Wir wollen heute Morgen zunächst das Umfeld klären, in dem sich der Text befindet, den wir heute etwas intensiver betrachten möchten.
Gestern sind wir bei den Seligpreisungen im Matthäusevangelium, Kapitel 5, stehen geblieben. Direkt anschließend finden wir die Verse, in denen Christen herausgefordert werden, Licht und Salz in der Welt zu sein. Ein Kriterium, um Licht und Salz zu sein, ist die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes. Dies steht im Gegensatz zur Prägung und Auffassung der Welt um uns herum.
Ab Vers 17 finden wir eine Beschreibung der Stellung Jesu zum Alten Testament. Ab Vers 21 geht es um die Frage von Versöhnung und Opfer. Danach behandelt der Text die Stellung Jesu zum Ehebruch. Ab Vers 33 folgt die Frage von Meineid und Rache. Ab Vers 43 wird die Feindesliebe thematisiert.
In Kapitel 6 geht es um das, was man als religiöse Show bezeichnen könnte, die manche damals aufführten. Im Gegensatz dazu wird beschrieben, wie wir uns als Christen verhalten sollen. Ab Vers 9 in Kapitel 6 finden wir den Hinweis auf das Vaterunser. Ab Vers 19 wird die Frage gestellt, ob wir Schätze auf Erden sammeln sollen. Jesus stellt dem gegenüber das Sammeln von Schätzen im Himmel.
Ab Vers 25 folgt der Hinweis auf das falsche Sorgen – also sich Sorgen zu machen, ohne dass es etwas bringt. Es wird sogar angedeutet, dass dies Gott gegenüber einem Misstrauensantrag gleichkommt.
In Kapitel 7, Vers 1, finden wir das Beispiel vom ungerechten Richten. Ab Vers 7 wird zur Ermutigung zum Gebet aufgerufen. Ab Vers 12 folgt die sogenannte goldene Regel: „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch.“
Ab Vers 13 wird der Vergleich zwischen der engen und der weiten Pforte gezogen. Der Weg mit Gott ist schmal und eng, und es kann dabei vielerlei Anfechtungen und Widerstände geben. Ab Vers 15 gibt es den Hinweis auf falsche Propheten und den guten Baum, der gute Früchte bringt, im Gegensatz zum schlechten Baum, der schlechte Früchte trägt.
Ab Vers 21 in Kapitel 7 wird darauf hingewiesen, dass nicht alle, die „Herr, Herr“ sagen, in das Himmelreich kommen werden. Es gibt also durchaus auch Menschen, die nach außen hin fromm erscheinen, aber trotzdem nicht dem Willen Gottes entsprechen.
Ab Vers 24 folgt der Vergleich mit dem Haus auf dem Felsen und dem Haus auf dem Sand.
In den Kapiteln 8 und 9 endet die Bergpredigt. Dort werden verschiedene Wunder Jesu aufgezählt: das Wunder, bei dem Jesus Aussätzige heilt, die Heilung des Knechts des Hauptmanns von Kapernaum, die Heilung der Schwiegermutter des Petrus. Danach gibt es einen Hinweis darauf, was wahre Jüngerschaft bedeutet: alles hinter sich zu lassen und nur nach vorne zu schauen.
Weitere Wunder sind die Heilung des Besessenen von Gadara, die Heilung von Gichtbrüchigen, die Frage, ob man mit Sündern verkehren darf, das Gleichnis vom alten Wein in neuen Schläuchen, die Heilung der Tochter des Jairus sowie die Heilung von zwei Blinden.
So haben wir nun einen ungefähren Überblick über die Verse, Kapitel und Gedanken, in die dieser Abschnitt eingebettet ist, den wir heute Morgen anschauen wollen.
Überblick über den Kontext der Bergpredigt und Einführung in das Thema Gebet
Wir lesen in einem Überblick in Kapitel 6 auch die ersten Verse, die uns einen Eindruck davon vermitteln. Es geht zunächst um das Almosengeben und ab Vers 5 um die Frage, wie wir richtig beten sollen, also um die Frage des Almosens.
Dabei wird insbesondere kritisiert, wie die Pharisäer zwar das alttestamentliche Gesetz erfüllen, aber in erster Linie auf sich selbst hinweisen wollen. Sie wollen zeigen: „Seht, wie toll ich bin, wie ich das mache!“ Dadurch wird selbst eine gute Tat, etwas, das wir allgemein nach den Vorschriften Gottes tun, falsch.
Doch hier wollen wir uns nicht lange aufhalten, sondern zu den Versen gehen, die uns etwas über das Beten sagen. Da lesen wir in Vers 5: „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern an den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn schon gehabt.“
Hier sehen wir einen Punkt, wie wir Beten falsch verstehen können. Das ist eine große Herausforderung. Sicherlich wird für uns nicht das Problem darin bestehen, tatsächlich in die Fußgängerzone zu gehen, heute Nachmittag nach Lemgo, uns irgendwo auf den Marktplatz zu stellen, dann laut anzufangen zu beten und zu sagen, „Oh, wie ist das hier!“
Solche Dinge gibt es zwar auch, und einige Christen machen das, aber in den meisten Fällen tun wir das wahrscheinlich nicht so.
Die Gefahr der Selbstdarstellung im Gebet
Trotzdem sind wir auch nicht pauschal vor einer Herausforderung oder Gefahr geschützt, die hier angesprochen wird. Es geht darum, dass wir im Gebet zuerst darauf achten, wie es auf andere wirkt. Das kann ja auch in der Gemeinde der Fall sein.
Ebenso kann es passieren, wenn wir in der Freizeit zusammen beten, dass wir in erster Linie nicht daran denken, was uns wirklich auf dem Herzen liegt, Gott zu sagen. Stattdessen überlegen wir vielleicht, was bei den anderen gut ankommt. Oder wir formulieren das Gebet so, um zu zeigen, wie geistlich wir sind, und drücken das aus. Möglicherweise halten wir sogar eine Predigt im Gebet und sagen: „Das wollte ich nun auch unbedingt einmal sagen.“ Das ist eine Versuchung.
Es ist nicht so, dass das nur immer die „bösen anderen“ sind. Es ist tatsächlich schwierig. Ich weiß nicht, ob ihr das auch so empfindet – mir geht es ebenfalls immer so: Wenn ich ganz frei und offen mit Gott spreche, nur allein mit ihm, kann ich mich ganz anders ausdrücken, als wenn ich weiß, dass andere zuhören.
Ich meine das genauso, wie wenn ihr verheiratet seid und eurer Frau oder eurem Mann etwas Besonderes sagen wollt, wie sehr ihr ihn liebt. Das würdet ihr wahrscheinlich nicht durchs Mikrofon irgendwo im Speisesaal genauso sagen, oder? Also zum Beispiel: „Mein Schatzilein mit deinem Schnuckilier“ oder „Wie schön deine Augen glänzen“ oder Ähnliches. Das sagt man nur in einer besonderen, intimen, persönlichen Beziehung.
Wenn man das jetzt öffentlich sagt, achtet man immer genau darauf: „Na, was hört der andere denn?“ Manche kritischen Sachen würden wir auch nicht sagen, weil wir nicht wollen, dass ein schlechtes Licht auf uns geworfen wird. Dann merken wir, dass es automatisch anders ist, ob wir einer Person ganz persönlich etwas sagen oder in einer Gruppe.
Sicherlich heißt das nicht, dass jetzt keiner mehr beten soll, wenn wir eine Gebetsgemeinschaft haben. Nur weil alle denken: „Na ja, so lassen wir das dann besser, sonst achtet der Michael ja nur darauf, was er sagt.“ Nein, so ist es nicht. Es geht vielmehr darum, dass wir uns selbst ein bisschen überprüfen.
Manchmal stelle ich mir dann selbst die Frage: „Ist das jetzt wirklich mein Anliegen Gott gegenüber oder ist das eben nur so im Gebet in der Gruppe?“ Und davor werden wir hier gewarnt. Denn wenn es nicht wirklich unser Anliegen ist, dann ist das Gebet letztendlich oberflächlich. Es ist gar kein echtes Gebet, sondern einfach eine Rede für andere verkleidet.
Das ist eine Form eines Gebets, aber es ist kein Gebet zu Gott, wenn wir uns nicht auf ihn ausrichten.
Die Haltung beim Beten: Aufrichtigkeit und Innigkeit
Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein, schließe die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
Hier noch einmal ein wichtiger Hinweis: Es geht nicht darum, dass wir ausschließlich nur in unserem Kämmerlein beten sollen. Vielmehr wird uns gezeigt, dass es beim Beten zu Gott nicht darauf ankommt, eine große Zuhörerschaft oder Menge um sich zu haben.
Es spielt keine Rolle, ob du mit hundert Leuten betest oder allein. Häufig fällt es uns leichter, wenn wir in Ruhe sind, ohne Ablenkungen. So können unsere Gedanken nicht abschweifen, weil wir in Gemeinschaft mit anderen sind. Das Wesentliche ist, dass wir uns auf Gott ausrichten – und genau das steht hier im Mittelpunkt.
Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Hier wird der Unterschied zu den Heiden deutlich, wie es bis heute oft noch praktiziert wird.
„Plappern“ bedeutet hier einfach, viele Worte zu machen und Gott damit sozusagen zu „erschlagen“. Die Vorstellung dahinter ist: Je länger ich bete, desto intensiver und besser ist das Gebet.
Kritik an oberflächlichem und wortreichendem Gebet
Und das gab es zur Zeit des Neuen Testaments durchaus auch. Wir haben Papyri, also kleine Papierschnipsel aus jener Zeit, die zeigen, wie Leute gebetet haben – darunter auch Nichtchristen.
Typisch war, dass sie eine Unmenge von Gottesnamen ansprachen, also möglichst viele verschiedene Gottesnamen, um den richtigen zu treffen, der sie möglicherweise erhört. Denn wer weiß? Na ja, besser auch noch Allah und Buddha und was weiß ich alles mit hineinnehmen. Da merken wir: Die Leute damals waren hochmodern. Das ist ja heute auch wieder ganz in, man nennt es Pluralismus. Man weiß ja nie so genau, ob der eine Gott richtig ist oder der andere falsch. Deshalb lässt man alle gelten und betet mal zu dem einen, mal zu dem anderen, je nachdem, wie es persönlich gerade passt oder wer jetzt gnädiger zu sein scheint. So will man keinen Gott verpassen.
Das merkt auch Paulus, als er in Athen auf dem Areopag ist. Die Griechen hatten genau dasselbe gedacht und gesagt: Na ja, wer weiß, vielleicht haben wir von all den Göttern einen noch vergessen. Deshalb bauten sie extra einen Altar für den unbekannten Gott, dessen Namen sie noch nicht wussten. Besser sichergehen, sonst ist er nachher beleidigt und uns geht es schlecht. Also besser alle anbeten.
Das ist dieses Plappern an. Es kommt gar nicht auf das Vertrauen auf einen Gott an, sondern darauf, sein Risiko breit zu streuen. Irgendwo wird schon einer der Götter antworten. Das ist das Plappern wie die Heiden, was hier gemeint ist.
Darüber hinaus hat das Plappern mit den Heiden auch damit zu tun, dass man versucht, möglichst viel zu beten. Das ist nicht pauschal schlecht. Die Juden hatten zur damaligen Zeit ein sogenanntes Achtzehn-Bitten-Gebet entwickelt, das man mindestens dreimal am Tag beten sollte: morgens beim Sonnenaufgang, mittags und abends beim Sonnenuntergang.
Wir kennen das in ähnlicher Weise, wie es manchmal missbräuchlich auch in der katholischen Kirche gehandhabt wird, etwa mit dem Rosenkranzgebet. Die Muslime kennen etwas ganz Ähnliches: die dicken Perlen für ein Vaterunser, die kleinen Perlen für ein Ave Maria. Eigentlich sind das nur Bibelverse, die gebetet werden.
Wir könnten sagen: Das ist hundertprozentig richtig, Bibel rezitieren. Aber wenn man merkt, dass viele Personen, die das beten, gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, was sie beten, sondern es einfach nur schnell abhaken wollen, dann ist das problematisch.
Je nachdem, wenn du deine Beichte abgelegt hast, kann es eine besondere Bußstrafe sein, fünf oder zehn Rosenkränze oder Vaterunser zu beten. Dann bist du gut beraten, das so schnell wie möglich zu tun, denn danach kannst du dein Fernsehprogramm wieder weitersehen oder dich mit Freunden treffen. Dann ist das abgehakt.
Wenn Gebet nur noch eine Leistung ist, die ich erbringe, ohne mir bewusst zu sein, was ich eigentlich tue, dann ist das auch Plappern wie die Heiden.
Luther und die Kritik an leerem Ritualgebet
Luther war erschrocken, als er noch als Mönch von Wittenberg aus nach Rom kam, um im Auftrag seines Ordens zu verhandeln. Voller Erwartung betrat er die Stadt. Er dachte: „Da ist nun der heilige Vater, da ist der Vatikan, da müssen die Leute alle ganz heilig sein.“
Doch als er die Kirchen betrat, war er schockiert. Er schrieb später darüber, wie entsetzt er war, wie die Priester dort die Messen zelebrierten – nämlich richtig „zack zack“, sozusagen in einem Wettbewerb, wer es am schnellsten schafft. Dabei konnte man auch daran verdienen. Die Leute hatten ja bezahlt, damit für die Toten Messen gelesen werden. Wenn man in einer Stunde nicht nur eine Messe, sondern zwei oder drei lesen konnte, war das besser, denn man musste es ja nicht verstehen, sondern einfach erledigen. Das war „klappernd wie die Heiden“.
Luther war davon nicht fasziniert, sondern eher erschlagen. Er sagte: „Also so kann es doch nicht sein.“ Damit distanzierte er sich deutlich und fand einen ersten Kritikpunkt an der Kirche seiner Zeit.
Der römische Schriftsteller Seneca schrieb, dass die Einstellung vieler Menschen damals darin bestand, die Götter müde zu machen. Sie redeten so lange, bis es dem Gott auf die Nerven fiel und er fast einschlief. Dann sagte er: „So gut, lass mich endlich in Ruhe“, und erfüllte den Wunsch. Das ist auch mit „plappern wie die Heiden“ gemeint. Es zeigt ein fehlendes Vertrauen zu Gott, dass er das Gebet hört. Stattdessen versucht man, ihn unter Druck zu setzen, zu erpressen, ihn mit Reden zu überhäufen, damit er antwortet.
Demgegenüber steht Jesaja 65,24: „Ehe sie rufen, antworte ich ihnen.“ Im Neuen Testament sagt Jesus, dass er schon weiß, was wir brauchen, ehe wir ihn bitten – als guter Vater, der auf unsere Gebete antwortet. Das soll die Grundlage unseres Gebets sein.
Die Juden und Christen haben durchaus häufig gebetet. In der Didache, Kapitel 8, Vers 2, heißt es, dass man das Vaterunser mindestens dreimal am Tag beten soll. Vielleicht fragt man sich: Wo steht das? Nicht in der Bibel. Die Didache ist ein Brief, den ein Kirchenvater der ersten Jahrhunderte an eine Gemeinde schrieb. Es ist ein sehr früher Brief aus dem ersten Jahrhundert. Dort wird deutlich, dass Gebet wichtig ist.
Aber die Gefahr besteht, dass Gebet zum Werk wird und nicht aus freiwilliger Überzeugung geschieht. Es hängt jedoch nicht nur von der Länge der Gebete ab. In Vers 8 heißt es: „Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen, denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“ Es kommt also nicht nur darauf an, kurz zu beten. Es kann durchaus sein, dass wir uns intensive Zeit zum Gebet mit Gott nehmen sollen.
Denken wir daran, wie Jesus 40 Tage in der Wüste verbrachte und dort Gemeinschaft mit Gott pflegte – eine intensive Gemeinschaft. Wir sehen auch, dass Jesus manchmal Nächte hindurch betete, also nicht nur ein paar Minuten. Es geht nicht darum, möglichst kurz zu beten, um dann zu sagen: „Herr Jesus, danke für den Tag, zack, fertig, ich bin der beste Christ, weil ich am kürzesten gebetet habe.“ Nein, es geht um die Echtheit des Gebets, nicht um die Länge in erster Linie.
Ein Beispiel finden wir in Matthäus 14,23-25: „Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Am Abend war er dort allein. Das Boot war schon weit vom Land entfernt, und dann kam der Wind und die ganze See. In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihm.“ Das heißt, schon früh am Morgen kam Jesus zu ihm. Wir merken, dass Jesus die ganze Zeit auf dem Berg gebetet hatte.
Im Garten Gethsemane ringt Jesus im Gebet intensiv mit Gott. Es ist eine lange, intensive Gemeinschaft, so lang, dass die Jünger einschlafen. Wir sehen, dass Jesus eine intensive Beziehung zu Gott im Gebet pflegte.
Das Neue Testament fordert uns Christen auf, dem nachzueifern. Zum Beispiel heißt es im Römerbrief 12,12: „Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“ Das bedeutet ausdauerndes, intensives Gebet – eine Herausforderung, der wir uns stellen sollen.
Im 1. Thessalonicher 5,17 finden wir eine ähnliche Aufforderung: „Betet ohne Unterlass.“ Es geht nicht um eine magische Wirkung des Betens, sondern um eine intensive Beziehung zu Gott, die sich im Gebet ausdrücken soll.
Einführung in das Vaterunser als Vorbildgebet
Dann kommen wir ab Vers 9 zu unserem eigentlichen Text heute Morgen, nämlich zum Vaterunser. Das Vaterunser ist ein Vorbildgebet. Ich denke, es ist durchaus auch etwas, das uns herausfordert.
Es bedeutet nicht, dass wir immer nur so beten sollen oder dass wir nichts anderes beten dürfen als das Vaterunser. Jesus hat ja durchaus auch anders gebetet, und auch seine Jünger haben anders gebetet. Das lesen wir in der Bibel, und diese Gebete werden uns ebenfalls zum Vorbild genannt.
Hier aber wird uns beispielhaft vor Augen geführt, woran wir in einem Gebet denken sollen. Beispielsweise nicht nur an uns selbst oder sogar nicht zuerst an uns, sondern zuerst an Gott. Unser Leben als Christ soll zur Verherrlichung Gottes dienen, wie es Calvin betont hat. Und genau das steckt auch in diesem Gebet. Es geht zuerst um Gott.
Wir richten unseren Blick auf Gott, und plötzlich relativieren sich unsere Probleme. Sie werden kleiner und unbedeutender im Vergleich zur Größe, Macht und dem Anliegen, das wir Gott gegenüber ausdrücken.
Wenn Jesus sagt: „Darum sollt ihr so beten“, hätte er auch einfach sagen können: „Dann sollt ihr beten.“ Der Ausdruck „so“ bedeutet hier zum Beispiel oder so ähnlich. Das heißt, wir sollen in der Art und Weise beten, wie es im Vaterunser vorgegeben ist.
Das bedeutet aber auch, dass wir als Christen durchaus ab und zu das Vaterunser wirklich beten können – vielleicht sogar sollten. Immerhin ist es das einzige Gebet, das mir einfällt, von dem Jesus uns lehrt, dass wir es beten sollen.
Und wenn Jesus schon dazu auffordert, dann denke ich, sollten wir das tun. Selbst wenn es in manchen Kirchen und Gemeinschaften missbraucht wird und zu einer leeren Traditionsformel verkommt, sind wir doch aufgefordert, das, was Jesus uns selbst als Vorbild gegeben hat, auch einmal zu beten.
Die Bedeutung von "Unser Vater im Himmel"
Nun beginnt es mit „Unser Vater im Himmel“, Vers 9. Hier steckt schon eine ganze Menge drin. Eigentlich müssten wir uns jetzt jedes einzelne dieser Worte vornehmen, um intensiv darüber nachzudenken, was da alles enthalten ist. Denn wir können nur einmal damit beginnen.
Es wird von „Unser“ gesprochen. Das bedeutet, dieses Gebet drückt die Gemeinschaft der Christen untereinander aus. Das heißt, und wir werden gleich noch etwas über „Vater“ nachdenken, dass wenn wir einen Vater haben, wenn wir die Hoffnung haben, dass wir mit Gott einmal im Himmel sein werden, wir uns – und das ist schon das erste Wort hier – bewusst sein sollen, dass wir mit allen Christen untereinander verbunden sind, ob wir wollen oder nicht.
Wenn es also Streit in der Gemeinde gibt und der Bruder oder die Schwester mich total ärgern, denkt daran: Ihr werdet auch im Himmel mit ihnen zusammen sein. Das ist das, was hier im Vaterunser ausgedrückt wird. Dadurch wird auch gesagt: Wenn ihr betet, denkt nicht nur an eure eigenen Bedürfnisse, sondern auch an die Bedürfnisse der anderen. Denn in den folgenden Bitten wird ja von „unserem Brot“ und „unseren Schulden“ gesprochen. Es ist also auch ein Gebet für den anderen, eine Fürbitte.
Aber wie gesagt, ich habe auch einen und denselben Vater. Das bedeutet, ich werde hinterher in ein und demselben Himmel sein. Wenn ihr euch hier zu sehr spaltet und denkt, dass nur ihr die Einzigen seid, die überhaupt vor Gott Gnade finden können und die einzig wahren Gläubigen seid, dann ist das ein Irrtum.
Diejenigen, die Jesus Christus als ihren Herrn angenommen haben, auch wenn sie manchmal Ecken und Kanten haben, auch wenn ich nicht gut mit ihnen zurechtkomme, wenn sie andere Hobbys haben als ich oder den Gottesdienstraum anders gestalten wollen – trotzdem sind es meine Geschwister, sofern sie gläubig geworden sind. Und dann werde ich lernen müssen, auch hier schon auf Erden zu lernen: Unser Vater, ich gehöre mit ihnen zusammen.
Ihr kennt wahrscheinlich diesen Witz, der über alle Konfessionen kursiert. Ich kann nicht gut Witze erzählen, aber vielleicht kennt ihr ihn trotzdem. Es geht so, dass ein Baptist oder auch ein Methodist oder jemand anderes in den Himmel kommt, anklopft und sich beim Petrus umsieht. Dann sieht er, dass dort nur Baptisten sind und fühlt sich bestätigt. Er sagt: „Habe ich es doch gewusst, die Baptisten sind die Einzigen, die in den Himmel gekommen und gerettet worden sind.“
Dann sagt Petrus, oder jemand in dieser Geschichte, ungefähr so: „Naja, du bist jetzt nur im Vorraum zum Himmel. Im eigentlichen Himmel sind die anderen, weil ihr mit ihnen nie zu tun haben wolltet.“ So lautet das Motto.
Tatsächlich wird es im Himmel keine Eintrittskarte geben, auf der steht: „Hast du den Taufschein der Baptisten?“ Oder der Mennoniten, Methodisten, Freien Evangelischen oder einer anderen Gemeinde. Auch die evangelische Landeskirche hat keinen Anspruch darauf, den Himmel für sich allein zu beanspruchen. Nur diejenigen, die Jesus Christus nachfolgen, werden dort sein.
Und das steckt schon im „Unser“ drin: Wir sind zusammen.
Die besondere Bedeutung des Begriffs "Vater"
Und dann haben wir natürlich als Nächstes hier den Begriff Vater. Vater ist auch etwas ganz Besonderes. Vater kennen wir ja hier auf der Erde. Hier wird aber nicht irgendeine Person angesprochen, sondern wir finden Vater im Himmel. Also nicht irgendeine irdische Person, sondern der im Himmel wird hier angesprochen.
Jetzt stellt sich die Frage: Für wen ist denn Gott eigentlich Vater? Wer kann das eigentlich beten? Da müssen wir sagen, das gilt nicht für jeden Menschen. Jeder Mensch kennt Gott als seinen Schöpfer und seinen Richter, das ja. Aber nicht für jeden Menschen ist Gott Vater. Sondern dein Vater muss er erst werden, wenn wir nämlich seine Kinder werden.
Wir sind von Natur aus Geschöpfe Gottes, aber wir sind nicht von Natur aus Kinder Gottes. Und da merken wir schon in diesem Anspruch „Vater unser“, das kann eigentlich nur jemand beten, für den Gott zum Vater geworden ist. Und wie wird Gott unser Vater? Nun, ich habe es ja gestern auch erwähnt: Als Nikodemus das fragt, da sagt Jesus, du musst von neuem geboren werden.
Eben, das ist ja genau dasselbe Bild. Wenn man geboren wird, wird man Kind. Wenn man geboren wird, dann ist man Kind der Eltern, die einen neu gebären. Und genau das ist hier auch gemeint: Gott wird zu unserem Vater, wenn wir geistig neugeboren werden, ein neues Leben beginnen, wenn wir unser altes Leben hinter uns lassen und sagen: Das war es nicht. Da habe ich gottlos in der Entfernung von Gott gelebt – und zwar alles, auch wenn da kleine Husinen drin sind, wo ich mal etwas Gutes getan, gedacht oder gesagt habe.
Das genügt nicht. Sondern wenn ich ganz eindeutig sehe, dieses alte Leben mit meinen Bemühungen war umsonst gewesen. Und dann Gott eingestehe: Ich will ein neues Leben mit dir beginnen. Ich will den Heiligen Geist von dir bekommen, der mein Leben erneuert, der meine Schuld vergibt. Ich bekenne dir meine Schuld und Sünde und fange dann eben deutlich mit Jesus neu an. Dann führe ich ein Leben, das vom Heiligen Geist geleitet wird. Das ist das Neue.
Dann sind wir auch nicht mehr verkrampft, wie wenn wir selbst Frömmler sein müssen, so wie das die Pharisäer waren. Die versuchten ja durch eigene Kraft irgendwie fromm zu sein. Das sah nach außen ganz gut aus, aber sie waren nicht von neuem geboren, Gott war nicht ihr Vater.
Und da sehen wir hier etwas: Das ist etwas ganz Besonderes, was darin steckt. Wir können das nur beten, wenn Gott unser Vater geworden ist. Also bei dem Begriff Vater steckt hier auch schon eine ganze Menge drin – unser Vater.
Und jetzt „im Himmel“: Da könnten wir sagen, na ja, was bedeutet das? Ist Gott so weit entfernt? Also auf der Erde hat er nichts zu sagen, aber im Himmel da ist er? Nein, ich denke, das soll das nicht bedeuten. Es ist einfach eine Spezifizierung.
Wenn wir einfach beten würden „unser Vater“, da würden einige Leute zuhören, vielleicht auch wir selbst, und sagen: Ja, warum beten wir denn zu unserem Vater? Also zu unserem leiblichen Vater? Nein, hier soll deutlich gesagt werden: Nicht der irdische Vater, sondern der himmlische.
Das heißt nicht, dass er nur im Himmel ist, sondern einfach da ist sozusagen sein Ausgangspunkt, da ist er lokalisiert. Das bestimmt ihn in besonderer Weise im Gegensatz zu dem Vater, den wir hier auf Erden haben.
Die Bitte um Heiligung des Namens Gottes
Und dann geht die Bitte ja weiter: Dein Name werde geheiligt.
Jetzt stehen wir wieder vor einem Problem: Was bedeutet es eigentlich, einen Namen zu heiligen? Das erscheint uns heute zunächst völlig fremd. Nehmen wir an, ich heiße Michael. Wie heiligt ihr den Namen Michael? Schreibt ihr ihn auf ein großes Transparent und bringt es hier an der Bibelschule an? Ist der Name dann geheiligt? Was bedeutet das eigentlich?
Zunächst einmal heißt heiligen, etwas auszusondern, besonders hervorzuheben, mit besonderer Sorgfalt damit umzugehen. Es bedeutet, etwas nicht weltlich oder banal, nicht ins Triviale oder Alltägliche hineinzuziehen. Es soll besonders hervorgehoben werden – genau das sollen wir mit dem Namen tun.
Aber welcher Name ist denn der Name Gottes? Im Alten Testament finden wir Namen wie Yahweh, oder wie die Zeugen Jehovas sagen, Jehova – was eigentlich ein Missverständnis ist. Eigentlich heißt es Yahweh. Oder El Shaddai, El Adonai, Adonai, El – ja, es gibt viele Namen im Alten Testament. Welcher davon soll besonders herausgehoben werden? Hier merken wir schon, dass es ein Problem gibt.
Ich habe einige Zeit darüber nachgedacht und überlegt, welcher Name es sein könnte. Dabei bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es sehr wahrscheinlich genau der Name ist, den Jesus hier meint: der Name Vater. Das klingt vielleicht ziemlich banal, aber genau so spricht Jesus Gott in diesem Moment an.
Das Neue daran ist, dass eine einzelne Person in direkter Verbindung zu Jesus Gott als Vater ansprechen darf. Im Alten Testament wird Gott als Vater des Volkes Israel bezeichnet, nicht unbedingt als Vater des einzelnen Gläubigen. Hier aber eröffnet Jesus uns Gott als unseren Vater. Wir können Zugang zu ihm haben als unserem Vater, nicht nur als Richter oder Schöpfer, sondern eben als Vater.
So habe ich den Eindruck, dass gerade dieser Name von uns in besonderer Weise geheiligt werden soll. Oder anders gesagt: Wir dürfen das nicht selbst tun. Interessanterweise spricht man hier grammatikalisch von einem Passivum divinum, also einem göttlichen Passiv. Das heißt, die Bitte richtet sich an Gott selbst. Es steht hier nicht: „Ich will deinen Namen heiligen“, sondern: „Ich bitte Gott, dass er seinen Namen heiligt.“
Das zeigt unsere Ohnmacht. Wir können das eigentlich gar nicht. Wir sind viel zu sündig, zu unrein, um das selbst zu tun. Wir können es höchstens ein Stück weit bemühen, und das sollen wir tun, indem wir Gott darum bitten. Es soll uns ein Herzensanliegen sein. Wenn uns etwas wirklich am Herzen liegt, dann tun wir nichts, was dem widerspricht.
Wenn uns zum Beispiel wichtig ist, dass unsere Kinder gut in der Schule sind, dann werden wir nicht alles tun, um sie vom Lernen abzuhalten. Stattdessen unterstützen wir sie, obwohl wir das Ergebnis nicht manipulieren können. Genauso ist es hier: Wir bitten Gott darum und stimmen uns auf diese Bitte ein. Wir wollen im selben Geist sein, in dem wir bitten, und deshalb tun wir nichts, was dem entgegensteht. Aber letztendlich ist es nur Gott, der das tun und durchsetzen kann.
Also: Der Name werde geheiligt.
Der Name steht im Alten Testament und in der gesamten orientalischen Umwelt nicht nur für eine Bezeichnung. Der Name steht gleichzeitig für die Person. Ein Name ist nicht nur eine Eigenschaft oder eine willkürlich ausgewählte Bezeichnung.
Heutzutage ist es oft so, dass man Namen nach dem Klang oder nach Moden auswählt. Zum Beispiel heißen viele Jungen Kevin, weil ein Schauspieler gerade populär ist. Kaum jemand denkt darüber nach, was der Name eigentlich bedeutet. Meine Eltern haben das damals wahrscheinlich auch nicht getan, aber sie haben trotzdem einen guten Namen gewählt: Michael. Das ist immerhin ein biblischer Name und bedeutet „Wer ist wie Gott?“
Das ist schön. Manchmal habe ich darüber nachgedacht und mir gesagt: „Ja, wer ist wie Gott?“ Das ist natürlich eine rhetorische Frage und bedeutet eigentlich: „Niemand ist wie Gott.“ Das soll der Name ausdrücken. Und wenn man so einen Namen trägt, ist das doch toll. Eigentlich könnte ich den Namen evangelistisch einsetzen, wenn ich im Gespräch bin: „Wisst ihr, wie ich heiße? Michael – keiner ist wie Gott.“ Das ist eigentlich super, so einen Namen zu haben, auch wenn ich ihn mir nicht selbst ausgesucht habe.
Manchmal sind wir herausgefordert, die Bedeutung von Namen zu sehen. Im Alten Testament war es so, dass eine Person, wenn sie einen neuen Lebensabschnitt begann oder geistlich neu geboren wurde, einen neuen Namen erhielt. Denken wir an Jakob, der zu Israel wurde, oder an Abram, der Abraham wurde, oder an Saulus, der Paulus wurde. Immer wieder gibt es einen neuen Namen, wenn ein neuer Lebensabschnitt mit Gott beginnt.
So merken wir: Ein Name ist auch Programm. Ein Name ist nicht nur eine willkürliche Bezeichnung. Auch bei Gott soll hier die Person hervorgehoben werden. Deshalb soll der Name geheiligt und ausgesondert werden.
Übrigens: Die Mönche bekommen oft einen zweiten Namen, wenn sie Mönche werden. Auch Papst Johannes Paul II. hieß nicht von Geburt an so. Er hieß Karol Wojtyła. So steht es wahrscheinlich auch in seinem Pass. Ich habe ihn nicht gesehen, aber ich vermute das.
Ich hatte einen Studienkollegen zu Beginn meines Studiums, der gerade zum Glauben gekommen war. Ich kannte ihn als Rudolf – ein typisch germanischer Name. Ein heidnischer Name sozusagen. Ich hoffe, keiner von euch heißt Rudolf, damit ihr mir nicht böse seid.
Eines Tages kam er zu mir und sagte: „Ab heute heiße ich nicht mehr Rudolf, sondern Christian.“ Er hatte den Vorteil, dass seine Eltern ihm einen Doppelnamen gegeben hatten. Im Pass stand also Rudolf Christian. Das wusste ich bis dahin nicht. Er sagte, er wolle bewusst Jesus nachfolgen. Rudolf sei vorbei, Rudolf sei tot, jetzt sei nur noch Christian da.
Seine Eltern hatten das nie geahnt, aber es war eine tolle Sache. Christian bedeutet ja „der Christ“. Also aus Rudolf, dem Germanen, wurde Christian, der Christ. Früher hatte er viel mit Isotier und so zu tun gehabt, das ist jetzt vorbei. Jetzt lebt der Christ, Christian.
Ich musste mich erst daran gewöhnen, denn zuerst sprach ich ihn noch mit Rudolf an. Aber mit der Zeit wusste ich es besser. An sich fand ich das nicht schlecht, es war ein starkes Signal nach außen.
Nun, das ist also der Name Gottes.
Die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes und die Erfüllung des Willens Gottes
Dann kommen wir als Nächstes zu dem Satz: Dein Reich komme. Also: Dein Reich komme!
Das Reich Gottes ist jedoch nicht nur irgendein irdisch abgezirkelter Raum, in dem Gott herrscht. Es bedeutet vielmehr die Herrschaft Gottes in der Ewigkeit, im tausendjährigen Reich. Wir haben gestern schon darüber gesprochen, dass die Herrschaft Gottes und das Reich Gottes schon dort beginnen, wo ein einzelner Mensch bereit ist, in diesem noch unsichtbaren Reich Gottes auf Erden zu leben.
Das heißt, nach den Ordnungen Gottes zu leben, sich einzufügen und als Botschafter Christi die Stadt zu sein. Das Bürgerrecht, das wir im Himmel haben, soll hier schon auf der Erde verwirklicht werden. Das hat also etwas damit zu tun.
Sicherlich ist das Reich Gottes auch ein Ereignis der Heilsgeschichte, das noch bevorsteht. Wenn wir sagen: Dein Reich komme, dann drückt das den innerlichen, intensiven Wunsch aus: Ja, Herr Jesus, ich möchte wirklich, dass dein Reich hier vollkommen anbricht.
Das bedeutet, dass es nicht nur in den kleinen Einzelheiten im Leben der einzelnen Menschen geschieht, sondern vollkommen. Warum? Weil ich sehe, dass die Menschen erst dann wirklich glücklich, zufrieden und erfüllt sein können. Alles andere, was sie bisher hier hatten, ist nur vordergründig schal und leer und vielfach mit Leiden verbunden.
Deshalb bedeutet „Dein Reich komme“ den innerlichen, intensiven Wunsch, dass immer mehr von dem Reich Gottes hier auf Erden verwirklicht wird. Deshalb heißt es auch im selben Vers: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“
Das bedeutet, wenn das Reich Gottes hier auf Erden vollkommen angebrochen ist, dann geschieht der Wille Gottes auch vollkommen hier auf Erden.
Nun stellen wir uns vielleicht die Frage: Ist Gott denn ohnmächtig, wenn sein Wille nicht geschieht? Ist er nicht allmächtig, wenn gesagt wird: „Jetzt im Himmel wie auf Erden“? Ich denke, das steckt nicht darin.
Im Augenblick ist es noch Gottes Wille für uns auf Erden, dass wir einen freien Willen haben und dass der Teufel hier auf der Erde noch wirken kann. So lesen wir es im Epheserbrief, wo der Teufel als Herr dieser Welt bezeichnet wird.
Das ist Gottes Wille. Gott sagt: Okay, ich will das jetzt, ich lasse das zu – so wie bei Hiob. Ich will, dass du ihn leiden lässt.
Aber das heißt nicht, dass es so geschieht, wie der Wille Gottes sich im Paradies oder heute im Himmel ausdrückt. Denn im Himmel hat der Teufel nichts zu sagen.
Unser Ausdruck soll nun sein, unser Wunsch: So wie jetzt schon der Wille im Himmel geschieht, so möchte ich auch, dass du dem Teufel endlich Grenzen setzt. Dass hier auf der Erde in dieser vollkommenen Art und Weise dein Wille zum Durchbruch kommt.
Das ist der Ausdruck. Das heißt nicht, dass wir Gott misstrauen oder sagen: Na ja, er ist noch nicht so weit oder er ist nicht allmächtig. Oder dass zwei Mächte gleich stark gegeneinander kämpfen.
Wir wissen, das ist die biblische Aussage: Spätestens seit dem Tod Jesu am Kreuz von Golgatha ist der Teufel besiegt. Nur er weiß es vielleicht noch nicht, so könnte man sagen, oder er führt noch Scheingefechte, um Menschen von Jesus und Gott wegzuziehen.
Aber er ist schon besiegt. Das heißt, das Ende der Geschichte – so wie es ein deutscher Theologe, Pannenberg, mal gesagt hat – ist eigentlich schon erreicht.
Deshalb ist es jetzt nur noch ein Vollzug dessen, was schon feststeht und stattfindet. So könnte man hier sagen: „Dein Wille geschehe.“
Wenn ich Gott darum bitte, dass sein Wille geschieht, dann heißt das natürlich auch: Wenn es wirklich mein innerlicher Wille ist.
Wenn ich sage: Ich will, dass alle Menschen ehrlich sind, dann ist klar, wenn ich das wirklich will und es nicht nur ein leeres Wort ist, dann spanne ich mich auch selbst dafür ein.
Dann ist es auch mein Wunsch, ehrlich zu sein. Ich tue nichts, was verhindert, dass die Menschen ehrlich sind.
Insofern steckt in dieser Bitte an Gott auch schon ein Anspruch an mich selbst. Wenn es wirklich mein Wille ist, dass Gottes Wille geschieht, dann heißt das, dass ich dem nicht im Weg stehe.
Gottes Wille soll auch in meinem Leben geschehen, wo ich die Möglichkeit habe, das zu fördern.
Das ist eine Herausforderung für uns als Christen.
Die Bitte um das tägliche Brot als Ausdruck des Vertrauens
Dann haben wir als Nächstes hier: "Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute."
Bei dieser Bitte um das tägliche Brot merken wir, dass es sich nur um eine stellvertretende Bitte handelt. Die ersten drei Bitten richten sich an Gott; Gott steht im Mittelpunkt, auf ihn kommt es an.
Aber wir erkennen auch, dass Jesus kein weltabgewandter Frömmler war. Er wusste, dass es nicht genügt, nur diese Bitten zu stellen. Wenn wir vorher lesen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt – wie wir gestern gelesen haben –, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt, dann heißt das nicht "allein vom Brot", sondern eben auch vom Brot.
Deshalb wird hier gesagt: Das Wichtigste ist zunächst, dass du geistlich klarstehst und deine Ausrichtung auf Gott hast. Aber natürlich hast du auch körperliche Bedürfnisse. Hier steht das Brot – wir würden sagen, es ist ein pars pro toto, ein Fachwort dafür, dass es stellvertretend für all die anderen wichtigen lebensnotwendigen Dinge steht, die wir in unserem Leben brauchen.
Martin Luther hat das in seinem kleinen Katechismus ausgelegt. Er schreibt darüber: Das bedeutet frommen Gemahl, fromme Kinder, nette Nachbarn, Essen, Trinken und all solche Dinge. Er führt das aus, und ich denke, er hat Recht. Es geht nicht nur um das Brot.
Denn wenn Jesus wirklich meinte, dass wir lediglich darum bitten sollten, die Grundnahrungsmittel zu haben, hätte er zumindest um Brot und Wasser bitten müssen. Ohne Wasser sterben wir noch schneller als ohne Brot. Auch im Gefängnis bekommen die Leute früher wenigstens Brot und Wasser, um davon zu leben.
Daran merken wir, dass es hier tatsächlich nicht nur um Brot geht. Übrigens haben auch die Bibelübersetzer damit Probleme. Wenn man zum Beispiel in China das Vaterunser übersetzt und die Leute dort kein Brot essen, was übersetzt man dann? "Unser tägliches Brot gib uns heute" ist für sie problematisch, weil sie Brot nicht kennen.
Oder irgendwo in Südamerika, wo die Menschen nur Maniokwurzeln oder Süßkartoffeln essen – da müsste man es so übersetzen, dass es für sie verständlich ist, zum Beispiel: "Unsere tägliche Hirse gib uns heute" oder "unsere tägliche Maniokwurzel gib uns heute." Das ist zwar nicht wortwörtlich übersetzt, aber es gibt den Sinn dessen wieder, was gemeint ist: nämlich das, was wir grundsätzlich zum Leben brauchen.
Das heißt natürlich nicht: "Unseren Ferrari gib uns heute" oder so. Hier sind nicht die Luxusgüter unseres Lebens gemeint, sondern das, was wir wirklich unabdingbar für unser Leben brauchen.
Und dieses Wort "täglich", das da steht, epiusios, bereitet den Theologen schon seit der Entstehung des Neuen Testaments Probleme. Dieses Wort kommt nämlich nur einmal im Neuen Testament vor. Deshalb können wir keinen Vergleich ziehen, um genau zu verstehen, was es nun eigentlich bedeutet.
Daher sind die Interpretationen unterschiedlich: Die einen sagen, es heißt "gib uns das nötige Brot", andere sagen "gib uns das heutige Brot" und wieder andere "gib uns das morgige Brot". Alle Interpretationen könnt ihr lesen.
Aber worauf wir hinauskommen, und deshalb ist es auch nicht so wichtig, was es im Detail bedeutet, ist Folgendes: Wir bitten um das, was wir unmittelbar im Augenblick oder möglicherweise noch für morgen brauchen.
Wir bitten Jesus also nicht, uns unsere Rente bis ins hohe Alter zu sichern. Nein, unsere Sorge soll sein, jeden Tag neu zu leben. Wir sollen uns nicht unbedingt darauf verlassen, dass Gott uns bis in alle Ewigkeit absichert.
So hat es auch Corrie ten Boom einmal gesagt: Wenn der Vater dich losschickt, irgendwo eine Reise zu machen, wann gibt er dir deine Fahrkarte? Am ersten Morgen.
Oder wenn ihr wollt, dass eure Kinder irgendwann einen Führerschein machen, und sie sind gerade zwei oder drei Jahre alt, schickt ihr sie jetzt auch nicht schon zur Fahrschule oder kauft ihnen ein Auto. Denn bis sie in zehn Jahren den Führerschein haben, ist das Auto schon verrostet.
Deshalb lohnt sich das nicht. Jesus und Gott geben uns das, wenn wir es brauchen. Deshalb lautet die Bitte hier: Gib uns das, was wir jetzt gerade im Augenblick brauchen.
Die Bitte um Vergebung und die Bedeutung der Vergebungsbereitschaft
Gebt uns unser Brot heute, vergibt uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Die Bitte um Vergebung der Schuld – wir könnten auch sagen der Sünde – bezieht sich hier eher auf die einzelnen Taten, die mit dem verwendeten Wort gemeint sind. Dabei ist natürlich das aktive Handeln des Beters eingeschlossen, denn es heißt ja: „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Das bedeutet, dass ich mich bereits im Vollzug des Vergebens befinde. Ich tue es schon und bitte Gott, mir dabei zu helfen, es weiterhin zu tun.
Eine Ergänzung dazu finden wir ebenfalls in den Versen 14 und 15: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ Diese Verse sind eine Erläuterung zu dem, was wir in der Bitte um Vergebung der Schuld vorfinden.
Zunächst merken wir darin, dass wir schuldig werden und uns das eingestehen müssen. Wir sind nicht sündlos – das steckt einmal dahinter. Aber wir müssen auch erkennen, dass dies kein Weg zur Errettung ist. Denn diejenigen, die das beten, haben Gott bereits als Vater. Das heißt, sie haben die Errettung schon erfahren. Es geht nicht darum, dass Ungläubige diese Bitte beten und dadurch meinen, dass sie durch das Vergeben anderer Selbstvergebung erlangen. Es ist eine Ermahnung an die Gläubigen.
Darüber hinaus wird uns das Wort „Verfehlungen“ in Versen 14 und 15 erläutert. Es bedeutet eben nicht direkt Sünde, sondern die einzelnen Taten, die aus der Wurzel der Sünde hervorgehen. Verloren gehen wir ja nicht, weil wir einmal gelogen haben, sondern weil wir von Anfang an durch die Erbsünde vollkommen von der Sünde geprägt sind.
Wenn ich als Christ eine Sünde begehe, gehe ich deshalb nicht verloren, denn ich bin immer noch Gottes Kind. Aber ich werde – und das lesen wir später in der Bibel noch – dafür Verantwortung ablegen müssen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Gericht zum Leben und zum Tode, das wir in der Offenbarung finden, und dem Preisgericht, in das auch Gläubige kommen. Dort werden sie für alles, was sie auf der Erde getan haben, Rechenschaft ablegen.
Im 1. Korintherbrief lesen wir, dass einige wie durchs Feuer hindurch gerettet werden. Das heißt, sie haben in ihrem Leben nichts Gutes getan, sich aber bekehrt. Das war ihr Glück. Gott hat ihnen vergeben und die Sünde weggenommen, aber sonst war da nichts Gutes. Dieses alles wird nicht mit in den Himmel kommen können, doch sie sind gerade noch gerettet.
Das ist eine scharfe Aussage, die hier mitgemeint ist: Wenn wir immer hartnäckig sind und nicht bereit, anderen zu vergeben, dann tragen wir Schuld mit in den Himmel, für die Gott uns einmal richten wird. Nicht so, dass wir deswegen verloren gehen, aber wir werden dafür vielleicht bestraft oder dieser Teil unseres Lebens fällt im Himmel völlig weg.
Paulus berichtet, dass es im Himmel verschiedene Kronen gibt, zum Beispiel die Krone des Lebens. Diese Kronen sind Belohnungen, die er nachstrebt. Jesus sagt auch: „Sammelt Schätze im Himmel.“ Das bedeutet, dass es unterschiedliche Stufen oder Belohnungen im Himmel geben wird. Wie genau das aussieht, wissen wir nicht, denn Jesus erklärt es nicht. Aber es wird irgendeine Art von Belohnung geben.
Darauf bezieht sich diese Bitte: Je nachdem, wie wir auf der Erde bereit sind, Vergebung zu geben, so wird Gott zu uns stehen. Es geht hier nicht um die Frage der Erlösung, denn es sind Verfehlungen, also einzelne Taten, gemeint. Wir müssen das an uns herankommen lassen, denn es hat Auswirkungen auf unser Leben, je nachdem, wie wir dazu stehen.
Vergibt uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Seid bereit, anderen, die an euch schuldig geworden sind, zu vergeben. Wartet nicht darauf, dass sie zu euch kommen und um Vergebung bitten. Seid von euch aus bereit zu vergeben, auch vorher. Nicht erst, wenn sie auf Knien vor euch liegen und sagen: „Bitte, vergib du mir!“
Echtes Vergeben bedeutet auch, nicht mehr daran zu denken. Es heißt, dass ich den Fehler aus meinem Gedächtnis streiche und ihn als vorbei betrachte. So wie Gott es auch tut. Gott wird nicht sagen: „Gut, vergeben ist es, aber jetzt halte ich dir das noch mal vor.“ Im Gegenteil, es heißt, dass er es ins Finstere wirft, in die tiefste Tiefe, sodass es niemals wieder erinnert wird. So sollten auch wir mit der Vergebung umgehen.
Die Bitte um Bewahrung vor Versuchung und Erlösung vom Bösen
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Jetzt sind wir beim vorletzten Vers angekommen. Hier werden wir herausgefordert. Es geht nicht darum, sich als geistliche Supermänner und -frauen zu feiern, die sagen: „Mir kann das alles nichts anhaben, komm Teufel, schieß ruhig los, ich habe da kein Problem mit.“
Vielmehr sollen wir uns bewusst sein, dass wir fallen, wenn Jesus uns nicht hält, wenn Gott uns nicht hält. Dann fallen wir.
In diesem Vers liegt die Bitte, wenn möglich, dass die Versuchung an uns vorübergeht – so wie Jesus im Garten Gethsemane bittet. Aber wenn Gott es anders bestimmt, dann heißt das nicht, dass es keine Gelegenheit zur Erhöhung ist. Vielmehr weiß Gott besser, was in dem Moment für uns gut ist.
Also: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Hier steht „das Böse“ nicht einfach anonym für irgendein Übel, sondern es ist „der Böse“ gemeint. Das heißt, wir bitten um Erlösung von dem Teufel und seinen Machenschaften.
Wir wollen endlich frei davon werden. Er soll keinen Anspruch mehr auf unser Leben haben. Das soll unser innerlichster Wunsch sein.
Wir sollen darum kämpfen, nicht immer wieder in die Sünde und die Versuchung hineinzufallen und ihr zu erliegen.
Dabei müssen wir uns aber auch vorher bewusst sein, dass wir der Versuchung alleine nicht widerstehen können. Dafür brauchen wir die Hilfe Gottes.
Auch hier zeigt sich wieder der geistliche Aspekt, der für uns eine wichtige Rolle spielt.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Hier werden Reich, Kraft und Herrlichkeit genannt – Dinge, die bereits in den ersten Versen erwähnt wurden: „Dein Reich komme“, die Herrlichkeit Gottes in seinem Namen und natürlich die Kraft in seiner Macht und seinem Willen, der verwirklicht wird.
Am Ende wird das Gebet damit abgeschlossen, dass drei wichtige Gedanken aus den ersten Bitten aufgenommen werden: zuerst Gott, am Ende Gott, und in der Mitte unsere Bitten um das, was wir wirklich nötig haben.
Das betrifft nicht nur das Materielle, wie Essen und Kleidung, sondern auch unsere seelischen Bedürfnisse – Vergebung und Schuld.
Denn Schuld kann uns niederdrücken und kaputtmachen. Viele Gemeinden zerbrechen daran, weil es keine Vergebung gibt und weil einer dem anderen endlos nachträgt, was geschehen ist.
Abschließende Bemerkungen zum Schlussvers und Aufforderung zum gemeinsamen Gebet
Allerdings gibt es ein gewisses Problem mit diesem letzten Vers. In den ältesten Texten, die wir haben, steht er nämlich nicht drin. Erst Mitte des zweiten Jahrhunderts taucht er auf, wenn ich das richtig im Kopf habe.
Nun können wir uns fragen: Hat Jesus das gebetet oder nicht? Hundertprozentig können wir das nicht sagen. Was wir wissen, ist, dass zur Zeit Jesu solche Gebetsabschlüsse üblich waren. Normalerweise gab es am Ende eines Gebets nochmals eine Ausrichtung auf Gott.
Wie gesagt, in den ältesten Textstellen steht dieser Vers nicht. Trotzdem wissen wir, dass hier nichts Unbiblisches enthalten ist. Vielmehr besteht ein direkter Bezug zu den ersten Bitten. Daher denke ich, dass wir das durchaus beten können, auch wenn wir uns nicht hundertprozentig sicher sein können, ob es in den ältesten Manuskripten stand oder ob Jesus es so gebetet hat.
Wir haben einige Dinge gesehen. Lasst uns dadurch herausgefordert fühlen. Wenn ihr zum Beispiel mal auf dem Karussell warten müsst, könnt ihr daran denken und innerlich das Ganze durchgehen. So könnt ihr sehen, wie ihr zu den Bitten steht und wie all diese Bitten euch in Frage stellen und herausfordern, so zu handeln, wie ihr Gott darum bittet, an euch und in der Welt zu handeln.
Ich schlage vor, dass wir nun das, was ich am Anfang gesagt habe, praktisch umsetzen. Wir stehen auf und beten gemeinsam das Vaterunser.
