[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]
Der französische Dichter André Gide hat über eine interessante Frage nachgedacht. Was ist wohl aus jenen Menschen geworden, die von Jesus geheilt worden sind? Seine Antwort packte er in eine bewegende Legende, die ich Ihnen nacherzählen will. Als Jesus wieder in die kleine Stadt kommt, findet er sie völlig verändert vor. In dem Palast trifft er den Aussätzigen, dem er eine neue Haut geschenkt hat. Ein lukullisches Mahl jagt das andere und ein rauschender Ball löst den andern ab. Müsste der, der so lange aussätzig war, sich nicht um die kümmern, die auch aussätzig, ausgestoßen und isoliert sind? Deshalb stellt ihn Jesus zur Rede. Der Mann jedoch sagt nur: "Ich war ein Aussätziger, aber du hast mich geheilt. Warum sollte ich anders leben?" In einem Geschäft trifft er den Blinden, dem er neue Augen geschenkt hat. Die Kasse klingelt in einem fort und die Bilanzen laufen auf Endlospapier über den Tisch. Müsste der, der so lange blind war, nicht ein Auge für die haben, die auch blind, vereinsamt und abgeschnitten sind? Deshalb stellt ihn Jesus auch zur Rede. Der Mann jedoch sagt nur: "Ich war ein Blinder, aber du hast mich sehend gemacht. Warum sollte ich ein anderes Leben haben?" In einer Bar trifft er den Gichtbrüchigen, dem er neue Glieder geschenkt hat. Laute Musik füllt den Raum und volle Gläser machen die Runde. Müsste der, der so lange gichtbrüchig war, nicht Zeit für die haben, die auch gichtbrüchig, bettlägrig und krank sind? Deshalb stellt ihn Jesus auch zur Rede. Der Mann jedoch sagt nur: "Ich war ein Gichtbrüchiger, aber du hast mich auf die Füße gestellt. Warum sollte ich ein anderes Leben führen?" Traurig verlässt Jesus die Stadt. Als er das Tor passiert, erblickt er einen jungen Mann im Straßengraben. Noch einmal bleibt er stehen und fragt: "Mein junger Freund, warum weinst du?" Der schaut auf, erkennt den Wanderprediger und sagt: "Ich war tot, aber du hast mich auferweckt. Was soll ich anderes mit meinem Leben anfangen?"
André Gide hätte die Geschichte weiter erzählen sollen, vielleicht so: "Dann kommt Jesus auch in unsere Stadt. Auf dem Bahnhof trifft er Reisende, auf der Königstraße trifft er Musizierende, auf dem Schlossplatz trifft er Demonstrierende, in den Geschäften Kaufende, in den Büros Arbeitende, in den Praxen Wartende, lauter Menschen, denen er nicht nur neue Haut oder neue Augen oder neue Glieder, sondern in der Taufe neues Leben geschenkt hat. Er gibt aufgrund seiner Auferstehung nicht weniger als eine neue Geburt, eine neue Existenz, wirklich ein neues Leben. Aber der Reisende jagt seinem Zug nach, der Musizierende hat seine Melodie im Ohr, der Demonstrierende brüllt seine Parole in die Gegend und der Kaufende will ja nicht das billige Sonderangebot verpassen. Müssten die, die so beschenkt worden sind, nicht denen weiterschenken, die leer, arm und ausgebrannt sind? Deshalb stellt sie Jesus mit diesem Text zur Rede. Die Leute jedoch sagen nur: Warum sollte ich anders leben? Warum sollte ich ein anderes Leben haben? Warum sollte ich ein anderes Leben führen? Warum sollte ich anderes mit meinem Leben anfangen? Traurig verlässt Jesus auch unsere Stadt.
Es ist traurig, wenn dies Geschenk nur als Taufbescheinigung im Stammbuch abgeheftet ist. Es ist ein Jammer, wenn dies neue Leben nur als Konfessionsvermerk im Personalcomputer eingespeichert bleibt. Es ist doch zum Heulen, wenn dieser Glaube an Jesus Christus nicht zu einem Leben mit Jesus Christus führt. Gott mag keine religiöse Schizophrenie. Auf diesem Hintergrund müssen wir den Apostel verstehen, wenn er in seinem typisch johanneischen Spiraldenken sagt: Glauben ist Lieben. Lieben ist Gehorchen. Gehorchen ist Überwinden.
1. Glauben ist Lieben
Es gibt solche, die beschränken den Glauben auf das Denken. Das christliche Gedankengut darf auf keinen Fall verschütt gehen. Dieser Jesus hat so viele gute Denkanstöße eingebracht, zum Beispiel in der Bergpredigt oder in den Gleichnisreden, dass unbedingt weiter darüber nachgedacht werden muss. Eine Lebens- oder Weltphilosophie ohne christliche Eckwerte ist nicht mehr denkbar. Glauben ist Denken, sagen sie. Dann gibt es solche, die engen den Glauben auf das Fühlen ein. Vor einer Meditationskerze gehen ihnen warme Ströme durch die Adern. Bei einer Andacht zählen sie ihren religiösen Puls, ob ihnen die Predigt etwas bringt. Auf den Rhythmen frommer Liedermacher fahren sie ab. Glauben ist Fühlen, sagen sie. Und dann gibt es noch solche, die sehen den Glauben im Verzichten. Sie steigen vom Auto auf den Radesel, kaufen keinen Kunstdünger mehr für ihren Garten und propagieren das einfache Leben mit Müsli und Knäckebrot. Glauben ist Verzichten, sagen sie. Nun soll dieses Denken, Fühlen und Verzichten auf keinen Fall karikiert werden, aber Johannes sagt: Glaube ist mehr. Er dreht sich nicht nur um die eigene Achse. Glaube ist weiter. Er kurvt nicht nur um das eigene Ich. Glaube ist größer. Er hat es nicht nur mit mir selber zu tun. Glauben ist Lieben. Glauben ist Gott lieben! In Abwandlung eines Goethe-Werkes könnte man sogar sagen: Die Gottesliebe ist des Glaubens liebstes Kind. Liebe aber macht verrückt. Sie verrückt den Schwerpunkt meines Menschseins aus mir heraus auf Gott hin. Mein Leben schlägt eine neue Bahn ein, die im Magnetfeld seiner Kraft verläuft. Er ist nun wirklich zur zentralen Mitte auch meines Seins geworden. Glauben ist Lieben. Liebe aber verdreht den Kopf. Sie lässt in eine ganz andere Richtung blicken. Was ich vorher überhaupt nicht gesehen habe, geht mir plötzlich als völlig neue Perspektive auf. Gott, der mich liebende Vater, wird zum Staunen Anlass geben. Glauben ist Lieben. Liebe aber, und so hat es einer in seinen Memoiren formuliert, besteht zu dreiviertel aus Neugier. Sie lässt sich gar nicht mit ein paar Sprüchen abspeisen. Sie will immer mehr hören von diesem Gott, der aus Liebe zu seinen davongelaufenen Geschöpfen schließlich seinen eigenen Sohn losschickte. Sie will immer mehr wissen von diesem Christus, der im Gehorsam gegen seinen Vater den dornenreichen Weg nach Golgatha unter die Füße nahm. Sie will immer mehr lernen von diesem Gekreuzigten, der an unserer Statt und für uns den Verbrechertod am Kreuz gestorben ist. Sie will immer mehr erfahren von diesem Auferstandenen, der dem Tod den tödlichen Stich versetzt hat: "Liebe dir ergeb ich mich. Dein zu bleiben ewiglich." Glauben ist Lieben. Das ist das Eine und das andere schließt sich nahtlos an:
2. Lieben ist Gehorchen...
... denn wer Gott liebt, bekommt es mit seinen Geboten zu tun. "Daran erkennen wir, dass wir Gott lieben", sagt der Apostel, "wenn wir seine Gebote halten." Sicher gilt auch das kühne Wort Augustins: "Liebe und tu was du willst." Liebe macht erfinderisch und ist nicht an veraltete Modelle, Verhaltensweisen und Stile gebunden. Aber Liebe und Gebote sind im Grunde nicht zwei paar Stiefel, weil das Gebot nichts anderes als die Liebe schützen will. Gebote sind Gebiete, auf denen sich die Liebe bewährt. Ein junger Mann reibt sich an seinen Eltern. Dieser autoritäre Erziehungsstil passt ihm überhaupt nicht und dieses vorgestrige Denken geht ihm senkrecht auf den Geist. Eines Tages packt der Sohn aus und stößt dem Vater gehörig die Meinung. Aus Liebe zur Wahrheit sagt er, aber ist das Liebe? "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren" sagt das 4. Gebot. Eine junge Frau erwartet ein Kind. Der untersuchende Arzt äußert die Vermutung, dass wegen einer Krankheit der Mutter das erst zwei Monate alte Lebewesen nicht normal zur Welt kommen könnte. Daraufhin geht sie in die Klinik und lässt abtreiben. Aus Liebe zum Kind, sagt sie, aber ist das Liebe? "Du sollst nicht töten" sagt das 5. Gebot. Ein verheirateter Mann lernt ein Mädchen kennen. Bei ihr fühlt er sich ganz verstanden und endlich angenommen. Der Ehefrau macht er nur das Leben schwer und lässt sich scheiden. Aus Liebe zur Frau, sagt er, aber ist das Liebe? Du sollst nicht ehebrechen! sagt das 6. Gebot. Alle Gebote sagen, was Liebe ist. Alle Gebote meinen, was Liebe soll. Alle Gebote klären die Liebe auf. Lieben ist Gehorchen. Und jenes Gehorchen ist doch nicht der "Riesenkampf der Pflicht", wie Schiller meinte, sondern das Sonnenklare der Natur. Als von Gott Geborene sind wir in eine Familie hineingeboren. Dieser Herr ist kinderreich. Dieser Herr ist kinderfreundlich. Dieser Herr hat nicht nur eine Stube voll, sondern eine Welt voll Kinder. Christen also haben einen Haufen Geschwister, die so denken sollten wie jener Junge, der seinen gelähmten Bruder auf dem Rücken zur Schule trug. Weil es noch keine Behindertenbusse gab, hatte er diese Aufgabe übernommen. Als das ein Fremder sah, stehen blieb und sagte: "Aber Bub, du hast eine schwere Last zu tragen", antwortete der nur: "Das ist keine Last, das ist mein Bruder!" Uns ist doch auch mancher auf den Rücken gebunden. Wir haben diesen auf dem Buckel. Wir haben jenen im Kreuz. Wir haben auch das noch zu schleppen. Oft genug sind wir am Ende unserer Kräfte und meinen, dies sei einfach zu schwer. Aber seine Gebote sind nicht schwer, sagt Johannes. Es ist noch keiner zusammengebrochen, weil er einen andern tragen musste. Wer seinen Gott liebt, liebt auch seine Familie. Wer seinen Vater liebt, liebt auch seine Kinder. Wer seinen Herrn liebt, liebt auch seine Geschwister. Lieben ist Gehorchen. Dass dies oft genug Überwindung kostet, weiß der Apostel. Deshalb fügt er noch ein Letztes an.
3. Gehorchen ist Überwinden
Einer, der die Lasten anderer geschultert hat, war Johann Heinrich Wiechern. Er holte die verwahrloste Jugend in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus ihrer Hoffnungslosigkeit und kämpfte um sie, wie nur ein Vater um seinen Sohn kämpfen kann. Kein Spott hat ihn mürbe gemacht. Keine Enttäuschung hat ihn in die Enge getrieben. Keinen Widerspruch hat ihn zum Aufgeben veranlasst. Allen Schwierigkeiten zum Trotz baute er sein Liebeswerk. Aber merkwürdigerweise hat er als Lebensmotto kein klassisches Zeugnis der Liebe gewählt, etwa: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! sondern über seinem Schreibtisch hing der Satz: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Er wusste, dass das Lieben und Gehorchen elendiglich versanden muss, wenn nicht der Glaube zum Überwinden führt. Der Glaube führt durch. Der Glaube hilft drüber. Der Glaube behält den Sieg.
Ein Junge war 16, als er die schwere Krankheit bekam: MS, Multiple Sklerose. Jeden Abend las ihm die Mutter den Abendsegen vor und schloss mit den Worten: Und schenk uns deinen Frieden. Jeden Abend wurde der Mund des kranken Jungen dünn wie eine Rasierklinge, dünn vor Trotz, Vorwurf, Gotteshass. Jeden Abend die Andacht der Mutter und das Aufbäumen des Sohnes. Sechs Jahre lang. Und dann geschah es. Als die Mutter las: Und schenk uns deinen Frieden! sagte der Junge: Amen. Die Mutter traute ihren Ohren nicht. Das Buch glitt ihr aus den Händen. Ihre Hände zitterten im Schoß. Amen hat der Junge gesagt, ein gesprochenes Ja, eine überwundene Welt, ein herrlicher Sieg. Das Tragen des Sohnes hat sich gelohnt.
Vielleicht hat Ihr Sohn, den Sie zu tragen haben, noch kein Amen gesagt. Vielleicht hat Ihre Tochter, die Sie zu schleppen haben, noch kein Ja gefunden. Vielleicht hat Ihr Nächster, der Ihnen aufgetragen ist, noch keinen Mund aufgemacht. Angesichts der uns aufgebürdeten Belastungen stehen wir wie vor einem hohen Berg. Gewiss, mit unserem guten Willen und mit unserem bisschen Nächstenliebe ist dies nicht zu schaffen, aber unser Glaube ist der Sieg. Jesus Christus ist der Sieger. Er schafft’s, dass diese Spirale nicht vorzeitig zerbricht: Glauben ist Lieben, Lieben ist Gehorchen, Gehorchen ist Überwinden.
Amen