Heute Morgen möchte ich gerne mit euch darüber nachdenken, wie man die eigenen Charakterschwächen erkennen und entdecken kann.
Zu Beginn möchte ich die letzten beiden Verse aus Psalm 139 lesen. Je nach Übersetzung sind das die Verse 23 und 24 oder 24 und 25. In Psalm 139, den letzten beiden Versen, betet David ein sehr wichtiges Gebet: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz.“
Warum betet er das? Was meint ihr? Oder was können wir daraus schließen, wenn er so etwas betet? Genau, es zeigt, dass er sich selbst nicht traut und seinem eigenen Herzen nicht vertraut. Er stellt nicht einfach anmaßend fest, sich selbst zu kennen.
David bittet: „Prüfe mich und erkenne meine Gedanken.“ Das bedeutet, dass er selbst nicht in der Lage ist, sich richtig zu erkennen oder seine Gedanken und Motive zu beurteilen. Der Vers kann auch so übersetzt werden: „Leite mich auf dem Weg der Mühsal oder des Schmerzes“ und „Führe mich auf dem ewigen Weg.“
Ich glaube, dass wir aus diesen Worten einiges für uns lernen können. Darüber möchte ich jetzt gerne eine halbe Stunde mit euch nachdenken.
Die Schwierigkeit der Selbsterkenntnis
Ich würde behaupten, dass wir uns selbst persönlich am schlechtesten kennen. Das klingt sehr paradox. Im Allgemeinen sagt man eher: Jeder kennt sich selbst, oder: Ich kenne mich am besten, du kannst mir nichts erzählen.
Aber wenn wir die Bibel ein wenig kennen und ehrlich zu uns selbst sind, dann müssen wir dem, glaube ich, zustimmen, dass wir uns selbst nicht gut kennen. Meist haben wir ein falsches Bild von uns, je nach Charakter denken wir entweder zu gut oder zu schlecht von uns. Das sind, denke ich, die beiden Kategorien.
Das lässt sich auch schnell feststellen, wenn man Leute sieht, die Fotos austauschen – zum Beispiel von einer Gemeindefreizeit oder einem Familienausflug. Man erkennt sehr schnell, wie die Leute auf diese Fotos reagieren und welches Selbstbild sie haben.
Die einen sagen: „Ach, wenn ich nur so schön wäre wie auf diesem Bild, so sehe ich ja gar nicht aus.“ Diese Menschen haben ein sehr schlechtes Bild von sich und sagen dann oft: „Guck besser gar nicht hin, ich kenne mich selbst viel besser, ich sehe nicht so aus.“
Die anderen sind entsetzt, wenn sie ein Foto sehen und sagen: „So sehe ich doch nicht aus!“ Sie haben ein viel besseres Bild von sich und sind natürlich unheimlich empört oder beleidigt, dass man mit so einem schlechten Fotoapparat oder aus einer falschen Perspektive so ein Bild gemacht hat.
Man erzählt ja von den Menschen in Afrika, die zum ersten Mal einen Spiegel in die Hand bekamen und sehr böse reagierten, indem sie den Spiegel zertrümmerten. Sie hatten sich bisher immer nur im Wasser gesehen. Als sie sich dann tatsächlich im Spiegel sahen, sagten sie: „Das kann doch nicht wahr sein, so sehe ich doch nicht aus!“ – und zerbrachen den Spiegel. So sind wir leider auch oft.
Ich habe das selbst gut erlebt: Vor Jahren wurde auf unseren Freizeiten zum ersten Mal mit einer Videokamera gefilmt. Wir spielen relativ viel Fußball, und jemand hatte ein Spiel gefilmt, bei dem ich mitgespielt habe. Ich hatte mich immer für einen einigermaßen guten Spieler gehalten. Als ich das Video sah und mich das erste Mal wirklich spielen sah, war ich entsetzt. Was für eine lahme Ente stand da auf dem Platz! Ich dachte: „Das darf doch nicht wahr sein.“ Auch ich hatte ein viel besseres Bild von mir, als andere von mir nur haben konnten.
Oder als ich meine erste Predigt auf Video sah, hätte ich am liebsten gar nicht hingeschaut, einfach weil ich entsetzt war, wie ich mich da benommen habe. So reagieren wir, wenn wir Bilder von uns sehen: Entweder sind wir enttäuscht, weil wir glaubten, besser oder schöner zu sein als in Wirklichkeit, oder umgekehrt.
Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass wir im Allgemeinen ein falsches Bild von uns selbst haben. Wir kennen uns selbst nicht gut. Deshalb brauchen wir ein Gegenüber.
Die Notwendigkeit der Korrektur durch andere
Das finden wir auch in der Bibel. Von Mose lesen wir in Apostelgeschichte 7,25, dass er zum ersten Mal öffentlich, auch vor seinem Volk, auftrat. Da war er noch ein Sohn der Tochter des Pharao. Er meinte, seine Brüder würden verstehen, dass Gott durch seine Hand ihnen Rettung gebe.
Das heißt, er hatte ein gutes Bild von sich selbst. Er dachte groß von sich und glaubte, jemand Besonderes zu sein, den Gott gebrauchen möchte. Doch er musste von der Wirklichkeit korrigiert werden: Man hatte ihn nicht anerkannt und praktisch ausgestoßen.
Vierzig Jahre später, in 2. Mose 3,11, sehen wir bei demselben Mann genau das entgegengesetzte Verhalten. Als Gott ihn rufen wollte, um durch ihn Rettung zu schaffen, sagt er: „Wer bin ich, dass ich die Kinder Israel aus Ägypten herausführen soll?“ Die vierzig Jahre Wüstenreise hatten den Charakter und auch das Selbstbild dieses Mannes so verändert, dass er, der einst so selbstbewusst auftrat und dachte, Gott könnte ihn brauchen, nach 40 Jahren meinte, es sei unmöglich, dass er durch seine Hand oder Person Rettung schaffen könne.
Nach 40 Jahren denkt er also zu negativ von sich. Das ist genauso falsch wie ein zu gutes oder zu hohes Selbstbild.
Warum sind manche von uns so schnell verletzt oder beleidigt? Aus welchem Grund? Weil man ein falsches Selbstbild hat – entweder weil man zu gut von sich denkt oder weil man ein gutes Bild nach außen abgeben möchte. Wenn dieses Bild dann irgendwie angekratzt wird, reagieren wir beleidigt oder sehr verletzt.
Auch bei Petrus sehen wir, dass er entweder zu gut oder zu schlecht von sich dachte. Wir haben gestern schon daran erinnert: Vor dem Kreuz sagt er, als alle ihn verlassen, „Herr, ich werde dich niemals verlassen.“
Doch einige Tage später sagt derselbe Mann resignierend: „Ich gehe wieder in mein altes Leben zurück, ich gehe fischen.“ Mit anderen Worten: Der Herr kann mich nicht gebrauchen, ich bin nichts wert. Es war eine schöne Zeit damals, mit dem Herrn unterwegs zu sein, aber das ist vorbei – jetzt gehe ich zurück in mein altes Leben.
Petrus musste sich selbst kennenlernen. Er musste von Gott in diese Schule genommen werden und durch diese negativen Erfahrungen gehen, damit er sich ein wenig besser kennenlernt.
Gottes Prüfung als Weg zur Selbsterkenntnis
Aus dem Leben Miskias gibt es eine ganz interessante Mitteilung. Vielleicht schlagen wir dazu einmal 2. Chroniker, Kapitel 32 auf. Zunächst betrachten wir die Verse 24 und 25:
In jenen Tagen wurde Iskia krank zum Sterben. Er betete zum Herrn, und dieser sprach zu ihm und gab ihm ein Wunder. Doch Iskia vergalt ihm nicht nach der Wohltat, die ihm erwiesen worden war. Denn sein Herz überhob sich, und es kam ein Zorn über ihn sowie über Juda und Jerusalem.
Dann lesen wir in Vers 31 einen Rückblick:
Und so verließ ihn Gott bei den Gesandten der Fürsten von Babel, die zu ihm gesandt worden waren, um nach dem Wunder zu fragen, das im Land geschehen war. Sie wollten ihn prüfen, damit Hiskia alles erkenne, was in seinem Herzen war.
Gott hat ihn also für eine Zeit verlassen, damit Hiskia praktisch erfährt, wie er wirklich ist, was in seinem Herzen verborgen liegt und zu was er fähig ist. Ich denke, das ist eine Erfahrung, die wir alle früher oder später machen werden: Gott verlässt uns für eine kurze Zeit, damit wir ein gesundes Selbstbild bekommen und uns so sehen, wie Gott uns sieht.
Auch bei Hiob wird das deutlich. Er war einigermaßen stolz auf seine Rechtschaffenheit. Doch nach all seinen Prüfungen musste er in Kapitel 42 erkennen und sagen, dass er sich verabscheut in Staub und Asche. Nachdem er Gottes Stimme gehört und Gott gesehen hatte, erkannte er sich selbst.
Einseitige Selbstwahrnehmung und verborgene Gefahren
Dass die Sünden, von denen wir glauben, sie seien für uns charakteristisch oder dass wir dort gefährdet sind, oft nicht unsere schwachen Stellen und echten Gefährdungen sind, ist eine wichtige Erkenntnis. Ich glaube, wir alle sind mehr oder weniger einseitig fixiert. Jeder, der ein wenig selbstkritisch ist, ahnt, dass es hier und da in unserem Leben Gefährdungen gibt, bei denen man sich in Acht nehmen und bewusst Wachen aufstellen muss.
Wenn ich das von mir sagen darf: Ich weiß, dass es für mich einige Gebiete gibt, die ich aus eigener Erfahrung kenne. Auch aus den Erfahrungen anderer, gerade wenn man viele Biografien liest, wird man aufmerksam darauf, an welchen Stellen viele Männer Gottes gefallen sind. Man unterstützt sich sozusagen gegenseitig. Diese Stellen sind also Bereiche, bei denen ich sehr aufpasse, um nicht zu Fall zu kommen.
Die Gefahr besteht jedoch darin, dass man andere Einfallstore des Teufels vernachlässigt. Versteht ihr, was ich meine? Man sieht große Gefahren, vor denen man sich hüten möchte, und ist blind für andere Gefahren. Bei diesen fühlt man sich sehr sicher oder hat noch gar nicht den Eindruck, dass man dort zu Fall kommen könnte.
Eine schöne Illustration dazu findet sich im zweiten Buch der Könige. Das kann man sich gut vorstellen: 2. Könige 6,8-9. Der König von Syrien führte Krieg gegen Israel. Er beriet sich mit seinen Knechten und sprach: „An dem und dem Ort soll mein Lager sein.“ Da sandte der Mann Gottes, Elisa, zum König von Israel und ließ ihm sagen: „Hüte dich, diesen Ort zu vernachlässigen, denn dort kommen die Syrer herab.“
Der König von Israel sandte an den Ort, den der Mann ihm genannt und vor dem er ihn gewarnt hatte. Er verwahrte sich dort selbst. Das geschah nicht nur einmal, sondern mehrfach. Dann kennen wir die Geschichte, wie der König von Syrien total beunruhigt ist. Er glaubt, er habe einen Verräter unter seinen Vertrauten, der jedes Mal verrät, wo er sich lagert, damit der Feind, in diesem Fall Israel, gewappnet ist und keinen Zugang hat.
Das ist eine schöne Illustration für das Problem, das ich ansprechen möchte. Hier sehen wir, dass Gott dem König von Israel deutlich macht, wo eine Gefahr für ihn lauert – eine Gefahr, von der er bisher keine Ahnung hatte. Daraufhin bewachte der König diesen Platz oder, je nach Übersetzung, verließ ihn nicht. Auf jeden Fall konnte der König von Syrien ihn nicht angreifen. So war er völlig perplex und wusste nicht mehr, wie er mit der Sache umgehen sollte.
So sind auch wir alle darauf angewiesen, dass Gott uns prüft, erforscht und uns zeigt, wo unsere wirklichen Gefährdungen sind. Wo sind die Stellen, die wir bewachen müssen? Wo müssen wir aufpassen, dass der Feind uns dort nicht angreift? Denn wir sind oft blind für die eigentlichen Schwächen unseres Charakters.
Verborgene Schwächen großer Persönlichkeiten
Wenn ich euch fragen würde, was die Charakterschwäche von Elijah, diesem großen Propheten, war, was würdet ihr sagen? War er verzagt? Würden wir das auf den ersten Blick erkennen bei dem Mann, der immer allein dastand gegen alle?
Nun, ich denke, wir alle würden sagen, seine Gefährdung war nicht das Geld. Er war nicht bestechlich. Habsucht können wir in seinem Leben nicht erkennen. Auch war er nicht ehrsüchtig oder hatte Angst vor Menschen. Ebenso wenig hatte er Probleme mit Sexualität, mit Frauen oder Ähnlichem.
Aber wir stellen dann fest, dass er in seinem späteren Leben – wahrscheinlich werden wir da auch ausführlich einen Abend mal drüber sprechen – überheblich und stolz war. Denn als er da unter dem Ginsterstrauch sitzt und Gott ihn weckt, sagt er mehrmals: „Ich bin nicht besser als meine Väter, die vor mir waren.“
Was sagt er damit aus? Zuvor hatte er wohl gedacht, dass er besser wäre als seine Väter, die vor ihm waren. Doch als eine Frau ihn bedrohte, kam er zu der Erkenntnis: Na ja, ich bin auch nicht anders und nicht besser. Daraufhin ist er deprimiert und lebensmüde und möchte nicht mehr weitermachen.
Man hätte nie gedacht, dass genau das der Punkt in seinem Leben ist, an dem er gefährdet ist. Und er selbst hat es auch nicht gewusst. Aber Gott hat das zugelassen – unter ganz interessanten Umständen. Die Frau, die Isabell, warnt ihn sogar, schickt einen Boten und sagt: „Du hast noch 24 Stunden Zeit, dann bist du im Kopf kürzer.“
In dieser gnädigen Führung Gottes hätte er die Hand Gottes erkennen können, die ihn vorbereitet. Er hätte fliehen oder sich verstecken können, was auch immer. Denn wenn Isabell wirklich vorgehabt hätte, ihn sofort zu töten, dann hätte sie nicht noch einen Boten zu ihm geschickt. Aber dafür war er blind.
Er kannte nur in dem Moment: „Tja, es ist alles umsonst.“ Obwohl die größte Sicht seines Lebens vor Augen war – die Baal-Priester waren geschlachtet –, erkennt er sich selbst und muss eingestehen: Ich bin nicht besser als meine Väter.
Er war vorher stolz, und ich glaube, das ist das Problem all derer, die Einzelgänger sind. Sie neigen dazu, sich falsch einzuschätzen und sich über andere zu erheben. Männer, die verheiratet sind, viele Kinder haben oder in Gemeinschaft mit anderen leben, sind da wahrscheinlich nicht so gefährdet. Denn sie werden täglich daran erinnert, wie viele Fehler sie haben und was sie alles falsch machen.
Alle, die eine große Familie haben, können da ein Lied von singen. Aber diejenigen, die allein stehen, sind da sicherlich gefährdet.
Eine ähnliche Geschichte finden wir auch bei Johannes dem Täufer, dem Gegenstück von Elija im Alten Testament. Daraus schließen wir, dass wir alle auf Hilfe und Korrektur angewiesen sind.
Wir haben allerdings dieses Gebet: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; zeige mir, was in mir steckt und wo ich gefährdet bin.“ Aber wir brauchen auch die Korrektur von unseren Mitmenschen.
Die Bedeutung von Korrektur in Beziehungen
Wir haben gestern schon darüber gesprochen: Als Ehemänner oder Ehefrauen ist es gut, wenn wir einen Partner haben, der uns korrigiert, und dass wir dafür auch offen sind. Gerade wir Männer sind ja oft sehr stolz. Deshalb fällt es uns schwer, Kritik anzunehmen.
Die Schwestern und Frauen sind oft so empfindsam und sensibel, dass sie es nicht vertragen, wenn der Ehemann mal ein kritisches Wort sagt. Wir müssen das beide irgendwie lernen.
Meine Frau hat mich zum Beispiel auf eine Charakterschwäche aufmerksam gemacht, für die ich völlig blind war. Ich war auf bestimmte andere Dinge fixiert und habe gar nicht bemerkt, wie ich durch mein Auftreten, meine störrischen Worte oder zynischen Bemerkungen viele Schwestern verletze. Sie sind dann am Weinen und kommen überhaupt nicht mehr klar.
Das habe ich überhaupt nicht gesehen. Ich mache manchmal eine spontane Bemerkung, denke mir nichts Böses dabei und registriere nicht, wie plötzlich Leute erschrecken oder in Tränen ausbrechen. Ich meinte es doch gut und habe nie darüber nachgedacht, dass ich durch mein Verhalten andere verletze oder dass andere so darauf reagieren.
Also habe ich eine Charakterschwäche, weil ich meine Zunge und mein Auftreten nicht richtig kontrolliere und damit anderen schade. Das ist eine offensichtliche Charakterschwäche, die ich jahrelang oder jahrzehntelang überhaupt nicht ernst genommen habe – vielleicht nehme ich sie heute noch nicht ernst genug. Aber sie ist offensichtlich und offenkundig.
Meine Frau hat mich darauf aufmerksam gemacht und mir die Augen geöffnet.
Vor Martin Luther wissen wir, dass er oft mit Depressionen zu kämpfen hatte, mit furchtbaren Anfechtungen des Teufels. Er hatte auch eine Frau, die ihm eine große Hilfe war. Wahrscheinlich wusste sie, dass viele Worte nicht helfen.
Man erzählt die Geschichte, dass sie, als er mal wieder am Boden lag, kein Land in Sicht und kein Licht am Himmel sah, sich schwarz anzog. Martin Luther war ganz erstaunt und fragte sich, ob eine Beerdigung anstand oder warum sie so schwarz gekleidet war. Sie sagte ihm nur kurz: „Gott ist tot, Gott ist gestorben.“
Das war für Martin Luther, der einen klaren Verstand hatte, eine deutliche Botschaft. Ich fand das sehr weise von dieser Frau. Sie erzählte keine lange Geschichte, auch keine Bibelferien, sondern sagte einfach: „Gott ist gestorben.“ Damit meinte sie: „Mein lieber Martin, solange der Herr lebt, ist Hoffnung da, ist Licht da. Es gibt keinen Grund, in Depressionen zu verharren. Es gibt immer Grund, nach oben zu blicken und den Herrn zu ehren.“
Wie schön ist es, wenn Schwestern diese Weisheit haben und auf diese Weise mit ihren Männern umgehen – eine gute, hilfreiche Korrektur zu sein.
Ein Freund von mir liest sehr gerne Biografien. Das führte aber dazu, dass er das Bibellesen vernachlässigte. Auf seinem Nachttisch lag immer ein Buch, das er abends las. Seine Frau war darüber ein wenig besorgt. Sie merkte deutlich, dass er das Bibellesen vernachlässigte.
Was hat sie getan? Sie regte sich nicht auf. Stattdessen nahm sie ihm abends vor dem Schlafengehen das Buch weg und legte die Bibel an dessen Stelle. Das war eine Geste ohne viele Worte, um ihm zu zeigen: „Hör mal, du bist hier wirklich gefährdet. Vernachlässige nicht das Lesen des Wortes Gottes.“
Schön, wenn wir solche Ehepartner oder auch Freunde haben. Und wenn wir Alleinstehende sind, ist es gut, Menschen um uns zu haben, die den Mut und die Liebe haben, uns auf die richtige Weise zu korrigieren. Die uns auf Schwächen aufmerksam machen, die zu Sünden werden können.
Erkennen und Umgang mit Charakterschwächen
Charakterschwächen oder Charaktersünden erkennt man oft an ihrer Häufigkeit. Darüber möchte ich in den nächsten Tagen auch gerne sprechen – speziell über Männer und Frauen der Bibel.
Zum Beispiel bei Abraham: Welche Schwäche wird in seinem Leben deutlich? Welchen Fehler hat er mehrmals gemacht? Genau, es hing immer mit irgendeiner Frau zusammen. Da war eine Gefährdung bei ihm, denn er war nicht ganz aufrichtig.
Welche Charakterschwäche sehen wir bei Jakob? Das ist ein bisschen einfacher: Betrug, List, Hinterlist.
Dann bei Simson, auch sehr einfach zu erkennen: Die Frauen, Unbeherrschtheit, sexuelle Anfechtungen und mangelnde Selbstkontrolle.
Über Petrus haben wir gesprochen, dass er eine Neigung zur Besserwisserei, zur Heuchelei und zur Überhebung hatte.
Nun, was sind häufige Charakterschwächen, die wir unter uns Christen hier erkennen können? Manche haben Probleme mit Unehrlichkeit und Unaufrichtigkeit. Andere zeigen Lieblosigkeit – das ist ganz bestimmt auch bei mir oft eine Schwäche – oder Rücksichtslosigkeit.
Andere wiederum haben die Schwäche, träge zu sein. Sie sind von ihrer Veranlagung her eher passiv, und das kann dann zu einer Sünde führen.
Wieder andere sind ehrsüchtig. Sie möchten gerne im Mittelpunkt stehen, beachtet werden und können dadurch in Sünde fallen.
Bei manchen ist die Geldliebe eine ganz gefährliche Schwäche und Sünde.
Andere zeigen einen Hang zur Unordnung. Das betrifft nicht nur das Schlafzimmer, Wohnzimmer oder die Küche, sondern oft auch andere Bereiche im Leben. So kann es passieren, dass sie Schulden machen oder unpünktlich sind – und Ähnliches.
Bei anderen ist die Neigung zum Zorn zu erkennen. Wieder andere haben Schwierigkeiten, ihre Augen im Griff zu behalten. Sie sind sexuell verdorben oder ihre Fantasie spielt immer wieder solche Dinge durch.
Bei manchen ist Stolz oder Eigenruhm immer wieder zu erkennen.
Wie reagieren wir darauf, wenn wir solche Schwächen bei anderen entdecken oder wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden? Was kann man dagegen tun, wenn man sie bei sich selbst erkennt?
Wege zur Veränderung und geistliche Disziplin
Nun, ich denke, dieses Gebet von David sollten wir immer wieder vor Augen haben und uns daran erinnern: Herr, erforsche du mich und zeige du mir meine Gedanken, bewahre du mich und leite mich auf dem ewigen Weg. Dieses Gebet sollte immer wieder auf unseren Lippen sein. Es drückt die Bereitschaft zur Selbstprüfung aus – sowohl von Gottes Seite als auch durch das Wort unserer Umgebung, unserer Mitgeschwister.
Wir sollten bereit sein, auch das Selbstgericht anzunehmen. Dabei geht es nicht darum, Dinge zu entschuldigen mit Aussagen wie „Ich bin nun einmal so, ich kann daran nichts ändern“. Das wird in den nächsten Tagen auch ein Thema sein: Wie kann man sich ändern? Vor allem aber geht es darum, das Erkennen zu fördern und ein Gebet an den Herrn zu richten.
Selbstprüfung und Selbstgericht waren eigentlich Disziplinen, die in vergangenen Jahrhunderten von Christen sehr trainiert wurden. Heute liest man kaum noch darüber, und man hört auch nicht viel darüber. Doch es gab Generationen von Christen, die darin geübt waren, mit sich selbst ins Gericht zu gehen.
Ein Beispiel dafür ist George Whitefield, bevor er wiedergeboren wurde. Er war sehr beeindruckt von John Wesley und Charles Wesley, seinen geistlichen Führern in jungen Jahren. Kennt ihr das Buch von Benedikt Peters über George Whitefield? Whitefield war wahrscheinlich nach dem Apostel Paulus der größte Evangelist, der je gelebt hat. Er besaß eine außergewöhnliche Begabung zu reden und einen brennenden Eifer für den Herrn.
Dieser Mann sprach manchmal im 18. Jahrhundert vor 80.000 bis 100.000 Menschen – ohne Mikrofon oder technische Hilfsmittel. Das ist kaum vorstellbar. Sein Freund Benjamin Franklin maß genau nach und stellte fest, dass Whitefields Stimme 1,7 Kilometer weit zu hören war, wenn er auf einem freien Platz sprach. Das ist unvorstellbar.
Er hatte eine solche Rhetorik und Macht in seiner Stimme, dass damalige Schauspieldirektoren ihre Schüler aufforderten, sich in die erste Reihe zu setzen, um Whitefields Predigten zu hören. Nicht, um sich zu bekehren, sondern um zu lernen, eindrucksvoll zu sprechen und zu gestikulieren.
Man erzählt von einem damals bekannten Schauspieler, Gerrick, der sagte, er würde 1.000 Euro geben, wenn er nur ein Wort so sprechen könnte wie Whitefield. Er meinte, je nachdem, wie Whitefield „Mesopotamien“ ausspricht, könne er die Leute zum Weinen oder zum Lachen bringen. Aber Whitefield tat das nicht, um Eindruck zu machen, sondern weil er wirklich um Menschen rang und nichts anderes suchte, als den Herrn zu verherrlichen.
Das ist ein ganz bewegendes Lebensbild, von dem man sehr viel lernen kann. Noch vor seiner eigentlichen Bekehrung traf Whitefield damals die Studenten John und Charles Wesley. Von ihnen sagte er, dass sie ein Leben rigoroser Selbstzucht führten.
Das bedeutete: früh aufstehen zur persönlichen Andacht, ein streng reglementiertes tägliches Pensum an akademischer Arbeit, sonntägliche Teilnahme am Abendmahl, Fasten an jedem Mittwoch und Freitag sowie das Führen eines Tagebuchs zur beständigen Selbstprüfung.
Ich weiß nicht, wer von euch ein Tagebuch führt. Damals war das üblich, um sich selbst zu prüfen, sich zu erinnern und festzustellen, ob man hier und da etwas erkannt und gelernt hatte – und daran zu arbeiten.
Whitefield selbst sagte damals von diesen Menschen: „Nie rangen Menschen ernsthaft darum, durch die enge Pforte einzugehen. Sie führten ihren Leib in Knechtschaft bis zum Äußersten, sie waren der Welt gestorben und waren willens, als Außenseiter aller zu gelten, auf dass sie Christus gewinnen.“
Er fuhr fort: „Nun begann auch ich, wie sie nach Regel zu leben, jeden Augenblick auszukaufen, um keine Zeit zu verschwenden. Ob ich aß oder trank, ich versuchte, alles für den Herrn zu tun. Wie sie ging ich sonntags zum Empfang des Sakraments zur Christchurch. Ich hielt mich mit ihnen an die Fastentage Mittwoch und Freitag und unterließ nichts, von dem ich erwartete, es würde mich näher zu Christus bringen.“
Whitefield war damals noch nicht bekehrt, aber er lernte durch den Umgang mit diesen Männern, sich selbst zu prüfen und sich zu disziplinieren, um ein Leben zur Ehre Gottes zu führen. Bis er daran zerbrach und dann zur Bekehrung kam.
Das finde ich sehr wichtig: dass wir das auch neu üben – wirklich im Selbstgericht und in der Selbstprüfung zu leben. Und dass wir dieses Gebet immer wieder sprechen: Herr, erforsche und prüfe du mich, mach mir deutlich, wo ich stehe, wie ich denke, wie du mich siehst.
Dann sind wir auch in der Lage, wenn wir das erkannt haben, unser Verhalten zu steuern. Wenn wir die Neigung haben, geistig zu sein – nun, das ist ganz einfach: Worin sollten wir uns dann üben, um dagegen anzukämpfen? Reichlich zu geben.
Wenn wir eine Neigung haben, uns in den Mittelpunkt zu stellen, uns zu ehren oder die eigene Ehre zu suchen, was sollten wir tun? Gut über andere sprechen und andere in den Mittelpunkt stellen.
Wenn wir zur Empfindlichkeit neigen oder oft verbittert sind, sollten wir auch dagegen steuern, indem wir für diejenigen beten, die uns das Leben schwer machen. Wir sollten sie segnen und ihnen Gutes wünschen.
Ich kann das aus eigener Erfahrung sagen: Das Rezept wirkt tatsächlich. Wenn wir für Menschen, die uns geschadet haben oder von denen wir meinen, sie hätten uns geschadet, intensiv und andauernd beten, dann können wir nicht bitter sein.
Menschen, für die wir regelmäßig beten, können wir nicht böse sein. Diese Erfahrung habe ich gemacht und werde sie sicherlich bestätigen können.
So bleiben wir ganz bewusst in der Erziehungsschule Gottes. Bei Selbstgericht und Selbstprüfung brauchen wir die Hilfe Gottes. Gott möchte uns verändern und wird uns verändern, wenn wir dazu bereit sind und ehrlich sind – sowohl uns selbst als auch ihm gegenüber.
Ich wünsche uns, dass wir das auch an diesem Tag ein Stück weit trainieren. So, die halbe Stunde ist um.
