anerkennungen, Karriere und alle möglichen Dinge – und dabei vergessen, dass das nur vorübergehend ist.
Diese paar Jahre sind lächerlich, wenn man sie mit der Ewigkeit vergleicht. Trotzdem muss man das jeden Tag austarieren. Solltest du deine Wohnung putzen? Ja, denn du kannst nicht sagen: „Ich komme eh in den Himmel“ oder „Ich habe ja himmlische Örter, da ist es sauber.“ Es muss hier geputzt werden.
Andererseits solltest du dich nicht zu sehr in den Alltag hineinziehen lassen, etwa mit Sorgen, Geldproblemen oder anderen Dingen. Du solltest wissen: Ich bin ein Bürger des Himmels, hier nur ein Ausländer.
Das ist eben gerade nicht einfach – im Alltag die Balance zu halten und nicht auf der einen oder anderen Seite vom Pferd zu fallen.
Ich meine, das betrifft mehrere Bereiche. Vielleicht gehen wir im nächsten Schritt in den nächsten Bereich hinein.
Ewigkeit und Zeit sind ein spannendes Thema, das Sauer anspricht. Gibt es dazu von deiner Seite noch einige wichtige Gedanken zu diesem Spannungsfeld?
Eher weniger, denn bei ihm ist das nur ein relativ kurzer Abschnitt. Bei anderen Autoren bringt er oft mehrere Spannungsfelder, die ich hier nicht einzeln aufführe, da es einfach zu viele sind.
Ein Beispiel ist: Christus ist der Höchste im Himmel und zugleich der in uns wohnende auf Erden. Einerseits ist er erhöht, andererseits wohnt er in uns. Dieses Paradox lässt sich durch das Konzept der Allgegenwart erklären.
Auch gilt: Gott wirkt, und wir sind die Wirkung. Heiligung ist ganz seine Tat und zugleich ganz unsere Tat. Christus wohnt in uns, und er soll in uns wohnen – es gibt zahlreiche Bibelverse, die das belegen. So wohnt er in uns, und gleichzeitig soll er in uns wohnen.
Wir sind vollkommen und streben nach Vollkommenheit. Dabei spielt die Ewigkeit immer eine Rolle. Diese Gegensätze sind also sozusagen „Widersprüche in Gänsefüßchen“, die ich nicht auflösen kann, weil verschiedene Perspektiven beschrieben werden.
Diese Spannungen werden erst in der Ewigkeit aufgelöst, wenn Christus wiederkommt. Bis dahin leben wir zwischen diesen Welten: Wir sind Bürger des Reiches und haben das Reich schon, aber das tausendjährige Reich wird erst mit seinem Kommen Realität.
Wir tragen die Ewigkeit schon in unserem Herzen, leben aber noch in einem vergänglichen Körper auf dieser vergänglichen Erde. Wir sind schon heilig, sündigen aber weiterhin.
All diese Spannungen werden erst im Himmel aufgelöst. Vorher lassen sie sich nicht vollständig auflösen.
Die Stichworte würde ich gerne noch einmal aufgreifen. Du hast eben gesagt, wir sind in einem Körper hier, aber noch nicht im Himmel. Das ist ja auch so ein Spannungsfeld: Geist und Körper, also ebenfalls ein Spannungsfeld, auf das Sauer eingeht. Magst du dazu noch einmal etwas sagen?
Ja, wir sind hier natürlich im Geist, aber unser Körper ist ja noch irdisch. Wir sind nicht daheim, wie im zweiten Korintherbrief Kapitel fünf Vers sechs gesagt wird. Solange wir im Leib, im Körper daheim sind, sind wir noch nicht in unserer wirklichen Heimat beim Herrn. Das heißt also, all diese Sündenfolgen – Zerfall, Krankheit, Leid, Schmerz, Trauer, Tod – das sind alles noch Dinge, die wir aushalten müssen. Wir haben keine Verheißung, dass uns das nicht auf Erden trifft.
Das wird uns im Alltag begegnen. Es wird uns chronisch bei manchen als Krankheit oder in anderen Formen immer noch Probleme bereiten, obwohl wir im Geist sind. Aber dieser Geist schwebt eben nicht über dem Körper. Übrigens ist das auch kein Gegensatz. Das wird eines Tages einmal zusammen vereinigt werden.
Wir sind halt in Christus und doch in der Welt. Im zweiten Korintherbrief Kapitel sechs, Verse neun bis zehn, finden sich auch ein paar hübsche Gegensatzpaare zu diesem Thema Geist und Körper, Zukunft: Wir sind sterbend und siehe, wir leben; wir sind betrübt, aber immer fröhlich; arm, die doch viele reich machen; wir sind solche, die nichts haben und doch alles besitzen.
Paulus hat das also noch einmal gegenübergestellt. Eigentlich passen diese Paare gar nicht zusammen, aber sie sind eben Wahrheit. Wenn man das einmal bedenkt, das wäre so die Quintessenz aus allem, hilft das einem, glaube ich, manche Extreme zu vermeiden, manchen Druck, den man sich macht, auch wegzunehmen und manche falsche Ausrichtung etwas mehr einzuordnen.
Dadurch kann man auch gelassener werden, einfach dadurch, dass man diesen Blick für das Ganze hat.
Eines Tages allerdings wird das alles aufgelöst werden, nämlich wenn er wiederkommt. Diese Offenbarwerdung, wenn diese Statue enthüllt wird – da möchte ich jetzt Erich Sauer am Ende vorlesen, was er gesagt hat, was dann passieren wird. Dann löst sich diese Spannung auf.
Erstens: Das Offenbarwerden der Geistleiblichkeit.
Zweitens: Der Eintritt der Gemeinde aus der Zeit in die Ewigkeit.
Drittens: Die Gegenwart wird verklärt in die Zukunft hinein.
Viertens: Unser Zustand wird vollkommen unserer Stellung entsprechen.
Fünftens: Sein göttliches Werk wird unser menschliches Werk in ihm selbst vollenden.
Und sechstens: Wir werden von der Erde hinweg emporgerückt werden in die Himmelswelt.
Diese ganzen Spannungen, die wir jetzt haben, werden dann aufgelöst. Darauf können wir uns so freuen – super!
Ja, vielen Dank, Jörg. Da ging es jetzt um Spannungen. Und wenn ich sage, es ging, dann heißt das, das war es schon wieder – der Podcast der evangelischen Freikirche Evangelium für alle in Stuttgart.
Wir hoffen, er ist für euch eine Hilfe gewesen, mit Spannungen im Leben als Christ umzugehen und sie zumindest auch verstehen zu können. Wenn ihr Fragen habt, über die wir sprechen sollen, oder Anmerkungen zum Podcast, dann schreibt uns doch unter podcast@efa-stuttgart.de.
Wir wünschen euch Gottes Segen mit Kolosser 3,4: Wenn der Christus unser Leben offenbar werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit. Dann werden sich viele Spannungen, die wir hier noch aushalten müssen, endlich lösen.