Einführung in die Herkunft und Jugendzeit
Ein Bild aus meiner früheren Jugendzeit möchte ich Ihnen zeigen, damit Sie sich eine Vorstellung machen können. Dabei möchte ich natürlich auch meine Vergangenheit von meiner Jugend an mit einbeziehen. Hier sehen Sie ein Bild aus meiner Jugendzeit.
Ich denke, es wird deutlich: Adel verpflichtet. Wer aus adeliger Herkunft stammt, muss sich auch jugendgemäß und standesgemäß kleiden. Gegen Ende meines Lebens wurde ich von meinen Anhängern durchaus freundlich bezeichnet. Dabei lege ich keinen besonderen Wert auf den Abstand zum Adel. Sie können mich ruhig mit Graf von Zinzendorf ansprechen.
Meine engen Freunde haben mich sogar „Papachen“ genannt, oder ganz liebevoll „Ordinarius“ beziehungsweise als den wahren Fürsten Gottes bezeichnet. Manche haben mich auch als den Jünger, den Jünger Jesu bezeichnet. Das ist einer der Begriffe, die mir am liebsten geworden sind. Denn das, was ich sein will, ist nicht in erster Linie ein Fürst mit einem Reich, sondern ein Jünger Jesu.
Allerdings gab es auch andere, die mich als falschen Propheten oder großen Irrlehrer bezeichneten. Wie es dazu kam, möchte ich Ihnen gerne noch näher erläutern.
Geboren wurde ich leider nicht in Österreich, denn meine Großeltern wurden aus Österreich vertrieben, weil sie fest am evangelischen Glauben festhielten. Sie zogen dann nach Sachsen, nach Dresden. Schließlich erblickte ich im Jahr 1700 das Licht der Welt.
Meine Eltern gehörten, wie gesagt, ebenso wie meine Großeltern zum Hochadel aus Österreich. Mein Großvater musste in der Gegenreformation aus Glaubensgründen sein Land verlassen. Er zog mit uns beziehungsweise mit meinen Eltern nach Franken.
Mein Vater stand im Dienst der sächsischen Kurfürsten und erhielt den Titel eines geheimen Rates. Er hatte außerdem das Amt eines Ministers inne, sodass wir standesgemäß aufwuchsen.
Meine Mutter stammte aus sächsischem Adel, ebenfalls aus der höheren Aristokratie. Die Familie von Gerstorf, der sie entstammte, ist Ihnen vielleicht bekannt. Meine Großeltern gehörten ebenfalls zu hohen Staatsämtern.
Zeitlebens habe ich darauf Wert gelegt, denn das, was uns Gott mit unserer Geburt geschenkt hat, dürfen wir nicht einfach vernachlässigen.
Meine Eltern haben, wie gesagt, nicht einfach mitgemacht, wo alle anderen sich nach der Mode der damaligen Zeit vergnügten. Sie waren bestrebt, Gott nachzufolgen.
Ich möchte Ihnen nun das Haus meiner Großmutter zeigen, in dem ich aufgewachsen bin. Hier sehen Sie erst einmal ein Bild meiner Großmutter. Bei ihr verbrachte ich weite Teile meiner Jugend, da mein Vater leider schon sehr früh gestorben ist.
Wenige Wochen, nachdem ich geboren wurde, starb er noch jung an Jahren. Er verstarb unter dem Gebet seiner Frau und seiner Mutter. Auch ich war damals zwar in der Wiege und konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber meine Mutter erzählte mir später davon.
Mein Vater ließ sich auf seinem Totenbett ein Lied von Paul Gerhard vorlesen und vorsingen. Sie werden es auch kennen: „O Haupt voll Blut und Wunden.“ Später habe ich mir dieses Lied im Andenken an meinen Vater als Lebensmotto gesetzt.
Einfluss der Familie und frühe Prägungen
Meine Mutter heiratete wenig später erneut, und zwar den erweckten preußischen Generalfeldmarschall von Nazmar. Schließlich kam ich zu meiner Großmutter, wie Sie hier sehen können, neben der Frau von Gerstorf. Sie galt schon damals, und das darf ich ohne Stolz sagen, als eine der gebildetsten Frauen Deutschlands.
Sie konnte selbstverständlich Deutsch, sprach fließend Französisch und lernte Griechisch sowie Hebräisch, um die Schriften des Neuen und Alten Testaments in der ursprünglichen Sprache lesen und übersetzen zu können. Ihr lag so viel daran, dass sie sogar den Hausangestellten Griechischunterricht gab, damit auch sie die Bibel im Originaltext lesen vermögen.
Meine Mutter war durchaus auch etwas überkonfessionell ausgerichtet. Es kam ihr nicht nur darauf an, ob man evangelisch, reformiert oder pietistisch war, sondern in erster Linie auf die Frömmigkeit des Herzens – das war wesentlich. Sie hatte auch eine gewisse Nähe zu den Spiritualisten, wie man sie damals nannte. Das waren diejenigen, die in ihrer Innerlichkeit, in der Konzentration auf das Wort Gottes, auf das Gebet und auf die Ausrichtung auf Gott nach Gott suchten.
Schon in dieser Zeit kamen auch verschiedene gebildete Männer an den Hof meiner Großmutter. Ich traf sie beispielsweise noch im Alter von vier Jahren. Damals hatte ich den Herrn Spener kennengelernt, ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen. Er gilt als der Vater des Pietismus in Deutschland. Er besuchte meine Großmutter, und ich kann mich noch schwach daran erinnern, wie ich mit vier Jahren dort am Tisch stand, er gegessen hatte und er mir die Hand drückte. Kurz darauf starb er bereits.
Ich hoffe, Sie kommen nicht auf falsche Ideen – ich hatte selbstverständlich nichts damit zu tun. Hier sehen Sie übrigens das Haus, dort das Haus meiner Großmutter.
Geistliche Einflüsse und Erziehung in Halle
Nun, meine ganze Familie hatte Verbindungen, insbesondere nach Halle. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen: Halle ist natürlich allen bekannt. Halle ist der Mittelpunkt des evangelischen, erwecklichen Glaubens in unserer Zeit. Bis heute ist Halle ein leuchtendes Vorbild für alle Christen in ganz Europa.
In Halle wirkte der große August Hermann Francke. Er richtete dort seine hallischen Anstalten ein. Schüler aus ganz Europa kamen zu ihm, um zu lernen und ausgesandt zu werden in die Mission. Was Gott dort in kurzer Zeit entstehen ließ, war beeindruckend: Für Tausende von Waisenkindern wurden Häuser gebaut, Bibeldrucke verbreitet, und viele andere Dinge geschahen dort in kurzer Zeit.
Das hat uns auch in unserem Elternhaus tief beeindruckt, denn wir hörten davon. Wir haben uns danach ausgerichtet, unsere Seelsorger von dort gesucht und unsere Hausprediger von dort bestellt. Wir wollten nicht der Weltfremdigkeit nachgehen, die überall in unserer Umgebung Gang und Gäbe war. Während sich viele in Maskeraden, Umzügen, Komödien und Opern vergnügten, gehörte unser Herz als Familie dem Heiland.
Wir hörten davon, wie unseresgleichen verkleidet durch Dresden zogen. Beispielsweise zog August der Starke verkleidet als Herkules, nur mit einem Fell überdeckt und mit einem dicken Stab in der Hand vorneweg tanzend, durch die Straßen. Hinter ihm folgte eine ganze Meute griechisch verkleideter Adliger. Ich weiß nicht, ob heute Ihre Politiker etwas Ähnliches machen.
Kurze Zeit später ließ August der Starke den Zwinger bauen, um sich auf seine Hochzeit vorzubereiten. Aber solch eine Art zu leben verachtet Gott, sie spuckt er ins Angesicht und sie ist ihm verhasst. Danach wollten wir uns nicht ausrichten.
Schon aus Halle kam mein erster Hauslehrer. Er erzählte mir von Gott und von den großen Werken Gottes, die er in der Mission tut und getan hat, in Halle und an anderen Orten. Wenig später ging ich schon zur Schule, selbstverständlich auch nach Halle. Aber schon vorher hatte ich meine ersten innerlichen Begegnungen mit meinem Heiland.
Ich war Einzelkind und lebte bei meiner Großmutter. Sie war ja schon Witwe und alleine. Ich hatte eine zärtliche Anhänglichkeit an den Heiland. Er war mein Bruder, mein Gesprächspartner, ein Spielgefährte. Ich schrieb ihm Briefe, in denen ich ausdrückte, was mir auf dem Herzen lag, meine Anliegen und Schwierigkeiten, die ich mit meiner Großmutter hatte. Meine innerlichen Wünsche und Sehnsüchte schrieb ich auf und sandte sie meinem Heiland.
Später, als ich älter wurde, machte ich mir immer mehr Gedanken. Ich schrieb ihm auch meine innersten Probleme und Gedanken. Die Spekulation über die Unerforschlichkeit Gottes beschäftigte mich. Ist es nicht schließlich so, dass wir gar nichts über Gott sagen können? Alles, was Prediger und Menschen darüber sagen, ist doch nur vordergründig. Ich merkte, wie ich mich innerlich immer mehr an meinen Heiland ausrichtete.
Ausbildung und erste geistliche Initiativen
Schließlich schickte mich meine Großmutter mit zehn Jahren nach Halle an das Pädagogikum zu August Hermann Francke, und ich war gerne dort. Immer wieder genoss ich das Privileg, als hervorragende Persönlichkeit der Gesellschaft auch am Tisch von August Hermann Francke zu sitzen, um ihm zuzuhören. Immer wieder kamen Missionare aus der ganzen Welt und saßen mit am Tisch. Ich hörte zu, wie sie von ihrer Missionsarbeit berichteten. Das hat mich innerlich tief berührt.
Aber oh, die strenge Zucht in Halle! Immer war jemand da, der darauf achtete, was wir als kleine Knaben taten, was wir lasen und was wir spielten. Selbst in den Türen, hinter denen wir schliefen, waren Fenster angebracht, sodass man jederzeit hindurchschauen konnte, was wir darin trieben. Selbst mein Haushofmeister, den meine Großmutter mitgeschickt hatte, damit ich standesgemäß beaufsichtigt würde, unterstützte mich nicht, sondern spionierte mich ständig aus. Er erstattete August Hermann Francke oder meiner Großmutter Bericht über das, was ich gerade mit meinen Freunden tat.
So kam es schließlich dazu, dass ich kaum andere Freunde hatte, denn wenige wollten mit mir sein, weil ich mich schon als Zehnjähriger immer so benehmen musste. In dieser Notsituation, in der ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte, fand ich wieder meine Zuflucht in meinem Heiland. Dort fühlte ich Geborgenheit. Mit einigen wenigen engen Freunden, die ebenfalls erkannt hatten, dass das Leben nicht in Spielen und Lernen, sondern in der Frömmigkeit des Herzens verbunden liegt, gründete ich einen Orden, den Senfkornorden.
Wir vertrauten darauf, dass aus diesem kleinen Senfkorn, aus dem wenigen Glauben, den wir in unseren Kinderherzen gefunden hatten, Gott eine große Pflanze, einen großen Baum wachsen lassen kann, in dem sich der Glaube entfaltet. Sicher denke ich, dass ich hier geprägt wurde. Hier zeigte mir Gott seine Größe und malte mir seinen Auftrag vor Augen, für den er mich in der Zukunft gebrauchen wollte.
Gern hätte ich weiter Theologie studiert und wäre in den Dienst der hallischen Anstalten getreten, um dort meine Kraft ganz einzusetzen. Aber ein Onkel, einer derjenigen, die mit die Verantwortung für meine Erziehung trugen, war ganz und gar nicht angetan von der Frömmigkeit in Halle. Er mochte die Pietisten nicht und wollte mich lieber an einer rationalistischen, kritischen theologischen Fakultät ausbilden lassen. Später versuchte er sogar, mich dazu zu überreden, Jura zu studieren, und sagte, sonst würden alle Stipendien gestrichen.
Schließlich kam es auch dazu: Ich studierte Jura. Nebenher las ich viele Bücher, vor allem alles, was Spener und Francke geschrieben hatten, was Gott ihnen in ihrem Herzen gezeigt hatte. Schließlich begann ich auch, Griechisch und Hebräisch zu lernen, um die Bibel noch besser verstehen zu können. Ich besuchte allerdings auch, wie es meine Verpflichtung war, die Vorlesungen von Professor Wernsdorf und anderen, damals die Führer der lutherischen Orthodoxie. Diese legten Wert auf den Verstand und förderten in erster Linie die Lehren Luthers, dachten aber weniger an ihre persönliche Beziehung zu ihrem Heiland.
Frühe Bemühungen um kirchliche Einheit
Und schließlich kam das Jubiläumsjahr. Gerade war ich siebzehn, es war das Jahr 1717. Wir erinnern uns natürlich alle an den Thesenanschlag Luthers in Wittenberg. Es waren genau zweihundert Jahre vergangen.
Ich dachte mir, Gott wolle mich gebrauchen, um die verschiedenen Konfessionen wieder zusammenzuführen. In diesem Jahr verfasste ich vier Denkschriften. Diese schickte ich an die Führer der verschiedenen kirchlichen Gruppierungen und Kirchen. Mein Ziel war eine Union. Besonders wollte ich die Lutheraner und die Reformierten zusammenbringen.
Warum zerstreiten sie sich? Will Jesus nicht die Einheit aller Gläubigen, statt dass sie sich gegenseitig ausschließen, beschimpfen, in akademischen Reden gegeneinander streiten und nichts miteinander zu tun haben?
Allerdings muss ich sagen, dass es leider wenig Erfolg hatte. Sie hörten nicht auf mich. In meiner Familie war man es inzwischen gewohnt, dass ich mich so sehr in religiöse Dinge einmischte.
Ich hatte meine Ausbildung abgeschlossen. Mit neunzehn Jahren, im Jahr 1719, ging ich auf eine zweijährige Kavalierstour durch Europa.
Eindrücke von der Kavalierstour und Begegnungen
Nun, ich weiß nicht, wie vertraut Sie mit den Gebräuchen unserer damaligen Zeit sind. So ungefähr sah ich zu dieser Zeit aus: natürlich jung und hübsch. Es ging in erster Linie darum, die Welt kennenzulernen, die anderen Höfe zu besuchen und möglicherweise auch eine junge, hübsche Frau kennenzulernen.
So begab ich mich zuerst einmal in die Niederlande. Dort war ich beeindruckt von der konfessionellen Vielfalt, die nebeneinander lebte. Lutheraner, Reformierte, Pietisten – sie alle lebten dort, ohne angegriffen zu werden. Auch Wiederteufer aus Deutschland und England lebten dort, alle nebeneinander in Frieden und Eintracht. Das ist, denke ich, das, was Gott auch für uns in Deutschland will. Diese konfessionelle Vielfalt habe ich mitgenommen.
In den Niederlanden traf ich auch Mennoniten und die ersten Vertreter der Aufklärung. Pierre Bayle hatte sein Dictionnaire critique veröffentlicht, in dem er versuchte, mit dem Verstand die Welt zu beschreiben. Ich empfand das als eine gute Möglichkeit. Allerdings müssen wir darauf achten, dass nicht die Vernunft die Welt erklären kann, sondern nur Gott durch seine Offenbarung.
So schrieb ich selbst ein kleines Büchlein, das ich veröffentlichte. Es fand zahlreiche Leser. Sieben Monate verbrachte ich ebenfalls in Paris. Nun, Paris, das kann ich Ihnen sagen, ist das Exempel der Welt. Dort, im Mittelpunkt des höfischen Treibens in Frankreich, gab es viele Vergnügungen.
Dem konnte ich mich natürlich nicht anschließen. Ich hatte Einzug in höchste Gesellschaftskreise gefunden und wurde überall eingeladen in dieser Weltstadt. Doch diese zwielichtigen Vergnügungen in Tanz und Spiel waren nicht meine Sache. Ich zog mich zurück, was zur Folge hatte, dass ich bald als Sonderling angesehen wurde.
Aber wer für den Namen Jesu Christi leidet, dem ist das nichts Schlimmes. Es kratzt nicht an unserer Ehre. Gerne habe ich diesen Titel mitgenommen und mich auch für Jesus Christus verspotten lassen. Ich wollte ein Nachfolger Jesu sein. Wie Jesus verfolgt und verspottet wurde, so ist der wenige Spott, den ich dort zu erleiden hatte, nichts dagegen.
Ich traf auch die Janisten, Katholiken dieser Zeit, zu denen auch der Ihnen wahrscheinlich bekannte Blaise Pascal, Mathematiker und Denker, gehörte. Ich fand es beeindruckend, wie diese Menschen in ihrem katholischen Glauben versuchten, Jesus nachzufolgen. Sie waren keineswegs einverstanden mit der katholischen Kirche; sie kritisierten sie und merkten sehr wohl, wo die Grenzen standen.
Ich hatte mit einigen von ihnen gesprochen, so auch mit dem Erzbischof Kardinal de Noailles. Ich schloss mit ihm Freundschaft. Bis zu seinem Tod schrieben wir uns regelmäßig. Wir merkten, dass wir trotz Meinungsverschiedenheiten beide eine innige Jesusliebe hatten, die uns miteinander verband.
Es ging um die Nachfolge des heiligen Lebens. Ich habe extra für ihn, aber auch für alle anderen Franzosen in der katholischen Kirche, die vier Bücher des Johann Arndt vom wahren Christentum ins Französische übersetzt und dort veröffentlicht.
Rückkehr nach Deutschland und geistliche Entwicklung
Nun reiste ich weiter und kam wieder zurück nach Deutschland. Nachdem ich im Ruhrgebiet gewesen war – so wie Sie dieses Gebiet später genannt haben – fiel mir in einer Galerie ein Bild auf. Darauf sah ich Jesus hängen, und darunter standen die Worte: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Das ging mir tief ins Herz.
Irgendwie spürte ich, dass das, was ich mir in meinem Senfkornorden vorgenommen hatte, mein Leben weiterhin bestimmen sollte. Ich wollte mein ganzes Leben Jesus weihen.
Im Jahr 1721, auf meinem Rückweg, kam ich schließlich an den Hof des Grafen zu Reuss und Ebersdorf. Dort erhielt ich neues Bewusstsein und neue Ideen. Dem Grafen war besonders die Blut- und Wundenfrömmigkeit Jesu wichtig. Er wollte, dass man sich in das Leiden Jesu hineinversetzt und sieht, wie seine Hände und Füße durchstochen wurden. Man sollte vor diesem Leiden niederknien und sich bewusst machen, wie Jesus für uns zerschlagen und gemartert wurde.
In der Schlossgemeinde trafen sich regelmäßig viele, die es mit ihrem Glauben ernst meinten. Manche Pietisten, die aus anderen Gebieten Deutschlands vertrieben worden waren, kamen dort zusammen. In dieser überkonfessionellen Gemeinschaft hatten wir die Gewissheit: Wir leben in der Zeit von Philadelphia.
Philadelphia, Sie wissen es, bedeutet Bruderliebe. So lesen wir es schon in der Offenbarung. Dort schreibt Johannes am Anfang von den verschiedenen Gemeinden, an die er Briefe richtet. Uns war von Anfang an klar: Die Christenheit befindet sich in der Gegenwart in der Epoche von Sardis. Diese Gemeinde hat zwar einen lebendigen Namen, ist aber eigentlich tot. So ist es mit der Orthodoxie.
Luther hat es gut begonnen. Doch was machen die orthodoxen Theologen aus der Lehre Luthers? Luther baute nur auf der Bibel. Er sagte: sola scriptura, sola fide, sola gratia. Doch heute bauen die Theologen nicht mehr auf der Bibel, sondern auf den Büchern und Auslegungen Luthers. An die Stelle des lebendigen Glaubens tritt tote Gedankengläubigkeit.
Wir haben jedoch gemerkt, dass sich bald die wahre Gemeinde herausschälen muss – diejenigen, die wirklich an Jesus festhalten. Das ist die Gemeinde zu Philadelphia. Die Gemeinde der Kinder Gottes, die ausharren, selbst in der Verfolgung, und das Wort Christi bewahren. Sie verleugnen seinen Namen nicht, wie Johannes im dritten Kapitel der Offenbarung schreibt.
Aus den vier Winden, von überall auf der Welt, wird die Brautgemeinde Jesu zusammenkommen. Sie wird eine Einheit bilden, eine liebevolle, gemeinsame Gemeinde – Philadelphia – und beginnen.
Gemeindebildung und theologische Überzeugungen
Nun, die ganzen Sekten – wenn ich sie einmal so nennen darf –, diese Konfessionskirchen, die Lutheraner, die Reformierten, aber auch die Mennoniten und Täufer, bauen alle nur auf sich selbst.
Wir müssen uns auf Jesus ausrichten, der seine zerstreuten Kinder aus allen Kirchen sammeln wird, um zusammenzukommen. Die intoleranten Lehrmeinungen, die überschreitende, überparteiliche Bruderliebe – die ist es, die uns verbinden muss.
Ich habe einige in dieser Zeit getroffen, auch gerade an dem Hof des Grafen, die das mitvertreten haben. Mit ihnen habe ich gesprochen, ihre Bücher gelesen, und sie haben mich überzeugt. Auch weiterhin habe ich mich immer wieder mit ihnen schriftlich ausgetauscht. Ich habe den Eindruck, dass Gott mich zum Werkzeug gebrauchen will, um als Mitarbeiter die Gemeinde nach Philadelphia aufzubauen.
Darüber hinaus hatten wir uns in Webersdorf an die Wunden Jesu erinnert, wie ich es gesagt hatte. Wir haben gesehen, dass Jesus für uns der Blutbräutigam unseres Lebens ist. Wir haben uns in das purpurrote Blut des Lämmleins Jesu hineingefühlt, uns in den Felslöchern seiner heiligen Wunden geborgen und uns an die Brüste seiner Liebe gelegt. Wir waren eins mit ihm und haben seine Gegenwart gespürt, wo wir uns versammelt hatten.
Endlich habe ich auch verstanden, wofür die Ehe eigentlich da ist, wenn man nicht einmal in den Stand der Ehe treten sollte. Ich habe mit Hochmann von Hohenau gesprochen, und er hat mir erklärt, dass es eigentlich vier verschiedene Arten von Ehen gibt: die rein tierische, die nur auf die Befriedigung der geschlechtlichen Lüste ausgerichtet ist, bis hin zu denen, die allein zum Lobe Gottes da sind.
Bei letzterer ist jegliche Sexualität ausgemerzt, denn wir sind nur auf Jesus ausgerichtet. Wir führen eine jungfräuliche Ehe, eine Geschwistergemeinschaft, in der wir wie Bruder und Schwester nebeneinander leben können. Unsere Ehe ist allein Christus gegenüber ausgerichtet, der unser wahrer Bräutigam im Himmel ist.
Darüber hinaus hatte ich nun auch an dem Hof eine hübsche Comtesse gefunden: Erdmunde Dorothea, die Tochter des dortigen Grafen. Zuerst hatte ich mich an ihre Schwester gewandt, doch sie wollte von mir nichts wissen. Nun aber, wie gesagt, der jungen Schwester hatte ich meinen Antrag gemacht, und sie war ganz meiner Meinung. Auch sie war erfüllt davon, ihrem Heiland dienen zu können.
Im Jahr 1722, als ich 22 Jahre alt war, wurde sie schließlich meine Frau.
Verantwortung als Graf und geistliches Wirken in Dresden
Als ich zurückkam, stellte sich die Frage: Was mache ich nun als Graf? Ich hatte meine Güter, kümmerte mich um sie und sorgte auch für meine Untergebenen sowie meine Leibeigenen. Dort hatte ich mich fleißig eingesetzt. Aber als Reichsgraf trägt man Verantwortung im Reich und muss darüber hinaus mehr übernehmen.
Ich dachte, ich würde der Nachfolger des Barons von Kahnstein werden, der gerade gestorben war. Er war derjenige, der in den hallischen Anstalten den Kontakt zwischen dem Pietismus und den Königs- und Fürstenhöfen in Deutschland herstellte. Dafür hielt ich mich prädestiniert. Ich dachte, das wäre meine Position gewesen.
Ich ging zu August Hermann Francke und sprach mit ihm, doch er nahm mich nicht an. Warum, weiß ich nicht. Diese Enttäuschung musste ich in meinem Glauben erst einmal tragen. Zunächst hörte ich auf meine Familie, die mich nach Dresden schickte. Dort wurde ich Justizrat in der kursächsischen Staatsverwaltung.
In meiner Wohnung mitten in der Stadt Dresden hielt ich kleine Gruppen ab. Wir lasen zusammen in der Bibel, beteten und bauten uns im gemeinsamen Austausch innerlich auf. Schließlich, im Jahr 1722 – Sie wissen ja, gerade nach meiner Hochzeit – kaufte ich auch das Gut meiner Großmutter, das ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Dieses Gut baute ich weiter aus und hatte dort eine eigene Hofgemeinde. Es war mir wichtig, meinen mir anvertrauten Untergebenen den Glauben nahezubringen.
In dieser Zeit berief ich auch einen eigenen Theologen. Johann Andreas Rothe, ein enger Freund von mir, den ich schon während meiner Ausbildung in Halle kennengelernt hatte. Er war ein erweckter Theologe, der wusste, dass es nicht nur um gelehrte Predigten geht, sondern darum, innerlich von Jesus ergriffen zu werden.
Ein anderer Schulfreund, ein Schweizer aus einem Adelsgeschlecht, Friedrich von Wattenwyl, und ein weiterer Bruder gründeten wir zusammen den Bund der vier Brüder. Wir wollten uns einsetzen und all unsere Kraft widmen, um das Reich Gottes voranzutreiben – so, wie ich es in Halle gelernt hatte.
So begann ich auch, auf meinem Grundstück ein Adelspädagogikum einzurichten, ein Waisenhaus und eine Mädchenanstalt. Es sollte eben so sein, dass auch die Menschen, die Gott mir anvertraut hatte, mehr vom Wort Gottes kennenlernen sollten.
Meinen Stammsitz, in dem ich wohnte, und die umliegenden Gebäude richteten wir dafür her. Außerdem richtete ich eine Druckerei ein. Ich wollte preiswerte, günstige und erbauliche Traktate drucken. Diese wurden bald in ganz Deutschland verbreitet.
Auch gaben wir einen eigenen Bibeldruck heraus. Luther war ja ganz gut, aber wenn man genau hinschaut und sprachlich überprüft, fielen uns in unserer Überlieferung und Übersetzungsarbeit allein dreitausend Verbesserungsvorschläge ein. Diese arbeiteten wir ein und brachten sie heraus.
Schließlich erschien auch von mir geschrieben die Zeitschrift „Der dresdnische Sokrates“. Ich wollte Menschen erreichen, die nur auf ihren Verstand bauten, die gar nicht mehr in die Kirchen gingen. Mit dieser Zeitschrift wollte ich sie ansprechen. Deshalb wählte ich den Namen Sokrates.
Ich wollte, so wie Sokrates es getan hat, die Menschen zum Fragen herausfordern. Ich wollte ihnen nicht einfach das Evangelium wie Perlen vor die Säue werfen, sondern sie mit ihren eigenen Mitteln, mit dem Verstand, herausfordern.
Es gab viel Gesprächsstoff. In diesen Heften wehrte ich mich gegen das Maul- und Namenschristentum und setzte mich für eine überzeugte Nachfolge Jesu Christi ein. Ich wollte Anstöße ausräumen und allein das Werk der göttlichen Gnade in den Mittelpunkt stellen.
Fünf Jahre später wurden meine Zusammenkünfte in Dresden verboten. Hoch offiziell wurde untersagt, dass wir uns weiterhin treffen dürfen, um zusammen in der Bibel zu lesen.
Gründung von Herrenhut und Gemeindeleben
In der Zwischenzeit hatte sich bereits ein anderer Wirkungskreis für mein Leben entwickelt. Ich möchte Ihnen das gerne einmal zeigen. Ach ja, hier habe ich noch ein schönes Bild von meiner lieben Frau. Sehen Sie, hier ist sie noch in ihrer jungen, jugendlichen Zeit, kurz bevor wir heirateten.
Nun, ich wollte Ihnen erzählen, dass schon zu unserer Heirat im Jahr 1722 die ersten Flüchtlinge aus Mähren zu uns kamen und sich auf meinem Grund und Boden niederließen. Ich habe sie gerne aufgenommen. Sie wissen wahrscheinlich, dass Christen sowohl in Mähren als auch in der heutigen Tschechei verfolgt wurden. Diese Menschen flohen ins nahe Chursachsen und ließen sich auf meinem Land nieder.
Hussitische Gläubige mussten wegen der Gegenreformation ihr Land verlassen. Unter der Leitung des Zimmermanns Christian David ließen sie sich am Hutberg, in meinem Regierungsbereich, nieder. Ich nahm sie auf, und gemeinsam gründeten wir die Siedlung Herrenhut. Herrenhut – in der Hut des Herrn – sollte ein Berg des Herrn werden.
Die Gemeinde wuchs schnell. Anfangs waren es nur etwa dreihundert Menschen, doch bis 1736 waren es bereits siebenhundert. Die Zahl stieg auf über tausend Siedler an, die sich dort niederließen, und wir hatten ein eigenes Dorf gegründet. Zwar hatten wir eine Art Untergrundgemeinde, doch mir war die Gefahr von Separatismus und Sektenbildung stets bewusst. Deshalb legte ich großen Wert darauf, dass wir in die evangelische Kirche eingegliedert blieben.
Wir unterstanden zwar dem Pfarrer von Bethelsdorf, durften aber unsere eigenen Gottesdienste abhalten – solche Gottesdienste, wie sie zur Zeit Jesu existierten. Wir hatten Laien, die wie zu apostolischen Zeiten als Älteste, Lehrer und Ermahner eingesetzt wurden. Sie übernahmen Mitverantwortung in der Gemeinde. Unsere Abendmahlsfeiern waren erwecklich.
So begann unsere Gemeinschaft eigentlich am 13. August 1727. Sie sehen, es steht fast ein Jubiläum bevor. An diesem Tag feierten wir zum ersten Mal die Liebesgemeinschaft. Dabei merkten wir, dass wir zu einem Leib zusammenwuchsen. Wir wurden sozusagen eine wahre Kirche innerhalb der offiziell verkommenen Kirche.
Wir hielten unsere Versammlungen gemeinsam in unserem Saal ab, den ich Ihnen gleich zeigen möchte. Wo ist er? Hier sehen Sie unseren Versammlungssaal, in dem wir zusammenkamen. Dort richteten wir uns gemeinsam danach aus, was wir zusätzlich tun könnten, über das hinaus, was im regulären Kirchengang üblich war.
Wir hatten Singstunden und Liedpredigten, in denen wir allein durch das Singen Gott gegenüber ausdrücken wollten, was uns auf dem Herzen lag. In Gebetsgemeinschaften waren wir weniger aktiv. Ich war zu der Erkenntnis gekommen, dass es für einen Christen kaum möglich ist, ehrlich in der Gemeinschaft zu beten. Meistens formt man die Worte so, dass sie den anderen gefallen. Doch Gott will unser ernstes, innerliches Gebet.
Deshalb empfahl ich den Brüdern, allein für sich in ihrem stillen Kämmerlein zu beten, wie es Jesus empfiehlt. Immer wieder kamen wir zum Liebesmahl zusammen, wie Paulus es empfiehlt, zur Agape. Wir wollten unsere Liebe miteinander teilen, damit Arme und Reiche gleichermaßen zu essen bekamen.
Regelmäßig führten wir Fußwaschungen durch. Selbst ich wusch meinen Untergebenen die Füße, um ihnen zu zeigen: Wir sind eins. Es gibt keinen Grafen und keine Leibeigenen – vor Gott sind wir alle gleich. Unsere Gemeinde war in verschiedene Gruppen aufgeteilt.
Da waren einerseits die Chöre, in denen Menschen nach Alter zusammengefasst waren – natürlich getrennt nach Männern und Frauen. Dann gab es Kleingruppen, die gemeinsam in der Bibel lasen, die sogenannten Banden. Darüber hinaus gab es die Klassen, in denen jeder entsprechend seines geistlichen Wachstums gefördert wurde.
Selbstverständlich gab es auch Gemeindezucht. Wer sich nicht nach dem Wort Gottes richtete, wer nicht dem Maßstab des Wortes Gottes entsprach, musste die Gemeinde verlassen.
Ab 1729 gab ich jeden Tag ein neues Wort heraus, das uns durch den Tag begleiten sollte. Wir nahmen Liedverse und Bibelverse und bestimmten durch das Los, welchen Vers Gott uns für den Tag geben wollte. Bis heute habe ich gehört, dass an verschiedenen Orten die Losungen gelesen werden. Damals begannen wir vor fast dreihundert Jahren damit.
Das Los haben wir, wie schon im Alten Testament, als Mittel erfahren, durch das Gott seinen Willen ausdrücken kann und will. Wenn jemand heiraten wollte, wenn wir neue Personen anstellen wollten, eine Reise planten, Verhandlungen führten oder neues Land kauften und uns unsicher waren, ob es dem Willen Gottes entsprach, warfen wir das Los darüber.
Gott entschied dann, ob wir es tun sollten oder nicht. Entweder fiel das Los zu unseren Gunsten aus, oder dagegen. Ein drittes Los zeigte uns, dass wir die Entscheidung auf später verschieben sollten.
Wir hatten Verbindungen zu zahlreichen anderen Gemeinden weltweit. Ich möchte Sie jetzt noch daran teilhaben lassen, wie Gott mir zeigte, dass unser Auftrag nicht nur in Deutschland, sondern auch weit darüber hinaus in die Welt hineinreichen sollte.
Hier sehen Sie einen unserer Missionare, den wir nach Bethlehem in Pennsylvania ausgesandt haben, um dort in Indiana das Evangelium zu predigen.
Missionsarbeit und internationale Verbindungen
Schließlich war es so weit, dass ich für mein Amt eingeladen wurde, als Christian VI. in Dänemark zum König eingesetzt wurde. Ich möchte sagen, dass ich sicherlich damit rechnete, dass dieser enge Bekannte und Freund mich zum Minister einsetzen würde. Auch er war bestrebt, Jesus Christus nachzufolgen und hatte an die Mission gedacht. Doch er dachte nicht daran, mich in seine Arbeit einzubeziehen, sondern heftete mir lediglich bei seinen Feierlichkeiten einen Orden an.
Aber so ist die Führung Gottes. Man trifft sich nicht zufällig. Es ging darum, dass wir einige Sklaven getroffen hatten, zum Beispiel einen Schwarzen aus Jamaika, und zwei christliche Eskimos. Plötzlich wurde mir klar, dass Jesus wollte, dass wir von Herrenhut aus Menschen in die Mission schicken würden. Wir begannen sofort damit, sobald ich zurück war. Schon 1732 sendeten wir die ersten Missionare in die Karibik, ein Jahr später nach Grönland und wenig später in andere Teile der Welt. Bis zu meinem Tod waren wir in 28 Missionsgebieten weltweit tätig.
Diese Missionare hatten Erfolg. Sie führten viele Menschen zu Jesus Christus. Hunderte von Missionaren wurden von unserer Gemeinschaft ausgesandt, und wir hatten Kontakte zu anderen Missionsstationen. Ich achtete stets darauf, dass die kulturellen Besonderheiten jedes Landes berücksichtigt wurden. Jeder, der sich auf den Weg machte, kleidete sich, sprach und lebte wie die Menschen an dem Ort, an dem sie lebten.
Es ging nicht nur darum, die Heiden zu gewinnen. Jesus selbst sagt ja, dass wenn allen Völkern das Evangelium verkündigt wird, dann werden vor seinem Thron Menschen aus jedem Volk, aus jeder Sprache und von jeder Zunge sein, die ihn verehren. So war es mir klar: Wir mussten hinaus in die Welt ziehen, um die Wiederkunft Jesu zu beschleunigen, damit Jesus schneller zurückkehren kann, um seine Herrschaft auf der Erde anzutreten. Wir wollten die Erstlinge aus allen Völkern für Jesus Christus gewinnen – darum ging es uns.
In dieser Zeit hatte ich auch zahlreiche Gespräche mit verschiedenen Theologen. Ich will nicht näher darauf eingehen, doch es ging darum, dass sie uns nicht als Sekte ablehnten, sondern anerkannten, sodass wir in Deutschland frei arbeiten konnten. Schließlich kam es sogar dazu, dass ich mein Theologiestudium beendete und mich als evangelischer Pfarrer ordinieren ließ.
Ich muss sagen, das war eine ziemliche Erniedrigung für einen Reichsgrafen aus Deutschland. Um meinem Stand gerecht zu werden, hatte ich meine Einsegnung in Tübingen. Dort brachte ich zwei meiner Diener mit, die hinter mir meinen Orden auf einem Samtkissen trugen, während der nächste die Bibel hielt. So konnte ich schließlich als Dekan eingesegnet werden. Das gab unserer Gemeinschaft Festigung, sodass wir weiterhin Gottesdienste feiern durften.
Doch einige, die uns feindlich gesinnt waren, bewirkten schließlich, dass ich aus meinem eigenen Land vertrieben wurde. Ich durfte keine Gottesdienste mehr feiern, wo wir in Sachsen gewesen waren. Also mussten wir fliehen. Wir kamen zu den Grafen von Isenburg, die mir tatsächlich ein Schloss verkauften – das Schloss Marienborn in der Nähe von Frankfurt. Dort gründeten wir eine weitere Siedlung, die wir Herrenhaag nannten.
Schon bald lebten dort mehr als tausend Einwohner. Kurze Zeit später war ich auf einer Missionsreise nach Amerika, um unsere Missionsarbeit dort zu begutachten. In der Zwischenzeit hatte ich meinem Sohn die Verantwortung übergeben. Er handelte ganz in meinem Sinn, doch es gab doch ein Durcheinander, muss ich sagen.
Bald darauf wurde unser Heiland als Generalältester eingesetzt, weil wir uns bewusst geworden waren, dass kein Mensch die Herrschaft über die Gemeinde übernehmen kann. Wir wollten eine Theokratie, in der allein der Heiland regiert und niemand sonst.
Auch in dieser Zeit lernten wir Jesus noch näher kennen. Die Brüder sollten heiter und spielerisch die Erlösungsfreude ausdrücken. Die pietistische Melancholie sollten sie ablegen, ebenso das aufklärerische Tugendstreben. Besonders die jüngeren, ledigen Brüder, die tragenden Säulen unserer Gemeinde, kamen in den gottesdienstlichen Versammlungen zusammen. Wir spielten laute Musik, hatten festliche Illuminationen und hängten Bilder auf.
Sie sehen hier, dort – ich bin selbst mit darauf, ebenso meine liebe Frau. Dort sind wir auf einem Gruppenbild, alle zusammen um unseren Heiland, Jesus Christus. Diese Bilder wurden überall bei uns aufgehängt. So drückten wir unser Gefühl und unsere Sprache aus. Wir nahmen hinein das Blut und die Wunden Jesu, den Schweiß und den Leichengeruch. Wir wollten spüren, dass er uns nahekommt.
Als Wunderbienlein, die um den Marterleichnam schwirrten, verstanden wir uns. Der Blutschweiß des Bruders Lämmlein durchdrang uns. Im Abendmahl umarmten wir das Kreuzluftvögelein, das nistete in der Seitenhülche Jesu. So fühlten wir uns Jesus ganz nahe.
Doch einige kritisierten unsere übertriebene Art des Umgangs miteinander. Andere meinten, das werde vielleicht zu erotisch, wenn wir uns mit verstärktem Herzen und Schätzen in den ledigen Chören umarmten und küssten, um auszudrücken, wie sehr Jesus uns liebt und wie sehr wir miteinander verbunden sind.
In einem einzigen Jahr erschienen 200 Schriften in Deutschland, die sich gegen uns richteten und behaupteten, dass wir sektiererisch geworden seien. Es tat mir leid, aber ich merkte, dass wir an einigen Stellen wahrscheinlich zu weit gegangen waren. Wir mussten reformieren und verändern, aber wir sollten trotzdem fröhliche Christen bleiben – nicht wie die trockenen Pietisten, die nichts tun, sich nicht freuen und sich nur düster anschauen.
Nein, es sollte auch bei uns Freude herrschen. Ich erkannte in dieser Zeit, dass alle Christen eigentlich zusammengehören. Ich entwickelte die Tropenlehre – nicht wegen unserer Missionare in den Tropen, sondern weil Gott verschiedene Gruppen hat. Gott hat verschiedene Erziehungsweisen gegeben: Luther erhielt eine Weisheit, Zwingli eine andere, die Täufer wiederum eine andere. Doch jeder muss seine Weisheit vor Gott bewahren.
Bis wir einmal bei ihm in der Ewigkeit sind, sollen wir uns nicht streiten, sondern uns gegenseitig als Brüder und Schwestern anerkennen. Vereint in der Herzensreligion, die in unserem Herzen steht, gemeinsam vereint im Gebet.
Späte Jahre und Vermächtnis
Nun, es kam gegen Ende meines Lebens – auf das Sie wahrscheinlich schon warten –, als meine Verbannung in Sachsen aufgehoben wurde, im Jahr 1749. Ich ließ mich schließlich zum Bischof weihen. Ich wurde Bischof der hussitischen Brüder, um in ihrer Tradition auch unsere Missionare einsegnen zu können.
Ich hielt viele Predigten, und immer noch war das wichtigste Thema für mich der Umgang mit unserem Heiland. Mein Sohn Christian Renatus sollte schließlich meine Arbeit weiterführen. Als ich 52 Jahre alt war, starb ich. Es war für mich schwer, meinen Sohn zu verlieren, an dem ich so gehangen hatte und der so wichtig für meine Arbeit gewesen war. Ich weiß nicht, warum Gott uns das zugemutet hat, aber ich fand Ruhe in meinem Heiland, der schon seit frühester Jugend mein innigster Berater war und dem ich mein Herz ausschütten konnte.
Schließlich wurde mein enger Mitarbeiter August Gottlieb Spangenberg hinzugezogen. Er übernahm nach und nach immer mehr Verantwortung in unserem Werk. Im Jahr 1756 gab ich die Arbeit ab. In dieser Zeit starb auch die Gräfin, meine liebe Frau. Ich heiratete eine andere Mitarbeiterin, Anna Nitschmann. Drei Jahre später starben wir beide im Abstand von nur drei Jahren und zwölf Tagen. Weil wir uns so innig liebten, konnte keiner von uns ohne den anderen weiterleben.
Aber auch noch nach unserer Zeit, bis in die Gegenwart hinein – so spüre ich es –, ist die Weltmission weitergegangen. Nun, ich weiß nicht, ob Sie es wissen: John Wesley kam zum Glauben, weil er unseren Missionaren begegnete. Auf einem Schiff war er unterwegs und wollte die Indianer bekehren. Er war selbst noch nicht innerlich bekehrt. Während der Fahrt geriet das Schiff in einen Sturm. Wesley zitterte vor Angst, unterzugehen.
Unsere Missionare sangen in diesem Sturm Loblieder zu Gott. Sie wussten: Egal, ob das Schiff strandet, untergeht oder ankommt – sie werden bei unserem Heiland sein. Wesley war davon so beeindruckt, dass er nach England zurückkehrte. Danach suchte er unsere Versammlungen in London auf. Er kam zum lebendigen Glauben und besuchte sogar mich. Wir sprachen miteinander, und er wollte Gemeinden aufbauen – Herrenhuter Brüdergemeinden in England.
Nun, wir hatten es dann doch nicht ganz so gut miteinander. Nach einiger Zeit ging er seinen eigenen Weg, und wir waren nicht mehr auf derselben Linie. Aber viele andere in späterer Zeit nahmen meine Gedanken auf und lasen meine Bücher. Dazu gehörten Lessing, Herder, Schleiermacher, Novalis, Toluk, Karl Barth und viele andere – auch Erweckungstheologen bis in unsere Zeit hinein.
Da ich jetzt hier eigentlich schon gestorben bin, möchte ich die Bühne verlassen und von Ihnen Abschied nehmen. Ich hoffe, dass Ihnen die innige Verbindung zu Ihrem Heiland bleibt. Mögen Sie erkennen, wie Sie verbunden sind mit den Geschwistern aus anderen Gemeinden und Gemeinschaften. Das, was uns verbindet, ist stärker als die Streitereien der verschiedenen Sekten und Konfessionskirchen, die sich auseinanderdividieren lassen.
Sehen Sie, dass Sie Ihre innere Gefühlsverbindung nicht verlieren. Es kommt nicht in erster Linie auf den Kopf an, sondern auf Ihre Beziehung zu Jesus. Treffen Sie Entscheidungen und lassen Sie sich gebrauchen. Gott will auch Sie gebrauchen, damit die Erstlinge aus allen Völkern erreicht werden, das Reich Gottes aufgebaut werden kann und Gott bald wiederkommen wird. So soll das Reich Jesu auf der Erde aufgerichtet werden.