Die Bekehrung des Aurelius Augustinus
Ja, da, wo Bobby euch aufgefordert hat, euch zu erzählen, wie ihr zum Glauben gekommen seid, erzähle ich euch auch noch eine Geschichte von jemandem aus der Kirchengeschichte, wie dieser Mensch zum Glauben gekommen ist.
Und zwar die Geschichte von Aurelius Augustinus. Den Mann kennt ihr sicherlich. Einige kennen vielleicht auch seine Bekehrungsgeschichte, denn das ist eine der sehr bekannten Geschichten, wie jemand zum Glauben gekommen ist. Das liegt daran, dass er einer der wenigen war, die auch aufgeschrieben haben, wie sie zum Glauben gekommen sind. Die meisten Leute sind irgendwann zum Glauben gekommen, haben das mal weitererzählt, aber nicht schriftlich hinterlassen.
Aurelius Augustinus wurde 354 geboren, und zwar in Nordafrika. Seine Familie war zumindest zum Teil fromm, nämlich seine Mutter Monika, die gläubig war. Sie erzählte dem kleinen Augustinus immer von Gott und betete für ihn. Der wollte als kleiner Junge eigentlich nichts davon wissen. Er war ziemlich intelligent und ging später an die Universität. Dort studierte er insbesondere Rhetorik und Jura.
Er sagt auch, dass er dort ein eher lockeres Leben geführt hat. Er traf sich viel mit Freunden und feierte mit ihnen. Als er noch ein bisschen jünger war, sagt er im Nachhinein, dass er manche Sachen einfach nur getan hat, weil es ihn gefreut hat, andere zu ärgern oder etwas Böses zu tun. Er erwähnt solche Dinge, über die wir heute vielleicht lächeln, die ihm später aber sehr schwer im Gewissen lagen.
Beispielsweise ging er an einem Nachbarsgarten vorbei und stahl ein paar Früchte. Nicht weil er hungrig war, sondern danach warf er sie nach einigen Tieren. Die Früchte wurden einfach weggeworfen. Er wollte sie gar nicht essen. Es ging ihm einfach nur um den Reiz, etwas zu stehlen, etwas Verbotenes zu tun. Das setzte sich später in seinem Leben fort.
Er war sehr begabt, und das führte dazu, dass er nicht nur einen kleinen Job in der Provinz bekam, sondern schließlich als Anwalt und Professor nach Rom berufen wurde. Rom war damals der Mittelpunkt der Welt. Dort wurde das gesamte römische Reich regiert, zu dem auch Nordafrika gehörte. Dort machte er richtig Karriere.
Die ganze Zeit genoss er, wie wir heute sagen würden, das Leben. Augustinus war eigentlich, wir könnten heute sagen, ein Erfolgsmensch. Die Leute strömten zu ihm, sie mochten ihn. Er hatte viele Freunde, verdiente viel Geld und genoss großes Ansehen. Doch irgendwie war er damit nicht zufrieden.
Er suchte hier und da, setzte sich mit Philosophie auseinander. Dann hörte er von Ambrosius von Mailand, einem bekannten Prediger der damaligen Zeit in Mailand. Er ging hin und hörte dessen Predigten, aber ganz überzeugt war er noch nicht.
Schließlich zog er sich in sein Landhaus vor den Toren Roms zurück. Dort wollte er im Sommer studieren und sich vorbereiten. Er dachte innerlich darüber nach: Ist das im Leben alles? Gibt es da noch etwas anderes?
Eines Tages hörte er draußen, ein paar Häuser weiter, spielende Kinder, die immer wieder einen Reim sangen: „Nimm und lies, nimm und lies.“ Er überlegte, ob das vielleicht Gott sein könnte, der ihm das sagt. Daraufhin schlug er die Bibel auf, die er von Freunden aus Mailand bekommen hatte, wo er zum Gottesdienst gegangen war.
Er öffnete die Bibel an einer Stelle im Römerbrief und las, dass das Leben nicht aus Fressen und Saufen besteht, sondern aus der Gnade Gottes. Er dachte: Was ist das? Das passt genau auf meine Lebenssituation, denn er hatte es sich einfach nur gut gehen lassen.
Diese Stelle traf ihn so tief, dass er an diesem Abend noch zum Glauben kam. Er besuchte regelmäßig die Gottesdienste in Mailand, einige Stunden entfernt, und es gab einen radikalen Lebenswandel.
Schon ein paar Tage später zeigte sich eine Veränderung. Er hatte, wie es heute auch modern ist, nicht mit einer Frau verheiratet zusammengelebt. Das ist ja viel langweiliger, vor allem, wenn man sie nicht mehr so schnell loswird. Deshalb lebte er nur mit einer Freundin zusammen. Mit ihr hatte er auch ein Kind. Zuvor hatte er andere Freundinnen gehabt.
Sie lebten jeder in seiner Wohnung, beziehungsweise in seinem Haus. Die Freundin hatte ein eigenes Haus, in dem sie wohnte. Einige Tage nach seiner innerlichen Kehrtwende traf er sie draußen auf der Straße. Sie lief ihm entgegen und rief über die Straße: „Hallo Augustinus, ich bin’s!“ Augustinus rief zurück: „Aber ich bin’s nicht mehr.“
Ab diesem Zeitpunkt war es mit dieser Freundschaft aus. Er sagte, das sei unmoralisch, und er wolle so nicht weitermachen. Er heiratete später nie, aber er gab zu, dass das falsch war und er nicht richtig gehandelt hatte.
Er gab seine ganze Karriere auf, verließ die Hauptstadt Rom und seine Professur. Große Teile seiner Einkünfte spendete er der Kirche. Dann ging er zurück in das Elternhaus nach Nordafrika. Seine Mutter lebte dort auch. Sie hatte die ganze Zeit für ihn gebetet und freute sich, dass er zum Glauben gekommen war.
Er zog sich mehrere Monate zurück, um zu beten und die Bibel zu lesen. Einfach in das Haus, in die Stille, aufs Land. Nach dieser Zeit merkte er, dass Gott ihn in den Dienst der Kirche berief.
Er sollte Gemeindeleiter der Stadt Hippo Regius werden. Der frühere Leiter war kurz zuvor gestorben. Die Gemeinde, die mitbekam, dass jemand so konsequent Jesus nachfolgte, zwang ihn mehr oder weniger, Gemeindeleiter zu werden. Er sah darin jedoch die Aufgabe Gottes.
In den folgenden Jahrzehnten schrieb er einige Bücher, die bis heute bekannt sind und die gesamte Kirchengeschichte beeinflusst haben. Unter anderem verfasste er ein Werk über die Gnade, die allein durch Gott gegeben wird.
Dieses Buch war es, das Luther tausend Jahre später zum Glauben führte. Luther gehörte ja zu den Augustiner-Eremiten, den Mönchen, die sich auf Augustinus beriefen. Er studierte die Schriften Augustins und kam zur Erkenntnis, dass Errettung nicht aufgrund von Werken, sondern allein aufgrund der Gnade geschieht.
Man merkt, dass das, was dieser Theologe, der als der wichtigste Theologe der ersten 500 Jahre gilt, geschrieben hat, über Jahrhunderte hinweg Auswirkungen hatte und immer wieder Menschen motivierte und voranführte.
Unter anderem schrieb Augustinus auch ein Buch über das Verhältnis von Staat und Kirche, also wie Christen sich gegenüber der Obrigkeit verhalten sollen. Dieses Buch heißt „Der Gottesstaat“. Man kann es bis heute noch lesen. Wir haben es auch in der Bibliothek, falls jemand mal reinschmökern möchte.
Übergang ins Mittelalter und die Frage nach dem Beginn
Da möchte ich jetzt eigentlich weitermachen, denn mein Thema heute Abend ist ein bisschen das Mittelalter. Ich habe euch gestern schon darauf vorbereitet und auch die Frage gestellt, wann das Mittelalter überhaupt begonnen hat. Ein ganz festes Datum gibt es nicht. Es gibt jedoch einige Eckdaten, die man nennen kann.
Ein Eckdatum ist der Untergang des Römischen Reiches, genauer gesagt des Weströmischen Reiches. Dort beginnt langsam das Mittelalter. Manche sagen, das Mittelalter beginnt mit der Gründung des ersten Klosters im Westen auf dem Monte Cassino, also im Norden Italiens. Andere sehen den Beginn bei den Germanenstürmen, also der Völkerwanderung. Dabei sind die Germanen durch ganz Europa gezogen, bis nach Spanien und Nordafrika. Dort lebten zum Beispiel die Vandalen, die alles kurz und klein geschlagen haben. Daher kommt ja der Begriff „Vandalen“. Die Germanen waren damals aus römischer Sicht noch nicht gut erzogen, sie galten als Barbaren.
Der Begriff „Barbaren“ stammt von „Barbaros“, was so viel wie „Bart“ bedeutet. Die Germanen trugen nämlich alle dicke Bärte. Das war für die Römer ein Zeichen mangelnder Kultur. Ein Mann, der etwas auf sich hielt, war glatt rasiert und wusch sich regelmäßig, nicht nur ab und zu wie die Germanen. Für die Römer waren diese Germanen tatsächlich unheimlich.
Die Römer kämpften zwar überall, aber normalerweise gegen gesittete Völker. Die Germanenvölker hatten jedoch keine Militärstrategie. Wenn sie angriffen, stellten sie sich nicht in einer Armee auf, sondern die Stämme, die es gab, zogen umher. Sie rannten ungeordnet aus dem Wald heraus, schwangen Keulen über dem Kopf und schrien wild. Das war vollkommen ohne Ordnung und Strategie. Die Römer wussten damit oft nicht umzugehen. Deshalb galten die Germanen als Barbaren.
Außerdem konnte von den Germanen keiner lesen oder schreiben. Kultur war ihnen auch nicht wichtig. Als sie zum ersten Mal die Stadt Rom eroberten, waren sie darüber zwar froh, aber sie zerstörten die Kunstwerke. Alles Gold und Silber schmolzen sie ein. Kunstvolle Ketten oder Armbänder interessierten sie nicht. Sie warfen alles einfach in den Ofen, um es einzuschmelzen. So konnte man Münzen besser transportieren.
Aus den Villen rissen sie die Holzverkleidung heraus, um Feuer zu machen. Damit konnten sie ihre Schweinchen braten und etwas zu essen haben. Man muss sagen, dass sich das heute zum Glück geändert hat. Aber zunächst brachten die Germanen in puncto Kultur einen großen Rückschritt. Sie schlugen erst einmal alles kurz und klein. Als danach nichts mehr da war, mussten sie alles neu aufbauen.
Das führte dazu, dass viele Römer tief erschüttert waren. Sie erlebten das als Einschnitt: Jetzt beginnt ein neues Zeitalter, das Mittelalter, und das römische Reich ist am Ende. Das gilt allerdings nur für das Weströmische Reich. Das Oströmische Reich, also Byzanz, existierte noch bis 1453. Es wurde von den Muslimen erobert und bestand somit fast tausend Jahre länger. Allerdings hatte es in Westeuropa keinen Einfluss mehr.
Das sind also die verschiedenen Daten, die man zum Beginn des Mittelalters nennen kann.
Die Beziehung von Staat und Kirche im frühen Mittelalter
Im Mittelalter gibt es eine Frage, der wir jetzt nachgehen wollen. Diese habe ich bereits vorbereitet und möchte sie noch etwas näher erläutern. Es geht um die Stellung von Staat und Kirche zueinander. Diese Frage ist auch heute noch aktuell. Man könnte sie so formulieren: Wie steht ein Christ zum Staat oder zur Politik?
Eine wichtige Rolle spielt dabei der Zeitpunkt, wann diese Frage brisant wurde. Das war schon kurz vor dem Mittelalter, weshalb ich darauf eingehen möchte. Es geht um das Verhalten von Konstantin dem Großen. In den ersten drei Jahrhunderten gab es Christenverfolgung. Damals stellte sich nicht die Frage, wie ein Christ zum Staat steht. Die Christen waren froh, wenn der Staat sie in Ruhe ließ. Im Neuen Testament lesen wir zwar, dass sie für die Obrigkeit beten sollen, und das haben sie auch getan. Ansonsten hatten sie wenig mit dem Staat zu tun.
Um das Jahr 300 gab es eine letzte große Verfolgungswelle, die mehrere Jahre dauerte. Sie endete damit, dass der Kaiser, der vermutlich an Krebs litt, sehr grausam starb. Am Ende ging niemand mehr zu ihm, weil seine Geschwüre so stark stanken. Die Christen sahen darin ein Gericht Gottes. Sie glaubten, dass er sich gegen das Volk Gottes, also gegen die Christen, vergangen hatte und deshalb von Gott bestraft wurde. Tatsächlich führte der Tod dieses Kaisers zum Zusammenbruch der Verfolgung.
Nach seinem Tod brach ein Nachfolgestreit aus. In diesem Streit mischte sich auch Konstantin ein. Er war Heerführer des Römischen Reiches in Gallien und hatte sich dort mit Asterix und Obelix herumgeschlagen. Als er erfuhr, dass in anderen Teilen des Reiches ebenfalls Feldherren Anspruch auf die Regierung erhoben, marschierte er mit seiner Armee nach Rom. Seine Soldaten riefen „Konstantin for president“ oder „Konstantin für Kaiser“ – sie wollten ihn zum Kaiser machen und waren begeistert von ihm.
In Rom herrschte Maxentius, der sich selbst bereits zum Nachfolger des Kaisers ernannt hatte. Auf dem Weg nach Rom ereignete sich eine Begebenheit, die in die Kirchengeschichte einging. Konstantin war sich unsicher, ob er die Schlacht gewinnen würde. Kurz vor Rom hatte er eines Morgens eine Vision. In dieser Vision sah er das Zeichen Christi am Himmel – so berichtet er selbst in seinen Memoiren.
Wir wissen nicht genau, ob es das Kreuz war oder das sogenannte Chi-Rho-Zeichen. Dieses Zeichen besteht aus den griechischen Buchstaben Chi (X) und Rho (P). Das X ist der Anfangsbuchstabe von „Christos“ auf Griechisch, und das P steht für den zweiten Buchstaben. Dieses Zeichen war auch ein Symbol der ersten Christen. Überliefert ist, dass Konstantin dieses Zeichen am Himmel sah oder das Kreuz.
Er erkannte sofort, dass es das Zeichen des Gottes der Christen war. In Gallien hatte er bereits Kontakt zu Christen gehabt und ihnen gegenüber eine offene Haltung gezeigt. Deshalb war die Christenverfolgung dort weniger intensiv. Konstantin vertraute darauf, dass dieser Gott ihm die Herrschaft geben wolle. Er entschied sich, sich für diesen Gott einzusetzen.
Noch vor der Schlacht gewährte er Christen Amnestie und setzte die Verfolgung aus. Die Schlacht fand an der sogenannten Milvischen Brücke vor Rom statt, und Konstantin siegte. Einige Jahre später besiegte er auch den Kaiser im Osten und wurde so Herrscher über das gesamte Römische Reich.
Konstantin verfolgte konsequent seinen Weg. Er besuchte regelmäßig den Gottesdienst, hielt jeden Morgen eine Andacht, las in der Bibel und setzte sich intensiv mit dem Glauben auseinander. Außerdem versuchte er, die Kirche zu reformieren. Manche seiner Maßnahmen waren positiv, wie man heute sagen würde.
Zum Beispiel fand das Konzil von Nicäa statt, bei dem viele wichtige Entscheidungen getroffen wurden. Diese Entscheidungen akzeptieren wir heute noch, etwa zur Trinitätslehre. Diese Fragen wurden in der Kirche bereits diskutiert, doch es gab zuvor keine Möglichkeit, sie offiziell zu beschließen, da Christen im Untergrund lebten und verfolgt wurden.
Darüber hinaus erließ Konstantin christlichen Predigern und Missionaren die Steuern. Er führte den Sonntag als Feiertag ein und erklärte auch Weihnachten und Ostern zu offiziellen Feiertagen. Gleichzeitig strich er einige heidnische Feiertage von der offiziellen Liste. Es gab noch weitere Maßnahmen, die er ergriff.
Er engagierte sich wirklich und war bereit, dafür auch persönliche Kosten in Kauf zu nehmen. So finanzierte er beispielsweise Bibelübersetzungen in andere Sprachen, damit die Heilige Schrift für mehr Menschen zugänglich wurde.
Die Auswirkungen der konstantinischen Wende
Diese totale Kehrtwendung stellte eine enorme Gebietserweiterung für die frühen Christen dar. Wir müssen uns vorstellen, dass sie sich zu dieser Zeit in einer totalen Verfolgung befanden. Es war vielleicht ähnlich wie das Volk Israel in Ägypten, als es unter dem Pharao litt und verzweifelt schrie: „Wir kommen um, wir werden getötet!“ Genau so war es damals auch. Die Christen schrien um Hilfe, und Gott tat ein Wunder: Er ließ den Kaiser sterben, ermöglichte Konstantin dem Großen die Kaiserwürde und gab dadurch den Christen freie Bahn.
Zunächst war dies für die Christen ein ungeheures Gottesgeschenk. Wir müssen uns vorstellen, dass nun eine Erweckung ausbrach. Plötzlich konnten die Christen frei predigen, die Menschen konnten frei in die Kirchen gehen, und es konnten Kirchen gebaut sowie öffentliche Evangelisationen durchgeführt werden. Vom Staat gab es keine Hindernisse mehr, sondern im Gegenteil freie Bahn.
Heutzutage gibt es einige Christen, die in dieser konstantinischen Wende gern den Abfall vom Christentum sehen wollen. Einerseits wird dann gesagt, Konstantin der Große habe das Christentum zur Staatsreligion gemacht. Zunächst habe ich euch bei den letzten Abenden bereits darauf hingewiesen, dass das Christentum im Römischen Reich nicht das erste Mal zur Religion der Herrschenden wurde. Beispielsweise hatten das Fürstentum Edessa, Äthiopien und einige andere Orte viel früher ein sogenanntes Staatschristentum.
Was viele nicht wissen, ist, dass Konstantin der Große das Christentum nicht zur Staatsreligion gemacht hat, sondern lediglich zur erlaubten Religion. Erst etwa hundert Jahre später wurde es zur bevorzugten Religion. Und der Vorgang, bei dem heidnische Opferpriester zurückgedrängt wurden, dauerte noch einige Jahre. Das heißt, Konstantin der Große hat niemals Menschen verbrannt, weil sie nicht gläubig waren, und hat auch keine anderen Religionen unterdrückt. Er gab dem Christentum Freiheit und unterstützte es aus eigener Motivation, da er selbst Christ wurde.
Dieses Ereignis sollten wir zunächst durchweg als positiv ansehen, auch wenn es später negative Auswirkungen gab. Diese konnte Konstantin der Große selbst nicht vorhersehen, was ganz klar ist. Stellen wir uns nun vor, unsere Bundeskanzlerin würde Christin werden, überzeugt und bei jeder Rede ihren Glauben deutlich betonen. Sie würde evangelikale Christen unterstützen und Gesetze erlassen, die die Missionsarbeit fördern. Beispielsweise könnte sie dafür sorgen, dass die Bibelschule Brake jährlich zwei Millionen Euro für ihre Arbeit erhält oder neue Gemeinden staatlich unterstützt werden. Das wäre doch erst einmal großartig, oder?
Ich glaube, wir sollten solchen Entwicklungen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, denn dadurch würden viele Menschen zum Nachdenken angeregt und offener für den Glauben. Allerdings bringt solche Offenheit auch Probleme mit sich. Manche Christen sehen heute nur die Schwierigkeiten, die durch diese Offenheit entstanden sind, und übersehen das Positive, das daraus hervorging. Das ist eine einseitige Sicht auf die Geschichte und sogar eine schlechte, denn dann könnte man auch sagen, die Reformation hätte es besser nicht geben sollen, weil es heute in der evangelischen Kirche viele Ungläubige gibt. Oder man könnte behaupten, bestimmte Ereignisse hätten besser nicht stattgefunden.
Solche einseitigen Urteile sind nicht sinnvoll. Häufig sind es positive Entwicklungen, die durch Missbrauch negative Folgen haben. Wie kam es zu den negativen Entwicklungen? Nicht durch die Christen, die damals lebten. Diese Christen kamen direkt aus der Verfolgung und gingen keine falschen Kompromisse mit dem Kaiser ein. Sie waren so streng im Glauben, dass sie lieber starben, als sich umbringen zu lassen. Es wäre unlogisch, wenn sie, nachdem sie frei waren, plötzlich dem Staat nachgaben.
Das Problem lag vielmehr darin, dass ein großer Ansturm auf die Kirchen erfolgte. Plötzlich durften alle hineingehen, selbst der Kaiser und die Generäle wurden gläubig. Millionen Menschen dachten sich daraufhin: „Wir gehen auch in die Kirche.“ Das stellte die Gemeinden vor große Herausforderungen.
Aber wie sollte man dieses Problem lösen? Sollte man sagen: „Kommt bloß keiner zu uns in die Gemeinde, damit wir keine Schwierigkeiten bekommen?“ Stellt euch vor, ihr seid im Jahr 320 in dieser Situation: Eure kleine Gemeinde hat gerade die Verfolgung überlebt, die Hälfte von euch ist gestorben, und vielleicht sind noch dreißig Leute übrig. Plötzlich kommen im ersten Jahr hundert neue Mitglieder, im zweiten Jahr weitere hundert und im dritten Jahr zweihundert.
Wie wollt ihr all diese Menschen im Glauben richtig fördern? Ihr habt nebenbei noch euren Beruf, seid nicht hauptamtlich tätig und habt keine theologische Ausbildung – die gab es damals ja noch nicht. Wie wollt ihr sie also jetzt zu...
