Aktuelle Praxis der Fußwaschung in Gemeinden
Du hast eben die Fußwaschung gerade oben angesprochen. Heute gibt es ja auch noch Gemeinden, die Fußwaschung praktizieren. Ist das denn eine Abstammung von Herrn Hüther? Oder handelt es sich um eine ganz andere Strömung, zum Beispiel die Gemeinde Gottes in Herford, die ja ebenfalls die Fußwaschung durchführen?
Ganz genau, da habe ich auch mit Leuten gesprochen, die das regelmäßig praktizieren. Sie sehen es als ein Zeichen an, dass sie allein richtig biblisch sind, weil die Fußwaschung ja von Jesus so eingeführt worden sei und die anderen Gemeinden das nicht machen.
Hier würde ich sagen: Die Gemeinde Gottes in Herford ist eigentlich eine Abspaltung von den Methodisten. Sie betonen deshalb auch die Heiligungslehre sehr stark. Ob es da jetzt eine direkte innere Beziehung bezüglich der Fußwaschung von Zinzendorf über den Methodismus zur Gemeinde Gottes gibt, weiß ich nicht. Das kann ich so nicht sagen.
Die Herrenhuter haben die Fußwaschung später aufgegeben und nicht weiter fortgeführt. In der Zeit war es jedoch so, dass viele Ideen, die entwickelt wurden, auch diese Fußwaschungsidee einschlossen.
Unabhängig davon haben später auch andere Gemeinden ähnliche Praktiken vertreten, unter anderem eben die Gemeinde Gottes. Ob sie sich direkt darauf berufen oder ob sie unterschwellig davon beeinflusst sind, kann ich nicht sagen. Das weiß ich nicht.
Aber es stimmt, in dieser Gemeinde wird die Fußwaschung praktiziert. Ich kenne auch ein paar andere Gemeindetypen, die das tun. Allerdings ist das in Deutschland eher die Ausnahme.
Ich kenne nur wenige Gemeinden, die das machen. Wobei man natürlich die Freistandkundigen da ausnehmen könnte. Aber das wäre jetzt eine ganz andere Frage, eher exegetischer Natur.
Persönliche Einschätzung zu Zinzendorf und seinen Innovationen
Gibt es noch etwas, das ihr genauer wissen möchtet? Wenn nicht, möchte ich euch gerne fragen: Was haltet ihr denn jetzt von Zinzendorf?
Ich finde es gut, dass er damals großen Wert auf den Dienst gelegt hat. Das ist auch der Aspekt, den ich bereits betont habe. Ich habe ihn als sehr innovativ bezeichnet. Er setzte ganz neue Ideen um – manchmal etwas übertrieben, manchmal ließ er sich aber auch korrigieren. Er war auf jeden Fall jemand, der nicht nur im festgefügten Rahmen blieb, sondern immer das Anliegen hatte, sich von Gott leiten zu lassen.
Es war nicht der Zeitgeist, den er einfach mitnahm. Vielmehr versuchte er, aus seinem Bibellesen und seiner Frömmigkeit heraus neue Formen zu entwickeln. Manche davon würden wir heute als interessante neue Ideen ansehen, andere finden wir vielleicht etwas merkwürdig. Ein Beispiel dafür sind die heutigen Lobpreisgottesdienste, also Gottesdienste, die vor allem aus Singen bestehen.
Was sagt ihr sonst noch zu ihm? Vielleicht bleibt bei euch auch der Eindruck zurück, den ich ganz zu Anfang erwähnt habe: Bei Zinzendorf gibt es sehr unterschiedliche Bewertungen. Ich habe gesagt, die einen hielten ihn damals für einen entfeuerten Sektierer, die anderen sahen in ihm ein Vorbild wie Jesus. Dazwischen gibt es alle möglichen Abstufungen.
Vielleicht könnt ihr, nachdem ich jetzt sein Leben vorgestellt habe, ein bisschen nachvollziehen, woher diese unterschiedlichen Meinungen kommen. Wenn man sich an einigen seiner ungewöhnlichen Dinge festbeißt, kann man sagen: „Wie schlimm, was macht der da?“ Wenn man aber andere Seiten sieht – seine herzliche Liebe, seine Bereitschaft, sich vollkommen einzusetzen, seinen Blick für die Missionsarbeit –, dann ist das herausfordernd und vorbildlich.
In Zinzendorf stecken also beide Seiten. Er ist eine sehr vielfältige Person. Ähnlich war es bei Franke, aber auf ganz andere Weise. Franke war mehr der Typ, bei dem alles zusammengehörte, alles aufeinander aufbaute, alles wohlüberlegt, durchdacht und organisiert war. Bei Zinzendorf wirkt das nicht so, und es war auch nicht immer so.
Er lebt zwar nicht nur aus dem Impuls heraus, aber dieser spielt bei ihm schon eine stärkere Rolle.
Wenn ihr keine weiteren Fragen habt, möchte ich jetzt noch ein bisschen auf einige der Radikalen innerhalb des Pietismus in der damaligen Zeit eingehen.
Radikale Strömungen im Pietismus: Ein Überblick
Bei diesen Radikalen möchte ich euch stellvertretend einige Personen vorstellen, damit ihr seht, dass es nicht nur liebe und nette Leute gab. Manche dieser Radikalen waren zwar lieb und nett, aber es gab auch einige etwas eigenartige Personen innerhalb des Pietismus dieser Zeit.
So wird zum Beispiel berichtet, dass der erste Pietist, der in Württemberg auftritt, Ludwig Brunnquell war, etwa um 1690. Das heißt, noch bevor Franke seine Anstalten gründete. Franke war zu diesem Zeitpunkt bereits bekehrt und gehörte somit zur zweiten Generation. Brunnquell sah sich als Gefolgsmann des Mystikers Jakob Böhme und war ein begeisterter Anhänger des Chilialismus, also der nahen Ankunft Jesu und des baldigen Beginns des tausendjährigen Reiches. Das verkündete er auch offen.
Er prophezeite den baldigen Untergang des Papsttums und damit auch des Römischen Reiches. Die römische Kirche, die in der Bibel erwähnt wird, sah er als Babylon an – aus seiner Sicht war das die katholische Kirche. Trotz mehrerer Aufforderungen seitens der Kirchenleitung, seine Position aufzugeben, hielt er daran fest. Schließlich wurde er vom Stuttgarter Konsistorium der evangelischen Kirche seines Amtes enthoben.
Dann haben wir Ludwig Friedrich Giftheil, einen Vertreter eines mystischen Spiritualismus, der sich ebenfalls zum Pietismus zählte, obwohl er noch etwas vor Spener auftrat. Im Jahr 1636 betrat er mit einem Dolch bewaffnet die Kanzel der Tübinger Stiftskirche, um den Theologen Lukas Osiander II. auf der Kanzel zu erstechen. Der Grund: Osiander war Anhänger der lutherischen Orthodoxie. Giftheil meinte, dieser mache die Kirche kaputt und müsse deshalb bekämpft werden.
Man könnte in Giftheil vielleicht einen Vorläufer der Befreiungstheologie sehen oder etwas Ähnliches. Die guten Absichten, wenn man etwas als richtig erkennt, rechtfertigen aus dieser Perspektive offenbar auch einen gewaltsamen Eingriff.
Diese beiden Personen sind Beispiele für eine radikale Seite des Pietismus. Giftheil schaffte es nicht, sein Vorhaben umzusetzen. Er rangelte mit dem Pastor auf der Kanzel, einige andere kamen zur Hilfe, und er wurde eingesperrt, obwohl er nichts vollendet hatte. Dennoch führte dies zu einer Verurteilung.
Hier sehen wir, dass einigen Pietisten der Erfolg zu Kopf stieg. Sie fühlten sich von Gott berufen, sogar Mordanschläge für die Sache Gottes auszuüben. Das ist eine andere Seite des Pietismus.
Frank und auch Spener förderten einen bibelorientierten Pietismus, der mit beiden Beinen auf dem Boden blieb. Dieser war weitreichend, aber maßvoll. Daneben gab es jedoch auch einen spiritualistischen Zweig des Pietismus, der sich so definierte, dass er unmittelbar unter der Geistesleitung stand. Das führte manches Mal zu Fehlentwicklungen, die wir heute deutlich erkennen können. Damals waren Menschen unsicher: Wirkte hier wirklich der Heilige Geist? War das wirklich so, wie man es sich vorstellen sollte, oder nicht?
Das Ehepaar Petersen und ihre Lehren
Als nächstes sei das Ehepaar Petersen genannt. Johann Wilhelm Petersen und Johanna Eleonora Petersen entwickelten die Lehre des Chilialismus, also die Vorstellung, dass das Tausendjährige Reich bald anbrechen werde, sowie die Lehre der Allversöhnung.
Johanna Eleonora Petersen, geborene von und zu Merlau, gehörte zum Adel, allerdings nicht zum Hochadel von Wilzinsendorf. Sie wuchs an mehreren adeligen Höfen auf und war eine tiefsinnige, etwas melancholisch veranlagte Persönlichkeit. Wie Wilzinsendorf war sie vom damaligen Hofleben abgestoßen. Als junge, fromme Frau lernte sie in Frankfurt Späner kennen. Dort gehörte sie zur ersten Generation, die zum Glauben kam, sah ihren Platz als von Gott bestimmt und schloss sich hinter dem Juristen Schütz an. Schütz hatte eine eigene Freikirche im Saalhof in Frankfurt gegründet, der sie sich anschloss.
Später trennte sie sich von Frankfurt, lernte schließlich Johann Wilhelm Petersen kennen. Obwohl sie von Merlau geboren war, war Petersen von ihr fasziniert. Sie muss eine ansprechende Persönlichkeit gewesen sein, musisch und künstlerisch begabt. Er übergab ihr seine Doktorarbeit, die sie wenige Wochen später gelesen zurückgab. Dabei sagte sie, sie habe darin nur den Gott Petersens kennengelernt. Sie kritisierte seine Arbeit scharf und meinte, das, was er sage, sei vollkommen daneben, keine richtige Theologie. Außerdem sei der Glaube bei ihm nur eine intellektuelle Auseinandersetzung.
Diese schroffe Ablehnung führte jedoch nicht zur Trennung. Einige Zeit später heirateten die beiden und blieben zusammen. Sie waren insbesondere mehrere Jahre im kirchendienstlichen Norddeutschland unterwegs. Dabei ergänzten sie sich: Sie hatte Visionen, von denen sie meinte, sie kämen von Gott, und er verfasste diese in Büchern. Gemeinsam veröffentlichten sie zahlreiche Werke über Endzeitspekulationen, zukünftige Ereignisse und das Gericht Gottes.
Sie griffen die lutherisch-orthodoxe Kirche mehrfach massiv an, sahen aber die nahe Wiederkunft Jesu unmittelbar bevorstehen. Durch eine übernatürliche Eingebung erhielten sie die Wahrheit der Allversöhnungslehre offenbart, also die Vorstellung, dass letztlich alle Menschen gerettet würden.
Diese Lehre ist ein Zweig des Pietismus, der bis heute in einigen Gebieten Bad Württembergs anzutreffen ist. Dort gibt es pietistische Kreise, die sich stark an der Allversöhnungslehre orientieren. Das Ehepaar Petersen ging davon aus, dass es ein Zwischenreich gebe, in dem die Seelen der Verstorbenen eine Läuterung erfahren, also eine Reinigung von der Sünde. Dadurch würden schließlich alle gerettet. So lässt sich das Ehepaar charakterisieren.
Gottfried Arnold und seine kirchenkritische Sicht
Dann gibt es als Nächstes Gottfried Arnold. Er ist insbesondere bekannt geworden, weil er zunächst Pfarrer in der evangelisch-lutherischen Kirche war und diese dann relativ massiv kritisierte. Er sagte nämlich, die lutherische Kirche sei das Babel der Endzeit. Außerdem meinte er, man müsse jetzt wieder zur Urgemeinde zurückkehren. Diese Urgemeinde sollte eine Art Hausgemeinde sein, und man könne so der ersten Liebe nacheifern.
Es wundert daher nicht, dass er seines Pfarramts enthoben wurde. Jahrelang arbeitete er an einer ersten Kirchengeschichte aus pietistischer Sicht. Diese wurde 1699 und 1700 in zwei Abteilungen, in zwei Bänden, unter dem Titel „Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie“ herausgegeben. Das war eine ganz neue Perspektive, die bis heute zum Teil sehr prägend ist.
Arnold geht davon aus, dass es zunächst die Urgemeinde gab, dann aber ein großer Verfall einsetzte. In diesem Verfall wurde die Urgemeinde zur Staatskirche, und zwar unter Konstantin dem Großen. Dieses Muster wurde später häufig im Pietismus vertreten: Die Urgemeinde wird idealisiert und sehr positiv dargestellt. Danach folgt ein Verfall der Kirche, der etwa 1200 Jahre dauert – bis zur Reformation. In der Reformation wirkt Gott wieder, allerdings zunächst nur eingeschränkt. Erst im Pietismus kommt dieses Wirken Gottes wieder zur vollen Blüte, und zwar nicht im kirchlichen, sondern im außerkirchlichen Pietismus, so interpretiert Arnold das.
Zwischendurch gibt es immer kleine Reste, in denen Gott noch wirksam ist. Das sind besonders Gruppen, die von der Kirche verfolgt werden. Manches Mal würden wir aus heutiger Perspektive sagen, dass Arnold hier sicherlich nicht ganz unrecht hat. Denken wir beispielsweise an die Waldenser, eine Kirche, die im Mittelalter von Petrus Valdes im Süden Frankreichs gegründet wurde. Diese hatten ähnliche Ideen wie Luther und wollten zurück zur Bibel. Oder denken wir an John Wycliffe, den ich schon als Vorläufer des Pietismus im Spätmittelalter genannt habe.
Solche Personen werden von Arnold genannt und gelten bei ihm nicht mehr, wie in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung üblich, als Ketzer, sondern als Garanten und Überreste der wahren Gemeinde Jesu. An vielen Punkten würden wir heute wahrscheinlich als überwiegend evangelisch orientierte Menschen zustimmen. An manchen Stellen jedoch geht Arnold auch zu weit. Denn jede Gruppe, die von der katholischen Kirche verfolgt wurde, war deshalb nicht automatisch gut. Manchmal hat die katholische Kirche Gruppen verfolgt, die wirklich sektiererisch waren.
Ob die Verfolgung gerechtfertigt war oder nicht, ist eine andere Frage. Aber es ist nicht ganz so einfach zu sagen, dass alles, was von der katholischen Kirche verfolgt wurde, automatisch gut war. Dennoch war Arnolds Perspektive auf die Kirchengeschichte eine ganz andere. Es war keine Geschichte der Päpste, der Konzilien und der Kirchenbeschlüsse mehr, sondern eine Geschichte der einfachen Menschen.
Diese Perspektive rückt heute in der Kirchengeschichtsschreibung wieder neu in den Mittelpunkt. Dabei beschäftigt man sich verstärkt mit dem Glauben und Leben der einfachen Menschen – und nicht nur mit der Kirchentheologie. Das ist auch gar nicht so falsch. Denn an der heutigen Situation merkt man, dass das, was in Kirchenbeschlüssen vertreten wird, nicht unbedingt das ist, was in der Gemeinde geglaubt wird. Das gilt sowohl für Freikirchen als auch für Landeskirchen. Das sind ganz unterschiedliche Ebenen.
Was Theologen ausbrüten und in Glaubensbekenntnissen zusammenfassen, ist nicht unbedingt das, was in großen Teilen der Gemeinde geglaubt wird. Das ist sicherlich etwas Positives. Aber Gottfried Arnold ist in seiner Sicht auf die Zukunft und auf die Vergangenheit etwas radikal.
Johann Konrad Dippel und seine kontroversen Ansichten
Dann gibt es als Nächstes Johann Konrad Dippel (1673–1734). Im achten Lebensjahr hat er einen Traum, in dem ihm Jesus die Hand auf den Kopf legt und ihn später als Anhänger anwirbt, wie er selbst berichtet.
Zunächst ist er ein gelehrter Anhänger der lutherischen Orthodoxie. Später lernt er Pietisten kennen, bekehrt sich und nimmt ein Pseudonym an, nämlich Christianius Democritus. Unter diesem Namen veröffentlicht er zahlreiche Schriften. Das Pseudonym wählt er, weil seine Schriften relativ heftig sind und die Kirche stark angreifen.
Dippel interessiert sich auch für Alchemie und versucht, auf natürlichem Weg Gold zu gewinnen. Später promoviert er in der Medizin und zeigt damit, dass er ein vielseitiger Geist ist. Er versucht, für seine Ideen zu begeistern, schafft das jedoch nicht.
Er tritt in den Dienst des dänischen Königs, der ebenfalls fromm ist. Zinzendorf steht ebenfalls mit diesem König in Verbindung. In Dänemark äußert Dippel jedoch gesellschaftskritische Ansichten und sagt, sein Dienstherr sei jetzt auch zu Babylon gefallen. Das missfällt dem König, der ihn daraufhin verhaften lässt und zu lebenslanger Haft auf die Insel Bornholm verbannt, weil Dippel die Obrigkeit und den Staat angegriffen hat. Dabei ist zu beachten, dass der König zu dieser Zeit bereits eher fromm ist.
Nach seiner Begnadigung reist Dippel nach Stockholm in Schweden. Dort spaltet er die pietistische Bewegung, und zwar durch seine Endzeitvorstellungen. Einen Teil der Bewegung führt er in die Separation. Eine Zeit lang wird er Anhänger von Gottfried Arnold und dessen Idee, dass die Kirche Babylon sei und die Endzeit bald komme.
Den Rest seines Lebens verbringt Dippel auf dem Gebiet des Grafen Kasimir zu Wittgenstein in Berleburg. Dieser hat ein offenes Haus für viele Radikale seiner Zeit. Dippel betont besonders die Lehre von Christus in uns. Er meint, der Christ sei nicht nur gerecht gesprochen, sondern das Erlösungswerk mache jeden Christen zu Christus selbst. So vertritt er seine Auffassung.
Die buttlarsche Rotte und ihre ungewöhnlichen Lehren
Hochmann von Hohenau habe ich schon einmal erwähnt. Er war bekannt für seine Eheethik.
Es gibt außerdem die sogenannte buttlarsche Rotte. So nennt man sie im Nachhinein, damals aber natürlich nicht. Gegründet wurde sie von Eva von Buttlar im Jahr 1670. Sie bestand bis 1727. Ihr Ziel war es, die Jerusalemer Urgemeinde wiederzubeleben.
Zunächst bekehrt sie sich durch eine Predigt von Francke und fühlt sich dann den Bibelkreisen Frankes zugehörig. Später liest sie einige Schriften anderer Radikalpietisten und findet, dass Francke zu lasch sei. Sie ist überzeugt, dass der Heilige Geist noch viel mehr verändern wollte.
Bald glaubt sie, dass es ursprünglich einen geschlechtslosen Urmenschen gegeben habe. Daraus seien dann Adam und Eva entstanden. Gott habe ursprünglich einen einheitlichen Menschen geschaffen.
Dann erhält sie, so meint sie, eine Offenbarung oder einen Auftrag: Sie soll zwei Männer heiraten – den Theologiestudenten Justus Gottfried Winter und den Medizinstudenten Johann Georg Appenfeller. Sie heiratet beide.
Nun sagt sie, sie repräsentiere hier auf der Erde mit ihren beiden Männern die göttliche Trinität. Sie selbst sei der Heilige Geist, die beiden Männer stünden für Vater und Sohn. So würden sie die Trinität auf der Erde abbilden.
Alles Geistliche werde nun ins Körperliche übertragen. Alle geistlichen Aussagen der Bibel über Wachstum und Ähnliches werden in körperliche Handlungen transformiert.
Die Gemeinde, die sich um sie sammelt, verkündet, dass der geschlechtliche Umgang mit „Mutter Eva“ – wie sie sich jetzt nennt, Eva von Buttlar – dazu führen werde, dass alle Mitglieder der Gemeinde in den geschlechtslosen Zustand wiederhergestellt werden.
Alle Kinder, die dabei gezeugt würden, seien sündlose Kinder, weil sie mit „Mutter Eva“ gezeugt worden seien.
Man merkt schon, dass das ziemlich abstrus klingt. Dennoch handelt es sich um eine Gruppe, die sich dem Pietismus zugehörig fühlt und aus diesem hervorgegangen ist.
Es wird wahrscheinlich nicht überraschen, wenn ich nun sage, dass diese Gruppe mit dem Tod von Eva von Buttlar untergegangen ist und keine weiteren Spuren hinterlassen hat.
Die inspirierten Gemeinden und ihre prophetischen Praktiken
Es gibt die sogenannten inspirierten Gemeinden, die eine ganze Gruppe von Gemeinden bilden. Sie sind aus dem Pietismus hervorgegangen und legen besonderen Wert auf die Gabe der Prophetie. Dabei glauben sie, zukünftige Ereignisse sehen zu können und auch gegenwärtige von Gott offenbart zu bekommen.
Diese prophetischen Erscheinungen werden häufig in einem tranceähnlichen Zustand empfangen, der mit Zuckungen und ekstatischen Phänomenen einhergeht. Man versetzt sich bewusst in diesen Zustand. Zu den führenden Persönlichkeiten dieser Bewegung gehören Eberhard Ludwig und Johann Friedrich Rock.
Diese Führer erhalten, wie man damals sagte, häufig „Bezeugungen des Herrn“. Obwohl man nicht direkt von Prophetie spricht, ist genau das gemeint. Diese Offenbarungen geben sie weiter und gründen auf ihren Reisen zahlreiche dieser inspirierten Gemeinden. Sie hoffen, diese Gemeinschaften dauerhaft aufrechtzuerhalten.
Ein Teil dieser inspirierten Gemeinden flieht aufgrund von Verfolgung in Deutschland in die USA. Dort gründen sie eine eigene Gemeinschaft im Staat Iowa, die heute noch unter dem Namen Amana Society existiert. Im Laufe der Zeit haben sich dort allerdings auch einige andere sektiererische Lehren eingeschlichen.
Übrigens sind diese inspirierten Gemeinden auch an einer Uminterpretation der Bibel beteiligt. Ein Beispiel dafür ist die Berleburger Bibel, eine eigene Bibelübersetzung der Radikalpietisten in Berleburg. Diese entstand am Hof des Grafen Kasimir von Wittgenstein und enthält eine Auslegung, die als geistgeleitet gilt.
In dieser Auslegung finden sich allerdings auch einige sehr ungewöhnliche Deutungen. Die Annahme dabei ist, dass man für die Auslegung der Bibel keine Hintergrundkenntnisse über Kultur, Sprache oder Ähnliches benötigt. Stattdessen soll der Heilige Geist die Ausleger so führen, dass sie das Richtige verstehen und veröffentlichen.
Die Schwarzenauer Täufer und ihre Glaubenstaufe
Es gibt auch die Schwarzenauer Täufer, so nennen sie sich. Sie üben besondere Kritik an der Kindertaufe. Das war damals bei einigen radikalen Pietisten der Fall. Der Großteil der Pietisten hingegen kritisiert die Kindertaufe nicht. Sie verstehen sich als in der lutherischen Kirche beheimatet. Sie gehen davon aus, dass Gott seine Gnade in der Kindertaufe gibt.
Darüber hinaus sei eine Bekehrung, eine Wiedergeburt notwendig, die mit dem Willen des Menschen zu tun hat. Diese erneuere dann die Taufgnade, die Gott bereits gegeben hat. Das ist die gängige Perspektive des Pietismus dieser Zeit.
Die Schwarzenauer Täufer kritisieren diese Sichtweise jedoch. Sie fordern die Einführung der Glaubenstaufe. Diese Forderung wurde auch umgesetzt. Die Schwarzenauer Täufer ließen sich in der Nähe von Berleburg nieder. Ihr Leiter war Alexander Mack, der die Großtaufe in der Eder, einem Fluss in der Nähe von Bad Berleburg, durchführte.
Schnell breitete sich diese Bewegung aus. Allerdings kam es vom Staat zu Verfolgungen. Deshalb wanderten die Schwarzenauer Täufer nach Pennsylvania in die USA aus. Dort gründeten sie die Church of Brethren, die es bis heute noch gibt.
Übrigens werden die Herrnhuter Brüder in Amerika nicht Brethren oder Brethren Church genannt, sondern Moravians. Falls man diesem Begriff begegnet, handelt es sich also um die Herrnhuter Brüdergemeinde. Der Name hängt damit zusammen, dass die ersten Flüchtlinge, die Zinzendorf aufnahm, aus Mähren kamen. Deshalb nennt man sie im englischsprachigen Raum Moravians, also „die Mährischen“.
Die meisten blieben zwar in Sachsen und kamen dort zum Glauben, doch ursprünglich kamen die ersten Flüchtlinge aus Mähren. Sie wanderten später auch nach Amerika aus.
Das waren nun einige Schlaglichter auf radikale Gruppen innerhalb des Pietismus. Diese Gruppen traten nicht nur als Einzelpersonen auf, sondern scharten Anhänger um sich. Zum Großteil gingen sie jedoch nach einer Generation wieder unter.
Damit werde ich hier einen Punkt setzen, da unsere Zeit um ist – es sei denn, es besteht Interesse, noch genaueres zu erfahren.
Die Allversöhnungslehre im Pietismus und ihre biblische Grundlage
Die alten Versicherungslehrer, das sind ja heute noch die Herrnsteller in Baden-Württemberg, vertreten diese Lehre ebenfalls relativ stark. Doch auf welche Bibelstelle berufen sie sich überhaupt? Ich habe so etwas in der Bibel noch nie gelesen.
Man erklärt es oft mit einem Bild: Es ist wie ein riesengroßer Berg, von dem jeden Tag eine Taube ein Körnchen wegträgt. Irgendwann, wenn der Haufen verschwunden ist, kommt sie automatisch ans Ziel. Diese Vorstellung findet sich zum Teil in der hannischen Gemeinschaft, bei den Altpietisten, einer Vereinigung in Bad Dürtenberg, und teilweise auch bei der Langensteinbacher Höhe, einem Tagungshaus, das sehr gute Arbeit leistet. Dort wird die Allversöhnung immer wieder betont.
Diese Idee gab es früher schon einmal. Im evangelischen Bereich wurde sie in der Zeit des Pietismus geboren, jedoch nicht von Alt, sondern zum Teil von radikalen Pietisten. Sie stützen sich auf einige Aussagen, die mit dem biblischen und dem griechischen Begriff für Ewigkeit zusammenhängen.
Es wird davon gesprochen, dass die Strafe die ewige Verdammnis sei. Einige Bibelstellen werden herangezogen, in denen der Begriff „Ewigkeit“ nur ein Zeitalter oder einen Zeitabschnitt meint. Daraus wird geschlossen, dass diese Leute nicht dauerhaft in die Hölle kommen, sondern nur für einen sehr langen Zeitabschnitt.
Als Beispiel wird das Bild eines Vogels verwendet, der unendlich lange an einem großen Haufen nagt. Damit will man sagen: So leicht kommen sie nicht in den Himmel, es braucht schon eine längere Zeit. Doch wenn eine sehr lange Zeit vergangen ist, dann ist auch eine Ewigkeit vorbei. Nach dieser Ewigkeit in der Hölle gelangen sie schließlich doch in den Himmel zu Gott. Das ist die Perspektive.
Woraus schließt man das? Zum Beispiel lesen wir im ersten Timotheusbrief, dass Gott will, dass alle Menschen gerettet werden (1. Timotheus 2,4). Jesus wird als Heiland oder Erlöser für alle Menschen bezeichnet, insbesondere für die, die glauben. Diese Verse werden so gedeutet, dass auch die anderen gerettet werden, nur die Gläubigen eben schneller.
Man sieht es auch in solchen Versen wie im ersten Korintherbrief, ich glaube, es ist Kapitel 3 oder 15, da steht, dass man sich Schätze im Himmel sammelt. Es wird gesagt, manche werden wie durchs Feuer hindurch gerettet. Manche sammeln nur Heu, Stroh und Dünger, und diese Dinge werden verbrannt, das Irdische. Doch die Menschen werden dennoch in den Himmel kommen.
Andere sammeln edle Steine, Gold und Silber, und diese nehmen sie mit in den Himmel. Diese Zwischenphase, in der der sündige Mensch, der Heu und Stroh hat, gereinigt wird, ist die Phase der Strafe, der Hölle, des Teufels und der Verdammnis. Aber das ist nicht das Ende, das Ende ist die Erlösung.
Gott hat die ganze Welt geliebt, er ist der Heiland für alle. Diese Verse werden benutzt, um zu sagen, dass der Heilswille Gottes besteht. Dem würde ich entgegnen: Ja, der Heilswille ist da, aber der Wille Gottes bedeutet nicht automatisch, dass alle gerettet werden.
Denn Gott will zum Beispiel auch, dass man nicht lügt – führt das dazu, dass niemand mehr lügt? Natürlich nicht, die Menschen lügen weiterhin. Genauso will Gott, dass die Menschen gerettet werden. Er schafft die Möglichkeit für alle, also jeder könnte gerettet werden. Aber er ist auch bereit zu akzeptieren, wenn ein Mensch dieses Angebot nicht annimmt. So will ich es deuten.
Dass Ewigkeit wahlweise einfach als langer Zeitabschnitt gedeutet wird, halte ich für willkürlich. Was machen wir dann mit dem ewigen Leben? Wenn das ewige Leben auch nicht ewig ist, sondern zeitlich begrenzt, warum gilt das dann für die eine Seite, aber nicht für die andere?
Man merkt, das ist ein Problem. Das funktioniert so nicht, man kann es nicht einfach so handhaben. Diesen tiefen Wunsch, dass alle Menschen gerettet werden, kann ich verstehen und nachvollziehen. Ich wünsche mir auch, dass niemand in die Hölle kommt und würde mich freuen, wenn jeder gerettet würde.
Allerdings sehe ich in der Bibel keinen deutlichen Hinweis darauf, weshalb ich eher zu dieser Allversöhnungslehre eine Distanz habe. Ich kann sie nachvollziehen und auch die Interpretation der Bibelverse verstehen, aber ich teile sie nicht. Das wäre mein Ansatz.
Ich halte die Lehre für gefährlich. Die Menschen, die sie vertreten, sind meistens liebevolle Christen, bei denen das relativ wenig Auswirkungen hat. Wenn man zum Beispiel zu den Brüdern bei der Langensteinbacher Höhe geht, sind das liebevolle Brüder, die genauso evangelisieren können, wie wir es vielleicht auch tun würden. Trotzdem glauben sie an die Allversöhnungslehre.
Die Gefahr besteht eher bei Menschen ohne gefestigtes Glaubensleben oder bei Ungläubigen. Diese könnten am Ende sagen: Warum soll ich mich überhaupt noch bekehren? Hölle ist zwar schlimm, aber ich kann es ja darauf ankommen lassen und lieber das Leben genießen.
Dass die Radikalität, die Jesus in Bezug auf die Ewigkeit ausdrückt, hier und jetzt entscheidend ist, wird durch diese Lehre abgemildert. Das ist, glaube ich, eine große Gefahr. Gleichgültigkeit kann entstehen, und die Tragweite der Entscheidung, die wir hier treffen, wird nicht berücksichtigt.
Die Verfechter der Lehre sehen das oft nicht so, aber bei manchen Menschen wirkt es genau so. Ich war einmal bei einem Freund zu Besuch, vor einigen Jahren. Seine Eltern waren sehr streng. Er sagte: „Egal, lass uns doch mal auf die Piste gehen, es ist nicht so schlimm, wir kommen sowieso irgendwann hierher.“ Das war die Richtung, in die er dachte.
Ich habe im Stillen gedacht: Das ist gefährlich. Solche Auswirkungen sind problematisch. Die wirklich frommen Allversöhner würden so etwas nie tun, weil sie innerlich davon geprägt sind. Aber diejenigen, die das hören – zum Beispiel Jugendliche in der Gemeinde oder Ungläubige draußen – nehmen das falsch auf. Dann entsteht die Einstellung: Es kommt ja nicht mehr darauf an.
Diese Auswirkung entsteht, wird aber von den Leuten nicht gesehen. Das ist ein ethisches Problem, unabhängig davon, dass ich glaube, dass diese Lehre so in der Bibel gar nicht vorkommt.
Den Wunsch und die Hoffnung, dass alle Menschen gerettet werden, kann ich verstehen. Aber das aus der Bibel ableiten zu wollen, halte ich für etwas weit hergeholt.
Abschluss und Ausblick auf weitere Angebote
Ja, noch etwas? Wenn nicht, dann machen wir hier einfach Schluss. Wer möchte, kann gerne noch ein paar Fragen stellen, während die anderen schon gehen.
Was ich noch sagen wollte: Es gibt bald einen Ausflug nach Halle. Diejenigen, die mitkommen wollen, können sich dort auch gerne die Wirkungsstätten anschauen. Wer an diesem Termin nicht kann, kann eventuell auch später einen anderen Ausflug organisieren, vorausgesetzt, es bildet sich eine ganze Gruppe, die mitkommt.
Der nächste Termin ist Samstag, der 19. März. Der Ausflug wird relativ früh beginnen, da ich geplant habe, am Abend wieder zurück zu sein. So fällt keine Hotelunterkunft oder Ähnliches an, was die Kosten deutlich erhöhen würde.
Eine Woche später fahre ich mit einer Gruppe christlicher Lehrer an der August-Hermann-Franke-Schule noch einmal nach Halle. Falls euch der erste Termin nicht passt, haben die Lehrer vielleicht noch Plätze frei und nehmen euch mit. Diese Fahrt geht von Freitag bis Samstag, also eineinhalb Tage mit Übernachtung.
Falls ihr darüber nachdenkt, mit eurer Gemeinde einen Ausflug zu machen, zum Beispiel nach Wittenberg, um die Wirkungsstätten Luthers zu besichtigen, nach Halle zu August Hermann Franke oder zur Wartburg, könnt ihr gerne auf mich zukommen. Ich berate euch gern und, sofern es terminlich passt und ihr das wollt, kann ich auch eine Reiseführung anbieten.
Solche Ausflüge sind häufig für Gemeindemitglieder spannend, die sonst nicht zu einem Seminar kommen würden, weil sie sagen, das sei ihnen zu viel. Aber ein schöner Ausflug, die Orte anzuschauen und dabei noch etwas von der Biografie der betreffenden Person zu hören, das kann viele Leute begeistern. Sie kommen nicht nur wegen der netten Gemeinschaft zurück, sondern auch wegen der geistlichen Anstöße, die sie dabei erhalten.
Ich habe solche Ausflüge schon mehrfach mit Gemeinden gemacht und bisher fast immer positive Resonanz bekommen. Das nur als Idee, falls ihr so etwas organisieren möchtet. Das funktioniert gut.
Wie gesagt, ich habe einige feste Ideen für ein gutes, abwechslungsreiches Programm – auch für Leute, die sonst nicht sehr an Kirchengeschichte interessiert sind.
Wenn es keine weiteren Fragen gibt, dann sage ich: Schön, dass ihr gekommen seid! Bis zum nächsten Mal und einen schönen Abend. Falls euch zuhause noch Fragen einfallen, könnt ihr mich auch gerne anrufen.
