Osterchristen

Konrad Eißler

Wie werden traurige Karfreitagschristen zu fröhlichen Osterchrist­en? Lukas antwortet: durch eine Sprechstunde und eine Bibelstunde und eine Abendmahlsstunde mit Jesus. - Osterpredigt zu den Emmaus-Jüngern aus der Stiftskirche Stuttgart


Liebe Gemeinde, waren das zwei Osterspazierer, die sich am Vorfrüh­ling im Kidrontal erfreuen wollten? Goethekenner könnten sie mit Faust und Wagner verwechseln, die sich am Ostermorgen an den vom Eis befreiten Strom und Bächen ergehen und im Tal das Hoffnungsglück erblicken. Nichts gegen Osterspazierer an sich. Weil sie die Karre zu Hause lassen, tun sie etwas gegen Energie­verschwendung und Umweltverschmutzung. Aber normalerweise sind sie zufriedene Menschen. “Hier ist des Volkes wahrer Himmel. Zufrieden jauchzet groß und klein, hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.” Zufrieden mit einem bunten Krokus und einem blühenden Forsythienzweig. Genau das aber waren unsere zwei Männer hier nicht.

Oder waren das zwei Ostermarschierer, die sich für den Frieden zwischen revolutionären Zeloten und römischer Besatzungsmacht einsetzen wollten? Schon immer war diese Ecke im Nahen Osten ein Pulverfass, an dem fanatisierte Leute mit offenem Feuer hantierten. Nichts gegen Ostermarschierer an sich. Es mag Zeiten geben, wo man auf die Straße muss. 1933 gingen die Falschen auf die Straße. Aber normalerweise sind sie protestierende Menschen. Genau das aber waren unsere zwei Männer hier auch nicht.

Oder waren das zwei Osterurlauber, die sich nach randvoller Passahwoche für ein paar Tage abseilen wollten? Damals gab es noch keine Tulpenblüte in Holland, keine Osterkreuzfahrt in der Südsee, kein Ostereiersuchen in Kenia, also kein Osterhase, der heute die tollsten Purzelbäume schlägt, sondern nur ein Ausflug auf Schusters Rappen. Nichts gegen Osterurlauber an sich. Sie tun etwas für den Kreislauf und gegen den Herzinfarkt. Aber normalerweise sind sie fröhliche Menschen, und das waren unsere zwei Männer nun gleich gar nicht.

Aber wenn sie keine Osterspazierer und keine Ostermarschierer und keine Osterurlauber waren, was waren denn diese beiden dahin­ ziehenden Männer zwischen Jerusalem und Jericho dann? Lukas erzählt es genau. Sie waren enttäuscht. “Wir haben einmal gehofft”, sagen sie, “dass es mit diesem Herrscher in der Welt anders werde. Aber Schwerter werden immer noch nicht zu Pflugscharen umge­schmiedet. Wir haben einmal gehofft, dass es mit diesem Propheten in der Kirche anders werde. Aber Todesurteile werden sogar von den Priestern unterschrieben. Wir haben einmal gehofft, dass es mit diesem Heiland in unserem Leben anders werde. Aber der Alltag hat uns wieder voll im Griff. Warum sollen wir länger in Jerusalem bleiben? Warum sollen wir dauernd in die Kirche springen? Warum sollen wir immer die Gemeinschaft suchen? Gehen wir zurück nach Emmaus, in die Werkstatt, an den Schreibtisch, auf den Bau.”

Nein, das sind keine Osterleute, sondern Karfreit­agsleute. Das sind keine Ostermenschen, sondern Karfreitagsmensch­en. Das sind keine hoffenden Osterchristen, sondern enttäuschte Karfreitagschristen, die nur noch einen Gruß kennen: Bonjour tristesse, guten Tag Traurigkeit! Leider sind sie nicht die letzten geblieben. Auf vielen Wegen sind sie unterwegs. Manchmal sitzen sie ermattet in einer Kirchenbank. Wir haben einmal gehofft, dass mit diesem Herrscher in der Welt die Mutter aller Schlachten geschlagen sei, aber Gasgranaten lagern immer noch in den Arsenal­en und Skudraketen werden weiter auf größere Entfernungen getrimmt. Wir haben einmal gehofft, dass mit diesem Propheten in der Kirche die Brautgemeinde gesammelt werde. Aber die theologischen Irrungen und geistlichen Wirrungen nehmen kein Ende. Wir haben einmal gehofft, dass mit diesem Heiland alle Schmerzen in meinem Leben zu bremsen sind, aber das Krebsgeschwür frisst weiter und gegen die Arthrose ist kein Kraut gewachsen. Was sollen wir länger in der Landeskirche bleiben? Was sollen wir dauernd in die Stiftskirche springen? Warum sollen wir immer die Jugendstunde besuchen? Gehen wir zurück nach Emmaus, ins Büro, in den Betrieb, auf die Hochschule. Guten Tag Traurigkeit, sagen enttäuschte Karfrei­tagschristen.

Nur, die beiden sind es nicht länger geblieben. Auf dem Weg ist etwas Umstürzendes passiert. Bei Kilometerstein 14 wissen sie es genau: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden. Mit dem Gruß Bonjour joie, guten Tag Fröhlichkeit, stürmen sie die Wohnung der Geschwister. Wie kam das? Wie passierte das? Wie werden traurige Karfreitagschristen zu fröhlichen Osterchrist­en? Lukas antwortet: durch eine Sprechstunde und eine Bibelstunde und eine Abendmahlsstunde mit Jesus.

1. Die Sprechstunde

Da zogen sie also, diese beiden Männer, mit hängenden Köpfen und schleichenden Schritten. Für die Osternachricht hatten sie keine Antenne. Ihre Gespräche waren ein einziges Karussellfahren um den Satz “c’est finit”. Es ist aus mit ihm. “Mit wem ist es aus?” Diese Frage schreckte sie auf. Ein Unbekannter hatte sie plötzlich gestellt. Sie hatten gar nicht gemerkt, dass einer mit ihnen auf dem Wege war. Wir merken nie, dass einer mit uns auf dem Wege ist. Niemand behaupte, dass er allein seines Weges ziehen müsse. Auch wenn wir ihn nicht sehen: Jesus ist hinter uns her. Jesus hat uns im Blick. Jesus ist immer da. Dann klären sie den Mitwanderer über jenen schwarzen Freitag auf: Sie haben ihn gefangen, verhauen, misshandelt, verurteilt, gekreuzigt, begraben. Es ist aus mit ihm, ganz aus. Und der Jesus incognito, der fängt nicht an zu schimpfen: “Was seid ihr für armselige Typen!” Und dieser Jesus incognito fährt ihnen nicht in die Parade: “Was führt ihr für gotteslästerliche Reden!” Und dieser Jesus incognito verbietet ihnen nicht den Mund: “Was habt ihr überhaupt zu melden?” Jesus ist und bleibt Seelsorger. Er weiß doch, dass jeder Bekümmerte zuerst einmal einen Zuhörenden benötigt. Er weiß doch, dass jeder Geschlagene zuerst einmal seinem Herzen Luft machen muss. Er weiß doch, dass jeder Enttäuschte zuerst einmal seine Enttäuschung artikulieren muss. Er unterbricht mit keiner Silbe. Er hört teilnehmend zu. Er ist ganz Ohr. Das ist Jesus, der am Ostermorgen nach seiner sieghaften Auferstehung nichts Wichtigeres zu tun hatte, als sich um diese zwei Niederge­schlagenen zu kümmern. Er lässt seine Apostel sitzen und verschiebt das Wiedersehen auf einen späteren Termin. Er überlässt den Pilatus einer anderen Gerichtsbarkeit und eilt davon. Er verlässt die randvolle Tempelstadt und geht zwei einzelnen Menschen nach. Das ist Jesu Erste Hilfe bis heute, dass er den Bekümmerten sein Ohr leiht. Er hat Sprechstunde für jeden, der enttäuscht und geschlagen seines Weges zieht. Er ist uns näher als wir denken. Deshalb müssen Zweifel mich nicht zerfressen, ob denn das mit der Auferstehung Jesu stimme. Ich kann’s ihm sagen. Deshalb müssen die Fragen mich nicht zermartern, ob denn das mit der Liebe Jesu bei allen erlebten Lieblosigkeiten wahr sei. Ich kann’s ihm sagen. Deshalb müssen die Probleme mich nicht zu Boden drücken, ob denn das mit der Wahrheit Jesu seine Richtigkeit habe. Ich kann’s ihm sagen. “Was du keinem magst erzählen”, hat Paul Gerhardt gesungen, “darfst du Gott gar kühnlich sagen. Er ist nicht fern, steht in der Mitten, hört bald und gern der Armen Bitten. Gib dich zufrieden.” Aber diese Sprechstunde Jesu endet nicht damit, dass Jesus seine Hände öffnet und die Nägelmale vorzeigt, sondern dass er die Bibel öffnet und die Jüngerspur aufzeigt. So ist das das Zweite, was traurige Karfreitagschrist­en brauchen:

2. Die Bibelstunde

Da saßen sie also, diese beiden Männer, mit offenen Augen und weiten Ohren. Am Straßenrand findet das erste Bibelkolleg statt. Am Parkstreifen wird Bibelstudium betrieben. Die erste Bibelstunde im Grünen. Ausleger haben immer wieder darüber gerätselt, welche Bibelstellen dieser Jesus als Bibelkurs zugrunde gelegt habe. Sie dachten an Jesaja, Hosea oder Micha. Aber Jesus spielt kein Bibelpuzzle mit ihnen. Lukas berichtet, dass der Auferstandene das ganze Alte Testament transparent gemacht hat für den Weg des Sohnes Gottes: “Musste nicht Christus solches leiden und zur Herrlichkeit eingehen?” Der Jesusweg ähnelt nicht dem Stuttgarter Rundwanderweg, der um den ganzen Kessel führt, damit die Spaziergänger die Stadt von allen Seiten begucken können. Das ist ein sanfter und gepflegter Weg mit Ruhebänkchen und Aussichtsplatten, schön für Ausflügler und Besucher. Nur geht dieser Weg immer im Kreis und führt zum Ausgangspunkt zurück. Der Jesusweg ist ein Talweg, nicht sanft und gepflegt, sondern steil und dornig, manchmal überhaupt nicht zu finden, weil er zu wenig begangen wird. Aber dafür hat er das, was Serpentinenwege nicht haben, nämlich ein Ziel. Über der Schrift funkt es bei den Männern, dass Jesu Weg durch die Tiefe in die Höhe führt. Über der Schrift geht ihnen ein Licht auf, dass Jesus dort seinen Sieg erkämpft hat, wo alles verloren erscheint. Über der Schrift blicken sie es, dass es durch Tod zum Leben, durch Leiden zur Herrlichkeit geht. Die ganze Bibel zielt auf Christus hin, oder umgekehrt: Dieser Christus begegnet uns im Wort. Das ist die zweite Hilfe für traurige Karfreitagschristen: Nimm die Bibel. Luther hat gesagt: Es ist nie ein klareres Buch geschrieben worden. Sogar Napoleon musste zugeben: Die Bibel ist kein Buch, sondern lebendig Wissen. Und der in St. Petersburg geborene russische Schriftsteller Dmitrij Sergejewitsch Mereschkowskij hinterließ als Fazit seines Lebens, das im Pariser Exil endete: “Täglich habe ich die Bibel gelesen. War es im Licht der Sonne oder im Schein des Herdes, war es am hellen Tag oder in finsterer Nacht. Was habe ich auf Erden vollbracht? Ich las die Bibel.” Wir mögen oft abgehalten werden. Wir mögen uns lieber an andere Bücher halten. Wir mögen gar nicht mehr so viel von dieser heiligen Schrift halten. Jesus hielt eine Bibelstunde, und wohl dem, der sich auch dazu hält.

3. Die Abendmahlsstunde

Da standen sie also, diese beiden Männer, mit einladenden Gesten: “Bleibe bei uns, denn es will Abend werden.” Ist es nur Höflichkeit, einen weiterziehenden Gesprächspartner nicht einfach weiterziehen zu lassen? Bleibe bei uns, denn es will dunkel werden? Ist es nur Menschlichkeit, keinen ohne festes Dach ziehen zu lassen? Bleibe bei uns, denn es will Nacht werden. Ist es erwachende Liebe zu dem, den sie noch nicht richtig erkennen? Wir wissen es nicht. Nur das wird berichtet, dass er die Einladung annimmt, die bescheidene Gastlichkeit nicht verschmäht und mit ihnen Brotzeit macht. Aber nun so, dass er das Verhältnis umkehrt und sich selbst zum Gastgeber macht. Er nahm das Brot, er dankte, er brach’s, er gab’s ihnen. Und dann fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen: So brach doch Jesus das Brot, als er die 5000 Leute in der Wüste satt machte. So brach doch Jesus das Brot, als er mit seinen Jüngern Passah feierte. So kann nur Jesus das Brot brechen. Er ist es. Er lebt. Er ist auferstanden So war das in Emmaus, und so kann das bei uns sein. Wenn wir sagen: Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden, es will dunkel werden, es will Nacht werden, Herr, es will uns Angst werden vor allem Kommenden, dann lädt er uns an seinen Tisch. Abendmahl ist Mahlzeit unterwegs. Abendmahl ist Brotzeit auf dem Wege. Abendmahl ist Tischzeit mit dem Herrn. Zugegeben, er ist nicht sichtbar gegenwärtig. Auch damals war es nur ein flüchtiger Augenblick. Kaum hatten sie ihn entdeckt, dann war er sofort verschwunden. Es bleibt dabei, dass wir im Glauben und nicht im Schauen leben. Aber in diesen Zeichen von Brot und Wein haben wir sein Lebenszeichen.

In meinem Bücherschrank stehen die zeitkritischen Bekenntnisse des messerscharfen Satirik­ers Malcolm Muggeridge. Einige Lebenserinnerungen hat er unter dem Titel “Von Utopia nach Emmaus” herausgegeben. Und dort heißt es wörtlich: “Ich beendete meine Filmarbeiten für den BBC im Heiligen Land damit, dass ich mit meinem Freund die Straße nach Emmaus ging. Wir riefen uns, genau wie Kleopas und sein Gefährte, unterwegs die Vorgänge von Karfreitag und Ostern ins Gedächtnis zurück. Es war keine Einbildung, dass auch uns sich ein Dritter zugesellte, dessen Gegenwart wir deutlich spürten. Und ich sage Ihnen: Wohin unser Weg auch führt, stets ist dieser Dritte gegenwärtig, bereit, aus der Dämmerung hervorzutreten und uns auf dem staubigen, steinigen Weg zu begleiten.”

Liebe Freunde, wohin Ihr Weg auch führt, in die Höhe oder in die Tiefe, in die Nähe oder in die Ferne, in das Leben oder in den Tod, stets ist dieser Dritte dabei, denn Jesus lebt. “Ich bin gewiss, nichts soll mich von Jesu scheiden, keine Macht der Finsternis, keine Herrlichkeit, kein Leiden. Er gibt Kraft zu dieser Pflicht. Dies ist meine Zuversicht.”

Amen