Von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus, Amen!
Liebe Geschwister, liebe Zuschauer am Bildschirm, heute ist Buss- und Bettag. An diesem Tag wird traditionell die Bevölkerung zu Umkehr und Buße aufgerufen. Die Kirche soll ihre Wächterfunktion gegenüber den Sünden der Zeit wahrnehmen.
Der Tag dient aber auch dazu, persönlich unser Gewissen vor Gott zu prüfen und um Erneuerung des Herzens zu bitten. Wir wollen heute auf Gottes Wort hören.
Ich möchte noch ein ganz kurzes Gebet sprechen. Bitte bleibt sitzend.
Vater im Himmel, wir danken dir für dein wunderbares Wort, das du uns geoffenbart hast. Es belehrt uns, überführt uns und baut uns auf.
Schließe auch heute diesen Schatz für uns auf, hilf uns durch deinen Heiligen Geist zu verstehen. Und nicht nur das: Hilf uns, deiner Stimme nicht auszuweichen, sondern das, was du sagst, dankbar anzunehmen und auch umzusetzen.
Wir danken dir dafür, Amen.
Die Bedeutung der Bibel und die Herausforderung schwieriger Texte
Das ist meine Bibel. Heute lese ich sehr oft mit einer digitalen Bibel, aber diese Schlachterbibel habe ich schon viele Jahre und lese sie immer wieder sehr gerne.
Diese Bibel ist ein sehr vielseitiges Buch. Sie überführt Menschen, die auf dem falschen Weg sind, tröstet Verzweifelte, die meinen, es gibt für sie keinen Ausweg mehr, und zeigt den Weg Gottes denen, die nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Der Psalmdichter bekennt: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg.“
Allerdings kann diese Bibel manchmal auch sehr sperrig sein. Es ist nicht immer einfach zu verstehen, was in ihr steht. Nun könnten wir natürlich einfach die schwierigen Texte auslassen und darüber hinweglesen. Es gibt Bibellesepläne, die tatsächlich so aufgebaut sind, dass man die schwierigen Texte gar nicht erst findet. Man liest also sozusagen über die schwierigen Stellen hinweg.
Das ist dann aber ähnlich wie beim Schifffahren: Wenn man immer die tieferen Gewässer umsegelt, kommt man nie in die Bereiche, die wirklich interessant und manchmal auch schön sind.
Ich habe für heute einen solchen sperrigen Text mitgebracht – einen Text, der wirklich nicht einfach zu verstehen ist. Aber ich glaube, dass Gott uns durch diesen Text heute Abend etwas sagen möchte.
Er stammt aus dem Buch Richter, wie Matthias eben schon erwähnt hat, Kapitel 11, Verse 28 bis 40. Also Richter 11,28-40.
Wo steckt das Richterbuch? Es ist im Alten Testament zu finden. Zuerst kommen die fünf Bücher Mose, dann das Josuabuch, und danach folgt das Richterbuch – dort im elften Kapitel.
Die Erzählung von Jephtha und seinem Gelübde
Aber der König der Ammoniter hörte nicht auf die Worte Jephthas, die er ihm sagen ließ. Da kam der Geist des Herrn auf Jephtha. Er zog durch Gilead und Manasse, und von Mitzbe, das in Gilead liegt, gegen die Ammoniter.
Jephtha gelobte dem Herrn ein Gelübde und sprach: „Gibst du mir die Ammoniter in die Hand, so soll das, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem Herrn gehören. Und ich will es als Brandopfer darbringen.“
So zog Jephtha gegen die Ammoniter aus, um gegen sie zu kämpfen. Der Herr gab sie in seine Hände, und er schlug sie mit gewaltigen Schlägen von Aroer bis hin nach Minnet zwanzig Städte und bis nach Abel Keramim. So wurden die Ammoniter von den Israeliten gedemütigt.
Als Jephtha nach Mitzbe zu seinem Haus kam, siehe, da ging seine Tochter ihm entgegen mit Pauken und Reigen. Sie war sein einziges Kind; er hatte keinen Sohn und keine andere Tochter.
Als er sie sah, zerriss er seine Kleider und sprach: „Ach, meine Tochter, wie beugst du mich und betrübst mich! Denn ich habe meinen Mund vor dem Herrn aufgetan und kann es nicht widerrufen.“
Sie aber sprach: „Mein Vater, du hast deinen Mund vor dem Herrn aufgetan. So tue mit mir, wie dein Mund geredet hat, nachdem der Herr dich gerecht gemacht hat an den Feinden, den Ammonitern.“
Dann sprach sie zu ihrem Vater: „Gewähre mir, dass ich zwei Monate hingehe auf die Berge und meine Jungfrauenschaft mit meinen Gespielen beweine.“
Er sprach: „Geh!“ und ließ sie zwei Monate gehen. Danach kam sie mit ihren Gespielen zurück zu ihrem Vater, und er tat ihr, wie er gelobt hatte.
Sie hatte nie einen Mann erkannt. Es war Brauch in Israel, dass die Töchter Israels jährlich vier Tage lang hingehen, um die Tochter Jephthas, des Gileaditers, zu beklagen.
Das sagt Gottes Wort.
Historischer Hintergrund und die Zeit der Richter
Bevor wir uns gleich mit den Hauptaussagen und der Dramatik dieser Geschichte auseinandersetzen – es ist ja wirklich dramatisch, was dort beschrieben wird – möchte ich uns zunächst kurz in die historische Situation hineinnehmen. Um was geht es hier eigentlich? Das ist gar nicht so einfach zu verstehen, wenn man nur die Verse liest.
Ich werde euch deshalb mitnehmen in diese Situation, in die Zeit der Richter, und wir werden uns die Geschichte noch einmal genauer anschauen. Anschließend werde ich versuchen, diese Erzählung zu deuten. Dabei werden wir feststellen, dass es einige Hindernisse gibt, die es zu überwinden gilt, um die Geschichte gut zu verstehen.
Zum Schluss werde ich zeigen, dass wir aus dieser Geschichte heute Abend etwas mitnehmen können. Aus Zeitgründen werde ich einige Details ausblenden, aber ich werde euch trotzdem etwas abverlangen. Wer eine Bibel dabei hat, ist definitiv im Vorteil, denn er kann nachschauen, ob das, was ich sage, wirklich auch so in der Bibel steht.
Schauen wir uns zunächst einmal die Situation an. Wir befinden uns in der Zeit der Richter. Diese Epoche der Geschichte Israels umfasst etwa 350 Jahre, von der Eroberung Kanaans bis zur Zeit unmittelbar vor Samuel, der den ersten König Israels salbte. Odniel, der erste Richter im Buch der Richter, gehörte zur Generation, die auf Josua folgte. Simson, der letzte Richter, war ein Zeitgenosse von Samuel.
Die Richterzeit war ausgesprochen verwickelt. Die Israeliten mussten sich mit vielen Feinden auseinandersetzen: mit Aramäern, Moabitern, Philistern, Kanaaniten und anderen. Außerdem gab es innerhalb des Volkes Israel Eifersüchteleien zwischen den Stämmen, die das Leben der Israeliten sehr schwer machten.
Das Schlimmste war jedoch, dass Israel sich sehr leicht zum Götzendienst verleiten ließ. Mose hatte sein Volk eindrücklich davor gewarnt, kurz vor seinem Tod. Gott selbst sprach dazu, und ich möchte das einmal vorlesen: 5. Mose 31,16 heißt es dort: „Und der Herr sprach zu Mose: Siehe, du legst dich nun zu deinen Vorfahren, und dieses Volk wird sich erheben und den fremden Göttern inmitten des Landes, in das es kommt, nachhuren. Es wird mich verlassen und meinen Bund brechen, den ich mit ihnen geschlossen habe.“
Und dann sagt Gott noch: „Dann wird mein Zorn gegen mein Volk erbrennen.“
Genau so ist es dann auch gekommen. Die Richterzeit war geprägt von ganz schrecklichen Verbrechen und himmelsschreiender Gewalt. Der zentrale Teil des Buches Richter zeigt ein Wiederholungsmuster: Die Israeliten taten, was in den Augen des Herrn böse war. Gott warnte sie, sprach zu ihnen, bestrafte sie und überließ sie dann den Händen ihrer Feinde.
Wenn es ganz schlimm wurde, schrie das Volk zu Gott und bat darum, dass Gott eingreifen möge. Daraufhin erweckte Gott einen Richter, der sein Volk wieder in eine friedliche Zeit führte. Doch sobald es den Israeliten besser ging oder der Richter starb, kehrten Undankbarkeit und Götzendienst zurück.
Insgesamt war das eine Abwärtsspirale. Kein Richter vermochte es, dauerhaft die Bundestreue wiederherzustellen. Das Buch endet mit den Worten: „In jenen Tagen gab es keinen König in Israel; jeder tat, was in seinen eigenen Augen recht schien.“
Wenn ich das lese, muss ich immer an unsere Gegenwart denken. Auch heute hat jeder seine eigene Perspektive und meint, so handeln zu können, wie er es für richtig hält.
Die Person Jephtha und seine schwierige Herkunft
Im elften Kapitel des Buchs taucht dann dieser Richter Jefter auf. Seine Karriere begann unter denkbar schlechten Voraussetzungen. Er war der Sohn einer Prostituierten und gehörte nie richtig zur Familie dazu. Im Gegenteil: Er wurde in eine Außenseiterrolle gedrängt. Besonders seine Brüder oder Halbbrüder ärgerten ihn. Sie ließen ihn spüren, dass er kein vollwertiges Familienmitglied war.
Er war, so würden heute wahrscheinlich einige sagen, das schwarze Schaf. Oder die unter Dreißigjährigen würden sagen, er war das perfekte Opfer – das perfekte Opfer, an dem man seine Aggressionen auslassen konnte. Was passierte dann? Dieser Familienstress machte Jephtha knallhart. Es war so schlimm, dass er es nicht mehr ausgehalten hat. Er floh vor seinen Brüdern ins Exil. Vers drei kann man das nachlesen: Er ging in die Wüste.
Dort sammelte er Gesetzlose um sich – Räuber, Ausgestoßene, richtig harte kriminelle Burschen. Aus diesen ruchlosen Schurken baute er sich eine kleine Armee auf. Die Zeit verging, und es kam der Tag, an dem die Israeliten von den Ammonitern bedroht wurden.
Die Beziehung zwischen Israel und den Ammonitern war kompliziert. Gott hatte angeordnet, dass sie freundlich miteinander umgehen sollten. Sie sollten einander gütig behandeln. Die Ammoniter waren ausgezeichnete Krieger. Sie siedelten südlich vom Jabbok. Archäologische Funde zeigen, dass sie ihr Territorium damals schon mit kleinen Festungsanlagen abgesichert hatten.
Zu größeren Spannungen kam es erst, als Ammon einen Bund mit den Moabitern einging. Nun drohten sie mit Krieg. Das war ungefähr so, wie wenn Russland der Ukraine droht. Die Ukraine ist militärisch Russland völlig unterlegen, sie haben keine Chance rein militärisch. Ähnlich war es damals: Israel war den Ammonitern militärisch völlig unterlegen und wusste nicht, was es tun sollte.
Da kam die Idee auf: Es gibt doch diesen Jefter, der mal zu uns gehörte. Er hat sich eine sehr starke Armee aufgebaut. Wir gehen zu ihm und fragen, ob er uns helfen kann. Eigentlich waren sie ganz froh, dass Jefter sich verzogen hatte. Sie wollten nichts mit ihm zu tun haben – mit diesem Hurensohn. Aber jetzt waren sie auf ihn angewiesen.
Es kam zu einer Zweckgemeinschaft, einer interessengeleiteten Beziehungspflege. Das gab es eben auch damals schon – und das gibt es auch heute. In der Politik, im Familienkreis, überall. Ich denke an eine ältere Frau, die ziemlich vereinsamt war. In den letzten zwanzig Jahren hat sich kaum jemand bei ihr gemeldet. Auch die engsten Verwandten riefen sie nur ganz selten an.
Als es dann langsam dem Ende zuging und die Verteilung eines beträchtlichen Erbes anstand, da gaben sich die Leute die Klinke in die Hand. Sie suchten die Nähe, interessengeleitet, aus Beziehungspflege, weil sie bestimmte Interessen hatten.
So gehen sie auf Jefter zu. Er macht einen Deal mit ihnen: Er will das Haupt von Gilead werden, wenn er gegen die Ammoniter siegt. Sie versuchen noch, mit den Ammonitern diplomatisch eine Lösung zu finden, doch das klappt nicht. Es kommt zum Krieg. Tatsächlich gewinnt Jephtha mit seiner Räuberbande, und die Israeliten haben Frieden.
Die Tragik des Gelübdes und seine Folgen
Allerdings – und jetzt kommt diese dramatische Geschichte – hat Jephtha vor dem Kampf mit Gott verhandelt. Er hat etwas versprochen, das steht in Vers 31. Er hat ein Gelübde abgegeben und gesagt: „Ich bin bereit, das Erste, was aus meinem Haus kommt, aus der Tür meines Hauses, wenn ich zurückkomme, dir, Gott, als Brandopfer zu opfern.“
Als er dann aus dem Kampf zurück in die Heimat kommt, betritt er sein Haus. Wer kommt ihm aus der Tür entgegen? Es ist seine Tochter, seine einzige Tochter. Da sagt Jephtha: „Ach, meine Tochter, wie beugst du mich und betrübst du mich, denn ich habe meinen Mund aufgetan vor dem Herrn und kann es nicht widerrufen.“
Sie erbittet daraufhin zwei Monate Aufschub, um ihre Ehelosigkeit beweinen zu können. Das war damals eine große Schande.
Wir lesen weiter: „Und nach zwei Monaten kam sie zurück zu ihrem Vater, und er tat, wie er geschworen oder wie er gelobt hatte.“ Das ist unsere Geschichte.
Jetzt erinnert euch daran: Es gibt sperrige Texte in der Bibel, bei denen wir gar nicht wissen, was wir eigentlich damit anfangen sollen. Hier gibt es kein Happy End. Es gibt kein Happy End, und man könnte verzweifeln, wenn man das liest. Viele Bibelausleger sind an diesem Text verzweifelt. Sie haben sich die Köpfe zerbrochen über die Frage: Was ist da eigentlich gemeint?
Zeigt uns dieser Text vielleicht, dass Gott auch seine dunklen Seiten hat? Dass er vielleicht doch kein guter Gott ist? Oder geht es in diesem Text um etwas ganz anderes? Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.
Der beliebteste Vorschlag ist, dass es gar nicht um ein Brandopfer geht, sondern lediglich um die Ehelosigkeit der Tochter. Das findet sich in manchen Studienbibeln als Lösung, um irgendwie mit diesem Text noch leben zu können.
Ich glaube, dass das nicht so ist. Ich will das ganz kurz begründen.
Warum ist Jephtha so völlig aufgelöst, als er seiner Tochter begegnet? Er ist nicht so aufgelöst, weil es nur um die Ehelosigkeit geht. In Vers 39 heißt es ausdrücklich, dass der Vater getan hat, was er geschworen und gelobt hatte: Er hat ein Brandopfer dargebracht.
In Vers 40 erfahren wir, dass dieses Ereignis in Israel einen Brauch begründet hat. Jedes Jahr treffen sich die Töchter Israels, um die Ehelosigkeit der Tochter Jephthas zu besingen – um die Tochter Jephthas zu betrauern oder zu besingen. Ein Gelübde zur Ehelosigkeit reicht nicht aus, um so eine Tradition zu begründen.
Schließlich der Ausdruck „Brandopfer darbringen“ in Vers 31: Diesen Ausdruck finden wir 250-mal im Alten Testament. Er bedeutet immer wörtlich „Brandopfer bringen“, nie bildlich irgendetwas anderes.
Es geht nicht um die Ehelosigkeit. Es ist hier wirklich eine dramatische Geschichte, und wir müssen uns jetzt ein paar Dinge genauer anschauen, um zu verstehen, wie das denn eigentlich gewesen sein kann.
Die Komplexität des Wirkens des Geistes und die Problematik des Gelübdes
Erstens: Die Tatsache, dass laut Vers 29 der Geist des Herrn auf Jephtha kam, bedeutet nicht, dass alles, was danach folgte, automatisch geistlich war. Das macht die Geschichte so kompliziert. Es heißt ausdrücklich, der Geist des Herrn kam auf Jephtha. Jephtha wurde durch den Geist Gottes ausgerüstet, um Israel aus der Knechtschaft zu führen.
Allerdings garantiert das Kommen des Geistes nicht die anhaltende Geistlichkeit des Empfängers. Im Alten Testament gibt es viele Beispiele dafür. Zum Beispiel Bileam, Saul, David und besonders im Buch der Richter Gideon und Simson. Auch bei ihnen kam der Geist des Herrn, sie errangen Siege, aber danach machten sie große Fehler. So war es auch bei Jephtha.
Zweitens: Jephthas Gelübde war voreilig und manipulativ. Es lohnt sich, das genauer zu betrachten. Er hat eigentlich mit Gott verhandelt und ihm Bedingungen gestellt: „Wenn du mir den Sieg gibst, werde ich ein Brandopfer darbringen.“ Dieses Gelübde ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Es ist wie ein Deal, bei dem er gar nicht wusste, was er genau einbringen würde.
Ich glaube nicht, dass er damit gerechnet hat, dass aus seinem Haus ein Mensch kommen könnte, sondern die Tradition war sehr verbreitet, dass nach einem Sieg die Familien sich trafen, um zu feiern.
Drittens: Als Jephtha zurückkehrte und seine Tochter ihm entgegenkam, hätte er das Gelübde für ungültig erklären können. Es ist richtig, dass Jephtha darauf besteht, sein Versprechen gegenüber Gott einzuhalten. Grundsätzlich erwartet Gott von uns, dass wir unsere Versprechen halten. Der Bruch eines Versprechens gilt im Alten Testament, und eigentlich in der gesamten Bibel, als schwere Sünde.
Zum Beispiel lesen wir in 4. Mose 30, dass jemand, der dem Herrn ein Gelübde tut oder einen Eid schwört, sein Wort nicht brechen, sondern alles tun soll, was er versprochen hat. Die Bibel warnt eindrücklich davor, etwas vorschnell zu versprechen, was man später nicht halten kann. Sprüche 20 sagt: „Es ist dem Menschen ein Fallstrick, unbedacht Gelübde zu tun und erst nach dem Geloben zu überlegen.“
Es gibt noch viele weitere Texte in diese Richtung. Zum Beispiel spricht Psalm 15 davon, dass wir unser Gelübde sogar dann einhalten sollen, wenn es uns schadet. Deshalb ist es grundsätzlich richtig, dass Jephtha den Wunsch hat, sein Versprechen an Gott zu erfüllen.
Allerdings gab es auch im Alten Testament Ausnahmen. Wenn jemand etwas versprochen hat, das ihn zur Sünde verpflichtet, soll er nicht noch schlimmer sündigen, sondern seine Schuld bekennen und Vergebung suchen. Das Opfern von Menschen ist nach alttestamentlichem Gesetz eine schwere Sünde. Wer ein Kind opfert, macht sich einer großen Schuld schuldig. Das ist gerade kein Ausdruck von Gottergebenheit.
Die Ammoniter brachten Kinderopfer im Molochkult dar, aber in Israel war das überhaupt nicht üblich. Warum wusste Jephtha nicht, dass er von dieser Verpflichtung befreit werden konnte? Die Leviten hatten den Auftrag, ihr Volk im Gesetz zu unterweisen. Wir kennen das noch aus dem Spruch „Leviten lesen“ – das bedeutet, jemandem zu sagen, was das Gesetz fordert.
Diese Aufgabe erfüllten die Leviten oft nicht, sodass viele nicht wussten, was im Gesetz steht. In 3. Mose 5 wird zum Beispiel gesagt, dass jemand, der unbedacht einen Schwur tut, also etwas verspricht, was er nicht halten kann oder was böse ist, entsühnt werden kann. Er kann ein Tier opfern, um Sühne zu erlangen und frei von diesem Gelübde zu werden.
Jephtha stand diese Möglichkeit offen. Ein talmudischer Kommentar sagt, dass der Hohepriester davon gehört hatte. Zwischen der Abgabe des Gelübdes und dessen Erfüllung lagen zwei Monate. Doch der Hohepriester war zu stolz, auf Jephtha zuzugehen, und Jephtha war zu stolz, auf den Hohepriester zuzugehen. So schlussfolgert der Rabbi, dass zwischen diesen beiden die unglückliche Tochter zugrunde ging und beide in ihrem Blut schuldig wurden.
Die Erzählung von Jephtha und seiner Tochter reiht sich ein in die grausamen Geschichten des Richterbuches. Das Volk ist hin- und hergerissen: Es will dem Herrn dienen, aber auch eigene Wege gehen. Es ist selbstbezogen, und so nahm diese Geschichte ein tragisches Ende.
Martin Luther sagte in seiner Auslegung zu Richter 11, dass es eine große Dummheit war, dass Jephtha so ein Gelübde abgelegt hat.
Fünf Fragen für das eigene Leben
Was können wir aus der Geschichte lernen? Ich möchte euch fünf Fragen stellen.
Die erste Frage lautet: Welche Verhaltensmuster prägen dein Leben?
1. Welche Verhaltensmuster prägen dein Leben?
Wir haben in unseren Familien von unseren Bezugspersonen sehr viel Gutes mitbekommen. Für die meisten von uns sind Kindheit und Jugend eine Quelle der Kraft, der Sicherheit und der Orientierung. Wir haben Fürsorge erfahren, Liebe und Wegbegleitung erhalten, sodass wir für die Herausforderungen des Lebens vorbereitet sind. Dafür sollten wir dankbar sein.
Einige von euch erinnern sich bestimmt noch an den Film „Findet Nemo“. Nemo ist dieser kleine Klauenfisch, der im Pazifischen Ozean nahe Australiens aufwächst. Als er schulpflichtig wird und seine ersten Abenteuer wagt, wird er gefangen und landet schließlich im Aquarium einer Zahnarztpraxis in Sydney. Sein Vater unternimmt buchstäblich alles, um Nemo zu finden und ihn aus dem Gefängnis zu befreien. Solche fürsorglichen Eltern wünschen wir uns. Viele von uns hatten solche fürsorglichen Eltern.
Doch wir Väter sind nicht immer so vorbildlich wie Nemos Vater. Eltern machen Fehler und können versagen. Nicht jeder von uns hatte eine behütete Kindheit. Bei Jephtha war das besonders schlimm. Er gehörte nie richtig zur Familie, war das schwarze Schaf, das perfekte Opfer. Um zu überleben, wurde er hart. Er legte sich einen Panzer zu, um seine seelischen Verletzungen zu schützen. Da war dieser Schmerz, der sich meldet, wenn man nicht richtig angenommen wird. Dieser Panzer machte ihn hart, aber er lähmte ihn auch.
Wisst ihr, was passiert, wenn man sich diesem Schmerz nicht stellt und sich nicht damit auseinandersetzt? Man prägt seine eigene Familie mit den gleichen Mustern, mit denen man selbst geprägt wurde. Jephtha war erfolgsorientiert und instrumentalisierte die Menschen um sich herum. Wenn etwas schiefging, suchte er die Schuld bei anderen.
Als seine Tochter aus dem Haus läuft, um stolz ihren Vater zu feiern – „Hallo, dass du wieder da bist, ich freue mich so, dass du gewonnen hast, dass ihr den Krieg gewonnen habt“ – sagt er: „Ach meine Tochter, du hast mich tief gebeugt, du gehörst zu denen, die mich ins Unglück stürzen.“ Seine Tochter konnte überhaupt nichts dafür, sie wusste nichts von dem Gelübde. Nicht sie hat Jephtha ins Unglück gestürzt, sondern Jephtha hat seine Tochter ins Unglück gestürzt. Er hätte sagen müssen: „In was für ein Unglück habe ich dich, Idiot, gestürzt.“
Welche Muster prägen dein Leben? Sind es die Defiziterfahrungen deiner Kindheit oder Jugend? Ihr glaubt gar nicht, welche Macht diese Erlebnisse über uns haben. Ich treffe manchmal Menschen über 50 Jahre, die mir von den Erziehungsfehlern ihrer Eltern erzählen. Zwei Drittel ihres Lebens sind vorbei, und sie hängen immer noch in der Kindheit fest. Sie kommen nicht damit klar, dass es so oder so gelaufen ist.
Wenn du einen Panzer wie Jephtha entwickelt hast, dann geh mit deinem Schmerz zu Jesus. Er kennt dich, versteht dich und wartet auf dich. Er fängt dich auf und lässt dein Herz wieder geschmeidig werden, damit Lebendigkeit zurückkehrt. Bei Jesus wird der Lebensdurst gestillt – auch dann, wenn nicht alles gut gelaufen ist.
Die Bibel spricht davon, dass Christen den alten Menschen ausgezogen und einen neuen Menschen angezogen haben. Das bedeutet, die Muster des alten Menschen verlieren an Prägekraft. Christus gestaltet jetzt das Leben. Menschen, die von neuem geboren sind, werden durch den Heiligen Geist umgestaltet und verändert. Sie erhalten eine neue Prägung, sind von Christus erfüllt, von seiner Liebe und seiner Wahrheit. Diese Prägung geben sie auch an andere weiter.
Sie gestalten ihre Beziehungen nicht ausbeuterisch, sondern haben einen Blick für andere Menschen. Sie wollen anderen helfen und wünschen, dass andere geistlich weiterkommen. Das können wir, weil wir als Christen wissen, dass wir von Jesus angenommen sind, dass sein Geist uns erfüllt und unseren Blick von uns selbst weg auf andere lenkt.
Zweitens hältst du, was du versprichst.
2. Hältst du, was du versprichst?
Wir haben gesehen, dass Zusagen verbindlich sein sollen. Das gilt für große Dinge wie das Eheversprechen natürlich, aber auch für kleinere Zusagen. Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein – auch dann, wenn es uns Nachteile bringen sollte (Matthäus 5).
Unsere älteste Tochter, die musikalisch ist und gerne Musik macht, hat mir vor einigen Jahren einmal gesagt: „Papa, ich glaube, wir lügen nie so oft wie im Lobpreis.“ Das klingt jetzt hart, ja, und tatsächlich fällt es mir inzwischen wirklich schwer, manche Lieder mitzusingen.
Es gibt ein Lied, das heißt „Jesus, ich lasse dich niemals los“. Ich singe dann immer anders: „Jesus, du lässt mich niemals los.“ Mich erinnert das an ein altes Diakonissenlied. Dort heißt es:
„Herr, weil mich festhält deine starke Hand, vertraue ich still.
Weil du voll Liebe dich zu mir gewandt, vertraue ich still.
Du machst mich stark, du gibst mir frohen Mut,
ich preise dich, dein Wille, Herr, ist gut.“
Ich stehe nicht hier, weil ich Jesus immer festgehalten habe. Ich habe Jesus ganz oft losgelassen. Ich stehe hier, weil Jesus mich festgehalten hat – auch dann, wenn ich losgelassen habe.
Ihr Lieben, wir können mit unserer Zunge so viel Unheil anrichten. Wir können mit unseren Worten aufbauen, aber auch niederreißen. Jakobus sagt, unsere Zunge ist ein kleines Glied, aber sie kann große Dinge anrichten.
Jephtha hat gesagt, als er seine Tochter getroffen hat: „Ich habe dem Herrn gegenüber meinen Mund weit aufgerissen, weit aufgerissen.“ Achten wir auf unsere Worte, damit wir uns nicht in eine solche Situation hineinmanövrieren, wie Jephtha es getan hat.
Drittens: Wohin gehst du mit deiner Schuld?
3. Wohin gehst du mit deiner Schuld?
Was machst du, wenn du etwas versprichst, das du nicht halten kannst? Wenn du etwas versprochen hast, von dem du weißt, dass es Sünde ist, solltest du es auch tun. Oder ignorierst du das einfach? Denkst du, es ist nicht so schlimm, das waren bloß Worte, du hast es ja nicht so gemeint, nimm das nicht so ernst?
Jephtha hat Torheit mit Torheit bekämpft. Als er merkte, dass das Leben seiner Tochter auf dem Spiel stand, hätte er zum Priester gehen können. Er hätte für sein vorschnelles Gelübde Entsühnung suchen können. Aber er zog sein Ding durch.
Schon vor Jahren hörte ich von einem verliebten jungen Paar, das zu einer christlichen Gemeinde gehörte. In dieser Gemeinde war klar, dass die menschliche Sexualität einen Schutzraum braucht. Gott hat uns ja seine Gebote nicht gegeben, um uns zu ärgern. Gerade im Bereich der Sexualität machen wir uns so verletzlich. Deshalb hat Gott einen Schutzraum eingerichtet: die Ehe, die Familie. In dieser Gemeinde wurde das auch so gelebt, und es wurde immer wieder darüber gesprochen.
Das Pärchen wusste das auch und fand es richtig. Aber anders als geplant wurde das Mädchen schwanger. Da war so viel Scham, so viel Angst. Was werden die Eltern sagen? Was denken die Leute in der Gemeinde? Wie werden sie über uns reden? Was sollen wir machen?
Und weißt du, was sie gemacht haben? Sie haben gemeinsam entschieden, das Kind abzutreiben. Dann bekommt es ja keiner mit. Dann kann man in die Gemeinde gehen, ohne schief angeguckt zu werden. Die Aufrechterhaltung der Fassade war ihnen wichtiger als das Leben des Kindes. Sie hatten Angst, sich zu offenbaren.
Mache eine Dummheit nicht noch schlimmer, indem du sie versteckst oder noch eine Dummheit draufsetzt. Einer meiner Lieblingsverse steht im ersten Johannesbrief, Kapitel 2, die ersten beiden Verse: "Meine Kinder, das schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand doch sündigt, haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater: Jesus Christus, den Gerechten. Er ist die Sühne für unsere Sünden, aber nicht nur für die unseren, sondern für die der ganzen Welt."
Das Neue Testament erklärt uns, dass die alttestamentlichen Opfer, das Blut von Tieren, die Sünde nicht wirklich wegnehmen konnten. Sie waren nur ein Schatten für die Sühne. Da musste noch mehr kommen. Deshalb hat der Vater seinen Sohn Jesus Christus gesandt. Jesus hat durch seinen Tod eine wirkliche Sühnung erwirkt – das können wir im Hebräerbrief, Kapitel 10, nachlesen.
Durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung ist völlige Sühnung und Vergebung der Sünden möglich. Der gekreuzigte König Jesus hat den Bund mit Gott wieder aufgerichtet und einen Weg geschaffen, dass wir Versöhnung mit Gott, dem Vater, haben können.
Geh mit deinen leeren Versprechungen zu Jesus, geh mit deiner Schuld zu Jesus. Vielleicht sogar in Gegenwart eines Pastors oder eines vertrauenswürdigen Freundes. Sprich die Dinge aus, die du nicht geklärt hast, die dich belasten.
Vielleicht hörst du diese Predigt zufällig und denkst: "Hey, du da vorne, was ich verbockt habe, das kann nicht mal ein Gott vergeben. Das ist so schlimm, für mich gibt es keine Hoffnung mehr." Soll ich dir was sagen? Jesus ist genau für solche Leute wie dich gestorben. Sein Sühneopfer reicht für die Schuld der ganzen Welt – und seine Sühne reicht auch für dich.
Jesus vergibt dir gern. Deine Schuld mag noch größer sein, als du dir das ausmalen kannst. Ich verspreche dir: Gottes Gnade ist größer als deine Schuld. Geh zu Jesus, knie vor ihm nieder, schütte dein Herz vor ihm aus, bekenne deine Sünden und bitte darum, dass er sich deiner erbarmt und dein Leben neu macht.
Viertens: Lebst du nur noch aus der Erinnerung an das Wirken Gottes in deinem Leben?
4. Lebst du nur noch aus der Erinnerung an das Wirken Gottes in deinem Leben?
Wir haben das gesehen: Jephtha wurde von Gott gebraucht. Er führte einen wichtigen Krieg gegen die Ammoniter und gewann ihn. Gott setzte ihn als Segen für das Volk Israel ein. Doch danach tat Jephtha etwas, das so schlimm war, dass es schwerfällt, die Geschichte überhaupt zu glauben.
Vielleicht ist das bei dir ähnlich. Du hattest Zeiten in deinem Leben, vielleicht in deiner Jugend, in denen du missionarisch aktiv warst. Du hattest eine Aufgabe und wusstest, wofür du lebst. Die Nachfolge Jesu war dir wichtig, und du warst gerne ein missionarisches Zeugnis. Gott hat dich gebraucht.
Jetzt aber quälst du dich ab. Du bist zwar noch dabei, doch es fühlt sich eher wie ein Blick in die Vergangenheit an. Ja, das war schön, aber heute ist es eben nicht mehr so.
Ich möchte dich fragen: Lässt du dich vom Wort Gottes erfüllen? Lässt du dich vom Evangelium erfüllen? Lebst du mit Jesus und erlebst du etwas mit ihm? Rechnest du damit, dass Gott durch dich wirkt und dass du auch jetzt, egal wie es aussieht, ein Zeugnis für Gottes Liebe sein kannst?
Kehre zurück zu deiner ersten Liebe. Stell dich Gott zur Verfügung, egal was passiert. Was Er will, das kann Er auch jetzt und morgen durch dich wirken lassen.
Meine letzte Frage: Wen oder was betest du an?
5. Wen oder was betest du an?
Unser Leben zeigt, wofür wir leben. Jefter war so ein Typ, der für sich selbst lebte. Er hatte eine schwere Jugend und lernte, sich durchzusetzen. Er wurde hart und lernte, Menschen für seine Ziele zu instrumentalisieren. Sogar Gott wollte er für seine Ziele instrumentalisieren. Sein Gottesdienst unterschied sich zeitweise kaum von dem der Ammoniter. Er wollte Erfolg und Macht, koste es, was es wolle.
Was willst du? Dein Leben zeigt dir, was du anbetest. Wie du mit anderen Menschen umgehst, zeigt dir, was du anbetest. Was du mit deinem Geld machst, zeigt dir, was du anbetest. Was du mit deiner Zeit machst, zeigt dir, was du anbetest.
Gott will dein Herz. Es geht nicht darum, dass du etwas für ihn leistest. Es geht nicht darum, dass du bestimmte Regeln einhältst. Dein äußerlicher Gehorsam macht dich nicht besser, als du bist. Gott sagt dem Propheten Hosea: „Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer.“
Es geht um die Liebe. Weil Gott in Jesus Christus Ja zu dir gesagt hat und dich mit sich selbst versöhnt hat, stellst du Gott dein ganzes Leben als Gottesdienst zur Verfügung. Jesus ist dein Herr. Wir verhandeln nicht mit Gott. Stattdessen sagen wir: „Hier bin ich, Herr, das ist mein Leben. Mach was draus. Ich bin bereit, ich bin offen, ich will dir zur Verfügung stehen.“
Abschluss und Ermutigung
Ich möchte schließen mit einem Zitat von Martin Luther, der das Gebot „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ ausgelegt hat. Er schreibt dazu:
„Sieh zu und lasse mich allein deinen Gott sein und suche ja keinen anderen. Das heißt: Was dir an Gutem mangelt, das erhoffe von mir und suche bei mir. Wenn Unglück, Not und andere Dinge kommen, dann krieche und halte dich an mich. Ich will dir genug geben, und ich will dir aus aller Not helfen. Lass nur dein Herz an keinem anderen hängen und ruhen. So soll es sein bei mir und bei dir. Amen.“
Wir singen jetzt das Lied „Wie viel, du deine Wege“.