
Studienreihe über biblische Lehren von Doktor Martin Lloyd-Jones
Band zwei: Gott der Sohn
Kapitel zwölf: Zwei Naturen in der einen göttlichen Person
Im letzten Vortrag betrachteten wir verschiedene Texte über die Person unseres Herrn Jesus Christus. Einige dieser Texte bezeugen eindeutig seine Gottheit, andere ebenso eindeutig seine Menschheit.
Bevor wir jedoch zur eigentlichen Lehre über die Person und die Naturen Christi übergehen, gibt es noch einen weiteren wichtigen Beleg. Die Heilige Schrift lehrt nachdrücklich, dass Jesus sich seinem Vater untergeordnet hat.
Wir werden uns diesen Beweis nicht im Detail ansehen. Darum gebe ich Ihnen einfach einzelne Stichworte, und Sie können die angeführten Bibelstellen selbst nachschlagen.
Erstens sagte er konkret, dass sein Vater oder der Vater größer sei als er selbst: „Der Vater ist größer als ich“ (Johannes 14,28).
Zweitens wird er beschrieben als „vom Vater geboren“, denn „so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab“ (Johannes 3,16). „Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt“ – wie oft wird das in der Heiligen Schrift wiederholt, zum Beispiel in Psalm 2,7 oder Hebräer 1,5.
Drittens teilte er uns mit, dass er wegen des Vaters oder durch den Vater lebte. „Der Vater, von dem alles Leben kommt, hat mich gesandt, und ich lebe durch ihn. So wird auch der, der mich isst, durch mich leben“ (Johannes 6,57, nach der Guten-Nachricht-Bibel). Diese Aussage ist äußerst wichtig.
Viertens sagte er, dass er vom Vater gesandt worden war. Dafür gibt es unzählige Beispiele. So sagte unser Herr in Johannes 6,39: „Es ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich von allem, was er mir gegeben hat, nichts verliere.“ Oder in Johannes 8,29 sagt er abermals: „Der mich gesandt hat, ist mit mir.“ Das hat er ständig wiederholt.
Fünftens sagte er, dass er ein Gebot vom Vater empfangen hat über das, was er tun soll. In Johannes 14,31 und ebenso in Johannes 10,18 heißt es: „Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen.“
In derselben Weise, sechstens, sagte er, dass er all seine Autorität vom Vater empfangen hat. „Denn wie der Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich selbst, und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist.“ Dies alles weist, wie Sie sehen, darauf hin, dass er sich dem Vater unterordnete.
Siebtens sagte er, dass er unabhängig vom Vater nichts tun kann. Er konnte nichts von sich aus tun. So lesen wir zum Beispiel in Johannes 5,19: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, der Sohn kann nichts von sich selbst tun, außer was er den Vater tun sieht; denn was der tut, das tut ebenso auch der Sohn.“ Das ist eine weitere sehr bedeutsame Aussage über seine Abhängigkeit vom Vater und über seine Unterordnung unter dem Vater.
In der Tat sagte er, achtens, dass er seine Botschaft vom Vater erhalten hat. Er sagte: „Was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt“ (Johannes 8,26) und fuhr in Vers 28 fort zu sagen: „Ich tue nichts von mir selbst, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich.“ Seine Worte wurden ihm von seinem Vater gegeben.
All dies nun sind Hinweise auf die Unterordnung des Herrn Jesus Christus unter seinen Vater. Aber lassen Sie mich Folgendes betonen: Sie werden feststellen, dass sich jeder dieser Hinweise nur auf den fleischgewordenen Herrn bezieht. Keiner bezieht sich in irgendeiner Weise auf ihn vor seiner Geburt, vor seiner Fleischwerdung. Es handelt sich um keine Beschreibungen des präexistenten Wortes Gottes. Das ist eine äußerst wichtige Unterscheidung.
Nachdem wir nun unsere Beweise gesammelt haben, müssen wir die Lehre über die Person Christi formulieren. Die Bibel sagt, dass Christus wahrer Gott war, aber ebenso wahrer Mensch. Dabei müssen wir äußerst achtsam sein und auf beiden Aspekten bestehen – und zwar auf die richtige Weise.
Wenn wir uns mit dieser großartigen Lehre beschäftigen, müssen wir stets darauf achten, uns selbst gegen bestimmte Gefahren zu schützen. Wer ein wenig mit Kirchengeschichte vertraut ist, weiß, dass die Christen der ersten drei bis vier Jahrhunderte viel Zeit damit verbrachten, über die Lehre von der Person des Herrn Jesus Christus zu debattieren.
Alle Arten von Irrlehren kamen ins Spiel. Sehr aufrichtige und ernsthafte Menschen begannen, im Versuch, diese erstaunliche Lehre zu verstehen, Dinge zu lehren, die eindeutig falsch waren. Deshalb wurden mehrere Kirchenkonzile einberufen, um diese Fehler zu korrigieren und die Lehre zu definieren.
Aus diesem Grund sage ich noch einmal, dass jeder Christ, der behauptet, keine Zeit für solche Dinge zu haben, nicht nur eine schreckliche Unwissenheit zeigt, sondern etwas tut, das höchst gefährlich ist. Irrlehrer waren in der Regel sehr aufrichtige Menschen, und die meisten von ihnen waren sicherlich sehr fromm.
Mehr noch, das Neue Testament selbst warnt uns vor Irrlehre, vor den verschiedenen Antichristen und dem, was sie lehren. Deshalb müssen wir auf diese Dinge achten.
Lassen Sie mich deshalb versuchen, die besonderen Gefahren, die wir vermeiden müssen, aufzulisten.
Die erste Gefahr besteht darin, die Wirklichkeit seiner göttlichen Natur zu leugnen. Diese Gefahr gehört zu einem ganzen Knäuel von Irrtümern, die von denen verbreitet werden, die lehren, dass Christus nur Mensch war. In der frühen christlichen Gemeinde gab es viele solche Gruppen; heute kennen wir beispielsweise die Unitarier. Die Menschen, die diesem Irrtum erlagen, taten dies, weil sie sehr darauf bedacht waren, die Lehre des Monotheismus zu schützen – den Glauben, dass es nur einen Gott gibt.
Beim Versuch, einen Polytheismus, also Vielgötterei, zu vermeiden, verfielen sie ins Extrem und leugneten die Gottheit des Herrn Jesus Christus. Das ist Häresie, eine Irrlehre. Eigentlich ist die einzige Absicht, die hinter dem Johannesevangelium steht, die, diesen einen Irrtum zu widerlegen. Johannes selbst bringt dies ganz deutlich zum Ausdruck. Sein Ziel beim Schreiben des Evangeliums war es, dass wir erkennen sollen, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes (Johannes 20,31). Das ist eine unmissverständliche Behauptung seiner Gottheit.
Die zweite Kategorie von Irrtümern hingegen verfällt in das entgegengesetzte Extrem. Hier wird die Wirklichkeit seiner menschlichen Natur geleugnet. Viele Leute lehrten und lehren noch immer, dass Jesus nur ein Mensch gewesen sei, aber dass der ewige Christus bei seiner Taufe über ihn gekommen sei, in ihm geblieben sei und durch ihn gewirkt habe – bis unmittelbar vor seiner Kreuzigung. Danach habe er ihn verlassen, so dass nur der menschliche Jesus starb.
Es hat alle Arten von Verfeinerungen dieser Lehre gegeben, mit denen wir uns nicht aufhalten müssen. Aber das Prinzipielle dieser Lehre müssen wir betonen: Alle Verfeinerungen dieser Lehre sind eine Leugnung der wahren menschlichen Natur des Sohnes Gottes. Sie lehren, dass er einen Phantomkörper gehabt habe, und sie nehmen eine Unterscheidung zwischen dem ewigen Christus und dem menschlichen Jesus vor.
Der erste Johannesbrief wurde speziell aus diesem Grund geschrieben, um diesem Irrtum zu begegnen. Johannes sagt, dass der Heilige Geist folgendermaßen erkannt wird: Jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott. Jeder Geist aber, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott, und dies ist der Geist des Antichrists (1. Johannes 4,2-3). Wir müssen also auf der Wirklichkeit der menschlichen Natur ebenso wie der der göttlichen Natur bestehen.
Die dritte Kategorie von Irrtümern und Irrlehren leugnet die Integrität der Naturen, der menschlichen und der göttlichen. Sie haben vielleicht vom Arianismus gehört, der in der frühen Gemeinde viele Schwierigkeiten verursachte. Der Irrtum der Arianer lag darin, dass sie die Wirklichkeit seiner göttlichen Natur abstritten. Sie sagten, dass dieser Logos, dieser Christus, das erste und höchste aller geschaffenen Geschöpfe gewesen sei.
Er sei nicht Gott gewesen, aber auch kein Mensch. Er sei etwas dazwischen gewesen: das erste und höchste aller geschaffenen Wesen, das Gott jemals gebildet hat.
Die letzte Gruppe der falschen Lehren hinsichtlich seiner Person bilden die Leugnungen der Einheit seiner Person. Dies ist allgemein als die nestorianische Irrlehre bekannt. Die Nestorianer sagten nicht, dass er eine Person mit zwei Naturen gewesen sei, sondern dass er zwei Personen gewesen sei. Sie sagten, er sei Gott und Mensch, ein persönlicher Gott und ein persönlicher Mensch.
Sie waren so sehr darauf bedacht, beide Aspekte zu betonen, dass sie zu weit gingen und behaupteten, er sei zwei Personen gewesen – eine göttliche und eine menschliche – anstatt zu sagen, dass er eine Person mit einer göttlichen und einer menschlichen Natur gewesen sei.
Entgegen all diesen Irrtümern behaupten wir, dass die Bibel lehrt, dass Jesus eine göttliche Person ist, die zwei Naturen hat. An dieser Stelle kann ich nichts Besseres tun, als Ihnen die berühmte Erklärung des Konzils von Chalcedon aus dem Jahr 451 vorzulesen.
Diese Lehre wurde über Jahrhunderte hinweg intensiv diskutiert. Man kam auf Konzilien und Konferenzen zusammen und gab schließlich diese bedeutende, umfassende Erklärung ab. Sie ist weniger eine Definition als vielmehr eine Erklärung darüber, was wahr beziehungsweise nicht wahr ist.
Folgendes wurde auf dem Konzil von Chalcedon formuliert:
„Folgend also den Heiligen Vätern lehren wir alle einstimmig, dass der Sohn, unser Herr Jesus Christus, ein und derselbe sei, der eine und selbe ist, vollkommen der Gottheit und vollkommen der Menschheit nach, wahrer Gott und wahrer Mensch, bestehend aus einer vernünftigen Seele und dem Leibe.
Der eine und selbe ist wesensgleich dem Vater der Gottheit nach und wesensgleich auch uns seiner Menschheit nach. Er ist uns in allem ähnlich geworden, die Sünde ausgenommen.
Vor aller Zeit wurde er aus dem Vater gezeugt, seiner Gottheit nach, in den letzten Tagen aber wurde derselbe für uns um unseres Heils willen aus Maria, der Jungfrau, der Gottesgebärerin, der Menschheit nach geboren.
Wir bekennen einen und denselben Christus, den Sohn, den Herrn, den einziggeborenen, der in zwei Naturen, unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert besteht.
Niemals wird der Unterschied der Naturen wegen der Einigung aufgehoben. Es wird vielmehr die Eigentümlichkeit jeder Natur bewahrt, indem beide in eine Person und Hypostase zusammenkommen.
Wir bekennen nicht ein in zwei Personen getrennt und zerrissen, sondern einen und denselben einzig geborenen Sohn, das göttliche Wort, den Herrn Jesus Christus.“
Was für eine herrliche, was für eine großartige Erklärung! Diese Erklärung behandelt quasi all die Irrtümer und Irrlehren, die ich Ihnen aufgezählt habe, und legt diese bedeutenden Lehrsätze fest.
Das also ist die Erklärung des Konzils von Chalcedon aus dem Jahr 451. Besorgen Sie sich diese Erklärung und lesen Sie sie selbst.
Beachten Sie folgende Betonung: Eine Person, zwei Naturen. Die zwei Naturen sind unvermischt, miteinander verbunden, aber nicht vermischt, nicht verschmolzen, nicht vermengt, sondern einzeln bleibend – Gott und Mensch.
Aber warum ist es so wesentlich, dass wir auf diesen beiden Naturen bestehen? Warum hat die frühe Kirche so darum gekämpft, und warum müssen wir das auch tun?
Wir müssen auf der Menschheit Jesu bestehen, weil seit dem Sündenfall des Menschen die Strafe in der Natur des Menschen erlitten werden muss. Niemand kann die Strafe für die Sünden des Menschen tragen, außer jemand, der selbst Mensch ist. Das ist die einzige Möglichkeit, den Menschen zu erlösen. Zudem sind mit dem Abbüßen der Strafe Schmerzen des Körpers und der Seele verbunden, die allein ein Mensch erleiden kann. Gott kann solche Schmerzen nicht erleiden.
„Meine Seele ist sehr betrübt bis zum Tod“, sagte unser Herr im Garten (Markus 14,34). Das Leiden, das damit verbunden war, muss den Körper und die Seele einschließen. Also musste es ein Mensch sein.
Außerdem muss er ein mitfühlender Hoherpriester sein, argumentiert der Schreiber des Hebräerbriefes. Er kann nur dann ein mitfühlender Hoherpriester sein, wenn er eine menschliche Natur hat, indem er „in allem in gleicher Weise wie wir versucht worden ist, doch ohne Sünde“ (Hebräer 4,15). Weil er uns gleich ist, kann er mit uns leiden. Er versteht uns, kennt unsere Gefühle und unsere Schwäche.
„Wir haben einen Hohepriester, der Mitleid hat mit unseren Schwachheiten“ (gleicher Vers). Er erkennt uns in diesem Sinne, weil er eine menschliche Natur hat.
Aber es ist ebenso nötig, dass wir auf der Gottheit oder der göttlichen Natur bestehen, und zwar aus einem bedeutenden Grund: Damit sein Opfer einen ewigen Wert haben konnte, musste er ebenso Gott wie Mensch sein.
Oder ich könnte es auch so ausdrücken: Damit Christus Gott einen vollkommenen Gehorsam darbringen konnte – ohne Versagen und ohne die Möglichkeit eines Versagens –, musste er Gott sein.
Adam war vollkommen, aber er fiel. Gott machte ihn vollkommen nach seinem eigenen Ebenbild und sich ähnlich, doch Adam fiel.
Um also eine vollkommene Befolgung des Gesetzes zu garantieren, mit dem Ziel, den Zorn Gottes erlösend zu tragen und uns von dem Fluch des Gesetzes zu befreien, ohne die Angst zu versagen, war es entscheidend wichtig, dass die Gottheit sich mit der Menschheit verband.
Nachdem wir dies alles festgestellt haben, sollten wir versuchen, die Lehre von der Person Christi auf den Punkt zu bringen und das Geheimnis seiner Person zu ergründen.
Wir haben außergewöhnliche Dinge gesagt, die wir aus der Bibel ableiten müssen. Dabei haben wir große Erklärungen über seine Gottheit, seine Menschlichkeit und die zwei Naturen in der einen Person gegeben. Menschen fragen oft: Wie ist das möglich?
Ich möchte ganz klar sagen, dass ich nicht vorgebe, eine angemessene oder vollständige Erklärung dafür liefern zu können. Niemand kann das. Wir stehen vor dem Geheimnis der Gottseligkeit (1. Timotheus 3,16). Es ist zu hoch für uns, es liegt jenseits menschlicher Vernunft und unseres Verstehens.
Wie wir bereits im Zusammenhang mit der Trinitätslehre und vielen anderen Lehren gesagt haben, steht es uns nicht zu, diese Lehre vollständig zu verstehen. Unsere Verantwortung ist es, uns der Bibel zu unterwerfen.
Lassen Sie mich diese Lehre nun mit den Worten der Schrift ausdrücken. Es besteht kein Zweifel, dass die hilfreichste Bibelstelle zu dieser Thematik Philipper 2, Verse 5-8 ist. Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war, der in Gestalt Gottes war und es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein. Aber er machte sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist. Und der Gestalt nach, wie ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz.
Dieser Abschnitt ist oft missverstanden worden. Ich habe oft den Eindruck gewonnen, dass Menschen mit diesem Abschnitt Schwierigkeiten haben, weil sie den Zusammenhang vergessen haben. Der Abschnitt beginnt: „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war.“ Und der Kontext ist: Ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern ein jeder auch auf das der anderen. Paulus hat hier nicht vor, eine Lehre über die Person Christi zu entfalten. Er äußert sich zu einer praktischen Verhaltensfrage.
Was also sagt er? Nun, nehmen Sie dieses Wort „Gestalt“, der in der Gestalt Gottes war – was heißt das? Gestalt ist die Gesamtsumme der Eigenschaften, die eine Sache zu dem machen, was sie ist. Nehmen Sie zum Beispiel ein Stück Metall. Dieses Stück Metall kann entweder ein Schwert oder eine Pflugschar sein, obwohl es dasselbe Metall ist. Und wenn ich von der Gestalt eines Schwertes spreche, dann meine ich das, was dieses Metallstück eher zu einem Schwert als zu einer Pflugschar macht. Wenn ich also das Schwert nehme, es einschmelze und daraus eine Pflugschar mache, habe ich seine Gestalt geändert. Das ist ein äußerst wichtiger Punkt.
Dann haben wir dieses Wort „war der in der Gestalt Gottes war“. Das bedeutet, dass er bereits in der Gestalt Gottes war, bevor er in diese Welt kam. Er war immer Gott. Das ist die Behauptung, die hier gemacht wird. Dann betrachten Sie den Satz: „Er achtete es nicht wie einen Raub, Gott gleich zu sein.“ Andere Übersetzungen sind besser: „Sah er doch das Gleichsein mit Gott nicht als einen gewaltsam festzuhaltenden Raub an.“ Nein, das tat er nicht. Er hielt an dieser Gestalt der Gottheit nicht fest, an dieser Gleichheit mit Gott, die er hatte.
Aber was tat er dann? Nun, stattdessen machte er sich selbst zu nichts, er entleerte sich nicht von irgendetwas, sondern er nahm Knechtsgestalt an. Was der Apostel sagt, könnte man folgendermaßen wiedergeben: Ihr Philipper sollt tun, was er getan hat. Ihr habt nur eure eigenen Sachen im Kopf, jeder achtet nur auf sich und nicht auf den anderen. Ihr solltet sehr dankbar sein, dass der Sohn Gottes nicht genau so dachte und handelte. Er hielt an seiner Gleichheit mit Gott nicht fest, er machte sich selbst zu nichts. Er schaute nicht auf seine eigenen Angelegenheiten, sondern auf euch, sah eure Not und kam auf die Erde herab, um euch zu helfen. Ihr müsst dasselbe tun.
Achten Sie auf das, was Paulus sagt. Paulus sagt den Philippern nicht, dass sie ihre Natur in irgendetwas anderes verwandeln sollten. Er sagt vielmehr, ihr müsst euch demütigen, obwohl ihr immer noch bleibt, was ihr seid. Demnach entleerte sich unser Herr nicht irgendeiner Sache, er entleerte sich nicht seiner Gottheit, aber er hielt nicht an den sichtbaren Zeichen dieser Gottheit fest. Er hielt nicht an der Macht der Gottheit fest, sozusagen an dem Anspruch darauf. Wie Paulus erneut in Vers 8 sagt, erniedrigte er sich selbst. Er blieb derselbe, aber er kam in dieser erniedrigten Gestalt.
Er kam, sagt Paulus, in Knechtsgestalt. Wie wir gesehen haben, ist die Gestalt die Vollendung der Qualitäten, die eine Sache zu dem machen, was sie ist. Also war er wirklich ein wahrer Diener. Er kam und lebte als ein wirklicher Diener, obwohl er immer noch Gott war. Ganz offensichtlich betont der Apostel denselben Punkt, den auch ich betont habe. Denn warum sollte er sonst sagen „den Menschen gleich“? Wenn unser Herr die Gottheit hinter sich gelassen hätte und Mensch geworden wäre, dann hätte Paulus niemals diesen Ausdruck gebraucht. Er hätte gesagt, dass er „zu einem Menschen wurde.“ Aber das sagt er nicht. Er sagt, dass er „den Menschen gleich wurde.“
Dann wiederum sagt er „wie ein Mensch erfunden.“ Warum diese Ausdrücke? Wenn er sich selbst seiner Gottheit entleert hätte, wenn er aufgehört hätte, Gott zu sein, dann würde Paulus nicht über Gleichheit und Gestalt sprechen. Er würde einfach sagen, dass er, der Gott war, auch ein Mensch wurde. Aber das sagt er wieder nicht. Was er sagt, ist, dass unser Herr, obwohl er immer noch in der Gestalt Gottes war, auch ein Mensch wurde.
Weit davon entfernt, irgendetwas zu entleeren, nahm er etwas an. Was bedeutet das alles? Nun, es bedeutet, dass keine Veränderung in seiner Gottheit stattgefunden hat, sondern dass er die menschliche Natur angenommen und beschlossen hat, in dieser Welt als ein Mensch zu leben. In dieser Weise erniedrigte er sich selbst, er legte sich freiwillig Grenzen auf.
Weiter können wir nicht gehen, wir wissen nicht, wie er das tat. Aber wir glauben, dass er, um dieses Leben als ein Mensch führen zu können, während er hier auf der Erde war, bestimmte Attribute seiner Gottheit nicht in Anspruch nahm. Das ist der Grund, warum es nötig war, wie wir im letzten Vortrag gesehen haben, dass ihm die Gabe des Heiligen Geistes in ihrer Fülle gegeben wurde. Das ist auch der Grund, warum er es für nötig befand, zu beten.
Aber er hörte nicht auf, Gott zu sein. Eigentlich sagte er zu Nikodemus nichts anderes als: „Der Menschensohn, der jetzt auf der Erde ist und der jetzt zu dir spricht, der ist immer noch im Himmel, wenn er sagt: Niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel als nur der, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen, der im Himmel ist.“ (Johannes 3,13).
Ja, aber er beschloss, als Mensch zu leben. Er hörte nicht auf, Gott zu sein, noch verzichtete er auf irgendeinen Teil seiner Gottheit, aber er lebte nun in dieser Gestalt als ein Knecht und als ein Mensch.
Wenn wir auf diese Weise an den biblischen Befund herangehen, sehen wir, wie es möglich wird, dass er „an Weisheit und Alter und Gunst bei Gott und Menschen zunahm“ (Lukas 2,52).
Wir erkennen auch, wie es möglich war, dass er zu bestimmten Zeiten bestimmte Dinge nicht zu wissen schien. Dennoch erklärte er zu anderen Zeiten eindeutig seine Gottheit und seine Einheit mit dem Vater. So sagte er zum Beispiel: „Ehe Abraham war, bin ich.“
All dies war wahr und geschah zur selben Zeit. Dieser ewige Sohn Gottes, der weiterhin der Sohn Gottes war, hatte eine menschliche Natur angenommen. Diese eine unteilbare Person, die zwei Naturen statt einer hatte, beschloss tatsächlich, als Mensch zu leben – und tat dies auch. Sie nahm die Gestalt eines Knechts an und erniedrigte sich selbst, war gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz.
Wir haben über das Wunder und das Geheimnis nachgedacht, das alle Zeitalter überragt. Es ist das, was die Engel im Himmel in Erstaunen versetzt und beständig vor Augen haben: Gott, der im Fleisch kommt und für die Sünder stirbt – für abscheuliche, verachtenswerte Sünder und Gottesverächter –, um sie zu Kindern Gottes zu machen.
Geliebte Freunde, lasst uns weiterhin auf ihn schauen, über ihn nachdenken und ihn ansehen.
Lasst uns unser geistliches Leben nicht anhand von Gefühlen und Erfahrungen beurteilen oder einschätzen, sondern anhand unserer Erkenntnis von ihm und unserer Liebe zu ihm. Er ist das Zentrum allen Glaubens.
Dies aber ist das ewige Leben: dass sie dich, den alleinwahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen (Johannes 17,3).
Möge Gott uns dazu Gnade geben.
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