Einführung in die Leidenszeit Jesu und der besondere Blick auf Nazareth
Verehrte liebe Schwestern, Herr Oberin, liebe Schwestern und Brüder!
Wir hatten das Lied „O du Lamm Gottes“ auf unserem Laufzettel vorgesehen. Doch hier passt alles so gut zusammen, dass es schon im Voraus gesungen wird. Am heutigen Sonntag, an dem die Welt sich noch einmal austoben muss, bevor sie dann widerwillig die Passionszeit feiert, beginnt für uns die Leidensgedenkzeit Jesu.
Ich möchte Sie bitten, wenn Sie Bibeln dabei haben, Johannes 19 aufzuschlagen. Dieser Text soll heute unser Leitfaden sein. Der Blick soll vorausgehen auf das Lamm Gottes, das auf Golgatha das Heil vollbracht hat.
Johannes 19,19: Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz. Es war geschrieben: „Jesus von Nazaret, der König der Juden.“
Johannes 19,19 – das muss man sich merken, ähnlich wie Johannes 3,16. Es ist nicht leicht zu merken. Das war eine Provokation, wie man sagen würde: der Kaiser von Dingsda, der König von Durlesbach.
Die Bedeutung und Wirkung des Namens „Jesus von Nazareth“
Wenn man in der Apostelgeschichte nachschlägt, zum Beispiel in Apostelgeschichte 26, wird deutlich, was der Apostel Paulus sagt. Bei einer Bibelstunde ist es immer hilfreich, eine Bibel dabei zu haben. Dort, bei seiner Verantwortung vor Agrippa und Festus, sagt Paulus: Zwar meinte auch ich selbst, ich müsste viel tun – und zwar nicht einfach gegen Jesus, sondern gegen den Namen „Jesus von Nazareth“.
Der Name war anstößig, denn Nazareth galt als unbedeutend. Schwäbisch gesagt: Es war „hinten drummen“. Wenn heute manche Journalisten etwas Negatives über unseren ehemaligen Kanzler sagen wollen, nennen sie ihn „der Abgeordnete von Oggersheim“. Damit ist klar, wer gemeint ist, aber es klingt abwertend.
Ähnlich war es, als Napoleon besiegt war, der Herrscher Europas. Man sprach in Europa vom „kleinen Korsen“. Vorher hatte das niemand gesagt, aber nach seiner Niederlage wurde dieser Ausdruck üblich. Und als Carter nicht mehr Präsident war, nannte man ihn „den Peanutpflanzer aus den Südstaaten“. Vom Präsident Truman, falls Sie überhaupt noch wissen, wer er war – also nach Roosevelt –, sagte man „der Krawattenhändler aus dem Mittleren Westen“.
Wenn man über jemanden negativ sprechen will, erwähnt man gerne seine ganz niedere Herkunft. Es klingt dann so: „Was will der denn schon?“ So war Nazareth der Inbegriff des Verachtetwerdens. Die großen Handelsstraßen führten an Nazareth vorbei.
Sie dürfen nicht sagen, wenn Sie jetzt in Israel waren: „Ja, aber wir waren in Nazareth, einer Großstadt.“ Damals gingen die Handelsstraßen an Nazareth vorbei. Zudem lag es im verachteten Galiläa, dem Land der Heiden. Im ganzen Alten Testament wird Nazareth nicht erwähnt. Kein Wunder, dass Nathanael sagte: „Was kann denn schon Besonderes aus Nazareth kommen? Was soll da Gutes kommen?“
Es war ja auch kritisch, zynisch und lächelnd gemeint, als die Magd im Palast des Hohenpriesters sagte: „Der war auch mit dem Jesus von Nazareth. Igitt, igitt!“
Die gesellschaftliche Abwertung und der Umgang mit Nazareth
Wenn Konrad Eisler hier wäre, würde er seine schöne Geschichte, die er schon mehrfach erzählt hat, auch auf Nazareth anwenden.
Die Fabel erzählt: Da saß ein Mensch schluchzend am Wegesrand. Er weinte, die Tränen strömten. Da kam ein Engel zu ihm, legte die Hand auf seine Schulter und fragte: „Was ist denn los? Kann man dir nicht helfen?“
Der Mann antwortete: „Mir kann man nicht helfen.“
„Ach, für alles gibt es eine Hilfe“, sagte der Engel. „Ist dein Geld verloren gegangen? Hast du Not in der Familie?“
Der Mann erwiderte: „Es ist viel, viel schlimmer.“
„Ja, komm, sag es doch, was ist denn?“
„Ich komme von Nazareth.“
Der Engel sagte: „Der kann dir auch nicht helfen. Wer aus Nazareth kommt, hat schon in seiner Jugend einen Knick in der Karriere. Ein Minuspunkt in seiner Biografie. Schlimmer, als wenn jemand aus Württemberg kommt.“
Wir haben ja den dreihundertsten Geburtstag im letzten Jahr von Philipp Friedrich Hiller gefeiert. Er schreibt in seiner Lebensbeschreibung: „Man traute mir nichts Rechtes zu, weil ich einfacher Dorfpfarrer und dazu noch Schwabe war.“
Was kann aus Württemberg noch Gutes kommen?
Die bewusste Annahme des Namens „Jesus von Nazareth“ durch die ersten Christen
Warum haben die ersten Christen eigentlich nicht pausenlos korrigiert? Nein, nicht Jesus von Nazareth – Jesus, der in Bethlehem geboren wurde, wie es der Prophet Micha verheißen hat: „Du, Bethlehem, du bist zwar die geringste in Juda, aber aus dir soll mir kommen der Herr.“
Nein, das mit Nazareth war nur eine Zwischenstation, zufällig, weil in Jerusalem die Gegner dieses kleinen Jesus waren. Warum haben sie das nicht gemacht? Offen gesprochen: Jesus von Nazareth.
Schon in der ersten Predigt, die Petrus am Pfingsttag gehalten hat, sagte er: „Ihr täuscht euch, diese Männer sind hier nicht betrunken, sondern Jesus hat seinen Geist ausgegossen.“ Dabei nennt er ihn „Jesus von Nazareth“ und sagt: „Den habt ihr gekreuzigt.“ Doch Gott hat ihn erhöht und zu einem Herrn und Christus gemacht – Jesus von Nazareth.
Das war kein Ausrutscher. Zwei Kapitel später, als von dem Gelähmten berichtet wird, der als Bettler vor der schönen Tür des Tempels sitzt (Apostelgeschichte 4), sagen Petrus und Johannes: „Silber und Gold haben wir nicht, aber was wir haben, geben wir dir im Namen des Jesus von Nazareth: Steh auf und wandle!“
Sie sprechen nicht vom Messias, nicht vom in Bethlehem geborenen Davidspross, sondern im Namen des Jesus von Nazareth. Jawohl, er ist verachtet, zugegeben, aber Gott hat etwas aus ihm gemacht.
Der Nazarener als Ehrentitel und Zeichen göttlicher Erwählung
Als ich über Jesus von Nazareth, den Nazarener, nachdachte, kam mir der Gedanke, dass wir im Gespräch mit Menschen – vielleicht gerade jetzt anlässlich von Pro Christ – viel öfter vom Nazarener sprechen sollten.
Mein Leben hat Halt gefunden beim Nazarener. Wenn wir sagen „beim Herrn Jesus“, fragen viele: „Wie bitte? Wer ist das?“ Sagen wir hingegen „beim Nazarener“, reagieren sie oft mit: „Was ist das?“ Sie wissen, dass damit der Sohn Gottes gemeint ist, der in Nazareth aufgewachsen ist. Dann können wir ausholen und ausführlich sprechen, nicht wahr?
Wir predigen nicht unverlangt, aber wir sollten viel öfter diesen ungewöhnlichen Begriff verwenden – nicht „Jesus Christus“, sondern „Nazarener“. Die ersten Christen haben das betont, zum Beispiel im Namen des Jesus von Nazaret, im Namen des Nazareners. Sie riefen: „Steh auf!“
Dann kommt die Situation, in der Petrus und Johannes vor den Hohen Rat geführt werden. In Apostelgeschichte 4 heißt es: Da sitzen die Hohenpriester und das jüdische Parlament, eine religiöse und politische Versammlung. Wenn wir heute verhört würden wegen einer Wohltat an einem kranken Menschen und gefragt würden: „Durch wen ist er denn gesund geworden?“, dann soll uns und dem ganzen Volk Israel kundgetan werden: Im Namen des Jesus Christus von Nazareth, den ihr gekreuzigt habt und den Gott von den Toten auferweckt hat, steht dieser hier gesund vor euch.
Es ist kein Zufall, dass Petrus noch einmal vom Nazarener spricht – vom Jesus von Nazareth. Er fährt fort: „Dieser ist der Stein, den ihr Bauleute verworfen habt, der aber zum Eckstein geworden ist.“ Jesus wird verachtet. Ich muss euch nicht tadeln, wenn ihr verächtlich über Jesus denkt – das ist verständlich, denn er kommt aus Nazareth. Aber wichtig ist, was Gott aus ihm gemacht hat.
Schon im Alten Testament wurde angekündigt, dass dieser verachtete Stein, über den die Fachleute sagen: „Mit dem ist nichts anzufangen, den kannst du wegschmeißen“, von Gott zum Eckstein gemacht wird. Es geht weiter in Apostelgeschichte 4: „In keinem anderen ist Heil; es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir selig werden sollen.“
Wir ergänzen meist „allein der Name Jesus“. Doch hier spricht Petrus vom Nazarener, vom Jesus von Nazareth. Es gibt keinen anderen Namen, durch den Menschen gerettet werden, als Jesus von Nazareth – der Verachtete, den Gott erhöht hat.
Warum sollten wir uns für die Herkunft Jesu aus Nazareth schämen? Warum sollte uns das peinlich sein? Den ersten Christen war es nicht peinlich. Im Gegenteil: Sie hatten diesen Namen stets im Hinterkopf und haben ihn mutig verkündet.
Die biblische Tradition der Erniedrigung und Erhöhung
Das war von alters her dein Wesen, dass du dir ausgesucht hast, was arm, gebeugt und leer ist. Du hast deine Wunder mit zerbrochenen Stäben vollbracht. Du hast Hoffnung gegeben, wo keine Hoffnung war – wie bei dem greisen Abraham oder Hanna, die in den Augen ihrer Konkurrentin Penina nichts galt: kinderlos und wie ein unbestellter Garten.
Saul kam aus dem kleinsten Geschlecht Israels, aus einer unbedeutenden Familie, doch vom Herrn berufen und gesandt. David wurde von den Schafhürten weggerufen, nicht wie Eliab oder Abinadab, die groß von Gestalt waren, sondern das kleine Kind, an dessen Kleidern noch Ziegenkot klebte – ihn hat Gott auserwählt.
Hanna hat es jubelnd bekannt: Gott erhöht die Niedrigen, dort tut Gott seine Wunder. Auch Maria aus Nazareth stammte aus einer unbedeutenden Stadt. Der Engel des Herrn wurde zu einer jungen Frau in Nazareth gesandt (Lukas 1). Nazareth war weder die Vaterstadt Jesu noch die Mutterstadt.
Maria erkannte: Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Ja, das stimmt, sie war ein kleines Mädchen aus Nazareth.
In diesen Tagen, anlässlich von Pro Christ, wird oft das Lied gesungen: „Gott fragt nicht nach Rasse, Herkunft und Geschlecht.“ An Jesus von Nazareth wird deutlich, dass er nicht nach Rasse, Herkunft oder Geschlecht fragt. Im Gegenteil: An den Erniedrigten und Zukunftslosen will Gott zeigen, was er will und was er kann.
Die Erwählung des Schwachen als göttliches Prinzip
Vor einigen Wochen war die Predigthekt „Ersten Gründer eins“, in der es heißt, dass Gott das Schwache erwählt hat, damit er das, was in unserer Welt als stark gilt, zu Schanden mache. Er hat die Unweisen, die Ausgestoßenen und die Verachteten erwählt.
Ich habe große Predigtvorbereitungen zu diesem Text gemacht, weil unsere Gemeinden oft armselig wirken, nur die Mittelschicht erreichen und nur wenige ansprechen. Paulus spricht hier doch von dem schwachen Jesus, von der schwachen Maria, von Jesus von Nazareth und dann auch von der Gemeinde Jesu. Zuerst aber von dem, was schwach ist, das Gott erwählt hat, damit es das Starke zu Schanden mache.
Das kann für uns ein Trost und eine Ermutigung sein. Keiner von uns ist festgelegt durch seinen Dialekt, seine Geburt, seine Familie oder seine vermeintlich armseligen Gaben. Es mag sein, dass andere über uns lächeln. Wichtig ist jedoch, dass wir Gott zutrauen, was Martin Luther einmal einem Freund geschrieben hat, der verzweifelt war: Niemand soll den Glauben daran verlieren, dass Gott durch ihn eine große Tat tun will.
Niemand soll den Glauben daran verlieren, dass Gott durch ihn eine große Tat tun will. Gott fragt nicht nach Rasse, Herkunft oder Geschlecht. Ich kann darauf vertrauen, dass Gott durch mich eine große Tat vollbringen kann – vielleicht nicht genau das, was ich mir wünsche und erhoffe.
Gott führt uns auf besondere Wege, und wir sollten nicht stur unseren eigenen Willen durchsetzen. Er will dem Schwachen zeigen, was er vermag – allein er, der große Gott.
Beispiele aus der Kirchengeschichte: Vom Verachteten zum Werkzeug Gottes
Ich habe zuvor von Philipp Friedrich Hiller gesprochen, diesem kleinen Dorfpfarrer auf der Ostalb, dem die Sprache genommen war. Das hat er sich auch nicht gewünscht. Er hat sich gefragt: „Aus meinem Leben, das ist fast noch Bruch. Ich kann nicht mal mehr Hauskreise halten, keine häuslichen Erbauungsstunden. Ich werde nicht verstanden. Es gab keine so wunderbaren Mikrofone.“
Doch dann hat Gott aus ihm einen Lobsänger in der deutschen Sprache gemacht. Auf den tiefsten Stufen – ich auch auf den tiefsten Stufen – will ich glauben, reden, rufen, auch wenn ich noch Pilger bin: Jesus Christus, Herr, Steilskönig. Ein Lobsänger des Herrn Jesus. Gott erhöht und erniedrigt, und so ist es auch bei dem Nazarener gewesen.
Jetzt wollen wir, weil es zum Thema passt, vom Lied 172 singen: „Für mich gingst du nach Golgatha“, die drei Strophen. „Für mich hast du das Kreuz getragen.“
Was ursprünglich als Provokation gedacht war – als Lächerlichmachen Jesu, des Mannes von Nazareth, des Nazarener – haben die ersten Christen bewusst als Ehrentitel Jesu übernommen. Ja, der Jesus von Nazareth, den ihr verachtet, den hat Gott zu einem Herrn und Christus gemacht.
Jesu Auftreten in Nazareth und seine prophetische Rolle
Es geht bis hinein in einzelne Berichte des Neuen Testaments, wie das Auftreten Jesu in seiner Heimatstadt Nazareth, das in Lukas 4 geschildert wird. Dort schreibt Lukas, dass bereits damals deutlich wurde, dass Jesus nicht nur der Nazarener war, nicht nur der Zimmermann aus der Gasse, sondern als Prophet angesehen wurde. Die Leute von Nazareth hatten ihn ausgestoßen.
Jesus sagte: „Kein Prophet ist angenehm in seiner Heimat.“ Es ist ähnlich wie bei Mose, der ebenfalls von Israel ausgestoßen wurde. Seine Landsleute sagten, dass Gott ihn als Aufseher über sie gesetzt hatte, doch selbst Mirjam und Aaron waren gegen ihn. Jeremia wurde von den Leuten von Anatot ausgestoßen.
Wir ersten Christen haben gesagt: Ja, Nazarener, Jesus von Nazareth, da ist klar geworden, dass er in die große Reihe der Propheten gehört. Noch mehr: Er ist der große von Mose angekündigte Prophet. „Ein Prophet nach mir wird kommen, den sollt ihr hören.“
Die Bedeutung des Namens „Nazarener“ im Hebräischen und alttestamentliche Verbindungen
Es gab noch einen weiteren Grund, neben der Aussage, dass es zum Wesen Gottes gehört, die Niedrigen zu erhöhen. Deshalb sprechen wir vom Nazarener Jesus. Dieser andere Grund wird besonders deutlich, wenn man die frommen Rabbinen Israels betrachtet, die uns dabei geholfen haben, das besser zu verstehen.
Im Hebräischen gibt es ein Wort, das häufig vorkommt: Netzer. Es bedeutet Spross, Zweig, Wurzelstock oder Schössling. Die Hebräer denken dabei immer auch an den Klang des Wortes und suchen nach einer verborgenen Verbindung. Denn der in Nazaret Aufgewachsene – das ist doch der Netzer, der Spross, von dem im Alten Testament immer wieder erzählt wird.
Darf ich Sie bitten, wenn Sie die Bibel zur Hand haben, Jesaja 11 aufzuschlagen? Dort finden Sie eine große Stelle, die wir oft in der Passionszeit hören: Jesaja 11.
Dort heißt es: „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais, und ein Zweig wird aus seiner Wurzel Frucht bringen.“
Das Weihnachtslied „Das Röslein, das ich meine“, auf das sich Jesaja bezieht, meint natürlich nicht das „Röslein“ im Sinne von „Sah ein Knab ein Röslein stehen“. Ursprünglich hieß es „das Reislein, das ich meine“, also das kleine Reis, der Spross. Das Lied wurde im Laufe der Zeit verballhornt, auch wenn die Melodie sehr schön ist.
Wir sollten aber immer vom Reis, vom Spross, vom Schössling sprechen, von dem Jesaja spricht. In Jesaja 11 heißt es: „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, auf diesem Netzer, auf diesem Nazarethmann. Der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.“
Jesu Anspruch als Erfüllung der Jesaja-Verheißung
Jetzt machen sie einen großen Sprung. In Lukas 4 wird dem Herrn Jesus die Rolle aus Jesaja gereicht. Er schlägt nicht auf, was aufgeschlagen ist, sondern dreht die Rolle weiter, bis er bei Jesaja 61 ankommt. Dort steht geschrieben: „Auf mir ruht der Geist des Herrn.“
Sehen Sie, das ist der Anspruch: „Ich bin der, von dem Jesaja elf gesprochen hat.“ So armselig ich auch aussehe, werden sie später sagen: „Das ist der Zimmermannssohn, der hat seine Brüder und Schwestern bei uns. Die kennen wir doch.“ Wie sie da hinten über die Fensterscheibe eingeschmissen haben und so weiter. Ganz normal, das sind doch Nachbarskinder. Was will der besonders sein?
„Auf mir ruht der Geist der Stärke und der Weisheit und des Verstandes, des Planes Gottes.“ Die ganze Fülle des Gottesgeistes ist mir anvertraut, mir, dem kleinen Schössling, dem Reis, dem Netzer, der aufgeht aus dem Stamm Isais.
Das Bild des Schösslingwachstums als Hoffnungssymbol
Im Jahr 1945, ich habe das noch sehr bewusst miterlebt, war ich vierzehn Jahre alt. In all unseren württembergischen Dörfern wurden Panzersperren gebaut, um die anrückenden französischen oder amerikanischen Panzer aufzuhalten. Doch oft reichte das nicht mehr aus, weil der Vormarsch der feindlichen Armee zu schnell war.
Ich habe das dann an der Uracher Steige, in der Neuvener Steige und in der Beurener Steige erlebt. Dort hat der Volkssturm die schönen Chausseebäume – die jungen Leute wissen heute gar nicht mehr, was Chausseebäume sind: Bäume am Straßenrand – auf etwa einem Meter Höhe gekappt. So sollte man schnell handeln können. Die umgefallenen Bäume wurden auf die Straße gelegt und so verkeilt, dass sie zwischen den zwei Baumstämmen festsaßen, um die Panzer am schnellen Vorrücken zu hindern.
Die Menschen hatten keine Ahnung, welche Leistung ein amerikanischer Panzer erbringt. Er schob die Hindernisse einfach beiseite. Es war kein Wunder, dass die Sperren so leicht überwunden wurden.
Etwa ein Jahr später, im Frühjahr, wuchsen aus all den radikal und gemein abgeschnittenen Baumstümpfen Schösslinge. Diese neue Lebenskraft aus den Baumstümpfen zeigte sich in zarten, aber emporstrebenden Trieben. Dieses Bild habe ich immer vor Augen, wenn hier gesagt wird, dass ein Reis aus dem gefällten, scheinbar toten Stamm des Königshauses Davids hervorgehen wird.
Es scheint, als sei das Haus Davids am Ende. Doch jetzt wird ein zarter Spross, ein Schössling, ein Reis emporwachsen.
Schiller hat einmal gesagt: Die Christen haben lange nicht begriffen, dass das schon im Begriff „Nazarener“ – der Näzer – enthalten ist.
Irrtümer und richtige Deutung des Begriffs „Nazarener“
Ich habe einst in Bethel studiert, bei dem hochverehrten Professor Gerhard Friedrich, der das kindliche Wörterbuch vollständig herausgegeben hat. Als wir an die Stelle kamen, Matthäus 2, wo Joseph das Kind und seine Mutter nahm und nach Nazaret zog, um das Wort zu erfüllen, das da heißt: „Er soll Nazarea heißen“, sagte der sehr gelehrte und liebe Professor Dietrich: Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass Jesus ein Naziräer sein sollte, wie im Richterbuch etwa vom Simson erzählt wird.
Simson war ein Gottgeweihter, ein Naziräer. Er durfte keinen Wein oder starkes Getränk trinken. Wir haben fröhlich mitgeschrieben und haben es auch noch geglaubt. Dabei, wenn wir die Bibel besser gekannt hätten, hätten wir protestieren müssen: Jesus hat auch Wein getrunken. Der Vorwurf seiner Zeitgenossen an Johannes war: „Der isst und trinkt nicht.“ Aber Jesus wurde als Fresser und Weinsäufer bezeichnet.
Jesus wusste sogar, was passiert, wenn man frischen Wein in alte Schläuche tut. Er kannte sich mit Wein aus, etwa bei der Hochzeit von Kana oder beim Abendmahl. Dort hat er nicht gesagt, es sei bloß unvergorener Traubensaft oder Wein. Nein, das ist die falsche Linie und hat mit dem Naziräer überhaupt nichts zu tun.
Aber die Rabbinen haben uns gesagt: „Da ist doch der Punkt, auf den wir hoffen.“ Im frommen Israel war das sogar der Fachterminus für den Messias. Auf der einen Seite scheint er ein unansehnlicher Schössling oder ein Einspruss zu sein. Doch in ihm ist der Plan Gottes, und auf ihm ruht der Geist Gottes.
Jesaja 53 und die Verachtung des Messias
Im großen Kapitel Jesaja 53, in dem vom Allerverachtetsten und Unwertesten gesprochen wird, finden wir in Vers 2 die Beschreibung: „Er schoss auf vor ihm wie ein Reis, wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Hoheit.“
Wir sahen ihn, doch da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste.
Doch in den Versen 10 und 11 heißt es weiter, dass Gottes Plan durch ihn weitergehen wird. Durch diesen Reis, durch diesen Sprössling, durch diesen Netzer.
Verstehen Sie, warum die ersten Christen lieber von Nazareth als von Bethlehem sprachen? Damit dauernd ein Rippenstoß gegeben wird. Schon von seinem Heimatort aus, in dem er aufgewachsen ist, zeigt sich, dass Gott große Pläne mit ihm hat.
Ihr könnt lachen, so lange ihr wollt über Jesus. Ihr könnt spotten, wie Pilatus es tat. Ihr könnt denken, was ihr wollt, ihr könnt ihn auslachen. Doch Gott hat mit dem Nazarener große Pläne.
Herrlich, Pilatus, dass du schon ans Kreuz schreibst, er komme von Nazareth. Er ist der Netzer, der Spross, der wunderbar Gottes Plan zur Erfüllung bringt.
Die biblische Geschichte von Wachstum und Errettung trotz scheinbarer Hoffnungslosigkeit
Es hat in Israel immer wieder Wunder gegeben, wie zum Beispiel das Ausschlagen des Stabes Aarons. Dies geschah, als die Frage aufkam, ob Aaron überhaupt eine Bedeutung hat.
Ein ähnliches Wunder erlebte Joseph, der von seinen Brüdern verstoßen und als Gefangener in die Sklaverei gebracht wurde. Er bekennt: Gott hat mich wachsen lassen im Land des Elends. Es war ein Wunder, dass dort etwas wachsen konnte.
Dieses Geschehen wird durch die Worte des Propheten Jesaja bestätigt. Er sah Israel, das von Gott sogar im Gericht verworfen wurde, und beschreibt es so: Wenn man noch Saft in der Traube findet, soll man sie nicht verderben, denn es ist ein Segen darin. Jesaja sagt: Ich will Jakobs Nachkommen wachsen lassen.
Auch zur Zeit Hiskias, als dieser sagte: „Mein Reich ist ja bloß noch wie ein Häuschen im Gurkenfeld, wie ein Weinberghäuschen, das ist alles, was übrig geblieben ist“, ließ Gott ihm ausrichten, dass das, was vom Haus Juda errettet ist, von neuem Wurzeln schlagen und Frucht tragen wird.
So zeigt sich immer wieder dieses Wachsen, dieses Unerklärliche: Gott will etwas wachsen lassen und neue Frucht bringen, auch dort, wo keinerlei Hoffnung mehr war.
Wenn man die Offenbarung betrachtet, fällt auf, wie oft dort von der Wurzel Davids die Rede ist. Der Apostel Paulus sagt in einem bedeutenden Kapitel über Israel: Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais. Auf ihn werden die Heiden hoffen.
Geistliches Wachstum als Lebensaufgabe
Was lernen wir daraus? Vielleicht haben sie jetzt nicht alles mitbekommen. Wenn schon Jesus der leicht verletzliche Spross war, der aber gewachsen ist, dann kommt es auch bei uns, die wir doch seine Leute sein wollen, nicht so sehr darauf an, wie uns andere Leute einschätzen. Vielmehr geht es darum, dass wir wachsen.
Von dem Nazarener ist gesagt worden, dass er, als er in seiner Mutter- oder Vaterstadt Nazareth war, nicht nur an Alter zunahm – was wir alle tun –, sondern auch an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen. Je älter ich werde, desto mehr denke ich, dass ich früher nicht begriffen habe, dass auch 70-Jährige noch einen Anstoß, schwäbisch gesagt einen „Sugar“, im Glauben brauchen.
Wir können doch nicht einfach sagen: Jetzt habe ich das meiste erreicht, und jetzt lassen wir es bleiben und „leppert“ (schwäbisch gesagt) bis zum Tod! Wir sollen wachsen! Das Geheimnis des Wachstums ist, dass wir geistlich wachsen und ausreifen.
Wie das alte Israel, das von Gott beinahe verworfen wurde, will Gott dafür sorgen, dass noch einmal Wurzel schlägt und Frucht bringt. Gott will, dass Wachstum geschieht, und er will, dass wir darauf achten. Am Anfang wird das Glaubensleben ein sehr verletzliches Pflänzchen sein. Schon dieser Trieb aus dem Stamm Isaias steht verletzlich da.
Denken Sie daran: Unsere Straßenbauämter machen um neu gesetzte Pflanzen einen ganz geschützten Zaun, damit nicht die Rehe oder andere Tiere die jungen Bäumchen abknabbern und verletzen. Ihr von der Bibelschule braucht noch einen Schutzraum. Es gibt so viel, was euch verletzen könnte.
Denkt nicht, ach, jetzt werden wir aber arg behütet. Nein, wir brauchen im Glaubensleben einen Schutzraum. Wir können uns nicht alles erlauben, wenn es zum Wachsen kommen soll. Wenn keine Verletzung da sein darf, wird kein Wachstum stattfinden.
Auch das wollen wir lernen: Scheinbar hoffnungslose Situationen sind für Gott keineswegs hoffnungslos. Er will gerade dort zeigen, was er tun kann.
Beispiel Eduard Wüst: Von Verachtung zu segensreichem Wirken
Im letzten Jahr durften wir nach Russland reisen, in das Schwarzmeergebiet. Dort ist mir die Geschichte von Pfarrer Eduard Wüst begegnet. Er wurde im letzten Jahrhundert, vor etwa 150 Jahren, in Württemberg aus dem Pfarramt gedrängt.
Man warf ihm viele Vorwürfe vor: Er spielte mit den Kindern auf der Straße, ließ sich zu den Leuten einladen und aß mit ihnen. Man behauptete, er halte nicht die richtige Distanz als Pfarrer. Doch tatsächlich hatten sie einen tiefen Hass auf seine Verkündigung, die auf Erweckung zielte. Im Kirchenregiment wurde er gehasst, weil er Kontakt mit dem Prediger Müller von den Methodisten in Winnenden hielt.
All dies war nur ein Vorwand, um ihn aus der Kirche zu entfernen. In dieser Zeit erhielt Bürgermeister Hoffmann von Korntal einen Ruf von einer Schwarzmeer-Gemeinde, Neu Hoffnungsthal. Sie suchten einen Pfarrer und fragten, ob er jemanden vermitteln könne. Hoffmann sagte, Eduard Wüst sei genau der Richtige für diese Gemeinde, und so wurde er nach Russland geschickt. Die Reise dauerte acht Wochen und war sehr mühsam.
Anfangs gab es viele Gruppen, die sagten, er sei ihnen viel zu fromm. Doch Gott schenkte diesem verachteten Eduard Wüst, der in Württemberg aus seinem Amt gedrängt worden war, die Möglichkeit, Hausandachten in Neuhoffnungsthal einzurichten. Dies geschah 1843, und die Andachten wurden bald von Nachbargemeinden übernommen. Plötzlich entstand eine christliche Sitte, die sogenannte „Stunde“. Diese verbreitete sich und erhielt Ableger bei den Russen und Ukrainern. So entstanden unter ehemals orthodoxen Russen und Ukrainern die Stundisten.
In Neuhoffnungsthal entwickelte sich auch ein Missionsfest, das sich nach Rohrbach ausbreitete. Eduard Wüst konnte jedoch nicht einmal zehn Jahre wirken. Dennoch hat Gott aus diesem Verachteten etwas Großes gemacht.
Niemand soll die Hoffnung aufgeben, dass Gott durch ihn eine große Tat vollbringen will.
Persönliche Ermutigung aus der Geschichte Johann Albrecht Bengels
Johann Albrecht Bengel, ein großer geistlicher Vater unseres Landes, erzählt von seiner Jugendzeit. Er war als Schüler in Schörndorf und sagt: „Ich wuchs heran, so unbeachtet wie ein Blümlein aus der Mauer. So ein kleines Leberblümlein oder was das ist, so bin ich hier herangewachsen.“
Aber Gott hatte Pläne mit ihm. Alles sind Nachwirkungen des großen Nezers, des verachteten Mannes von Nazareth, aus dem Gott etwas gemacht hat. Seine Leute, die zu ihm halten wollen, werden ähnliche Wunder erleben. Die scheinbare Hoffnungslosigkeit gehört zur Sache Jesu, weil Gott genau dann zeigen will, was er kann.
Deshalb soll niemand sagen: Ich kann nichts, mit mir ist nicht viel los. Es war immer die Erfahrung des Volkes Gottes, dass Gott dann Großes tun kann und tun will. So heißt es bei Jesaja: Das wird unter Eifer des Herrn Zebaot geschehen. Da will Gott seinen ganzen Stolz hineinlegen und zeigen, was er kann.
Bei einem ausgestoßenen Mose, bei einem alt gewordenen Abraham, beim Volk Israel, das ausgesehen hat, als wäre es auf dem absteigenden Ast, hat Gott diesen absteigenden Ast zum aufsteigenden Stamm gemacht: Gideon, Hiskia, David.
Aber das Verlässlichkeitssiegel hat dieses Programm Gottes, dass er die Niedrigen erhöht. Das wird in dem Nazarener Jesus deutlich. Das ist mein Wesen.
Die Bedeutung von Wachstum in der Gemeinde und im Glaubensleben
Wir sollten deshalb nicht unsere Vorstellungen von Erweckung zum Idealbild machen. Oft denken wir dabei an Tausende, die plötzlich für Jesus aufstehen. Doch was Gott tun kann, ist etwas ganz anderes. Gott erweckt und lässt wachsen, um seine Wunder zu wirken.
Für uns ist es jetzt wichtig, das habe ich als bald Siebzigjähriger mitgenommen: Herr, lass es bei mir noch einmal zum Wachsen kommen. Es heißt nicht nur vom jungen Nazarener, dass er an Alter, Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen zunahm. Auch bei mir soll die Gnade Gottes groß, lebendig und stark werden – sowohl im Verhältnis zu Gott als auch zu den Menschen.
Schlussgebet und Bitte um geistliche Kraft
Ich darf mit Ihnen beten.
Du großer Nazarener Jesus, du hast die Enge deiner Heimat gesprengt und ihr die Würde gegeben. An dieser Stadt wird deutlich, was dein Vater im Himmel tun kann – auch mit uns, die wir zu dir, dem Nazarener, gehören wollen.
Schaffe in uns neues Leben, damit wir uns stets zu dir erheben, wenn uns der Mut entfallen will. Lass uns teilhaben an dem Geist der Kraft, der Weisheit und der Stärke, den du hast und den du seit dem ersten Pfingsttag, du großer König von Nazaret, den deinen geben willst.
Berufe du uns neu, nimm uns alle Ängstlichkeit und lass uns froh werden, dass der Vater uns an dir sein Programm demonstriert hat: aus der Enge in die Weite, aus der Tiefe in die Höhe.
Führe der Heil an seine Leute, damit man deine Wunder sehe. Amen.