Marschbefehl
Nach Galiläa sollen sie gehen. Auf den Berg sollen sie steigen. Zum Gipfeltreffen sollen sie erscheinen. Der Herr ordnet einen Abschiedsempfang für seine elf Jünger an.
Liebe Gemeinde, wir meinen aus Erfahrung zu wissen, wie solch feierliche Abdankung über die Bühne geht. Zuerst kommt der Rechenschaftsbericht, der die dreijährige, gute Zusammenarbeit lobend unterstreicht. Vom See Genezareth bis zum Garten Gethsemane spannt sich der weite Bogen. Im Zeitraffertempo laufen die Höhepunkte in Galiläa und Judäa noch einmal ab. Rechenschaftsberichte sind gebündelte Geschichte. Dann folgt eine Dankadresse, die die geleistete Arbeit ins rechte Licht rückt. Orden- und Ehrenzeichen werden an die Brust geheftet. "Sie haben sich um die Reichsgottessache verdient gemacht." Dankadressen sind wohlgesetzte Worte. Schließlich findet die Verabschiedung in den wohlverdienten Ruhestand statt. Eine Kapelle intoniert den großen Zapfenstreich. Ein kräftiger Händedruck, ein paar Krokodilstränen und Petrus i.R. und Jakobus i.R. und Johannes i.R. melden sich ab. Verabschiedungen sind bewegende Augenblicke.
Aber diese Abdankung geht nach anderem Protokoll. Hier wird kein Rechenschaftsbericht vorgelegt. Hier wird keine Dankadresse vorgetragen. Hier wird keine Verabschiedung vorgenommen. Hier wird ein neuer Befehl erteilt: "Gehet hin zu allen Völkern, taufet sie auf den Namen des Vaters und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe*.
Wir tun gut daran, dieses andere Protokoll zur Kenntnis zu nehmen. Bei diesem Herrn gibt es keine Berichte, die uns die Vergangenheit durchleuchten und verständlich machen, weil er uns wahrlich keine Rechenschaft schuldig ist. Bei diesem Herrn gibt es keine Bedankungen, die uns zu Orden- und Ehrenträgern adeln, weil wir wahrlich keinen Dank verdient haben. Hier gibt es keine Entlasspapiere, die uns in den Ruhestand befördern, weil wir wahrlich nicht alles getan haben, was wir zu tun schuldig sind. Bei diesem Herrn gibt es nur einen neuen Befehl, der uns neue Unruhen bescheren wird.
Pfarrer Wilhelm Busch erzählt einmal aus dem Kirchenkampf. Die erste Gefängnisstrafe hatte er abgesessen, weil er dem Polizeipräsidenten sehr verdächtig war. Eine andere Dienststelle aber hatte ihn zum Standortpfarrer der kasernierten Polizei ernannt. So kam es bei einem Festessen im Kasino zu einem denkwürdigen Zusammentreffen zwischen ihm und dem Polizeipräsidenten. Der war zuerst verlegen und erstaunt, diesem missliebigen und verhassten Pfaffen plötzlich gegenüberzustehen: "Ah, Pfarrer Busch!" Aber dann brüllte er auf einmal los: "Warum gibt es denn keine Ruhe mit der Kirche?"
Das ist die Frage, die immer wieder gestellt wird: Warum gibt es denn keine Ruhe mit der Kirche? Warum gibt es denn keine Ruhe mit der Gemeinde? Warum gibt es denn keine Ruhe mit den Christen?
Doch einfach deshalb, weil es vielleicht eine Sonntagsruhe oder Waldesruhe oder Friedhofsruhe geben mag, aber keine Christenruhe. Seit dieses Gipfeltreffen in Galiläa nicht zu einem Abschiedstreffen alter Kameraden verkam, sondern zum Rüsttreffen neuer Missionare wurde, ist Ruhe nicht mehr die erste Bürgerpflicht. Er macht keinen Punkt, sondern setzt einen Doppelpunkt. Er macht nicht Schluss, sondern setzt einen Anfang. Er macht nicht aus, sondern weiter. Jesus stellt auf die Füße. Jesus setzt in Bewegung. Jesus schickt los. Missionsbefehl ist Marschbefehl: Gehet, taufet, lehret!
Weil er seither in Kraft ist und seine volle Gültigkeit behalten hat, müssen wir seinen Dreiklang neu hören.
1. Gehet
... befiehlt Jesus. Er zeigt auf die Dörfer, die sich in der Nähe des Berges befinden. Gehet nach Kain und Nazareth und Sephoris! Er zeigt auf die Städte, die sich in der Ferne ausdehnen. Geht nach Kana, Jericho, Jerusalem! Er zeigt auf die Länder, die sich hinter dem Horizont verlieren. Geht hin zu allen Völkern, nach Kleinasien, Griechenland, Rom. Jesus legt ihnen also keine Landkarte im Maßstab 1:20.000 vor, auf der ein paar rote Wanderwege zum Marschieren eingezeichnet und ein paar Wurstbratstellen zum Verschnaufen ausgewiesen sind. Dieser Herr denkt immer im Weltmaßstab. Wer das Reich Gottes im Kopf hat, muss den Globus vor Augen haben. Im Blick auf Rassen und Klassen, Völker und Nationen, Erdteile und Kontinente gilt: Gehet!
Aber "einige zweifelten", aber einigen kamen die Zweifel, aber einige standen als Zweifler dabei. Wollen denn die Dorfbewohner das Wort eines Nazareners, von dem sie sagen, dass von Nazareth nichts Gutes komme? Bauern wollen Vieh im Stall und Frucht auf den Feldern, aber kein Wort. Wollen denn die Stadtmenschen das Wort eines Wandervogels, von dem sie behaupten, dass er verrückt geworden sei? Städter wollen Brot auf den Tisch und Geld auf der Kante. Wollen denn die schönheitsbesessenen Griechen und weisheitsdurstigen Römer das Wort eines Gehenkten, von dem sie kolportieren, dass er ein Revolutionär sei? Griechen und Römer wollen Zeit zur Muse und Musik zum Tanz.
Wollen denn unsere Dorfbewohner? Wollen denn unsere Stadtmenschen? Wollen denn unsere Zeitgenossen? Was ist denn, wenn niemand will? Und Jesus sagt: Gehet!
Es geht gar nicht darum, was sie wollen, sondern was sie brauchen. So wie rechte Eltern nicht dauernd fragen, was denn die Kinder auch noch wollen und sich von Herzen wünschen, sondern ihnen das geben, was sie zum Leben brauchen, so fragt Gott nicht dauernd nach unseren Herzenswünschen, sondern gibt uns das Lebensnotwendige. Jeder Mensch aber braucht letztlich kein Vieh im Stall und kein Geld auf der Kante und keine Zeit zur Muse, so beruhigend dies alles auch sein mag, sondern jedermann braucht die Botschaft dieses Herrn, von der Paulus sagte, dass sie fähig sei zu retten alle Glaubenden.
Die Schuld zum Beispiel ist international. Keiner kann behaupten, dass er kein Dreck am Stecken habe und nur mit weißer Weste durch die Gegend laufe. Deshalb geht hin und saget: "Gott warf all unsere Sünden auf ihn." Oder Angst zum Beispiel ist weltweit. Keiner kann beteuern, dass er furchtlos lebe und vor nichts zittere. Deshalb gehet hin und saget: "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden." Oder Schmerz zum Beispiel ist global. Keiner kann beschwören, dass er nur glücklich lebe und Schmerzen nur vom Hörensagen kenne. Deshalb gehet hin und sagt: "Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten." Oder der Tod überschreitet ohne Pass jede Grenze. Keiner kann uns weismachen, dass er seinem Ende ohne jede Bewegung entgegensähe. Deshalb gehet hin und saget: "Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?"
Gehet, befiehlt Jesus in seinem Marschbefehl, und ...
2. Taufet
... befiehlt Jesus. Er zeigt auf die Männer, die vor den Häusern sitzen und palavern. Tauft Tagelöhner, Handwerker, Grundbesitzer. Er zeigt auf die Frauen, die in den Häusern werkeln und kochen. Tauft Dienstmägde, Hausfrauen, Geschäftsinhaberinnen. Er zeigt auf die Kinder, die hinter den Häusern tollen und spielen. Tauft Dreckspatzen, Lausbuben, Gassenjungen. Jesus entwickelt keine komplizierte Tauftheologie, wer und wie und wann und wen und ob überhaupt getauft werden soll. Dieser Herr ließ sich selbst taufen und führte damit bewusst eine alte Täufertradition fort. Glaube und Taufe gehört bei ihm zusammen, denn "wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden". Deshalb gilt: Tauft!
Aber "einige zweifelten", einigen kamen Zweifel, einige standen als Zweifler dabei. Ist denn nötig, dass Männer mit gesundem Selbstbewusstsein zur Taufe kommen müssen? Irgendwo ist das peinlich. Ist denn nötig, dass Frauen mit liebender Hingabe zur Tauffeier erscheinen müssen? Irgendwie ist das genierlich. Ist denn nötig, dass Kinder mit offenen Gesichtern untergetaucht werden müssen? Irgendwann ist das unverständlich. Ist denn nötig, dass alle Glieder in seinem Reich mit diesem Gnadenmittel zu tun bekommen müssen? Ist denn das nötig? Und Jesus sagt: Taufet!
Es geht gar nicht darum, was wir für nötig erachten, sondern um das, was er für nötig hält. Und Gott hält es für notwendig, dass wir alle auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft, das heißt wörtlich, auf das Konto des dreieinigen Gottes überschrieben werden. In der Taufe sagen wir zu den Erwachsenen: Du gehörst ihm und jede andern Verderbensmacht ist der Zugriff entzogen. In der Taufe sagen wir zu den Kindern: Du gehörst ihm und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden. In der Taufe sagen wir jedem: "Du bist in Christus eingesenkt, du bist mit seinem Geist beschenkt."
Gewiss wird heute mit der Taufe viel Schindluder getrieben. Viele sind der Meinung, sie wirke automatisch wie eine Schluckimpfung oder wie ein Zauberwasser oder wie ein Narkosemittel. Andere haben deshalb die Taufe ganz auf die Seite geschoben. Aber auch hier gilt der altrömische Satz: Abusus non tollit usum. Missbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf. Dass man an Gas zu Tode vergiften kann, schließt nicht aus, dass man auf Gas eine Suppe kochen kann. Dass man an einem falschen Taufverständnis sich den ewigen Tod holen kann, schließt nicht aus, dass man mit der Taufe ein ganz großes Geschenk erhalten kann: nicht Eintrittsbillet zum besseren Leben, wie Heinrich Heine bissig bemerkte, sondern Heilszueignung des ewigen Lebens. Also ein unermesslicher Reichtum, den ich gar nie ausschöpfen kann. So wie sich Philipp Friedrich Hiller, der schwäbische Paul Gerhardt von Steinheim am Albuch, trotz allem Leiden und Tiefschlägen freuen konnte, dass es in seinem Leben nicht nur einen Geburtstag, sondern auch einen Tauftag gegeben hat: "Meine Taufe freuet mich, mehr als mein natürlich Leben", so sollen sich noch viele trotz Sorgen und Traurigkeiten darüber freuen können, deshalb "taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes".
"Taufet!", befiehlt Jesus in seinem Marschbefehl, und ...
3. Lehret
... befiehlt Jesus. Er zeigt auf die Götzenanbeter, die vor großen Bildern räuchern. Lehret sie das 1. Gebot halten: "Du sollst keine andern Götter neben mir haben. Er zeigt auf die Totschläger, die andere ums Leben bringen. Lehret sie das 5. Gebot halten: "Du sollst nicht töten". Er zeigt auf die Skrupellosen, die ihre Ehepartner sitzen lassen. Lehret sie das 6. Gebot halten: "Du sollst nicht ehebrechen". Jesus hat zu keiner Zeit die göttliche Grundordnung außer Kraft gesetzt. Dieser Herr wollte vielmehr, dass nicht ein winziger Buchstabe vom Gesetz falle. Gottes Wille soll bei uns regieren, deshalb gilt: Lehret!
Aber einige zweifelten. Aber einigen kamen Zweifel. Aber einige standen als Zweifler dabei. Verstehen denn die Heiden, dass ihre Räucherei nicht recht ist? Verstehen denn die Mörder, dass sie ihre Hände nicht blutig machen dürfen? Verstehen denn die Verheirateten, dass sie mit Seitensprüngen seine Grundordnung verletzen? Versteht denn unsere Generation noch Gottes Wille? Und Jesus sagt: Lehret!
Es geht gar nicht darum, was sie verstehen können, sondern darum, was sie endlich wieder hören müssen. Wer sagt's denn noch, dass Pendeln und Kartenlegen und Horoskope machen Schuld ist? Wer sagt's denn noch, dass Tötung von ungeborenem Leben Sünde ist? Wer sagt's denn noch, dass Ehebruch Gebotsbruch ist? Erst wenn wir uns wieder an Gottes Grundordnung ausrichten, werden wir tragbare Zustände bekommen. Sein Wille ist unser Heil, deshalb "lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe".
Lehret, befiehlt Jesus in seinem Marschbefehl und taufet und gehet!
Und wenn dann zum letzten Mal schwere Zweifel an uns nagen, ob wir denn das packen, dann müssen wir auf den Schlusssatz achten: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage".
Es ist noch keiner im Namen Jesu losgezogen, ohne dass sein Herr mitgegangen wäre, unsichtbar, aber wirklich und wirksam. Nur ein Einziger beim Besuch eines andern, dem er die gute Nachricht weitersagen will, aber der Herr ist dabei. Nur zwei oder drei im Schülerkreis, die sich in der Pause treffen, aber der Herr ist mit ihnen. Nur 50 oder 70 im Gottesdienst, die sich aufgemacht haben, aber anwesend ist immer einer mehr als man Köpfe zählt. Es gibt keinen Tag, an dem wir auf uns selbst gestellt wären, denn er ist bei uns alle Tage. Und es gibt keinen Quadratmeter Erde, der außerhalb seines Machtbereichs läge, denn er ist bei uns bis an das Ende der Welt. Seine Leute stehen immer und überall unter der Schutzmacht des Herrn. Für sie ist es gar nie Matthäi am letzten, sondern für sie steht immer in Matthäi am letzten: Ich bin bei euch jetzt. Ich bin bei euch morgen. Ich bin bei euch immer.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]