Schönen guten Morgen, schön, dass Sie alle wieder dabei sind. Vielen Dank für die freundliche Begrüßung.
Dann wollen wir jetzt mit gutem Schwung in diesen neuen Tag starten. Sie haben gestern gesehen, dass versucht wurde, das Pult etwas zu erhöhen. So kann ich auch von ganz hinten besser gesehen werden und Sie mich in der letzten Reihe besser sehen. Das Pult schwankt jetzt ein wenig, also wundern Sie sich nicht. Es hält aber sehr gut. Sollte ich zwischendurch mal abstürzen, wird sich sicherlich jemand finden, der mich wieder aufhebt.
Wir wollen jetzt mit dem zweiten Teil beginnen. Ich möchte Herrn Ludwig Rühle bitten, ein Thesenpapier herumgehen zu lassen, das ich vorbereitet habe. Eigentlich ist es eher eine Skizze, die den Aufbau der Kapitel 9 bis 11 deutlich macht, die wir heute miteinander behandeln wollen.
Meine herzliche Bitte ist, dass Sie dieses Papier heute Nachmittag wieder mitbringen. Wir werden uns im Verlauf des Tages durch diese Kapitel und Stellen hindurcharbeiten. Sie brauchen das Papier den ganzen Tag über, zumindest während der Vorträge. Es ist gut, wenn Sie es wieder mitbringen.
Wenn man sich so einen großen Abschnitt vornimmt, wie wir es für dieses Wochenende getan haben, ist es nicht möglich, jeden einzelnen Vers für sich auszulegen. Dafür müssten wir auf unseren Nachtschlaf verzichten und hätten es immer noch nicht geschafft. Mir geht es darum, dass Sie den Gedankengang erfassen, den roten Faden, der sich durch diese Kapitel zieht.
Es geht darum, die große Wahrheit zu verstehen, die Paulus hier deutlich machen will. Sie sehen, das Ganze ist aufgebaut — die Kapitel 9 bis 11 sind im Grunde genommen wie ein Frage-und-Antwort-Spiel. So können wir im Überblick gut erfassen, worum es Paulus geht.
Ich bete nun: Lieber Vater im Himmel, wir bitten dich, dass du uns wirklich Kraft, Weisheit und Konzentrationsvermögen gibst. So können wir dein Wort miteinander studieren und verstehen, wie du es willst. Das bitten wir durch Jesus Christus, unseren Herrn. Amen.
Einführung in das Thema und eine Geschichte zur Veranschaulichung
Ein reicher Mann und sein Sohn hatten eine gemeinsame Leidenschaft: Sie sammelten alte Kunstwerke.
Ganz kurze Zwischenfrage: Verstehen Sie mich so? Wenn ich so spreche, bin ich überall gut zu hören, auch hinten, wo es etwas leise und dumpf ist. Vielleicht können wir da noch etwas für den guten Ton tun, denn dumpf sollte es möglichst nicht sein. Können Sie mich jetzt einigermaßen verstehen? Es soll niemand... Wenn irgendwo schlecht zu hören ist, bitte noch einmal Handzeichen geben. Das Dumpfe ist jetzt weg, und es kann auch ein bisschen mehr Power rein.
Ich werde wahrscheinlich im Laufe des Vortrags auch noch etwas mehr schreien, wenn ich mich erst einmal eingesprochen habe. Das werden Sie dann schon sehen. Aber dann kann man es notfalls ein bisschen zurückstellen, damit niemand vom Stuhl fällt.
Gut. Also, Vater und Sohn liebten es, Kunstwerke zu sammeln. Der Sohn war Soldat und ist dann nach Vietnam in den Krieg gezogen. Er ist dort leider ums Leben gekommen. Kurz vor Weihnachten klopfte es an der Tür des alten Mannes. Davor stand ein junger Soldat mit einem großen Paket in der Hand. Er sagte: „Ich bin der Soldat, für den Ihr Sohn sein Leben gab. Er rettete an jedem Tag viele Leben. Er brachte mich in Sicherheit, als ihm eine Kugel ins Herz traf und er sofort tot war. Er hat viel von Ihnen und von Ihrer Liebe zur Kunst erzählt.“
Dann hielt dieser junge Soldat dem Vater, der seinen Sohn verloren hatte, ein Paket hin und sagte: „Ich weiß, dass das, was ich Ihnen hier gebe, nicht viel ist. Ich bin kein großer Künstler. Aber ich glaube, dass Ihr Sohn gewollt hätte, dass Sie dies besitzen.“
Der Vater öffnete das Paket und fand darin das Porträt seines Sohnes, ein einfaches Bild, aber gezeichnet mit sehr viel Liebe. Der Vater gab diesem einfachen Bild in der Galerie seiner vielen kostbaren Gemälde einen Ehrenplatz. Immer wenn Besucher kamen, führte er sie zu dem Bild seines Sohnes.
Einige Zeit später starb auch der alte Herr. Es gab eine große Auktion, bei der die Bilder versteigert werden sollten. Dabei stand auch das Bild des Sohnes auf der Bühne. Der Auktionär schlug mit seinem Hammer und sagte: „Wir fangen die Versteigerung mit dem Bild des Sohnes an. Wer bietet für dieses Bild?“
Die ganzen Kunstliebhaber waren sehr ungeduldig. Sie wollten jetzt endlich die Raffaels, Michelangelos und andere wertvolle Bilder ersteigern. Aber nein, laut Testament musste erst das Bild des Sohnes versteigert werden, das von diesem einfachen Soldaten gezeichnet war.
Keiner meldete sich. „Hundert Dollar!“, rief der Auktionär. Wieder meldete sich niemand. Da rief eine Stimme schon ärgerlich: „Wir sind nicht gekommen, um dieses einfache Bild hier zu sehen. Wir wollen die großen Bilder endlich ersteigern!“
Doch dann kam endlich eine Stimme aus der hintersten Ecke des Raumes, wahrscheinlich aus der letzten Reihe. Es meldete sich der langjährige Gärtner des Mannes und seines Sohnes. Der Sohn war für diesen Gärtner immer besonders wichtig gewesen. Er hatte ihn schon als kleinen Jungen aufwachsen sehen. Der Gärtner war aber sehr arm und konnte sich nicht viel leisten. Er sagte: „Ich biete zehn Dollar für dieses Bild, mehr kann ich nicht.“
Die Auktion ging weiter, und keiner wollte mehr bieten, weil das Bild in den Augen der Kunstkenner einfach zu unbedeutend war. Schließlich bekam der Gärtner das Bild für zehn Dollar zugesprochen. Nun sollte es endlich weitergehen. Er wollte sagen: „Nun machen Sie endlich weiter!“
Aber der Auktionär legte seinen Hammer weg und sagte: „Es tut mir leid, die Auktion ist beendet.“ Die Leute waren total entsetzt und fragten: „Warum sind wir hergekommen?“
Dann holte der Auktionär einen Auszug aus dem Testament heraus, legte ihn vor und sagte: „Als ich gerufen wurde, diese Auktion zu veranstalten, wurde mir folgende Bedingung des Testaments mitgeteilt: Nur das Bild des Sohnes durfte versteigert werden. Das war der letzte Wille des Verstorbenen. Und wer dieses Bild kauft – so seine Anordnung –, dem werden alle anderen Bilder übereignet und geschenkt.“
Der Vater schenkt alles durch den Sohn. Wem der Sohn wertvoll genug ist, dem gibt er alles. Dem schenkt der Vater alles.
Mit diesem kleinen Erlebnis könnte man die Botschaft des Römerbriefes auch zusammenfassen: Die Leute wollen den Sohn nicht. Sie haben andere Ideen, sie streben anderen Werten und Konzepten nach. Aber wer den Sohn will, wem der Sohn so viel wert ist, dem schenkt der Vater alles.
Christus im Mittelpunkt und die Bedeutung des Römerbriefes
Das ist die Botschaft des Römerbriefes: Christus steht im Mittelpunkt, und an Christus scheiden sich die Geister. An der persönlichen Stellung zu dem Herrn Jesus Christus entscheidet sich das ganze Leben – in Zeit und Ewigkeit.
Wer den Weg zu Jesus Christus gefunden hat, das heißt zum Glauben an ihn, der kann sagen: „Ich bin sicher von meinem Herrn festgehalten.“ Wir haben gestern gesehen, was das für Paulus bedeutet – diese Freude und Gewissheit, die daraus erwächst, dass er begriffen hat: Gott hat uns, die wir zum Glauben an Christus kommen durften und uns bekehrt haben, dazu auserwählt vor Grundlegung der Welt. Er hat es uns geschenkt, dass wir durch Gnade, also unverdient und ohne eigene Leistung, zum Glauben an ihn finden durften.
Gott hat uns aufgenommen als seine Kinder und schenkt uns jetzt die Gewissheit, dass uns nichts, aber auch gar nichts mehr von seiner Liebe trennen kann – weder in Zeit noch in Ewigkeit. Das haben wir gestern ausführlich miteinander behandelt und uns die biblischen Zusammenhänge von Römer 8,28 bis zum Ende des Kapitels in Vers 39 klargemacht.
Zum Ende des Vortrags hatte ich Ihnen ein Thesenpapier ausgegeben, einige Exemplare. Dieses Thesenpapier ist noch übrig geblieben, sodass sich, wer es noch nicht hat, hier vorne eines wegnehmen kann. Sollten die Exemplare nicht ausreichen – ich meine aber, das müsste klappen – kann man es sicherlich noch einmal irgendwo nachkopieren. Sie können sich also nach dem Vortrag oder in der Pause, sofern Sie dieses Papier noch nicht haben, hier noch weiter bedienen. Darin ist zusammengefasst, was wir gestern in Römer 8 miteinander studiert haben: volle Freude und Gewissheit, dass nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann.
Das Hohelied der Erwählung in den Versen 28 bis 30 mündet in das Hohelied der Gewissheit in den Versen 31 bis 39. Aber dann schlägt die Stimmung des Römerbriefes von einem Moment auf den anderen völlig um. Wenn Sie Kapitel 8 lesen und sich dann in Kapitel 9 plötzlich wiederfinden, ist es so, als wären Sie in einer völlig anderen Welt – zunächst einmal gefühlsmäßig.
Wir fragen uns: Paulus, was ist da passiert? Wo liegt das Problem? Wir sehen, dass Paulus jetzt auf seine eigenen Volksgenossen blickt, auf das Volk Israel, das auserwählte Volk, in seiner großen Mehrheit. Und da muss der Apostel Paulus Folgendes feststellen.
Jetzt sind wir mittendrin in unserem Text. Ich möchte Sie einladen, Römer 9 aufzuschlagen. Im Laufe des Vormittags und Nachmittags werden wir versuchen, einen Überblick über diese drei Kapitel zu gewinnen: Römer 9 bis 11. Darin verhandelt der Apostel die große Frage des Volkes Israel – aber nicht nur diese. Wir werden sehen, wie eng diese Fragestellung mit uns als christlicher Gemeinde verbunden ist.
Der Schmerz des Paulus über das Volk Israel
Wo liegt das Problem? Paulus beginnt: „Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, wie mir mein Gewissen im Heiligen Geist bezeugt, dass ich große Traurigkeit und unablässigen Schmerz in meinem Herzen habe.“
Sehen Sie diesen schroffen Kontrast? Die überschäumende Freude aus Kapitel 8 steht plötzlich gegenüber dieser großen Traurigkeit und diesem Entsetzen. Paulus war wirklich nicht jemand, der Gefühlsduselei betrieb. Er hat nicht in jedem zweiten Satz sein Innerstes offengelegt, um zu sagen, wie gut oder schlecht er sich fühlt. Wenn Paulus das hier schreibt, müssen wir das besonders ernst nehmen. Er spricht von seinem großen Schmerz und seiner großen Traurigkeit.
Wir fragen natürlich: Woran liegt das? Was ist der Grund dafür? Paulus wird das in den nächsten Versen erklären: „Ich wünschte nämlich selbst, von Christus verbannt zu sein, für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch.“ Also für seine leiblichen Volksgenossen, für seine Landsleute. Wenn diese gerettet würden, wäre Paulus sogar bereit, sein eigenes Heil dafür hinzugeben.
Was ist das Problem? Das Problem ist dieser schreiende Gegensatz, diese furchtbare Diskrepanz zwischen der Gewissheit aus Kapitel 8 – Gottes Liebe ist unverlierbar, Gottes Verheißungen stehen fest, man kann darauf bauen, nichts kann sie erschüttern, nichts kann sie in Frage stellen, nichts kann sie ins Wanken bringen – und dem aktuellen Zustand seines Volkes Israel.
Gott hat Israel so unendlich viele Verheißungen gegeben, und trotzdem hat die große Mehrheit den Messias so tragisch verworfen. Paulus sieht dieses Volk an und erkennt, dass es so von Gott abgekehrt ist, dass es schlimmer nicht mehr geht.
Was für eine Diskrepanz zwischen der Gewissheit und Freude aus Kapitel 8 und diesem höchst miserablen Zustand des Volkes Israel schon zur Zeit des Apostels Paulus! Dann erinnert er noch einmal daran: Sie sind Israeliten, sie haben so viele Vorrechte von Gott.
Denen gehören die Sohnschaft, die Herrlichkeit und die Bündnisse. Wir müssen erklären, was Paulus damit meint: Die Sohnschaft heißt, dass Israel als Nation von Gott als „mein Sohn“ bezeichnet wurde. Das bedeutet nicht, dass jeder einzelne Israelit automatisch und in jedem Fall gerettet ist. Aber die Nation als Ganzes hatte diese besondere Erwählung und Berufung von Gott erfahren.
In 2. Mose 4,22 heißt es: „Israel ist mein Sohn, mein Erstgeborener.“ Israel hatte dieses besondere Vorrecht, von Gott auserwählt und mit einer ganz besonderen historischen Mission betraut zu sein. Es war mit einer besonderen Nähe und Fürsorge Gottes ausgestattet.
Denen gehören auch die Herrlichkeit – das ist der Hinweis auf die Schechina, die Wolke der Herrlichkeit. Als das Volk Israel auszog, war die Wolke, die voranging, ein sichtbares Symbol für die besondere Gegenwart Gottes. Sie können das nachlesen in 2. Mose 16,10 oder auch 2. Mose 24,16ff. Kein anderes Volk hatte das. Von Gott zum Sohn auserwählt worden zu sein als Nation, diese besondere Nähe und Gegenwart Gottes in der Geschichte zu spüren, aus Ägypten herausgeführt worden zu sein.
Dann die ganzen Bündnisse, die Gott geschlossen hat: mit Noah, mit Abraham, mit Mose, mit den Priestern, mit David und dem Königtum. All das hatte Israel exklusiv. Das hatte auch eine besondere Bedeutung für die Heiden, denn Israel sollte die Heiden missionieren.
Israel hatte unerhört große Vorrechte von Gott zugestanden bekommen. Paulus fährt fort: Sie haben die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bündnisse, die Gesetzgebung – also das besondere alttestamentliche Gesetz, das Gott den Israeliten offenbart und anvertraut hatte – und die Verheißungen.
Diese besonderen Versprechen lauteten zum Beispiel: Ihr werdet immer wieder zurückkehren in euer Land. Am Ende wird ein großes Friedensreich auf eurem Territorium entstehen. Ich werde euch, auch wenn ihr noch so verstreut seid über alle Welt, wieder sammeln unter meinen Fittichen. Es wird alles gut werden.
Welche Verheißung hat Gott gegeben? Dass in das Volk Israel sein Messias hineingeboren werden würde, dass Christus, der Retter, ein Jude sein würde und in ganz besonderer Weise mit der Geschichte dieses Volkes verbunden ist.
Ihnen gehören auch die Väter an, also die Glaubensväter Abraham, Isaak und Jakob. Von ihnen stammt auch nach dem Fleisch Christus, der Messias, der über alle ist, hochgelobter Gott in Ewigkeit. Amen.
Übrigens, nur mal in Klammern: Das ist ein ganz massiver Hinweis darauf, dass Jesus Gott ist. Es gibt einige Versuche, diese Stelle so umzubiegen, dass die Aussage über Gott nicht auf Christus bezogen ist, sondern auf Gott, den Vater. In manchen Bibelübersetzungen finden Sie dann folgende Version: „Christus, der über alle ist – gelobt sei Gott in Ewigkeit, Amen.“
Aber wenn man sich die Grammatik im Griechischen genau anschaut und einige Parallelstellen betrachtet, wird deutlich: Die Aussage „Gott über alles, hochgelobter Gott in Ewigkeit“ bezieht sich viel direkter auf Christus als auf den Vater in diesem Fall.
Römer 9,5 ist einer von vielen starken Belegen des Neuen Testaments dafür, dass Jesus wirklich Gott ist. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, gerade für die Auseinandersetzung mit den Religionen in unserer Zeit. An der Frage der Gottheit Jesu Christi entscheidet sich unheimlich viel.
Deshalb ist es wichtig, dass wir als Christen in unserer Lehre über Jesus Christus an dieser Stelle völlig eindeutig sind. Jesus ist nicht Gottes Sohn, weil er in irgendeiner Weise von Gott während seines Erdenwandels adoptiert worden wäre, sondern Jesus ist von Ewigkeit her wesensmäßig Gott.
Er ist Gottes Sohn. Er wurde nicht dazu ernannt, gemacht oder berufen, sondern er ist es wesensmäßig, in Ewigkeit. Das sagt Paulus auch hier, und das ist für uns als christliche Gemeinde unendlich wichtig, diese Gottheit Jesu festzuhalten und zu bezeugen – gerade auch gegenüber den Religionen.
Paulus zeigt hier die ganzen Vorzüge auf, die das Volk Israel von Gott genießt. Daraus erwächst nun für Paulus und für jeden aufrechten Judenchristen, aber auch für uns, eine ganz schwerwiegende Anfechtung.
Wissen Sie, wo die liegt? Paulus sorgt sich um sein Volk. Er sagt: „Was wird aus denen werden?“ So hatte sich auch Daniel schon gesorgt, 600 oder 550 Jahre vorher: „Was wird werden?“ So sorgt sich auch Paulus um sein Volk.
Aber es geht um noch mehr, um etwas Prinzipielleres. Dahinter steckt nämlich die Frage: Kann man sich auf Gottes Verheißungstreue verlassen? Das ist das Hauptproblem.
Verstehen Sie: Paulus sagt, die ganzen Verheißungen, die für Israel dastehen, und wenn er sich jetzt die Realität ansieht, was ist davon geblieben? Dieses auserwählte Volk präsentiert sich in einem miserablen geistlichen Zustand.
Daraus erwächst natürlich die Frage: Wie ist das? Ist Gottes Verheißung jetzt hinfällig geworden? Kann man sich darauf überhaupt noch verlassen?
Das gilt grundsätzlich: Wenn das hier nicht klappt, wenn das hier nicht stimmt, wissen Sie, was dann passiert? Dann kracht die ganze Argumentation des Römerbriefs in sich zusammen. Alles, was Paulus in den Kapiteln vorher geschrieben hat, stützt sich darauf, dass Gottes Verheißung steht.
Wer sich im Glauben an dieser Verheißung festhält, der ist gerettet durch Jesus Christus in Ewigkeit. Wenn aber die Verheißung nicht standhält, wenn sie sich als brüchig oder fragwürdig erweist, dann ist Gott plötzlich fragwürdig geworden.
Woran sollen wir uns dann noch festhalten? Wo soll dann noch der Grund für unsere Gewissheit sein? Das ist das Problem von Römer 9.
Wenn Sie das verstanden haben, haben Sie schon ganz viel von diesem Kapitel verstanden. Darum muss jetzt im logischen Aufbau des Römerbriefs an dieser Stelle unbedingt die Frage nach Gottes Verheißungstreue gestellt werden.
Israel hat so viele Verheißungen bekommen, und so miserabel ist ihr aktueller Zustand. Stimmt das überhaupt? Trägt das, was Gott da verheißt, wirklich?
Man könnte etwas locker formuliert sagen, dass Paulus in den Kapiteln 9 bis 11 also zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Er klärt einmal die Frage nach der Verheißungstreue Gottes und verhandelt gleichzeitig das Schicksal des Gottesvolkes Israel.
Dieses Schicksal Israels hat die Menschen und die Geschichte durch die Jahrhunderte hindurch verfolgt. Es scheint ein ganz besonderes Geheimnis um dieses Volk zu bestehen.
Friedrich der Große von Preußen soll seinen Hofprediger eines Tages gefragt haben: „Herr Hofprediger, können Sie mir denn einen Beweis dafür liefern, dass es Gott wirklich gibt?“
Da soll der Hofprediger mit einem kurzen Satz geantwortet haben: „Majestät, die Juden.“ Er wollte damit sagen: Die Geschichte und Existenz dieses jüdischen Volkes sind der lebende Beweis dafür, dass es den Gott der Bibel wirklich gibt.
Und in der Tat: Die Geschichte Israels, gezeichnet von so viel Glanz und so viel Grauen, lässt den, der sich einmal mit ihr beschäftigt hat, nicht mehr los.
Wie oft wurde dieses Volk totgesagt, wie oft wurden seine Lebensgrundlagen zerstört, wie oft schien es nur noch eine Frage der Zeit, wann dieses Volk endlich von der Bühne der Weltgeschichte verschwinden würde!
Jerusalem, seine Hauptstadt, wurde wohl insgesamt siebzehnmal zerstört, siebzehnmal in der Geschichte, und immer wieder aufgebaut. Viele weitere biblische Vorhersagen haben sich in der Geschichte dieses auserwählten Volkes erfüllt.
Und wenn sich nach 1945, nach Hitlers grausamem Vernichtungsfeldzug gegen die Juden, doch wieder ein jüdischer Staat bilden konnte, war das für viele Christen keine Überraschung.
Denn Gott hatte in seinem Wort verbindlich zugesichert, dass er dieses Volk durch alle historischen Stürme hindurchtragen und am Ende wieder ins gelobte Land zurückbringen werde. Es gab viele alttestamentliche Verheißungen dafür.
Schließlich kam Hitler und ließ mehr als sechs Millionen Juden ermorden. Die sogenannte Endlösung schien greifbar nahe – die Endlösung für dieses alte Volk.
Aber Israel ging nicht unter, sondern die Nazis gingen unter. Am 14. Mai 1948 wurde dann, als Konsequenz des Zweiten Weltkrieges, so unvorstellbar das erscheint, wieder der Staat Israel ausgerufen.
Seitdem hat Israel mindestens fünf Kriege überstanden. Seitdem kehren aus aller Welt Juden in ihre Heimat zurück.
Neunzehnhundert Jahre lang schien dieses Versprechen Gottes völlig wirklichkeitsfremd zu sein. Nicht im Entferntesten war daran zu denken. Aber Gott hat sein Wort gehalten.
Israel ist ein Lebenszeichen Gottes, Israel als ganzes Volk. Auch Paulus kann an diesem Punkt nicht vorbeigehen in seinem programmatischen Römerbrief, in dem er die Grundlagen der christlichen Lehre und der Verheißungstreue Gottes beschreibt.
Darum müssen wir Gottes Sicht auf dieses Volk kennenlernen. Das ist für uns als christliche Gemeinde ungemein wichtig.
Die richtige Haltung zum Volk Israel
Ja, manche fragen, warum wir uns damit auseinandersetzen sollen, oder, etwas modisch ausgedrückt, wo die Relevanz dessen liegt. Wenn man zum Beispiel einen Vortrag über Gottes Plan für Ehe und Familie hält, sagen viele: Ja, das ist relevant. Wir wollen heiraten, haben geheiratet oder interessieren uns für Gottes Plan für ein erfülltes Seniorenleben. Viele würden auch sagen, dass Gottes Plan für die Kindererziehung relevant ist. All das erscheint irgendwie wichtig.
Aber wenn es um Gottes Plan für die Zukunft des Volkes Israel geht, fragen viele: Warum brauchen wir das? Warum soll ein Christ, der im September 2007 in Bautzen lebt, sich mit Gottes Zukunft für Israel im großen Maßstab beschäftigen?
Nun, wir müssen nüchtern sehen: Die Zukunft Israels betrifft auch unsere Zukunft als Christen in gewisser Weise. Wenn wir über die Zukunft Israels sprechen, finden wir viele wichtige Hinweise auf Jesus. Diese Frage ist auch wichtig für den sogenannten Dialog der Religionen, bei dem es immer wieder um das Verhältnis von Christentum und Judentum geht.
Wenn Gott es für nötig hält, uns darüber zu informieren, ist das allemal wichtig. Paulus zeigt, dass es hier sehr grundsätzlich um die Frage geht, wie treu Gott ist und wie zuverlässig seine Verheißungen sind.
In christlichen Kreisen hat es sich bisweilen als schwierig erwiesen, im Verhältnis zum Volk Israel die richtige Balance zu finden – trotz besten Willens. Nach meiner Beobachtung kann man in der Haltung zum aktuellen Volk Israel auf zwei Arten „vom Pferd fallen“.
Die eine Seite ist eine romantische Verklärung Israels. Die andere Seite ist eine Vernachlässigung Israels.
Manche schwärmen geradezu von Israel, als sei man Gott näher, wenn man dort ist. Es gibt den Israel-Tourismus – dagegen habe ich nichts –, aber manche lassen sich extra im Jordan taufen. Dabei entstehen die seltsamsten Blüten einer Verherrlichung und Verbrämung Israels, als sei es etwas ganz Besonderes, dort zu sein.
Ich war auch in Israel und finde das Land herrlich, aber das hat damit nichts zu tun. Wir müssen das richtige Verhältnis dazu finden.
Diese Verklärung Israels findet ihre Zuspitzung darin, dass viele sagen, Israel habe einen Sonderweg zu Gott und müsse sich nicht zu Christus bekehren. Das ist eine Seite, auf der man vom Pferd fallen kann.
Man kann aber auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen, wenn man nicht sieht, dass Israels Geschichte bis heute – etwa die Staatsgründung 1948 und die Heimkehr ins Land – möglicherweise etwas mit der Erfüllung von Gottes Vorhersagen zu tun hat.
Es gibt Christen, die das sehr gut meinen, aber der Meinung sind, dass dies mehr oder weniger ein historischer Zufall sei und keine geistliche Bedeutung habe.
Diese Vernachlässigung Israels findet ihre Zuspitzung darin – und das wurde leider auch von Teilen der Reformatoren so gelehrt –, dass die Verheißungen, die Gott Israel gegeben hat, auf die Gemeinde Jesu Christi übergegangen seien. Das nennt man die Substitutionstheorie.
Demnach würde die Gemeinde des neuen Bundes das alte Volk ersetzen, an dessen Stelle treten. Auch all die irdischen Verheißungen, zum Beispiel im Hinblick auf das Land, seien geistlich auf die Gemeinde übergegangen. Gottes Geschichte mit dem Volk Israel als Volk sei damit vorbei.
Es gäbe zwar gläubige Juden, die gewissermaßen das Erbe in die Zukunft und in die christliche Gemeinde hinübertragen, aber die Zukunft von Gottes Volk als Volk sei beendet.
Jetzt müssen wir uns fragen: Kann das vor dem Zeugnis der Heiligen Schrift bestehen? Die Verklärung Israels auf der einen Seite oder die Vernachlässigung – man könnte sogar sagen Verkennung – Israels auf der anderen Seite?
Paulus will uns helfen, jenseits von Verklärung und Vernachlässigung eine solide biblische Einschätzung Israels zu gewinnen. Dabei muss er zugleich klären, wie es angesichts des problematischen geistlichen Zustands seines Volkes aussieht.
Und das ist bis heute nicht anders. Wenn man etwa sieht, wie der letzte israelische Staatspräsident in größte Schwierigkeiten geraten ist wegen seines höchst problematischen Lebenswandels, und wie der Säkularismus in den führenden Kreisen Israels voll durchgeschlagen hat, dann würde Paulus über den aktuellen politischen und moralischen Zustand der Mehrheit der Juden heute nichts anderes sagen als damals.
In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von dem, was sich zum Beispiel hier in Europa und in unseren Gesellschaften vollzieht.
Und wie gesagt: Was ist dann über die Zuverlässigkeit von Gottes Verheißung zu sagen?
Diese Aufgabe bearbeitet Paulus in Römer 9 bis 11. Wir wollen uns heute in dieses Abenteuer stürzen und diese drei Kapitel in zwei Vorträgen auslegen.
Wir haben uns also einiges vorgenommen. Mein Ziel ist es, nicht jeden einzelnen Vers auszulegen, sondern Ihnen den großen Gedankengang des Paulus zu zeigen – die große Linie, den roten Faden, der sich durch diese drei Kapitel zieht.
Das ist das Ziel: eine Schneise zu schlagen und Sie damit zu ermutigen, Ihre eigenen Studien in diesen Bibelkapiteln fortzusetzen. Das wäre das Größte, wenn Sie so motiviert wären und einen solchen Überblick bekommen hätten, dass Sie sagen: So, jetzt will ich die Einzelheiten wirklich selbst weiter vertiefen und nachvollziehen.
Paulus hilft uns dabei auch in pädagogischer Hinsicht, denn er macht etwas sehr Geschicktes.
Paulus stellt ständig Fragen. Manche formuliert er direkt als Fragen, andere eher indirekt, indem er eine Aussage macht, die in sich eine Frage trägt.
Er macht das sehr geschickt: Diese Fragen beschäftigen ihn selbst. Er braucht Erklärungen für sich selbst und will auch den Zweifelnden helfen.
So sind diese drei Kapitel als Frage und Antwort aufgebaut.
Ich habe auf diesem Zettel, der Ihnen vorliegt, genau diese Argumentationsstruktur des Paulus aufgenommen. Wir werden Frage für Frage vorgehen. Diese bauen übrigens aufeinander auf.
Heute Vormittag bearbeiten wir die ersten Fragen, heute Nachmittag dann den Rest.
Erste Frage: Ist Gottes Verheissung zuverlässig?
Und die erste Frage, die Paulus sich hier stellt, haben wir schon formuliert. Sie steckt nämlich in Vers 6 und lautet: Ist Gottes Verheißung zuverlässig?
Paulus sagt jedoch: Das Wort ist nicht hinfällig. Das wäre ja das Schlimmste, wenn das Wort Gottes sich jetzt als unsicher oder unzuverlässig erweisen würde.
Was ist nun dazu zu sagen? Wie passt der aktuelle Zustand der Mehrheit Israels zu Gottes Verheißung? Das ist die Frage, und darauf gibt uns Paulus jetzt eine Antwort.
Die Antwort ist eigentlich ganz einfach. Er sagt: Schaut in die Geschichte Israels. Schon immer galt Gottes Verheißung nicht ausnahmslos allen Juden.
„Das ist nichts Neues“, sagt Paulus in Vers 6b: „Nicht alle, die von Israel stammen, sind Israel.“ Das heißt, die ethnische oder völkische Abstammung allein begründet noch keine geistliche Zugehörigkeit. Nur einfach geboren zu sein als Israelit macht noch nicht automatisch zum Träger der Verheißung. Das war schon immer so.
Nicht der ist ein wahrer Jude, der es nur äußerlich ist. Natürlich gehört dazu, dass er äußerlich einen jüdischen Vater oder eine jüdische Mutter hat. Aber das allein macht ihn noch nicht zum wahren geistlichen Juden.
Um diese These zu erhärten – dass die Verheißung nicht alle, ja oftmals nicht einmal die Mehrheit erreichte – bringt Paulus nun einige Beispiele aus dem Alten Testament. Diese zeigen, dass Gott schon damals unterschieden und selektiert hat.
Das lässt sich sehr schön am Beispiel Abrahams zeigen, in den Versen 7 bis 9. Dort heißt es: „Sind nicht alle, weil sie Abrahams Same sind, Kinder, sondern in Isaak soll dir ein Same berufen werden.“ Das heißt, nicht alle leiblichen Nachkommen sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden hier als Same bezeichnet. Denn das ist ein Wort der Verheißung: Zu dieser Zeit will ich kommen, und Sarah soll einen Sohn haben.
Das gilt also nur den Nachkommen von Sarah, nicht aber denen von Hagar und Ketura. Schon damals hat Gott ausgewählt. Nicht alle Nachkommen Abrahams gehören zur Segenslinie, sondern nur der Isaak-Zweig.
Und das kann man sehr schön weiterverfolgen. Abraham hatte mehrere Nachkommen, aber nur die Linie über Sarah ist die Verheißungslinie.
Wie war das mit Isaak? Bei Isaak gab es sogar Zwillinge, Esau und Jakob. Doch die eigentliche Verheißungslinie führt über Jakob. Gott selektiert also schon damals, zu allen Zeiten.
Genauso könnte man fortsetzen: „Sind nicht alle Israeliten…“ Sie wissen ja, dass Jakob auch Israel heißt. Von daher kann man sagen: Nicht alle, die von Israel stammen, also von Jakob geboren sind, sind automatisch Teilhaber der Verheißung.
Das Alte Testament sagt, es gibt immer einen Rest, einen gläubigen Überrest, der sich als treu gegenüber Gott erweist und Träger der Verheißung ist.
Das ist ein erster großer Beweis, den Paulus hier führt. Er sagt, es ist überhaupt kein Problem, dass Gott Einzelne herausgegriffen hat. Sogar zwischen den Zwillingen Jakob und Esau hat er unterschieden. Jakob, obwohl der später Geborene, hat den entscheidenden Segen bekommen.
Man kann daraus folgern: Nicht alle leiblichen Nachkommen Jakobs gehören automatisch zum wahren Volk Israel.
Paulus argumentiert hier wie bei einer mathematischen Gleichung. Er sagt: Nicht alle Abrahams Kinder gehören zur Isaak-Linie, nicht alle Isaaks Kinder gehören zur Jakobs-Linie. Es grenzt sich also immer weiter ein.
Diese zwei Beispiele zeigen, wie Gott innerhalb seines ethnischen Volkes in bestimmten geschichtlichen Phasen ausgewählt hat.
Was hier über Esau gesagt wird – „Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst“ – bedeutet nicht, und das muss hier sehr deutlich gesagt werden, dass Esau damit vom Heil ausgeschlossen wäre, also im Sinne einer Prädestination zur Verdammnis.
Darum geht es hier nicht. Denn Esau blieb ein Teilhaber des allgemeinen Bundes zwischen Gott und Abraham. Im Bund mit Isaak war er mit eingeschlossen.
Hier geht es um die Stellung als Träger des Segens und der Verheißung, um die Vorrangstellung in der Heilsgeschichte. Und da hat Jakob den Vorrang vor Esau bekommen.
Aber es wird nicht gesagt, dass Esau wegen „Jakob habe ich geliebt, Esau habe ich gehasst“ vom Heil ausgeschlossen wäre.
Man kann das sehr schön im biblischen Zusammenhang zeigen: Der Gegensatz zwischen Lieben und Hassen ist oft eine bildhafte Ausdrucksweise, die eine Sache sehr verstärken soll.
Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel: In Lukas 14,26 fordert Jesus dazu auf, in seiner Nachfolge auch die eigene Familie zu hassen. Damit meint Jesus natürlich nicht, dass wir unsere Eltern oder Geschwister aktiv hassen sollen. Vielmehr heißt es, dass wir unsere Familie nicht mehr mehr lieben sollen als ihn.
Wenn unsere Familie von uns fordert, uns von Christus abzuwenden, sollen wir Christus die Treue halten und nicht unserer Familie.
An anderer Stelle, nämlich in Matthäus 10,37, sagt Jesus das auch so: Man soll seine Familie nicht mehr lieben als ihn.
Hassen muss also nicht bedeuten, dass man jemanden aktiv ablehnt oder für ewig verdammt. Es bedeutet hier eine klare Vorrangstellung, die Gott Jakob gibt. Diese legt er in seiner Souveränität fest und unterstreicht sie mit den Worten: „Den einen habe ich geliebt, den anderen habe ich gehasst.“
Dabei wird nicht gesagt, dass Esau zur Verdammnis bestimmt wäre.
Paulus zeigt hier also zwei Dinge bei der ersten Frage: Ist Gottes Verheißung zuverlässig?
Natürlich ist Gottes Verheißung zuverlässig. Es ist kein Problem, dass die Mehrheit Israels sich von Gott abgewandt hat. Der empirische Befund zeigt, dass das zu allen Zeiten so war.
So wie nicht alle leiblichen Nachkommen Abrahams Teil der Nation sind, so wie nicht alle Nachkommen Isaaks den besonderen Segen erhielten, so gehören auch nicht alle Nachkommen Jakobs zum wahren gläubigen Israel.
Schon die alttestamentlichen Propheten sprachen davon, dass nur ein Rest bleibt, etwa Jesaja 10.
Das bedeutet: Auch zu keinem früheren Zeitpunkt der Geschichte Israels galt die Verheißung jedem einzelnen Israeliten. Oft war sogar die Mehrheit nicht davon berührt.
Damit ist klar, dass Gott auch heute angesichts des Unglaubens der Mehrheit der Israeliten zur Zeit von Paulus in seiner Verheißungstreue nicht in Frage gestellt werden kann. Er hat sein Versprechen nicht gebrochen.
Es ist offensichtlich das Wesensmerkmal Gottes, dass er bestimmte Verheißungen auf einen ganz bestimmten Teil innerhalb seines Volkes beschränkt.
Paulus hat die erste Frage ganz eindeutig beantwortet: Ist Gottes Verheißung zuverlässig? Ja, denn Gott erwählt immer nur einen Ausschnitt.
Wenn Sie wollen, können Sie das jetzt hinter die Antwort schreiben: Ja, denn Gott erwählt immer nur einen Ausschnitt.
Ich habe mit meiner Sekretärin überlegt, ob man die Antworten auf diesen Zettel schon dazuschreiben soll. Sie meinte, das sei pädagogisch wertvoller, wenn nicht alles gleich da stünde. Das würde die Leute eher motivieren, mitzuschreiben.
Ich hoffe nun, meine Sekretärin behält Recht.
Also schreiben Sie das da hin: Antwort: Ja, denn Gott erwählt immer nur einen Ausschnitt.
Das ist die Antwort auf die erste Frage. Paulus hat das ganz glasklar durchargumentiert.
Zweite Frage: Ist Gott gerecht, wenn er selektiert?
Jetzt atmet Paulus wahrscheinlich einmal durch, und die Leser des Römerbriefs ebenso. Doch schon taucht das zweite Problem am Horizont auf. Sie ahnen, worum es sich handelt. Wenn wir dieses zweite Problem angegangen haben, haben wir uns auch die erste Pause verdient.
Das zweite Problem, das jetzt auftritt, liegt auf der Hand: Wenn Gott so selektiert, wenn Gott in dieser Weise Ausschnitte auswählt, ist er dann gerecht? Ist das noch gerecht? Genau diese Frage formuliert Paulus in Kapitel 9, Vers 14, mit dem Beginn eines neuen Abschnitts. Dort sagt Paulus: „Was wollen wir nun sagen?“ Diese Formulierung hatten wir gestern schon. Immer wenn Paulus so einen Einschnitt hat, geht er einen Schritt zurück. Man hat gestern gesagt, er mache einen rhetorischen Ausfallschritt – eine interessante Formulierung. Paulus macht gewissermaßen auch so einen Ausfallschritt, wenn er zurücktritt und fragt: Was sollen wir nun hierzu sagen? Was machen wir mit diesem Befund?
Dann formuliert er knallhart unsere Frage: „Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?“ Wie kann er das machen? Paulus fügt gleich seine Antwort hinzu: „Das sei ferne!“ Aber lieber Paulus, was antwortest du denn bitteschön auf diese Frage? Wenn Gott immer so selektiert, dann riecht das doch für uns nach Ungerechtigkeit. Ist Gott wirklich gerecht? Diese Frage werden wir nach der Pause beantworten.
Der Vorteil unseres Fragenkatalogs besteht darin, dass man immer schnell den Übergang von einem Abschnitt zum nächsten schafft. Die erste Frage lautet: Ist Gottes Verheißung zuverlässig? Die Antwort: Ja, denn Gott erwählt immer nur einen Ausschnitt, auch schon in der vor Paulus liegenden Geschichte seines Volkes. Für bestimmte Segensgeschenke, die Gott macht, erwählte er immer nur einen Ausschnitt.
Die zweite Frage lautet: Aber wenn das nun so ist, ist Gott in seiner unterscheidenden Souveränität noch gerecht? Das ist die Frage, der Paulus sich jetzt stellt. Dazu lesen wir zunächst Vers 18:
„Was wollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne! Denn zu Mose spricht er: ›Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und über wen ich mich erbarme, über den erbarme ich mich.‹ So liegt es nun nicht an jemandes Laufen oder Wollen, sondern an Gottes Erbarmen. Denn die Schrift sagt zum Pharao: ›Eben dazu habe ich dich aufstehen lassen, dass ich an dir meine Macht erweise und dass mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde.‹ So erbarmt er sich nun, über wen er will, und verstockt, wen er will.“
Was sagt das jetzt über die Gerechtigkeit Gottes aus, wenn er in dieser Weise unterscheidet? Er erbarmt sich über wen er will und verstockt, wen er will. Wie kann man dann daran festhalten, dass Gott gerecht ist?
Das Erste, was Paulus uns hier deutlich macht, ist, dass dies die falsche Kategorie ist, die falsche Frage. Denn zunächst hat ja niemand Gottes Erbarmen und Gnade verdient. In Vers 20 sagt Paulus: „Ja, o Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst?“ Das ist ja gerade das Wesen von Gnade und Erbarmen: Wir haben keinen Anspruch darauf, keinen Rechtsanspruch, und wir haben sie nicht verdient.
Wir können bei Gott immer nur zwischen seiner Gnade und seiner Gerechtigkeit unterscheiden. Gott ist immer – und das ist jetzt ganz wichtig, das werden wir entfalten – entweder gnädig oder gerecht, aber niemals ungerecht. Wem Gott gnädig ist, dem schenkt er sein unverdientes Erbarmen. Unverdientes Erbarmen ist fast schon ein Pleonasmus, also ein weißer Schimmel, weil es im Grunde zwei Begriffe für denselben Sachverhalt sind: Erbarmen ist unverdient. Dem schenkt er sein unverdientes Erbarmen, dem ist er gnädig.
Wenn Gott gerecht handelt, schickt er sein verdientes Gericht. Es gibt entweder Gnade oder Gerechtigkeit. Darum sollten wir vorsichtig sein, Gott gegenüber nach Gerechtigkeit zu schreien.
Paulus bringt hier als Beispiel die Verstockung des Pharao. Sie kennen die alttestamentliche Geschichte dahinter. Das bedeutet nicht, und das müssen wir ganz deutlich festhalten, dass Gott aktiv die bösen Absichten in Pharaos Herz gelegt hätte. Vielmehr bedeutet es, dass Gott das Herz des Pharao, das dieser aufgrund seiner eigenen Sünde verstockt hatte, nicht mehr bewegte, sondern es in gerichtlicher Weise verhärtete.
Wenn Sie den alttestamentlichen Text lesen, zum Beispiel 2. Mose 4,21 oder 2. Mose 7,3, wird gesagt, dass Gott den Pharao verstockt. An anderen Stellen heißt es, dass Pharao selbst sein Herz verhärtet, zum Beispiel 2. Mose 8,32 oder 2. Mose 9,34. Der Pharao ist hier ein Beispiel für jemanden, über den Gott sich nicht erbarmt, für jemanden, dem Gott keine Gnade schenkt, sondern den er gerechterweise richtet.
Man hat versucht, Paulus so auszulegen, dass er Pharao als Beispiel für eine Prädestination zur Verdammnis bringt. Also als sei Pharao das Beispiel dafür, dass Gott jemanden von Ewigkeit her zur Verdammnis erwählt und bestimmt. Aber das gibt der Text wirklich nicht her.
Wenn wir uns Vers 17 noch einmal ansehen, das Zitat aus dem Alten Testament: „Eben dazu habe ich dich, Pharao, aufstehen lassen, dass ich an dir meine Macht erweise.“ Dort wird nicht gesagt, was die Ursache der Verstockung des Pharao ist. Es wird nicht gesagt, dass Gott von Ewigkeit her beschlossen hätte, den Pharao zu verstocken. Stattdessen wird etwas über das Ziel gesagt, mit dem Gott den Pharao in das Blickfeld der Geschichte richtet.
Wozu gebraucht Gott Pharao? Darum geht es in diesem Vers. Gott gebraucht den Pharao in seiner ganzen Sündigkeit, die er dann gerechterweise auf seine Sünde behaftet, um die Macht und Gerechtigkeit Gottes öffentlich zu demonstrieren. Dazu gebraucht er den Pharao. Das ist das Ziel, mit dem Gott Pharao auftreten lässt.
Gott sagt aber nichts über die Ursache, warum der Pharao in diese Sünde hineingekommen ist. Es wird nichts von einer ewigen Vorherbestimmung zum Unheil gesagt. Das griechische Wort „exegeiro“, das dort steht und mit „ich habe dich aufstehen lassen“ übersetzt wird, bedeutet so viel wie jemanden auftreten lassen, jemanden zu etwas erwecken oder für eine bestimmte Aufgabe bestellen. Hier könnte man es am besten so erklären: „Ich habe dich zu einer bestimmten Zeit auf die Weltbühne gestellt.“ Man könnte auch sagen: Gott lässt jemanden zu einer bestimmten Zeit in eine bestimmte Position gelangen, um an ihm etwas deutlich zu machen.
Und das, was Gott an Pharao deutlich macht, ist seine richtende Gerechtigkeit. Gott behaftet ihn auf seine Schuld und lässt ihm nur Gerechtigkeit widerfahren und nicht Gnade, indem er ihn auf seine Sünde behaftet und ihn weiter in dieser Sünde verstockt.
An diesem Gegensatz zwischen Mose auf der einen Seite, dem Gott sagt: „Ich erbarme mich über den, über den ich mich erbarme“, und dem Pharao auf der anderen Seite, den Gott auf seine Schuld behaftet und in seinem Gericht weiter verstockt, wird deutlich, dass Gottes unterschiedliches Handeln mit verschiedenen Personen niemals seine Gerechtigkeit in Frage stellen kann.
Entweder handelt Gott gnädig oder gerecht. Deshalb könnte man Vers 18 etwas freier so übersetzen: „In voller Souveränität erbarmt Gott sich, wessen er sich gnädigerweise erbarmen will, und verstockt, wen er gerechterweise auf seine Schuld behaften will.“ So könnte man diesen Vers am besten zusammenfassen.
Was wir hier vorliegen haben – und das habe ich auch in meiner Dissertation herausgearbeitet – ist eine Asymmetrie. Gott steht in anderer Weise hinter seinem gnädigen Erwählen und hinter seinem richtenden Verstocken. Das hatten wir gestern schon gesehen, als wir diesen Spannungsbefund darstellten.
Derjenige, der gerettet wird, bekommt von Gott gesagt: „Ich habe dich vor Grundlegung der Welt zum Heil erwählt.“ Unsere Rettung ist ganz Gottes Verdienst. Derjenige, der im Unglauben verharrt und verloren geht, bekommt nicht gesagt, dass er vor Grundlegung der Welt zur Verdammnis erwählt wurde. Stattdessen bekommt er gesagt: „Du wirst verloren gehen aufgrund deiner eigenen Schuld und Sünde, auf die ich dich behafte.“
Gott steht in anderer Weise hinter Rettung und Verdammnis. Gott steht hinter unserer Rettung ganz direkt. Er hat sie veranlasst, er hat sie ewiglich verfügt, er hat sie uns geschenkt. Deshalb dankt auch jeder, der zur Bekehrung gefunden hat, Gott für seine Bekehrung.
Gott steht in anderer Weise hinter der Verdammnis der Verdammten. Er sagt nicht: „Ich habe dich vor Grundlegung der Welt zur Verdammnis erwählt.“ Sondern er sagt: „Ich behafte dich auf deine Schuld und Sünde. Du hast an deinem Unglauben festgehalten, du wolltest nicht umkehren, und ich behafte dich gerechterweise darauf. Du stehst unter meinem Gericht und Zorn.“
Gott handelt entweder gnädig oder gerecht.
Und wissen Sie, was seltsam ist? Wir haben ein ganz seltsames Empfinden. Gottes Gnade können wir nachvollziehen; das scheint uns sogar relativ normal. Dass Gott gnädig ist, erwarten wir so. Aber Gottes Gerechtigkeit lässt uns erschrecken. Warum eigentlich? Was für ein Anspruchsdenken steckt dahinter?
Ein Kollege aus Amerika, R.C. Sproul, hat dazu eine interessante Erfahrung mit seinen Studenten gemacht. Er sagte zu Beginn seiner Vorlesung zum Alten Testament, dass die Studenten im Laufe des Semesters drei Arbeiten schreiben müssten, mit Abgabeterminen am 30. September, 31. Oktober und 30. November.
Es waren 250 Studenten dabei. Am ersten Abgabetermin hatten 25 Studenten ihre Arbeit nicht gemacht. Sie standen etwas beklommen da und sagten: „Entschuldigung, Professor, wir haben es nicht rechtzeitig geschafft.“ Er sagte: „Okay, man muss die Marginalie vor Recht ergehen lassen. Ich verlängere noch, Sie können ein paar Tage später abgeben.“
Dann kam der zweite Termin, bei dem etwa 50 Leute ihre Arbeit nicht mitgebracht hatten. Sie standen da und sagten, das sei unangenehm, aber sie dachten, der Professor werde diesmal auch nicht so streng sein. Und tatsächlich sagte er: „Okay, ausnahmsweise lasse ich das noch einmal durchgehen. Sie können die zweite Arbeit ein paar Tage später abgeben. Ich lasse noch einmal Gnade vor Recht ergehen. Ich lasse mich noch einmal erweichen.“ Die Studenten waren dankbar und fanden das wunderbar und großzügig.
Dann kam der dritte Termin, der 30. November. Da hatten schon etwa hundert Studenten ihre Arbeit nicht rechtzeitig abgegeben. Er sagte: „Sie sollen mich ja auch noch ernst nehmen. Diesmal geht es nicht.“ Er nahm sein Notizbuch und fragte die einzelnen Leute. Jeder, der die Arbeit nicht hatte, bekam eine Sechs eingetragen.
Es gab eine klare Absprache. Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung aus: „Das ist unfair! So geht das nicht!“ Da fragte Sproul einen Studenten: „Sie halten das also für unfair? Sie wollen nach Gerechtigkeit schreien?“ Der Student antwortete: „Ja.“ Sproul sagte: „Okay, wenn Sie nach Gerechtigkeit schreien, dann gebe ich Ihnen für die Arbeit, die Sie beim letzten Mal nicht abgegeben haben, gleich auch eine Sechs.“
Plötzlich war den Studenten gar nicht mehr so sehr nach Gerechtigkeit zumute. Sie akzeptierten, dass sie für die zu spät abgegebene Arbeit die schlechtere Note bekamen und freuten sich im Nachhinein, dass er bei den anderen beiden Malen so gnädig reagiert hatte.
Das ist typisch für unser menschliches Denken. Wir erwarten Gnade. Dass Gott gnädig ist, nehmen wir hin und eigentlich müsste er ja allen gnädig sein. Das würde uns gar nicht erstaunen. Aber wir sind empört und entsetzt, wenn Gott seine Gerechtigkeit walten lässt.
Gott wäre nicht verpflichtet, irgendeinen einzelnen Menschen zu retten. Wir sind Sünder und treten Gottes Heiligkeit mit Füßen. Wir können nur staunen, dass Gott überhaupt jemanden errettet, dass Gott so viele errettet, dass er so viele souverän mit seiner Gnade beschenkt.
Er behaftet uns nicht auf ewig mit unserem Unglauben, unserer Untreue, unserem Ungehorsam, unseren Verstößen gegen seine Gebote. Stattdessen hat er Gnade erwiesen, hat uns die Gnade geschenkt, unsere Schuld vor ihm zu erkennen. Er hat uns die Gnade geschenkt, dass sein Sohn Jesus Christus die grauenvolle Strafe getragen hat, die wir um der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes willen hätten bezahlen müssen und nicht bezahlen konnten.
Gott rettet, erlöst und beschenkt Menschen, die Sünder sind, ohne dass wir etwas einbringen könnten, womit wir uns freikaufen könnten. Er macht uns zu seinen Kindern.
Wir haben uns daran gewöhnt, diese Gnade Gottes so selbstverständlich, locker und flockig mitzunehmen, als sei das ganz normal. Wenn Gott aber seine Gerechtigkeit walten lässt, schreien wir gleich, das sei ungerecht.
Ich denke, Paulus will uns hier warnen. Er will uns warnen, in diesen Versen nicht nach der Gerechtigkeit Gottes zu schreien, sondern Gott um sein Erbarmen anzurufen.
Das macht ja deutlich: Wer nach dem Erbarmen und der Gnade Gottes schreit, wird erhört und angenommen.
Ich habe das hier bestimmt schon einmal zitiert: Es gibt ein wunderschönes Lied aus einem alten Gesangbuch der Barockzeit, das diese Haltung, mit der wir zu Gott kommen sollen, ausdrückt. Wir sollen nicht Gerechtigkeit fordern, sondern Gnade erbetteln.
Dort heißt es:
„Nun pack mich, alten Hund, beim Ohr,
wirf mir den Gnadenknochen vor
und bring mich, Sündenlümmel,
in deinen Gnadenhimmel.“
Das ist die Haltung, mit der wir zu Gott kommen sollen und dürfen. Nur mit dieser Haltung können wir zu Gott kommen. Jede andere Haltung ist unangemessen. Wir haben nichts zu fordern, nichts zu verlangen, wir können nur bitten.
Paulus macht das hier deutlich durch die Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Gnade und fragt: Ist Gott in seiner Souveränität noch gerecht? Und Paulus gibt die Antwort, die Sie sich notieren können:
Ja, denn bei Gott gibt es nur Gerechtigkeit oder Gnade. Gott kann nicht ungerecht sein.
Das ist die zweite Antwort: Ja, Gott ist gerecht, denn bei Gott gibt es nur Gerechtigkeit oder Gnade.
Paulus hat uns jetzt an die Hand genommen und bereits zwei brennende Fragen beantwortet. Sie wissen, wie er gestartet ist: Da war der große Gegensatz zwischen der miserablen geistlichen Situation seines Volkes Israel und den großen Verheißungen, die Gott gegeben hat.
Nur wenige Israeliten glauben zu diesem Zeitpunkt an den Messias, Jesus Christus.
Paulus fragte: Wie steht es um die Verheißungstreue Gottes? Ist Gottes Verheißung überhaupt zuverlässig? Die erste Antwort lautete: Ja, denn Gott erwählt immer nur einen Ausschnitt. Durch die ganze Geschichte hindurch war es immer nur ein Teil, der mit Gottes besonderer Verheißung beschenkt wurde.
Dann stellte Paulus die zweite Frage: Wenn Gott in seiner Souveränität so unterscheidend vorgeht, ist er dann überhaupt noch gerecht? Und auch diese Frage beantwortete Paulus mit Ja: Bei Gott gibt es nur Gerechtigkeit oder Gnade, Gott kann nicht ungerecht sein.
In seiner Souveränität ist Gott keinem Sünder etwas schuldig.
Dritte Frage: Kann der Mensch zur Verantwortung gezogen werden?
So drängt sich nun die dritte Frage auf – eine weitere naheliegende, eine weitere quälende Frage.
Sie sehen, wie Paulus sich hier als guter Seelsorger erweist und unsere Fragen Schritt für Schritt aufnimmt. Wenn Gott nun entweder gerecht oder gnädig ist und dies in seiner Souveränität entscheidet, kann der Mensch dann überhaupt zur Verantwortung gezogen werden?
Das ist die dritte Frage. Ist es überhaupt sinnvoll, in irgendeiner Weise von menschlicher Verantwortung zu sprechen, wenn Gott den einen gnädigerweise rettet und den anderen gerechterweise richtet? Wie kann er dann Menschen zur Rechenschaft ziehen?
Genau diese Frage formuliert Paulus auch in Vers 19: Er sagt: „Nun wirst du mich fragen, warum tadelt Gott uns dann noch? Denn wenn das so ist, wer kann dann seinem Willen widerstehen?“
Kann der Mensch überhaupt noch sinnvoll zur Verantwortung gezogen werden?
Auf diese Frage, und das ist die letzte Frage, die wir heute Vormittag beantworten werden, antwortet Paulus in zwei Schritten. Zunächst in den Versen 20 bis 29 mit einer Gegenfrage, die es in sich hat, wie Sie gleich sehen werden. Dann folgt in den Versen 30 bis 33 die eigentliche Antwort.
Also zuerst die Gegenfrage (Verse 20 bis 29), danach die Antwort (Verse 30 bis 33).
Gehen wir zunächst auf die Gegenfrage ein: Kann Gott den Menschen überhaupt zur Verantwortung ziehen, wenn er so souverän zwischen Gnade und Gerechtigkeit entscheidet?
Wie beginnt Paulus in Vers 20? Er sagt: „Ja, o Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht denn etwa das Gebilde zu dem, der es geformt hat: ‚Warum hast du mich so gemacht?‘ Oder hat nicht der Töpfer Macht über den Ton, aus derselben Masse das eine Gefäß zur Ehre, das andere zur Unehre zu machen?“
Er fährt fort: „Wenn nun aber Gott, da er seinen Zorn erweisen und seine Macht offenbar machen wollte, mit großer Langmut die Gefäße des Zorns getragen hat, die zum Verderben zugerichtet sind, damit er auch den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit erzeige, die er zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat.“
Paulus stellt also eine rhetorische Frage: Wie ist es nun, wenn Gott die einen, die Gefäße des Zorns, in Geduld getragen hat, die zum Verderben zugerichtet sind, und an den anderen Gefäßen der Herrlichkeit, die zuvor bereitet sind, den Reichtum seiner Barmherzigkeit zeigt?
Als solcher hat er auch uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.
Das klingt etwas kompliziert, wird sich aber gleich vor unseren Augen entfalten.
Das Töpferbeispiel – der Töpfer hat die Macht, seine Gefäße unterschiedlich zu gestalten – wurde manchmal im Sinne einer doppelten Prädestination verwendet. Gott ist der Töpfer und formt von Ewigkeit her den einen zum Heil und den anderen zum Unheil.
Von Ewigkeit her hat Gott zwei unterschiedliche Absichten und Bestimmungen für jeden Menschen.
Dieses Töpferbeispiel wird hier jedoch nicht mit dieser Deutung überfrachtet. Paulus beschreibt mit seiner rhetorischen Frage nicht, was Gott tatsächlich tut, sondern will deutlich machen, dass Gott wie ein Töpfer ein prinzipielles Verfügungsrecht über alle seine Geschöpfe hat.
Es geht ihm erst einmal darum, dass Gott das grundsätzliche Verfügungsrecht über jedes seiner Geschöpfe besitzt.
Paulus sagt nicht, dass Gott von Anfang an den einen zum Heil und den anderen zum Unheil formt. Er fragt vielmehr: Wie ist das nun mit dem Töpfer? Der Töpfer hat doch die Souveränität und das Verfügungsrecht über die Gefäße, die er herstellt.
So hat Gott zunächst einmal das prinzipielle Verfügungsrecht über unser Leben, denn er ist unser Schöpfer, er hat uns gemacht.
Wichtig ist außerdem zu sehen, dass im Alten Testament das Töpferbeispiel immer so verwendet wird, dass der Töpfer straft als Antwort auf Sünde.
Das können Sie in Jeremia 18,1-10 oder Jesaja 64,6-7 nachlesen.
Wozu dient das Töpferbeispiel? Es dient zunächst dazu, uns in unsere Schranken zu verweisen. Es hat eine abwehrende Funktion.
Paulus will deutlich machen: Du Mensch, du Fragesteller, bedenke bitte die Grenzen, die dir von Gott gesetzt sind. Du hast nicht das Recht, Gott gegenüber aufzutreten und sein Handeln kritisch in Frage zu stellen.
Gott ist der Töpfer, du bist der Ton. Es ist seine souveräne Entscheidung, er hat ein prinzipielles Verfügungsrecht über dein Leben, denn er ist dein Schöpfer.
An dieser Stelle wird auch klar, wie wichtig die Frage der Schöpfung für das Gesamtverständnis des Evangeliums ist.
Manche Christen sagen, Schöpfung oder Evolution sei eine Einzelfrage, die nicht so viel mit der Rettung zu tun habe. Doch bedenken Sie: Zum Evangelium gehört, dass wir vor Gott rechenschaftspflichtig sind und dass Gott ein absolutes Verfügungsrecht über unser Leben hat.
Warum? Weil unser Leben ihm gehört. Warum gehört es ihm? Weil er der Schöpfer ist.
Wer das Schöpfersein Gottes angreift oder in seinem Realsinn in Frage stellt, untergräbt das ganze Evangelium.
Das Evangelium beruht darauf, dass Gott uns besitzt und ein absolutes Verfügungsrecht über uns als seine Geschöpfe hat. Deshalb sind wir ihm Rechenschaft schuldig.
Hier sehen Sie, wie die ganze biblische Lehre in einem großen System zusammenhängt.
Man kann nicht einfach sagen: Hauptsache das Evangelium, alles andere ist nicht so wichtig. Es betrifft das Evangelium.
Paulus macht deutlich: Gott hat das Verfügungsrecht über unser Leben.
Wenn Sie jetzt noch durchhalten, sagen wir mal die nächsten zehn Minuten, dann haben wir die größte Arbeit des Vormittags geleistet. Denn in den nächsten Versen, vor allem in Vers 22, macht Gott deutlich, dass er nicht in gleicher Weise hinter Errettung und Verdammnis steht.
Das ist nämlich das Denkmodell der doppelten Prädestination, bei dem man von einer Symmetrie ausgeht und sagt: Warum sind die einen verloren? Weil Gott sie von Ewigkeit her zur Verdammnis prädestiniert hat. Und warum sind die anderen gerettet? Weil Gott sie von Ewigkeit her zum Heil prädestiniert hat.
Wir haben gestern gesehen, dass die Bibel an keiner Stelle sagt, Gott habe von Ewigkeit her zur Verdammnis prädestiniert, auch wenn einige, die wir sonst sehr schätzen, etwa Johannes Calvin, diesen Abschnitt im Römerbrief so auslegen wollten.
Was macht Paulus hier? Er sagt, es gibt Gefäße des Zorns und Gefäße des Erbarmens.
Wenn wir sehen, wie Paulus diese beiden Gefäße behandelt, wird deutlich: Sie werden nicht symmetrisch behandelt.
Es gilt, zwischen den Gefäßen des gerechten Zorns und den Gefäßen des gnädigen Erbarmens zu unterscheiden.
Das ist die Gegenüberstellung: Entweder gerecht – dann Verdammnis, oder gnädig – dann Rettung.
Und Paulus unterscheidet das sehr genau.
Was sagt er über die Gefäße des gerechten Zorns? Sie werden von Gott getragen oder ertragen und zum Verderben zugerichtet.
Das bedeutet: Gefäße des gerechten Zorns zeigen Gottes Zorn und Macht. Das ist ihre Funktion.
Sie werden ertragen eine Zeit lang und zum Verderben zugerichtet.
Es wird nirgendwo gesagt, wann dieses Zubereiten zum Zorn stattfand. Es wird nicht gesagt, dass sie vor Grundlegung der Welt zum Zorn zugerichtet sind.
Es wird nur gesagt, dass sie ertragen und zum Verderben zugerichtet werden, als Antwort auf ihre Sünde.
Interessanterweise wird nicht ausdrücklich gesagt, wer dieses Zurichten macht. Die Passivform macht deutlich, dass Gott gemeint ist, aber es wird sehr zurückhaltend formuliert.
Wenn wir den Zusammenhang des Römerbriefs hinzunehmen, erscheint Gottes Zorn immer als Reaktion auf Schuld, auf menschliche Schuld.
Damit ist klar: Von den Gefäßen des gerechten Zorns wird nicht gesagt, dass sie von Ewigkeit her dazu bestimmt wurden.
Vielmehr erweist sich an ihnen Gottes machtvolles, richtendes Handeln.
Das Verb „zurichten“ hat im Neuen Testament keine prädestinatianische Konnotation und hat nichts mit Begriffen der Vorherbestimmung zu tun.
Schauen wir uns nun die anderen Gefäße an, die Gefäße des gnädigen Erbarmens.
Bei ihnen wird nicht gesagt, dass sie zugerichtet sind, sondern dass sie den Reichtum von Gottes Herrlichkeit zeigen.
Sie sind zuvor bereitet – im Griechischen der Ausdruck pro etoimazo.
Dieser Ausdruck hat den Geschmack und Geruch von Vorherbestimmung.
Bei den Gefäßen des gerechten Zorns stand bei „zurichten“ nur ein Partizip, kein finites Verb. Hier steht ein finites Verb: „zuvor bereitet“.
Bei den Gefäßen des gnädigen Erbarmens wird das Subjekt ausdrücklich genannt: Gott.
Wenn man sieht, wie dieser Vorgang des Bereitens weiter erklärt wird, nämlich in Vers 24: „Als solche zur Herrlichkeit bereiteten hat er auch uns berufen“, dann wird dieser Vorgang mit dem Verb „berufen“ erläutert, das wir gestern schon bei Paulus gesehen haben und das eine spezielle Färbung der Vorherbestimmung trägt.
Das „Zuvorbereiten“ kann im Sinne von Vorherbestimmung verstanden werden und wird durch das „Berufen“ noch verstärkt.
Im Unterschied zu den Gefäßen des gerechten Zorns liegt bei den Gefäßen der gnädigen Barmherzigkeit eine Sprache und Ausdrucksweise vor, die deutlich auf Vorherbestimmung verweist.
Diese Asymmetrie zieht sich durch den gesamten Römerbrief.
Von den Gefäßen, die zum Zorn zugerichtet sind, wird nicht gesagt, dass sie von Ewigkeit her dazu bestimmt waren.
Gott richtet sie gerechterweise wegen ihrer Sünde.
Bei denen, die nicht aufgrund ihrer Sünde gerichtet werden, sondern die Gott unverdienterweise mit Gnade beschenkt, geht das auf eine Entscheidung zurück, die Gott vor Grundlegung der Welt getroffen hat.
Damit erweist sich dieser Text, der oft als klassische Stelle zur Begründung der doppelten Prädestination verwendet wurde, als untauglich für diesen Zweck.
Ich will Ihnen sagen, woran das möglicherweise liegt: Wir Menschen neigen dazu, logische Spannungen möglichst schnell ausgleichen zu wollen.
Wir haben gestern gesehen, dass es nach unseren Alltagsregeln der Logik schwer einzusehen ist, dass wir unsere Rettung total Gott verdanken, der uns zur Bekehrung führt, und dass nicht umgekehrt gesagt wird, Gott sei auch total verantwortlich für die Verlorenheit der Verlorenen.
Vielmehr wird der einzelne Mensch auf seine Schuld behaftet.
Die Bibel sagt uns diese Spannung zu, wie ich gestern ausführlich dargelegt habe.
Durch die Kirchengeschichte gab es immer wieder Versuche, diese Spannung aufzulösen.
Ein Weg bestand darin, alles in den Ratschluss Gottes zu verlegen und die Konstruktion der doppelten Prädestination zu entwickeln.
Das war gut gemeint.
Sie merken aber auch bei denen, die das stark vertreten haben, etwa Luther und Calvin, dass sie das nicht immer durchgehalten haben.
In einer Doktorarbeit, die im letzten Jahrhundert geschrieben wurde, hat ein Forscher über Calvin herausgearbeitet, dass es in Calvins Schriften praktisch zwei Linien gibt:
Einmal eine Linie, die sehr symmetrisch durchgestylt ist und Römer 9 im Sinne der doppelten Prädestination auslegt.
Dann gibt es viele Stellen, an denen Calvin einfach Bibelauslegung betreibt.
Calvin war ein großer Prediger und Evangelist.
Wo er sich der Eigendynamik der biblischen Texte anvertraut hat, kommen Passagen vor, die nicht die doppelte Prädestination vertreten.
Für uns ist es wichtig, immer wieder zu den biblischen Texten zurückzukehren, genau hineinzuhören und uns von Gott zeigen zu lassen, was die eigentliche Aussage des Textes ist.
Nach langer Beschäftigung mit diesen Texten ist meine Überzeugung und gegenwärtige Sicht, die ich auch in meiner Arbeit vertreten habe, dass diese Asymmetrie tatsächlich besteht.
Wir machen jetzt eine kurze Pause, um die Kassette zu wechseln.
Reicht noch für ein anderthalbminütiges Zitat? Das reicht gut.
Ich möchte Ihnen aus einem lutherischen Bekenntnis, der lutherischen Missouri-Synode in den Vereinigten Staaten, in einer theologischen Grundsatzerklärung diese Erkenntnis, nämlich die Asymmetrie, sehr gut formuliert vorstellen.
Dort heißt es: „Aber so ernstlich wir festhalten, dass es eine Gnadenwahl oder Prädestination zur Seligkeit gibt, so entschieden lehren wir auch, dass es keine Zornwahl oder Prädestination zur Verdammnis gibt.
Die Schrift offenbart klar die Tatsache, dass Gottes Liebe zur verlorenen Sünderwelt allgemein ist, das heißt, sie sich auf alle Menschen ohne Ausnahme erstreckt.
Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Timotheus 2,4).
Weiter heißt es: „Die ewige Erwählung ist aber eine Ursache, dass die Erwählten in der Zeit zum Glauben kommen.“
Dann wird Apostelgeschichte 13,48 zitiert: „Die bekehrten sich, die von Gott zum ewigen Leben bestimmt waren.“
Doch die ewige Erwählung ist nicht die Ursache dafür, dass Menschen bei der Predigt des Wortes ungläubig bleiben.
Diese traurige Tatsache begründet die Schrift damit, dass die Menschen selbst sich nicht wert achten des ewigen Lebens, indem sie Gottes Wort von sich stoßen und dem Heiligen Geist hartnäckig widerstreben.“
Ich habe diese Stelle erst gefunden, nachdem ich lange an den Texten gearbeitet hatte.
Das bringt genau auf den Punkt, was ich Ihnen deutlich machen wollte.
So, die Regie gibt die Anweisung, dass wir kurz Luft holen, weil die nächste Kassette eingeschoben wird.
Dann kommen wir auf die Zielgerade unseres heutigen Vormittagsvortrags.
Keine Sorge, es geht nicht noch einmal so lange weiter – das wäre menschliche Grausamkeit.
Wir nähern uns dem Ende, und Sie können sich schon auf das Mittagessen freuen.
Die ersten Magensäfte können schon mal sprudeln, und dann geht es gleich weiter.
Können wir weitermachen? Die Regie sagt ja.
Also, Paulus hat die Frage aufgenommen: Wenn Gott in dieser Souveränität handelt, kann der Mensch überhaupt zur Verantwortung gezogen werden?
Er reagiert zunächst mit einer Gegenfrage: Du Mensch, du hast nicht das Recht, Gottes Vorgehensweise zu hinterfragen.
Gott ist gerecht oder gnädig, wie wir gesehen haben.
Wenn Gott nun an den einen seine Gerechtigkeit erweist, die er auf ihre Schuld behaftet, und der anderen seine Barmherzigkeit zeigt, indem er sie vor Grundlegung der Welt erwählt, dann hast du das nicht in Zweifel zu ziehen oder in Frage zu stellen, sondern rufe nach Gottes Erbarmen und bitte um seine Gnade.
Das hat Paulus in diesen Versen vor Augen geführt.
Ab Vers 24 kommen auch die gläubig gewordenen Heiden in den Blick.
Paulus macht deutlich – ich fasse hier nur zusammen – dass die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen den gläubigen Judenchristen und den gläubigen Heidenchristen darin besteht, dass sie beide vor Grundlegung der Welt erwählt sind.
„Als solche hat er auch uns berufen“, sagt Paulus in Vers 24, „nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.“
In den Versen 24 bis 26 zitiert er Hosea 1 und macht deutlich, dass auch im Alten Testament gezeigt wird, dass Gott die Heiden rufen wird.
In den Versen 27 und 29 zitiert er Jesaja 10 und 1 und zeigt, dass Gott auch aus dem ethnischen Israel Menschen zum Heil ruft.
Die gläubigen Israeliten, die Gott ruft, bilden in dieser Übergangszeit den Überrest.
Nicht alle sind zum Heil erwählt, aber zur Zeit bilden die Jünger, also die Juden, die an Jesus Christus glauben, diesen Überrest, in dem Gottes Verheißung erfüllt wird.
Diese Juden bilden die Schnittmenge zwischen der Gemeinde Jesu Christi und dem Volk Israel.
Sie gehören sowohl zur erwählten Gemeinde, die Christus als den Messias erkannt hat, als auch zum ethnischen Volk Israel.
In ihnen ist der Überrest repräsentiert, der zeigt, dass Gottes Verheißung auch heute noch gilt.
Es gab zu allen Zeiten bis heute Mitglieder des Volkes Israel, die an Christus glauben und ihm dienen.
Das macht Paulus in den Versen 24 bis 29 deutlich.
Am Ende von Kapitel 9 bleibt die Grundfrage: Wenn Gott treu und gerecht ist, was sagen wir dazu?
Was bedeutet das für das Volk Israel als Ganzes?
Wenn die Mehrheit so gescheitert ist, warum glaubt die Mehrheit des jüdischen Volkes bis heute nicht an Christus?
Wo liegt das Problem?
Darauf antwortet Paulus in den Versen 30 bis 33.
Er sagt nicht, dass die Mehrheit des Volkes Israel zum Unglauben vorherbestimmt ist, sondern er nennt den Grund für das Scheitern der ungläubigen jüdischen Mehrheit.
Was sagen die Verse 30 bis 33?
Dass die Heiden, die nicht nach Gerechtigkeit strebten, Gerechtigkeit erlangt haben, nämlich die Gerechtigkeit aus Glauben.
Das hat Paulus ausführlich in den ersten Kapiteln des Römerbriefs dargelegt: Wir werden von Gott gerechtgesprochen, weil wir unsere Sünde zugeben und Christus im Glauben ergreifen, der für unsere Schuld gestorben ist.
Israel, die Mehrheit des jüdischen Volkes, strebte nach dem Gesetz die Gerechtigkeit an, hat sie aber nicht erreicht.
Sie sind an ihrer Sünde gescheitert.
Warum? Weil es nicht aus Glauben geschah, sondern aus Werken des Gesetzes.
Sie wollten durch Werkgerechtigkeit vor Gott gerecht werden.
Das kann kein Mensch.
Es gibt nur den Weg des Glaubens an Christus, seit Christus gekommen ist.
Sie haben sich am Stein des Anstoßes gestoßen – ein Bild für Christus.
Auch im Alten Testament ist das vorhergesagt, wie in Jesaja: „Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses, und jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.“
Paulus bringt die Argumentation auf den Punkt: Es gibt einen einzigen Grund, warum Israel in seiner Mehrheit verloren ist.
Nicht eine Prädestination zum Unheil, sondern ihr Unglaube.
Damit macht Paulus deutlich: Die Israel-Thematik ist ein Spezialfall des gesamten Römerbrief-Themas.
Es gibt eine klare Antwort darauf, wie ein Mensch mit Gott ins Reine kommt, wie er vor Gott gerecht wird, wie aus einem Höllenkandidaten ein Himmelsbürger wird: Allein durch den Glauben an Christus.
Paulus zeigt, dass auch die Juden davon nicht ausgenommen sind, mögen sie noch so sehr das erwählte Volk Gottes sein.
Sie sind von dieser geistlichen Grundwahrheit nicht ausgenommen.
Auch sie sind gerufen, an Christus zu glauben, zu ihrem Heil.
Wenn viele von ihnen scheitern und verloren gehen, liegt das nicht daran, dass Gott sie zur Verdammnis prädestiniert hätte, sondern daran, dass sie den Glauben an Jesus Christus verweigern.
Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass Rettung allein durch Glauben an Christus geschieht.
Das Problem der Mehrheit der Juden war, dass sie meinten, sich durch Werke der Gerechtigkeit mit Gott versöhnen zu können, das Reich Gottes zu erarbeiten und sich den Himmel zu verdienen.
Das scheitert.
Zur Reformationszeit war das der große Streit zwischen Evangelischen und Katholiken.
Bis heute hat sich an den Grundfesten der römisch-katholischen Kirche daran nichts geändert: Der Glaube an Christus allein genügt nicht.
Es kommen Zwischeninstanzen dazu – Maria, das kirchliche Vermittlungssystem, das Beicht- und Eucharistiesystem.
Es geht um die Frage: Christus allein?
Paulus macht im Römerbrief deutlich: Christus allein ist der Retter.
Die Weichen fallen an der Stelle, wo es um die Frage geht: Willst du dich auf etwas anderes verlassen als auf ihn?
Willst du nach einer anderen Rettung suchen als der, die er schenkt?
Die Geschichte Israels bis zur Zeit des Paulus und bis heute belegt, dass Heil oder Unheil sich an Christus entscheidet, der uns zur Umkehr und zum Glauben ruft: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Frieden geben.“
So können Sie auch bei dieser dritten Frage die Antwort eintragen: Kann der Mensch zur Verantwortung gezogen werden, wenn Gott souverän über den Einzelnen entscheidet?
Die Antwort lautet: Ja.
Der Mensch kann zur Rechenschaft gezogen werden, weil Gott alle Menschen zum Glauben ruft.
Weil Gott alle Menschen zum Glauben ruft, ist jeder Mensch verantwortlich, auf diesen Ruf zu antworten.
Hier gehört 1. Timotheus 2,4 hin: „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“
Das ist auch die Schlüsselfrage für den Weg des Volkes Israel und jedes einzelnen Juden: Wie stehst du zu Jesus Christus?
Wir werden heute Nachmittag sehen, wie Paulus in Römer 11 die Zukunft Israels beschreibt.
Er wird deutlich machen, dass ein großer Teil Israels am Ende kollektiv gerettet wird.
Das geschieht nicht auf einem Sonderweg an Christus vorbei, sondern dadurch, dass sie zu Christus finden, den Messias Gottes, und in ihm ihr Heil finden.
Lassen Sie mich das neunte Kapitel zusammenfassen:
Paulus begann mit der ersten Frage: Ist Gottes Verheißung zuverlässig? (Verse 1-13)
Er beantwortete sie mit Ja, denn Gott erwählt immer nur einen Ausschnitt, auch bei den Segnungen, die er seinem Volk in der Vergangenheit schenkte.
Paulus zeigte das am Beispiel Abrahams und Isaaks.
Daraus ergab sich die zweite Frage: Ist Gott in seiner Souveränität noch gerecht?
Paulus antwortete eindeutig mit Ja.
Bei Gott gibt es nur Gerechtigkeit oder Gnade. Gott kann nicht ungerecht sein.
Entweder Gerechtigkeit oder Gnade.
Wir sind töricht, wenn wir nach Gottes Gerechtigkeit schreien und fordern, dass er diese vollzieht.
Wenn Gott in dieser Souveränität unterscheidet, ergibt sich die dritte Frage: Kann der Mensch überhaupt zur Verantwortung gezogen werden?
Paulus macht deutlich, dass wir Menschen nicht das Recht haben, Gott in seinem Handeln zu hinterfragen.
Er ist der Töpfer, der das absolute Verfügungsrecht über uns als seine Geschöpfe hat.
Paulus fügt aber eine Antwort hinzu, warum der Mensch zur Verantwortung gezogen werden kann:
Weil Gott alle Menschen zum Glauben ruft.
Er ruft die Heidenwelt zum Glauben, er ruft die Judenwelt zum Glauben, er ruft alle zum Glauben und Vertrauen auf das Erbarmen seines Messias Jesus Christus, der die Strafe für unsere Schuld getragen hat, um uns auf ewig in das Reich seines Vaters zu bringen.
Hier setzen wir den Punkt für heute Vormittag.
