Wer bin ich? Von Chris Morphew – eine Lesung von Raoul Simeonescu.
Theologie, die dich im Glauben wachsen lässt. Nachfolge praktisch – dein geistlicher Impuls für den Tag.
Mein Name ist Jürgen Fischer, und ich darf euch exklusiv die Lesung eines ganz neu erschienenen Buches präsentieren: Chris Morphew, Wer bin ich und warum bin ich wertvoll?
Die Herausforderung, sich selbst treu zu bleiben
Kapitel drei
Warum kann ich mir nicht einfach selbst treu sein?
Fragst du verschiedene Leute, wie du herausfinden kannst, wer du wirklich bist und wie du dein bestmögliches, sinnerfülltestes Leben leben kannst, wirst du, wie ich vermute, eine ganze Menge solcher oder ähnlicher Ratschläge hören: Bleib dir selbst treu, folge deinem Herzen, kümmere dich mehr um das, was dich wirklich glücklich macht.
Mit anderen Worten: Du findest dein wahres Ich, indem du in dich hineinschaust. Du musst herausfinden, was du ganz tief drin fühlst und was du zutiefst willst. Dann musst du dem mit allem nachjagen, was du hast. Klingt oberflächlich betrachtet ziemlich vernünftig, oder?
Bohrt man jedoch ein wenig tiefer, stellt sich heraus, dass das gar nicht so einfach ist, wie es sich anhört. Stell dir nur mal vor, einer deiner Freunde schaut tief in sich hinein und entdeckt: Was ihm mehr Freude macht als alles andere auf der Welt, ist, Dinge in Brand zu stecken. Er liebt einfach das Flackern der Flammen, den leuchtenden Orangenschein von brennendem Holz, den Anblick von Rauch, der zum Himmel aufsteigt – ganz zu schweigen von dem unglaublichen Gefühl von Macht, das er bekommt, wenn er Sachen abfackelt. Dinge in Brand zu stecken macht ihn einfach glücklich.
Sagen wir also, das nächste Mal, wenn dein Freund bei dir zu Besuch ist, beschließt er, ein Streichholz anzuzünden und dein Zuhause bis auf die Grundmauer niederzubrennen. „Was machst du da?“, schreist du, während du quer durch den Raum hechtest und ihn am Arm packst – eine Sekunde, bevor er mit dem Streichholz deine Vorhänge in Brand setzt.
Er starrt dich verständnislos an und sagt: „Was willst du denn? Ich war mir nur selbst treu.“
Ich vermute, du würdest nicht einfach mit den Achseln zucken, seinen Arm loslassen und sagen: „Oh, ach so, sorry, dann mach mal.“ Denn so sehr du dir wünschst, dass dein Freund glücklich ist, willst du auch weiterhin ein Haus haben, in dem du leben kannst.
Klar, das ist offensichtlich ein ziemlich lächerliches Beispiel. Oder zumindest hoffe ich das. Falls nicht, ist es vielleicht an der Zeit, noch einmal zu überdenken, mit wem du abhängst.
Die Grenzen des eigenen Glücks
Es geht mir darum, dass das erste und offensichtlichste Problem mit dem Rat, einfach sich selbst treu zu bleiben, darin besteht, dass es viele Situationen gibt, in denen du andere unglücklich machen wirst, wenn du das tust, was dich glücklich macht.
Und das ist nicht nur auf einer abstrakten Ebene ein Problem, zum Beispiel wenn jemand das Haus anzündet. Schau einmal auf dein eigenes Leben. Denk an die Momente, in denen andere dich verletzt, hintergangen oder enttäuscht haben. Die Zeiten, in denen deine Beziehungen wirklich schwierig waren oder sogar zerbrochen sind.
Wie viele dieser Situationen wurden dadurch verursacht, dass jemand anderes etwas getan hat, was ihn oder sie glücklich machte, ohne sich wirklich darum zu kümmern, wie du dich dabei fühlen würdest? Und umgekehrt: Wie oft bist du schon etwas nachgejagt, weil du dachtest, es würde dich glücklich machen, und hast dadurch letztlich jemand anderem Schmerz und Frust bereitet?
Die Wahrheit ist: Wenn du dein ganzes Leben darauf aufbaust, deinem eigenen persönlichen Glück nachzujagen, wirst du am Ende ein ziemlich schrecklicher Mensch werden.
Aber natürlich ist den meisten von uns schon klar, dass das ein Problem ist. Wir wissen, dass eine Welt voller Menschen, die ständig nur tun, was sie glücklich macht, eine absolute Katastrophe wäre. Deshalb würden die meisten an dieser Stelle eine geringfügige Korrektur vorschlagen.
Die Einschränkung des Glücksprinzips
Tue das, was dich glücklich macht, solange du damit weder dir noch jemand anderem schadest. Das klingt doch viel vernünftiger, oder? Trotzdem möchte ich dir erklären, warum ich immer noch nicht ganz überzeugt bin.
Als mein Cousin etwa zwei Jahre alt war, war er sich sicher, dass er herausgefunden hatte, was ihn glücklich machen würde. Er hatte seine Mama genau beobachtet. Jeden Morgen zog sie dieselbe Box aus dem Küchenschrank und füllte eine Schüssel mit winzigen, pinken und braunen, fischförmigen Keksen. Diese stellte sie immer in dieselbe Ecke auf den Küchenboden. Dann ging sie weg und ließ die Schüssel einfach dort stehen.
Gewöhnlich kam dann der Familienkater angelaufen und fraß all diese köstlichen Kekse. Heute allerdings nicht. Heute war mein Cousin an der Reihe. Es war Zeit für ihn, seinem Herzen zu folgen, sich selbst treu zu sein und zu tun, wovon er wusste, dass es ihn wirklich und wahrhaftig glücklich machen würde.
Und tatsächlich: Fünfzehn Minuten später kam eine Tante zurück in die Küche und fand ihren zweijährigen Sohn. Er saß da mit einem leeren Katzenfressnapf auf dem Schoß und strahlte sie an. Da lächelte er noch, doch dieses Lächeln hielt nicht lange an.
Mein Cousin war sich so sicher gewesen, dass es ihn wirklich und wahrhaftig glücklich machen würde, eine ganze Schüssel Katzenfutter zu essen. Doch eine Stunde später machten seine Bauchschmerzen allzu deutlich, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte.
Die Unzuverlässigkeit unserer Wünsche
Möglicherweise liest du diese Geschichte und denkst dir: Na ja, natürlich wusste er nicht, was ihn glücklich machen würde – er war schließlich erst zwei Jahre alt. Was erwartest du? Sicher, hoffentlich wissen wir alle mehr als ein Zweijähriger.
Sogar als ich sieben oder acht Jahre alt war, konnte ich schon auf viele Entscheidungen zurückblicken, die ich im Alter von zwei Jahren getroffen hatte, und dachte: „Wow, das war ziemlich dumm. Zum Glück weiß ich es heute besser.“
Aber weißt du, was genauso wahr ist? Als ich fünfzehn wurde, konnte ich auf eine Menge Entscheidungen zurückblicken, die ich im Alter von acht Jahren getroffen hatte, und dachte wieder: „Wow, das war ziemlich dumm. Ich bin so froh, dass ich es heute besser weiß.“
Das sagt mir etwas. Es zeigt mir, dass ich, obwohl ich gerne denken möchte, ich hätte jetzt alles gecheckt, und obwohl ich glauben möchte, ich wäre heute weise genug, vorherzusagen, was mich wirklich glücklich machen wird, vermutlich noch immer die Hälfte der Zeit falsch liege.
Ich wette, wenn ich fünfzig bin, werde ich auf viele Entscheidungen zurückblicken, die ich heute treffe, und denken: „Wow, das war ziemlich dumm. Ich bin so froh, dass ich es dann besser weiß.“
Und ich glaube, dasselbe gilt auch für dich.
Die Schwierigkeit, Schaden zu vermeiden
Das Problem an dem Satz „Tue, was dich glücklich macht, solange es weder dir noch anderen schadet“ ist, dass wir ehrlich gesagt nicht besonders gut darin sind, vorherzusagen, was uns oder anderen tatsächlich schaden wird.
Man muss nicht erst fünfzig Jahre alt werden, um das herauszufinden. Wir alle haben schon Situationen erlebt, in denen wir versucht haben, einer anderen Person zu helfen, aber letztlich haben wir alles nur schlimmer gemacht.
Ebenso haben wir schon Momente erlebt, in denen wir etwas verfolgt haben, von dem wir sicher waren, dass es uns glücklich machen würde – und dann stellte sich heraus, dass dem nicht so war.
Die Welt ist groß, kompliziert und verwirrend. Wir verfügen einfach nicht über genügend Weisheit oder Informationen, um mit Sicherheit sagen zu können, dass unser Verhalten am Ende weder uns selbst noch anderen schadet.
Und hier geht es nur um die Momente, in denen wir ehrlich versuchen, das Richtige zu tun – was längst nicht immer der Fall ist.
Die Ambivalenz des Selbst
Das führt uns zu einem noch tiefer liegenden Problem: uns selbst treu zu sein. Die Wahrheit ist nämlich, dass ein Teil von mir selbst nicht so gut oder gesund ist, dass ich ihm treu sein sollte.
Wenn mein tiefster Wunsch wäre, hart zu arbeiten und all meine Schulaufgaben nicht schleifen zu lassen, würde es vermutlich gut für mich funktionieren, mir selbst treu zu bleiben. Aber wie ist es an all den Tagen, an denen mein tiefster Wunsch einfach darin besteht, auf dem Sofa zu liegen und stattdessen Videospiele zu spielen?
Wäre es mein tiefster Wunsch, meinen Freunden gegenüber liebenswürdig und großzügig zu sein, dann würde es für die Menschen in meinem Umfeld gut funktionieren, wenn ich mir selbst treu bleibe. Doch was ist mit all den Momenten, in denen mein tiefster Wunsch ist, selbstsüchtig oder gar gemein zu sein?
Vielleicht sind wir versucht, diese negativen Seiten von uns anzuschauen und zu sagen: Das ist aber nicht mein wahres Ich.
Die Notwendigkeit einer äußeren Orientierung
Aber wer sonst sollte es dann sein? Was wir wirklich meinen, ist: Das ist nicht, was ich sein möchte. Und es ist großartig, dass uns das klar ist.
Doch genau aus diesem Grund ist es viel zu einfach zu sagen, dass wir uns selbst treu bleiben wollen. Wenn wir herausfinden wollen, wer wir wirklich sind, können wir nicht einfach unseren tiefsten Gefühlen und Wünschen hinterherrennen. Denn unsere Gefühle und Wünsche ändern sich ständig. Außerdem widersprechen sie sich oft gegenseitig und führen nicht immer zu gesunden Ergebnissen.
Wir können also nicht einfach uns selbst treu bleiben. Wir müssen entscheiden, welchen Bereichen von uns wir treu bleiben wollen. Wir können nicht einfach unserem Herzen folgen. Stattdessen müssen wir sortieren, was in unserem Herzen ist, und herausfinden, was wir mit all dem tun wollen.
Dafür brauchen wir jemanden oder etwas außerhalb von uns selbst. Wir brauchen eine „andere Stimme“, die uns dabei hilft, unsere Gedanken und Gefühle zu ordnen. So können wir herausfinden, wer wir wirklich sind, wer wir sein wollen und wie wir tatsächlich auf eine Weise leben können, die dem entspricht.
Hier kommen die Menschen um uns herum ins Spiel.
Das war's für heute. In der nächsten Episode geht es mit der Lesung weiter. Der Herr segne dich, erfahre seine Gnade und lebe in seinem Frieden. Amen.
