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Lukas 13, 18-21 - Vom Senfkorn und vom Sauerteig

Familienfreizeit 2008 - Nr. 1, Teil 4/4
18.07.2008Lukas 13,18-21
SERIE - Teil 4 / 4Familienfreizeit 2008 - Nr. 1

Ich möchte heute Morgen mit euch ein weiteres Gleichnis anschauen, das ihr im Lukas-Evangelium, Kapitel 13, Vers 18 findet. Lukas 13,18.

Zuerst gehe ich auf den Zusammenhang, also den Kontext, ein. Danach betrachten wir das Gleichnis selbst. Ich werde versuchen, etwas von dem Bild zu erklären, das dort verwendet wird. Tatsächlich handelt es sich hier um zwei Gleichnisse, die als Doppelung eine gemeinsame Zielrichtung haben. Dazu gleich mehr.

Schauen wir uns Kapitel 13 an. Am Anfang finden wir Jesu Stellungnahme zu dem Turm von Siloah, der Menschen erschlagen hat, und auch zu Pilatus, der in Galiläa einige Menschen getötet hat. Jesus fragt: „Denkt ihr, dass ihr besser seid?“ Man könnte es auch so ausdrücken: Unglück kann auch Fromme treffen. Nicht diejenigen, die bei einem Unglück gestorben sind, sind immer nur die Bösen.

Das sollten wir uns als Christen merken. Ich werde das nicht weiter auslegen, aber es erinnert mich immer wieder daran, wenn nach jeder Katastrophe irgendwelche E-Mails von Christen kommen, die behaupten, das sei eine besondere Strafe wegen Unmoral gewesen. Zum Beispiel bei der Überschwemmungskatastrophe in New Orleans. Vielleicht habt ihr solche Nachrichten auch bekommen.

Dort hieß es, die Katastrophe sei wegen der Homosexuellen in New Orleans geschehen. Dabei haben viele Menschen, die damit nichts zu tun hatten, ihr Hab und Gut verloren. Und die wenigen Homosexuellen in der Innenstadt kamen sogar relativ unversehrt davon. Das wird oft vergessen.

Man sollte nicht bei jeder Katastrophe nach solchen Ursachen suchen. Oder beim Tsunami: Da wird dann gesagt, der Nachbar sei ungläubig gewesen und deshalb habe der Tsunami ihn getroffen. Das ist natürlich alles Unsinn. Jesus sagt hier auch, dass der Turm sowohl die Guten als auch die Bösen erschlägt.

Darauf können wir gar nicht immer eine Antwort geben. Manchmal wünschen wir uns eine klare Erklärung. Wir würden gerne sehen, dass der böse Centurio einen Ziegelstein auf den Kopf bekommt, während der Gerechte verschont bleibt. Aber so ist es leider nicht immer.

Wir wissen auch aus der Gemeinde, dass der Ehepartner plötzlich stirbt, Kinder krank werden oder Christen Krebs bekommen können oder psychische Erkrankungen leiden. Es gibt darauf keine pauschale Antwort. Das macht Jesus hier sehr deutlich.

Einleitung und Kontext: Jesu Stellungnahme zu Unglück und Gerechtigkeit

Also, der Text richtet sich an die Menschen seiner Zeit. Danach folgt das Gleichnis vom Feigenbaum, der keine Frucht bringt und deshalb abgehauen wird.

Im Anschluss gibt es einen Bericht – kein Gleichnis –, in dem Jesus an einem Sabbat in der Synagoge lehrt. Wir haben gestern schon besprochen, dass Jesus scheinbar mit Vorliebe am Sabbat geheilt hat. Ich weiß nicht genau, warum das so war. Vielleicht war immer auch ein bisschen Provokation dabei, um zu zeigen: „Ihr sollt lernen, dass Heilung auch am Sabbat möglich ist.“ Jedenfalls heilt Jesus hier eine Frau, die verkrüppelt ist, und macht sie gesund.

Darauf folgt unser Gleichnis, nämlich das Gleichnis vom Senfkorn, und direkt danach das Gleichnis vom Sauerteig. Beide haben die Ausrichtung, uns vor Augen zu führen, wie das Reich Gottes ist. Übrigens hat das Lukas häufiger, vielleicht kommt noch ein anderes Gleichnis dazu. Man nennt diese auch Reich-Gottes-Gleichnisse, weil sie erzählen wollen, wie das Reich Gottes beschaffen ist.

Das Reich Gottes hat immer eine doppelte Ausrichtung. Einerseits meint das Reich Gottes das irdische Reich Gottes. Deshalb predigt Jesus hier auch: „Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nah herbeigekommen.“ Das ist das Reich Gottes, das schon hier auf der Erde anfängt.

Andererseits zeigt das Reich Gottes immer auch den Aspekt, dass es etwas Zukünftiges ist. Deshalb beziehen sich manche dieser Gleichnisse auf die Gegenwart und manche auf die Zukunft – beide aber auf das Reich Gottes.

Wir können es wahrscheinlich am einfachsten so zusammenfassen: Das Reich Gottes fängt dort an, wo sich ein Mensch Gott gegenüber öffnet. Dann ist dieser Mensch schon Bürger des künftigen Reiches Gottes. Aber das ist noch im Kleinen. In der Fülle wird das Reich Gottes kommen, wenn Jesus hier auf der Erde regiert.

So können wir das also zusammenbringen: Einmal das Reich Gottes als kommendes, einmal das Reich Gottes als jetzt schon beginnendes.

Direkt danach folgt das Beispiel von der engen und verschlossenen Pforte, durch die wir hindurchringen sollen, um ins Reich Gottes zu gelangen. Das wird noch weitergeführt mit dem Hausherrn, der die Türen für diejenigen verschlossen hat, die zu spät gekommen sind.

Hier geht es darum, ins Reich Gottes hineinzukommen. Man merkt, dass das Thema sowohl vorher als auch nachher dasselbe ist: Wie ist das Reich Gottes? Wie sollen wir uns in Bezug auf die Predigt vom Reich Gottes verhalten?

Vorher ist die Anknüpfung, dass Jesus sich als derjenige zeigt, der das Reich Gottes beginnen lässt, indem er Krankheit besiegt – und an anderen Stellen auch Besessenheit. Das ist ein Ausdruck des Reiches Gottes. Hier zeigt sich die absolute Herrschaft Gottes auch über die Krankheit, und die Frau wird gesund.

Das, was wir danach haben, ist fast eine Deutung dafür, wo Jesus zum Ausdruck bringt: „Hier, in dem, was ihr gesehen habt, hat das Reich Gottes schon angefangen, im Kleinen, eben wie das Senfkorn. Im Großen wird es in der Zukunft kommen.“ Deshalb folgt danach der Blick in die Zukunft, wenn wir ins Reich Gottes, in die Ewigkeit, eingehen.

Natürlich beginnt das Kleine hier und heute, zur Zeit Jesu. Er macht Menschen gesund. Aus dem Kleinen wird etwas Großes. Um in dieses Große, nämlich die Ewigkeit Gottes, eingehen zu können, müssen wir darum ringen.

Das Reich Gottes: Gegenwart und Zukunft im Gleichnis

Und das ist das, was danach kommt. Auch hier ist dieses Gleichnis meiner Meinung nach nicht zufällig an dieser Stelle angeordnet. Es hat sowohl in der Predigt als auch im Verhalten und Auftreten Jesu einen bestimmten Sinn.

Nun lese ich zuerst den ersten Teil vor: Er sagte nun, das Reich Gottes sei einem Senfkorn ähnlich. Womit soll ich es vergleichen? Es ist einem Senfkorn ähnlich, das ein Mensch genommen und in seinen Garten geworfen hat. Es ist gewachsen und zu einem Baum geworden, und die Vögel des Himmels ruhen in seinen Zweigen.

Dieses Gleichnis kommt sowohl im Matthäusevangelium als auch im Markusevangelium und sogar im Thomas-Evangelium vor. Wahrscheinlich denkt ihr jetzt: „Thomas-Evangelium? Das ist doch nicht mehr in der Bibel enthalten.“ Vollkommen zu Recht. Das Thomas-Evangelium ist ein apokryphes Evangelium aus dem zweiten Jahrhundert. Dennoch ist es erstaunlich, dass es dieses Gleichnis aufgreift.

Wahrscheinlich hat der Verfasser des Thomas-Evangeliums einige bekannte Stellen aus den anderen Evangelien zusammengesucht und eigene Phantasien hinzugefügt. Dieses Evangelium ist manchmal sogar richtig rührend. Ich weiß nicht, ob ihr es kennt, aber es liest sich fast wie ein Märchenbuch für Kinder.

Eine der bekanntesten Geschichten darin ist vielleicht diese: Jesus spielt mit seinen Freunden, und einer von ihnen fällt vom Dach. Jesus erweckt ihn kurzzeitig wieder zum Leben. Die Überlegung dahinter ist: Wenn Jesus als kleines Kind schon Gott war, warum sollte das nicht möglich sein?

Eine andere Szene spielt noch früher: Als Jesus geboren wird, kommen Angehörige von Maria zu ihm und sagen, Maria habe schon mit ihrem Mann zusammengelebt, deshalb sei das Kind da, und das sei nicht in Ordnung. Maria kann sich nicht wehren. Dann steht der kleine Säugling auf, hebt die Hand und sagt: „Nein, Maria ist unschuldig, ich bin vom Heiligen Geist gezeugt.“ Danach legt er sich wieder hin und schläft weiter.

Auch eine schöne Geschichte, nicht wahr? Wahrscheinlich war es aber nicht so, sondern es ist die Phantasie des zweiten Jahrhunderts, wie man sich damals vorstellte, wie es gewesen sein könnte. Im Thomas-Evangelium sind noch einige weitere rührende Geschichten enthalten.

Wie gesagt, manche Geschichten stammen auch aus der Bibel. So ist es auch mit dem Gleichnis vom Senfkorn, das im Thomas-Evangelium vorkommt, aber eben auch in den anderen Evangelien.

Was uns außerdem auffällt: Im Markusevangelium steht nur die Geschichte vom Senfkorn, nicht aber die vom Sauerteig. Im Matthäusevangelium finden wir sowohl das Gleichnis vom Sauerteig als auch das vom Senfkorn.

Hintergrund und Vergleich der Gleichnisse in den Evangelien

Das ist jetzt nur mal zur Hintergrundinformation, falls euch das irgendwo auffällt. Was ihr schon allein von der äußeren Form seht: An dieser Stelle stellt sich Jesus selbst eine Frage. Das lesen wir in Vers 18: „Er aber sprach: Wem gleicht das Reich Gottes, und womit soll ich es vergleichen?“ Und dann noch einmal in Vers 20: „Und wiederum sprach er: Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen?“

Hier könnten wir sagen: Ja, das hast du gerade schon mal gefragt. Warum hier noch eine Verdopplung? Erzähl doch einfach weiter. Nun, da müssen wir daran denken, dass das eine typische Form der Rabbiner war, so wie sie gelehrt haben. Das fällt uns ja manchmal in der Bibel auf, dass es solche Doppelungen gibt. Dann steht da zum Beispiel „Und er sagte und sprach“ oder so etwas – also immer Doppelungen. Diese Doppelungen waren typische rabbinische Formen, also Lehrformen zur damaligen Zeit, damit sich die Leute Dinge besser einprägen konnten.

Das kennen wir bis heute: Wiederholung prägt sich besser ein, dann kann man besser lernen. Deshalb gibt es hier auch eine Wiederholung. Im Grunde genommen ist es genau dasselbe. Dass hier hingewiesen wird auf „nun, er aber sprach“ – dieses „aber sprach“ ist bei Luther nicht so schön dabei, eigentlich ist da nämlich ein „nun“ mit drin, also „er nun aber sprach“ oder „aber nun“. Das deutet darauf hin, dass er etwas Neues einbringen will.

Er geht also von der Heilung zu etwas Neuem über. Das ist ja auch klar: Er wechselt von seinen Taten zu einer Predigt. Dabei ist eine gewisse pädagogische Absicht erkennbar. Jesus will den Leuten ja etwas vom Reich Gottes erklären. Wenn ihr nur diese zwei Verse durchlest, fällt euch auf, dass dort mindestens fünfmal Vergleiche angesprochen werden – zumindest im kirchlichen Deutsch. Leider kann man das im Deutschen nicht ganz so genau sehen, aber im Griechischen ist hier fünfmal das Gleiche drin.

Zuerst sagt Jesus: Wem gleicht das Reich Gottes, womit soll ich es vergleichen? Es gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm usw. Im Deutschen ist manchmal etwas wegfallen, aber wir können daraus keine riesigen Schlüsse ziehen. Dennoch wird deutlich, dass diese Verbindung ganz stark in den Vordergrund geschoben wird. Es ist nicht gleich, sondern es ist ein Vergleich.

Wir sollen nicht auf die Idee kommen, hier sei alles identisch, dass wir jedes Detail deuten, was nun in diesem Gleichnis enthalten ist. Vielmehr sollen wir sehen, dass es gewisse Parallelen und Ähnlichkeiten gibt, aber auch Unterschiede. Diese Vergleiche fallen auch dadurch auf, dass in den Parallelberichten bei Matthäus und Markus nur ein- bis zweimal der Hinweis „es ist gleich“ vorkommt, und dann bleibt es dabei. Hier aber wird das noch mehr betont.

Wer das genauer wissen will: Der Begriff „Isos“ bedeutet „von derselben Größe“ oder „ist gleichwertig“. Das andere Wort „Isomoios“ bedeutet „von derselben Art“, also „ähnlich“, eine Analogie. So wird hier verglichen.

Das Besondere im Vergleich zu anderen Evangelien ist auch, dass Jesus hier in der ersten Person Singular spricht, also im „Ich“. Bei den anderen wird das mehr berichtet. Hier ist es Jesu wörtliche Rede, sozusagen mit Anführungszeichen oben und unten. Es wird nicht frei zusammengefasst, sondern so wiedergegeben, wie es Lukas überliefert hat.

Die Frage, die sich hier stellt – ich habe es schon gesagt: „Wem ist das Reich Gottes gleich? Womit soll ich es vergleichen?“ Normalerweise, wenn wir solche Fragen stellen, wollen wir eine Antwort darauf. Hier gibt Jesus die Antwort selbst. Es ist also eine Art rhetorische Frage, keine ernst gemeinte Frage. Er erwartet nicht, dass die Jünger ihm eine Antwort geben.

Hier kommt auch zum Ausdruck, dass der Einzige, der zuverlässig Auskunft geben kann, wie das Reich Gottes ist, Jesus selbst ist. Wer sollte es sonst tun? Denn die anderen Leute haben ja mit dem Reich Gottes nichts zu tun. Sie kommen höchstens durch Jesus hinein.

Insofern ist es eine rhetorische Frage, die die Leute aufmerksam machen soll auf das, was jetzt nachher gelehrt wird. Es ist also auch eine Lehrform, um die Aussage, die dann kommt, mehr zu unterstreichen.

Die rhetorische Lehrform Jesu und die Bedeutung der Vergleiche

Bevor ich auf die Details eingehe, möchte ich euch einen kleinen Einblick geben, was in der Kirchengeschichte verschiedene Personen zu diesem Thema gesagt haben. Dabei nehme ich auch gleich das nächste Gleichnis mit hinzu. Anschließend kommen wir detailliert dazu, wie ich meine, dass wir es gut verstehen können.

Zum Beispiel sagt Irenäus von Lyon, dass das Samenkorn, das da fällt, die göttliche Gnosis ist – also die göttliche Weisheit und das göttliche Wissen. Die Erde, die das Samenkorn aufnimmt, steht für das Innere des Menschen, sozusagen den guten Boden. Diese Deutung übernimmt er vom Gleichnis vom vierfachen Acker, wo das Wort in unterschiedliche Böden fällt. Bei der Frau mit dem Sauerteich ist die Frau die Weisheit, und der Sauerteich ist der Erlöser, der hineingesetzt wird. Das ist eine interessante Deutung aus der Kirchengeschichte.

Zweitens Origenes: Er sieht in der Frau am Sauerteich die Kirche und im Sauerteich selbst den Heiligen Geist. Der Heilige Geist kommt in die Kirche hinein und durchdringt alles. Schließlich sind alle vom Heiligen Geist erfüllt, so lautet Origines’ Sicht. Er deutet auch die drei Maß Mehl, die später im Gleichnis erwähnt werden. Diese drei Maße stehen für Leib, Geist und Seele, die alle vom Heiligen Geist durchdrungen werden sollen. Der Mensch in all seinen Ebenen soll geheiligt werden. Außerdem sagt Origenes, dass aus dem Teig ein großer Leib entsteht, nämlich ein Brot, das die Einheit der Gemeinde symbolisiert. Schön, was man da alles finden kann.

Kyrillus von Alexandrien sagt, dass das Senfkorn die Verkündigung des Evangeliums ist. Das, was daraus wächst, ist der Erfolg der Mission – also das Große, das aus dem kleinen Anfang entsteht.

Ambrosius von Mailand meint, das Senfkorn sei der Glaube des Menschen. Schon der kleine Glaube genügt, wie Jesus ja auch sagt: „Wenn euer Glaube so groß wäre wie ein Senfkorn, könntet ihr zu dem Berg sprechen: Hebe dich hinweg und wirf dich ins Meer.“ Und das würde funktionieren. Die Äste an dem Baum stehen für die Apostel, denn sie spenden der Gemeinde Schatten, in dem die Menschen wohnen können. Heute wohnen wir in der Kirche auf den Ästen, die aus Jesus herausgewachsen sind und die Apostel darstellen.

Im zweiten Gleichnis geht Ambrosius davon aus, dass der Sauerteig Jesus ist und die Frau die Gemeinde. Christus müsse ins Innerste der Gemeinde und des Geistes hineingetragen werden. An anderer Stelle sagt er, dass der Teig die Welt ist, die durch das Gesetz aufgeht. Die Sünde treibt das alles an, und dadurch wird deutlich, dass das Schlechte alles durchdringt. Ich werde später noch erklären, warum er das Schlechte mit hinein nimmt.

Gregor der Große sagt, das Senfkorn ist Christus. Er ist klein und demütig im Fleisch, weil er nicht als Gott auftritt. Aus dieser Demut wächst seine große Macht, wenn er in Herrschaft und Herrlichkeit kommt, wie wir das in der Offenbarung oder in Matthäus 24 und 25 lesen können. Die Zweige stehen für die Prediger, und in ihnen ruhen die Vögel, die die Seelen der Gläubigen symbolisieren.

Beda Venerabilis meint, dass Christus das Senfkorn ist, der Garten die Kirche, und das Wachstum des Korns die Verbreitung des Evangeliums in der Welt sowie das Wachstum der Gläubigen.

Luther sieht hier ausgedrückt, dass die Kirche schwach ist – so wie das Senfkorn eigentlich schwach ist und auch das bisschen Mehl oder der Sauerteig schwach sind. Dennoch kann Gott Großes aus Kleinem machen.

Damit belasse ich es erst einmal bei diesem Überblick über die Kirchengeschichte. Ich möchte nicht sagen, dass diese Interpretationen alle falsch sind. Wir sollten eine gewisse Hochachtung vor unseren Glaubensvorbildern der Vergangenheit haben.

Was wir allerdings merken, ist, dass man schnell dazu neigt, solche Gleichnisse allegorisch zu interpretieren. Das war damals durchaus üblich, und manche Prediger machen das auch heute noch. Allerdings geraten wir dabei schnell in Schwierigkeiten, weil man dann alles Mögliche hineininterpretieren kann – gerade das, was man selbst möchte.

Hier sehen wir zum Beispiel, dass für den einen die Gemeinde gemeint ist, für den anderen die Seele, für den nächsten die Welt und wieder für andere die Mission. Was ist es nun wirklich? Das bleibt dann alles ein bisschen schwammig.

Wenn wir versuchen wollen, es genauer zu analysieren, müssen wir sehen, ob Jesus selbst eine Interpretation gibt. Wir können auch aus dem Kontext, aus Parallelstellen oder aus dem Wortlaut – etwa durch grammatikalische Analyse – eine Deutung ableiten. So könnten wir zu einem Ergebnis kommen.

Wir müssen aber immer im Blick behalten, dass sich bei einem Gleichnis nie alles vollständig interpretieren lässt. Sonst interpretieren wir häufig zu viel hinein. Wenn wir jedes Detail zu genau deuten wollen, kann das problematisch werden.

Dennoch möchte ich es ein Stück weit versuchen, damit uns das Gleichnis noch etwas klarer wird.

Historische Deutungen und Herausforderungen der Interpretation

Der erste Teil dieses Gleichnisses handelt von dem Senfkorn. Im Kern steht dabei das Reich Gottes. Das ist unzweifelhaft, denn in diesem gesamten Abschnitt sowie in den Kapiteln davor und danach geht es Jesus um das Reich Gottes. Deshalb gibt es nicht nur dieses Gleichnis, sondern auch andere Gleichnisse vom Reich Gottes, die später noch genannt werden. Diese Tatsache ist, glaube ich, im Kontext klar.

Das Reich Gottes ist, so wie wir es im Lukasevangelium lesen und wie Jesus es gepredigt hat, eine dualistische Angelegenheit. Dualismus bedeutet, dass zwei einander gegenüberstehende Dinge vorhanden sind. Einerseits das Reich Gottes, andererseits das Reich der Welt. Letzteres wird manchmal auch als das Reich des Satans bezeichnet. Das Reich Gottes hingegen ist dort, wo Gott regiert.

Jesus stellt dar, dass es auf der Erde eigentlich nur zwei Herrschaftsbereiche gibt. Es existiert kein neutraler Bereich, in dem man sich aufhalten könnte und sagen könnte: „Ach, mal hier und mal dort“ oder „Ich bin einfach gut von mir aus.“ Entweder ist man im Reich der Welt, dem Reich Satans, in dem er herrscht, oder man gehört zum Reich Gottes. Das ist dieser Dualismus.

So kam der Sohn Gottes, also Jesus, auf die Erde, um die Macht Satans zu besiegen. Gottes Macht beginnt sich zu entfalten – das ist die Botschaft, die immer wieder in der Predigt Jesu auftaucht, nicht nur an dieser Stelle. Jesus kommt und bricht damit die Macht Satans. Besonders deutlich wird das, wenn er Dämonen begegnet. Die Dämonen sagen: „Geh weg von uns! Wir wollen nichts mit dir zu tun haben.“ Sie sagen auch: „Deine Stunde ist noch nicht gekommen.“ So merken wir deutlich, dass Jesus anfängt zu regieren. Dämonen und der Teufel haben dann kein Anrecht mehr.

Hier bricht das Reich Gottes in den Herrschaftsbereich der Welt ein. Dieses Bild hatten wir auch schon beim ersten Abend, den wir miteinander verbracht haben, als ich das Bild von Licht und Finsternis erklärt habe. Es ist genau dasselbe: Es gibt entweder nur Licht oder nur Finsternis, dazwischen gibt es nichts – so, wie Jesus es predigt. Natürlich könnte man sagen, es gibt Dämmerung und Ähnliches, aber dann erinnern wir uns an die Sendschreiben der Offenbarung: „Ihr seid lau, und deshalb speie ich euch aus. Ich wünsche, ihr wäret heiß oder kalt.“ Bei der Predigt Jesu ist es relativ eindeutig: Entweder gehörst du zu Jesus oder zum Reich dieser Welt.

Das Reich Gottes ist damit auch eine endzeitliche, eschatologische Größe, denn erst am Ende wird das Reich Gottes vollkommen anbrechen. Das ist das, was man zum Beispiel in den Bildern der Zeugen Jehovas sehen kann. Man bekommt immer wieder mal Besuch von ihnen, und sie hinterlassen Wachtürme, Erwachet!-Hefte und hübsche Büchlein. Was ich daran interessant finde: Sie können das so richtig schön malen. Da ist dann das Lamm neben dem Löwen, und die beiden streicheln sich. Es ist die politisch korrekte Familie mit Schwarz, Weiß, Gelb und Grün. Alle sind zusammen, mit unterschiedlichen Hautfarben, und sie lächeln, bebauen den Acker. Keiner schwitzt, keiner ist krank, alle sind jung und so weiter.

So ähnlich könnte man sich das vorstellen. Natürlich muss man sagen, dass dies die Darstellung der Zeugen Jehovas ist. Wahrscheinlich wird es bei Gott ganz anders sein. Vor allem werden wir dann nicht alle auf der Erde leben, sondern im himmlischen Jerusalem und so weiter. Aber immerhin wird es vollkommen perfekt sein, wenn Jesus total regiert. Dann wird der Mensch aus dem Herrschaftsbereich des Teufels befreit sein.

Das Reich Gottes als Dualismus und eschatologische Größe

Nun, wie sieht es mit der Sache mit dem Senfkorn aus? Der Begriff, der hier verwendet wird, meint eigentlich den schwarzen Senf. Bei uns ist Senf meistens gelb, das hängt aber nicht zusammen. Vielleicht habt ihr das mal gesehen: Diese Senfkörner sind fast wie feiner Puder. Sie sind nicht so groß wie die Körner, die ihr in der Senfmühle habt, die ja ziemlich groß und gelb sind. Nein, es gibt einen schwarzen Senf, dessen Samen dort hineingesetzt wird. Dieser Samen ist wirklich fast wie Staub. Wenn man ihn auf der Hand hat, muss man aufpassen, dass er nicht von selbst wegweht.

Dieses Bild wird hier bewusst benutzt, um den Unterschied noch deutlicher zu machen. Es geht um den Übergang vom ganz Kleinen zum ganz Großen. Deshalb wird hier eine besondere Senfart erwähnt. Diese wächst auch in Israel. Im Talmud wird das mehrfach erwähnt. Der Talmud ist eine jüdische Schrift, die auch zur Zeit Jesu abgefasst wurde. Es gibt den babylonischen und den palästinensischen Talmud, und dort wird das ebenfalls erwähnt.

Ein Problem haben wir allerdings: Die Senfpflanze wird im optimalen Fall zwischen 1,20 Meter und 2,50 Meter groß. Ich habe auch gelesen, dass in einem Kommentar gesagt wird, es gäbe Staudengewächse, die unter ganz optimalen Bedingungen bis zu 3,50 Meter hoch werden. Aber hier haben wir eigentlich ein bisschen Schwierigkeiten. Es steht, dass das ganz Kleine riesengroß wird und alle Vögel des Himmels darunter wohnen. Selbst 3,50 Meter imponieren mir nicht so sehr. Es gibt ja noch ein paar Bäumchen, die etwas größer sind.

Interessanterweise gibt Markus das Wort Jesu so wieder: Er spricht von einem Busch, der groß wird, sodass die Vögel darin nisten. Das ist ein gewisses Problem. Das Problem liegt aber nur daran, wie ich das Wort zuordne. Denn welches der griechischen Worte damals ich mit welcher Pflanze heute gleichsetze, ist natürlich auch ein bisschen Auslegungssache.

Von der Kleinheit des Samens wäre dieser schwarze Senf durchaus geeignet. Es gibt aber auch den Hinweis, dass es vielleicht eine Salvadora persica ist. Ich weiß nicht, ob ihr euch damit auskennt. Auf jeden Fall ist das tatsächlich ein Baum, der zig Meter hoch wird und aus einer kleinen Art Senfkorn wächst. Allerdings weist ein Ausleger darauf hin, dass diese Art Senf in Israel relativ selten vorkommt.

Nun, selten heißt natürlich nicht, dass Jesus dieses Beispiel nicht nehmen könnte. Die meisten Ausleger sagen jedoch, es sei der schwarze Senf, weil dieser so häufig vorkommt. Dann hat man aber das Problem mit der Größe. Man kann natürlich auch sagen: Ja gut, auch 3,50 Meter genügen, und Vögel können darin nisten. Letztendlich kommt es dabei nicht so sehr auf die Größe an.

Wenn man die Größe aber noch mehr betont, dann ist es wahrscheinlich dieser andere Baum. Denn wenn dahintersteht, dass alle Vögel des Himmelszeltes dort sind – so ist das eigentlich korrekt übersetzt – dann müsste man auch sagen, sie richten sich ein Nest ein. Denn wenn dort „wohnen“ steht, bedeutet das tatsächlich, dass sie da sind, dass sie nisten, dass es ihr Zuhause ist.

Das ist für die Deutung später auch noch wichtig. Es soll nicht heißen, dass sie nur eine Zeit lang da sind und sich ausruhen. Denn wer weiß, vielleicht kommt später jemand auf die Idee von Gemeinde-Hopping oder Religions-Hopping: Heute ein bisschen Christus, morgen den Busch des Islam oder des Buddhismus. Nein, sie nisten dort, sie wohnen in diesem Reich Gottes, in diesem Baum, der gewachsen ist.

Das Bild des Senfkorns und seine Herausforderungen in der Auslegung

Nun haben wir noch ein zweites Problem. Wir sind ja zunächst noch nicht bei der Deutung, sondern wollen das Bild erst einmal verstehen.

Es ist nämlich so, dass nach rabbinischen Quellen der Senf in Israel auf Feldern wuchs und nicht im Garten. Da denkt man vielleicht: „Hey Michael, was für eine Haarspalterei, das ist doch total egal!“ Doch ich glaube nicht, dass es egal ist. Ich denke, Jesus wählt dieses Bild bewusst. Er nimmt nicht immer Bilder, die genau dem Alltag der Menschen entsprechen. Manchmal will er durch etwas, das auf den ersten Blick nicht so ganz passt, die Leute zum Nachdenken anregen. Und genau das ist hier, glaube ich, der Fall.

Zusätzlich benutzt er gerade den Garten, weil – mal eine kurze Frage an euch – was ist denn im Allgemeinen der Unterschied zwischen einem Garten und einem Feld? Landwirtschaft oder so? Der Garten dient mehr der Erholung, genau. Das will ich jetzt auch auf die Bäume beziehen, bitte. Der Garten ist kleiner, ja, bitte. Genau, auch das ist ein wichtiger Aspekt. Ja, genau, stimmt!

Also, hier gibt es einige Unterschiede. Und wenn Jesus den Garten gewählt hat, steckt wahrscheinlich eine Absicht dahinter. Es könnte durchaus sein, dass er diese Absicht betonen will: Im Garten liegt eine andere Zielrichtung, eine andere Bedeutung. Da sind jetzt nicht zehn Senfbäume – das wäre ja auch komisch. Wie deutet man das dann? Dann wären ja die verschiedenen Konfessionen oder Religionen gemeint. Hier ist nur einer in diesem Garten. Das spielt mit hinein. Der Garten ist näher am Haus. Das können wir durchdenken: Was ist das Haus? Vielleicht ein Ort Gottes oder so.

Ein weiterer Aspekt, der mir wichtig ist und den ich glaube, dass Jesus auch im Blick hat: Im Garten pflegt und hegt man Pflanzen stärker als auf dem Feld. Wenn ihr normale Bauern seht, kümmert sich der Bauer natürlich auch um den Acker. Aber der wird einmal bestellt, dann gedüngt und schließlich geerntet. Im Gegensatz dazu: Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wir haben zu Hause einen Garten. Wenn ich da durchgehe, schaue ich jeden Tag, was wächst, entdecke neue Blüten und gieße hier mal ein bisschen. Ich habe kaum mal einen Bauern gesehen, der mit der Gießkanne über den Acker geht und seine Pflanzen genau anschaut, wie sie wachsen.

Ich habe den Eindruck, hier soll das Engagement des Gärtners hervorgehoben werden. Der Gärtner ist jemand, der sich intensiv mit den Pflanzen beschäftigt. Nicht umsonst wird der Ort, an dem die ersten Menschen lebten, als Garten bezeichnet: der Garten Eden. Und genauso wird auch für uns gesagt, dass die Ewigkeit in der Herrlichkeit Gottes so ähnlich wie ein Garten sein wird.

Warum? Weil der Garten der vollkommene Lebensraum des Menschen ist. Dort ist es schön, dort kommt die ganze Natur Gottes zum Ausdruck. Dort zeigt sich auch die Pflege, die Gott in die Natur gelegt hat, besonders deutlich. Im Gegensatz zum Feld, das eher monoton oder manchmal auch wild sein kann, ist der Garten höchst gestaltet.

Ihr merkt das auch an Beispielen wie den Herrenhäuser Gärten in Hannover. So würde ja niemand sein Feld anlegen: Alles ist geschnitten, fein gemacht, hier eine Blume, da eine Statue, alles genau überlegt und geplant.

Ich glaube, das steht auch im Hintergrund dieses Bildes. Der Senfbaum ist nicht einfach zufällig gewachsen. Gott hat den Samen bewusst gesät, das Reich Gottes ist nicht zufällig daraus entstanden. Gott hat es ganz bewusst gepflanzt und plant auch, was daraus wird.

Ich denke, mit dem Hinweis auf den Garten soll gerade das zum Ausdruck gebracht werden.

So ähnlich wird das zum Beispiel auch in Hesekiel 31,8-9 erwähnt. Dort wird das Reich Gottes ebenfalls als Garten bezeichnet. Es ist eine Bildscheibe, die in der Bibel an mehreren Stellen wieder auftaucht.

Die Bedeutung des Gartens im Gleichnis

Wenn wir Markus und Lukas miteinander vergleichen, fällt auf, dass bei Markus der Unterschied zwischen Klein und Groß noch stärker betont wird. Das heißt, es geht um das ganz Kleine und das ganz Große. Deshalb scheint dieser Gegensatz dort der Schwerpunkt des Gleichnisses zu sein.

Bei Lukas, auch wenn es in eine ähnliche Richtung geht, habe ich den Eindruck, dass stärker das Wachstum hervorgehoben wird. Es geht also auch um das, was dazwischen liegt. Letztendlich führt das natürlich zu einem ähnlichen Ergebnis, aber es gibt leichte Unterschiede zwischen den beiden Evangelisten.

Man könnte sagen, und das wäre ein Ansatz zur Interpretation, dass Jesu Wort etwas vom Samen ist, ebenso Jesu Tat. Besonders wenn wir sehen, dass Jesus vom vierfachen Acker spricht, wo das Wort Gottes mit dem Sämann gleichgesetzt wird, der den Samen aussät, und dieser dann auf unterschiedlichen Boden fällt. Hier soll jedoch nicht bestimmt werden, ob der Boden günstig ist, sondern es geht darum, was im optimalen Fall mit dem Samen passiert. Dabei geht es nicht nur um das Herz des Einzelnen, sondern um die globale Auseinandersetzung in dieser Welt, in diesem Dualismus zwischen dem Reich Gottes und dem Reich dieser Welt.

Die Kirche beginnt hier klein und wird sich am Ende groß entwickeln. Der Kontrast zwischen Groß und Klein soll also vor Augen geführt werden. Natürlich ist dem Leser klar, oder uns sollte klar sein, dass es auch Unterschiede gibt. Das Senfkorn wächst mehr oder weniger von selbst. Natürlich kann der Gärtner dem Korn ein wenig Wasser geben, im Gegensatz zum Reich Gottes, das sich nicht von selbst entwickelt.

Wenn wir die Frage stellen, ob das Reich Gottes, dessen Mitglieder wir alle sind, sich einfach von selbst entwickelt, werden die meisten, die schon einige Jahre im Glauben sind, feststellen, dass das nicht der Fall ist. Man muss etwas tun. Im Reich Gottes sehen wir, dass auch Gott aktiv ist. Er greift immer wieder ein – schon in der Apostelgeschichte, in der gesamten Kirchengeschichte und bis heute in unserem Leben. Wir rechnen mit dem Eingreifen Gottes.

Es ist also nicht so, dass sich das Reich Gottes ganz natürlich wie ein Baum entwickelt. Hier merken wir einen Unterschied: Beim Baum ist alles genetisch angelegt. Im Reich Gottes dagegen greift Gott immer wieder ein, fördert und handelt historisch. Das ist den Juden, die damals zuhörten, vollkommen bewusst. Sie erinnern sich bei allen großen Festen ihres Jahres daran, dass Gott eingegriffen hat. Das betrifft das Passahfest, das große Versöhnungsfest Yom Kippur, Chanukka und andere Feste. Diese jüdischen Traditionen waren ihnen bekannt, und auch wir sollten wissen, dass wir in einer solchen historischen Kontinuität stehen.

Darüber hinaus beinhaltet dieses Gleichnis einen weiteren Aspekt: die Versöhnung von Völkern, also von Heiden und dem Volk Israel. Das wissen wir aus der rabbinischen Interpretation des Alten Testaments und aus ähnlichen Bildern, die Jesus verwendet. Der Baum ist im Normalfall nicht die Gemeinde. Das Bild vom Baum, den Gott gepflanzt hat und der wächst, wird im Alten Testament häufig erwähnt. Wir kennen es auch an anderen Stellen, zum Beispiel beim Feigenbaum. In den meisten Fällen ist damit Israel gemeint.

Auch im Römerbrief wird Israel angesprochen, und dort heißt es, die Gemeinde sei eingepfropft in diesen Stamm. Ich denke, so sollten wir auch hier in erster Linie sehen: Gottes Handeln beginnt nicht mit der Gemeinde. Das Senfkorn, das Gott gelegt hat, fing schon vorher an zu keimen.

Wir sollten also nicht den Irrtum begehen, das Alte Testament auszuschließen. Nein, Gott handelt in Kontinuität. Sein Handeln beginnt früher, aber durch Jesus blüht es noch stärker auf und tritt deutlicher hervor, so wie Gott es eigentlich gedacht hat. Vorher war das noch nicht ganz so bekannt.

Wahrscheinlich ist dieser Busch eher ein Bild für das Reich Gottes, das nicht auf Israel beschränkt ist, aber Israel einschließt. Das, was da schon kommt, wächst mit uns. Die Vögel werden im Judentum traditionell als Heidenvölker interpretiert. Manchmal negativ, doch hier könnte man sagen: Das Besondere, was Jesus sagen will, ist, dass ihr Juden, die ihr zuhört und zum Reich Gottes gehört, Gott eine große Sache aus euch machen will. Dabei gehören auch die Heiden dazu. Ihr werdet sogar den Heiden dienen.

Denn der Baum dient den Vögeln, damit sie in den Ästen nisten und wohnen können. Hier zeigt sich die Verbindung im Handeln Gottes zwischen Israel und der Gemeinde. Das eine ersetzt nicht das andere, und Gott fängt nicht erst jetzt ganz neu an. Vielmehr sind sie miteinander verbunden. Die Vielzahl der Vögel drückt die Vielzahl der Heiden aus, die in enger Verbindung stehen.

Wie gesagt, im Römerbrief wird die Verbindung beschrieben, bei der die Gemeinde eingepfropft wird. Hier jedoch ist nicht von Einpfropfung die Rede, sondern vom Leben in den Ästen.

Wachstum, Versöhnung und Vielfalt im Reich Gottes

Nun sollten wir noch einmal kurz zurückblicken, was in den vorherigen Kapiteln geschieht, damit uns das noch deutlicher wird.

Ab Kapitel 11 steht die Verpflichtung des Menschen im Mittelpunkt, wenn er in das Reich Gottes eingehen will. Zuerst gibt es in Kapitel 11, Verse 37 bis 12, Vers 1, einen Angriff auf die Heuchelei der Pharisäer. Es heißt hier: Wenn du in das Reich Gottes kommen willst, dann geht das nicht mit Heuchelei.

Als Nächstes unterstreicht Jesus das Bekenntnis zum Mitmenschen in Kapitel 12, Verse 1 bis 12. Danach wendet sich Jesus der unsichtbaren Welt Gottes zu, die bereits begonnen hat. Das finden wir in Kapitel 12, Verse 35 bis 48.

Anschließend fordert er dazu auf, das Reich Gottes zu suchen, wie es in Kapitel 12, Vers 31 heißt. Die Menschen sollen sich diesem Reich hingeben, was in Kapitel 12, Verse 13 bis 21 beschrieben wird.

In Kapitel 12, Vers 36, wird erwähnt, dass das Reich Gottes vielleicht verspätet kommt, ebenso in Vers 45. Doch es wird betont, dass es ganz gewiss kommt, auch wenn niemand Tag noch Stunde kennt. Dieses Kommen ist sicher.

Daraufhin wird in Kapitel 12, Vers 54 bis 56 darauf hingewiesen, dass es Zeichen gibt, an denen wir erkennen können, dass sich das Reich Gottes nähert. Diese Zeichen finden sich nicht nur an dieser Stelle, sondern auch an anderen. Hier jedoch habe ich den Eindruck, dass in den vorherigen Kapiteln vorbereitet wird, was jetzt kommt.

Zusammengefasst ist das Reich Gottes schwer zu betreten. Wir sollen nicht heucheln, es gibt Anzeichen für sein Kommen, wir müssen darum ringen, hineinzukommen. Gott kündigt es an, niemand kennt Tag noch Stunde, aber auch wenn es sich verzögert, wissen wir, dass es gewiss kommt. Dies bildet, glaube ich, den Vorbau für das, was folgt.

Vorbereitung auf das Reich Gottes: Verpflichtung und Zeichen

Der kleine Same, der hier erwähnt wird, bedeutet meines Erachtens den kleinen, unscheinbaren Anfang des Gottesreiches im Leben der Menschen, die damals zuhörten. Das gilt natürlich auch geschichtlich, weil damals der Anfang war. Besonders gilt es aber auch für uns heute.

Manchmal sind wir frustriert, wenn wir merken, dass Gott einen Anfang in unserem Leben gemacht hat. Wir erwarten dann nach zwei oder manchmal nach zwanzig Jahren, dass wir perfekte Superchristen sind. Dass alles klappt, keine Sünde mehr da ist, wir powervolles Gebet sprechen und immer nur Freude im Glauben haben.

An dieser Stelle sollten wir uns daran erinnern: Halt, wir sind gerade erst aus einem kleinen Senfkorn geschlüpft. Wir sind gerade erst ein kleines Pflänzchen. Das ist der Anfang des Reiches Gottes. Einmal ist das Reich Gottes ja Israel, aber wenn ich das jetzt individualisiere, dann sind wir es natürlich auch, die kleinen Anfänge.

Ein wichtiger Aspekt ist: Denk an das Ende! Denk daran, was Gott mit dir vorhat. Du wirst einmal der perfekte Christ sein, aber das wird in der Ewigkeit bei Gott sein. Dann werden wir perfekt sein.

Im ersten Korintherbrief steht, dass dann alles wegbrennen wird wie Heu oder Stroh, was nicht dazugehört. Es bleibt nur das übrig, was heilig und gerecht ist und so, wie Gott es haben will. Dann haben wir den Endpunkt erreicht.

Hier auf der Erde ist das eine Illusion. Jeder, der euch etwas anderes verspricht, ist ein Bauernfänger. Hier auf der Erde gibt es das nicht. Wir werden unser Leben lang mit der Sünde zu kämpfen haben.

Wir sollen aber nicht resignieren und sagen: „Okay, dann bemühe ich mich gar nicht mehr.“ Nein, wir sollen uns bemühen, aber immer in der Gewissheit, dass die Auseinandersetzung nicht aufhört. Es gibt immer wieder Neues zu lernen.

Das ist vielleicht so frustrierend wie bei manchen Kindern. Die haben den Eindruck: „Jetzt habe ich endlich schreiben und lesen gelernt, jetzt weiß ich alles, was ich brauche.“ Aber dann merken sie, dass das Lernen weitergeht, immer weiter und weiter.

Man lernt und merkt, dass es noch endlos viel zu lernen gibt. Wir sind heute in der Phase, in der wir noch lernen müssen.

Wer beruflich fortbildet, zum Beispiel Mediziner, hat ständig Fortbildungen und liest Zeitschriften. Wer Pilot ist, hat ständig Nachprüfungen. Es mag vielleicht ein paar Jobs geben, bei denen man nicht mehr lernen muss, aber meistens ist das Lernen endlos.

Man ist nie am Ende, wo man sagen kann: „Jetzt habe ich alles, jetzt brauche ich keine Zeitschriften mehr lesen, keine Schulung mehr machen, gar nichts mehr.“

Im geistlichen Leben ist es eben auch so.

Geistliches Wachstum als lebenslanger Prozess

Nun, diese Sache mit dem Saatkorn ist natürlich auch noch ein Gedanke, den ich nur am Rande erwähnen möchte. Jesus hat das ja mal als Beispiel genannt: Das Saatkorn muss in die Erde fallen und sterben, damit etwas Neues daraus wachsen kann.

Hier ist scheinbar auch der Aspekt des Todes mit enthalten. Sonst hätte Jesus nicht gerade das Saatkorn als Beispiel gewählt, das diesen Tod mit einschließt. Den Tod könnten wir auf den Tod Jesu deuten. Das Reich Gottes entsteht durch den Tod Jesu; er ist der Auslöser dafür.

Wenn wir das individualisieren, können wir allerdings auch sagen: Gott kann in uns erst das Reich Gottes begründen, wenn wir selbst beginnen abzusterben. Und das ist ja auch so.

Alle, die getauft worden sind, wurden in den Tod Jesu hineingetauft. Das Bild der Taufe ist ja, dass du sozusagen unter das Wasser gedrückt wirst und dort „ertrinkst“ – der alte Mensch ist tot. Und der, der wieder herauskommt, ist der Neugeborene. Das ist das Zeichen der Wiedergeburt, das Angeld dafür, der Blick auf die Wiedergeburt.

Also ist hier auch mitgemeint: Wenn du ins Reich Gottes kommen willst, dann geht das nicht anders, als dass du erst einmal stirbst mit dem, was du bisher warst.

Das Saatkorn als Symbol für Tod und Neuanfang

Nun möchte ich am Ende dieses Gleichnisses noch kurz auf die vielen Vögel eingehen, die dort nisten. Das wird hier deutlich hervorgehoben: die Vögel des Himmels. Gemeint ist wohl: alle Vögel des Himmels – was natürlich idealisiert ist, denn nicht alle haben Platz. Dennoch wird hier eine Vielzahl dargestellt, und ich glaube, das ist bewusst so gewählt.

Die Frage ist nun: Vielfalt von was? Sicherlich nicht Vielfalt der Religion, aber ich denke, hier steckt auch ein Hinweis auf die Vielfalt der Glaubensbekenntnisse. So, wie Heinz Villersenio es einmal formulierte: Auf der Wiese Gottes blühen viele Blumen. Wir haben Unterschiedlichkeit, und als Christen sollten wir lernen, mit dieser Unterschiedlichkeit zu leben.

Es müssen nicht nur Raben sein, die da sind, oder nur Spatzen, Finken oder Drosseln. Es können ganz unterschiedliche Vögel sein. Ebenso gibt es verschiedene „Vögel“ in der Gemeinde Gottes. Ich meine damit nicht diejenigen, die in Sünde leben, sondern die Unterschiede, die es gibt. Und wir sollten diese Unterschiede bis zu einem gewissen Grad akzeptieren. Denn wir müssen anerkennen, dass auch unsere Erkenntnis, unsere Persönlichkeit und unsere Prägung begrenzt sind.

Ich sage nicht, dass wir alles zulassen müssen. Aber wahrscheinlich neigen einige von uns dazu, eher weniger zuzulassen als mehr. Wenn du zu den ganz toleranten Menschen gehörst, die sagen, alles ist egal, dann kannst du das gerne überhören. Aber wenn du eher der Typ bist, der meint: „Es muss so laufen, wie ich es mir vorstelle. Nur die Mennoniten Brüder Gemeinde ist die wahre Gemeinde Jesu Christi, die Gemeinde Gottes, und nur sie ist die wahre“, dann ist das vielleicht gerade ein Vers für dich.

Denk daran: Das Reich Gottes ist etwas bunter. Letztlich sind die Menschen nicht dir gegenüber verantwortlich, sondern Gott. Und Gott will durchaus Vielfalt. Wir können von dieser Vielfalt lernen.

Wir können zum Beispiel von den Brüdergemeinden lernen, wie sehr sie früher – und vielleicht auch heute noch – die Bibel geliebt haben. Wie jeder seine Bibel mitgenommen hat, sie studierte und das allgemeine Priestertum im Idealfall gelebt wurde. Wir können von den Baptisten lernen, wie sie die Taufe lieben, wie wichtig sie ist und was alles darin steckt. Vielleicht können wir sogar etwas von den Katholiken lernen – auch wenn wir nicht alles von ihnen übernehmen.

Das ist sicherlich ein wichtiger Aspekt. Ein anderer ist, dass wir in dieser Vielfalt auch die Vielzahl der Erfahrungen sehen können, wie Menschen mit Gott leben und ihn kennenlernen. Diese Erfahrungen sind häufig persönlichkeits- und geschichtsgebunden.

Es gibt Menschen, die meinen, dass die Bekehrung bei allen genau gleich ablaufen muss wie bei ihnen selbst. Im Pietismus gab es ein richtiges Bekehrungsschema. Augustin von Frank hat es entwickelt. Eine seiner Aussagen war zum Beispiel: Wer bei der Bekehrung nicht in Tränen ausbricht, dessen Bekehrung ist nicht echt. Denn wer keine Reue über seine Sünde zeigt, hat nicht wirklich Leid empfunden. Wenn du einfach nur sagst: „Ich habe gesündigt“, dann ist das nicht ernst genug.

Das ganze Schema verlangte auch eine genaue Angabe von Tag und Stunde der Bekehrung. Eine längere Phase war nicht vorgesehen. Du musst wissen, wann du bekehrt wurdest. In der pietistischen Tradition sagen manche das bis heute noch. Wenn du das nicht angeben kannst, bist du kein Christ.

Ich glaube zwar, dass es gut ist, wenn es eine Bekehrung gegeben hat. Aber nirgends in der Bibel steht, dass du das Datum in deinen Pass eintragen oder am Himmelstor vorweisen musst. Du musst wissen, dass die Bekehrung stattgefunden hat.

Sonst wären zum Beispiel viele Afrikaner sehr frustriert, denn viele wissen ihr genaues Geburtsdatum nicht. Stell dir vor, man würde sagen: „Dich gibt es nicht, weil du dein Geburtsdatum nicht kennst.“ Das Wichtigste ist doch, dass du geboren bist, nicht dass das Datum irgendwo im Pass steht.

Ich habe mit Afrikanern gesprochen, die ungefähr geschätzt haben, wie alt sie sind. Dann durften sie sich ein Datum aussuchen, das im Pass eingetragen wurde. Einfach, weil es an ihrem Geburtsort kein Standesamt gab. Erst Jahre später dachte man, man müsse einen Pass haben.

So ähnlich kann es auch im Reich Gottes sein: Jemand wird geboren, ist sich dessen aber vielleicht gar nicht bewusst. Deshalb sollten wir die Bekehrung nicht zu stark schematisieren. Es ist gut, sich zu bekehren, zweifellos, und das sollten wir alle tun. Aber die Form darf durchaus variieren.

Es gibt auch ehrliche Bekehrungen ohne Tränen. Ich weiß nicht, ob mir das jemand glaubt, aber ich habe mich zum Beispiel ohne großen Tränenfluss bekehrt, und trotzdem war es eine echte Bekehrung. Manche erleben das vielleicht genauso.

Ich hatte damit Schwierigkeiten, weil in meiner Gemeinde immer wieder gewisse Schemata erzählt wurden. Alle berichteten, wie sie sich bekehrt hatten, und ich erwartete, dass es bei mir genauso sein müsste. Mein Frust war, dass es eben nicht so kam.

Das liegt einfach daran, dass manche Menschen sehr schnell zu Tränen gerührt sind. Sie sehen Liebesfilme und brechen in Tränen aus. Dass bei der Bekehrung Tränen fließen, ist naheliegend – und soll so sein. Aber es gibt auch andere Menschen, die nicht so schnell am Wasser gebaut sind. Die müssen sich keine Tränen abpressen, damit ihre Bekehrung ins richtige Schema passt.

Es gibt unterschiedliche Erfahrungen. Manche Charismatiker sagen: „Ich habe Gott erfahren, und es ist super, Halleluja!“ Für manche ist das gut. Andere denken dann vielleicht: „Was machst du da für ein Zeug?“ und kommen wieder auf den Boden zurück.

Der eine ist nicht schlechter als der andere. In der Gemeinde braucht es eigentlich beides. Die Charismatiker sollten sich nicht isolieren, sonst werden sie zu sehr zu Halleluja-Typen. Und die eher gemäßigten sollten sich ebenfalls nicht isolieren, sonst wird der Gottesdienst langweilig.

Alle sagen: „Ja, das ist die Wahrheit, und wir wissen das.“ Das stimmt auch. Aber besser ist es, wenn alle mal Halleluja sagen, und dann kommen andere wieder auf den Boden zurück und sagen: „Hey, so ist das auch nicht.“ So können sie sich ergänzen.

Und genau das passiert in diesem Baum. In diesem Baum sind die unterschiedlichen Vögel zusammen. Der eine stört mal den anderen, ergänzt ihn dabei und so entsteht Vielfalt von Erfahrungen.

Also, hier schon mal Halleluja – vielen Dank!

Vielfalt und Unterschiedlichkeit im Reich Gottes

Dann gibt es auch eine Vielzahl von Menschen. Auch in unseren Gemeinden müssen wir darauf achten, dass das Reich Gottes nicht nur für gesunde, reiche Mittelstandsmenschen in Deutschland da ist. Leider entwickeln sich viele Gemeinden genau in diese Richtung. Das ist ganz typisch.

Viele Gemeinden haben eine Scheu, zum Beispiel vor einfacher Arbeiterschicht. Das sagen sie zwar nie offen, aber sie wissen oft gar nicht, was sie mit diesen Menschen anfangen sollen. Da trifft man mal so einen Typen, der irgendwie einen zotigen Witz macht und die Bildzeitung liest. Dann denkt man: Was macht der denn? Das ist doch keine Bildung, keine Vernunft, der kennt ja nicht mal Van Gogh oder so. Ich übertreibe jetzt bewusst, aber häufig gibt es tatsächlich so eine bestimmte Schicht, die in der Gemeinde stark vertreten ist.

Die richtigen Intellektuellen sind in der Gemeinde meistens auch nicht zu finden, weil manche nicht zu viel Denken oder zu hohe Bildung schätzen. Denn niedrig sind diejenigen, die im Reich Gottes sind. Ja, ich meine, studieren darf man schon, aber studieren heißt ja nicht, dass man intellektuell ist. Das ist noch ein großer Unterschied.

Auch Künstlertypen sind in der Gemeinde meistens schlecht angesehen, weil sie nicht in ein bestimmtes Schema passen. Wenn jemand ausgefallen gekleidet ist oder seine Wohnung nicht nach mitteleuropäischen Maßstäben eingerichtet hat, dann muss er erst mal noch Heiligung lernen. So schränken wir uns selbst ein und verbauen uns die Wege zu anderen.

Wir müssen damit rechnen, dass es, wie in der Urgemeinde, auch heute einfache Arbeiter in der Gemeinde geben kann und soll. Predigten sollen nicht nur intellektuell sein. Man muss nicht einem bestimmten Ziel nachjagen, wenn man Christ wird. Da besteht häufig eine Gefahr. Auch hier müssen wir sehen: Es ist viel weiter.

In der ersten Gemeinde und im Reich Gottes sind Arme und Reiche, Hässliche und Schöne, Berühmte und Unbedeutende vertreten. Das sollten wir auch in unserer Gemeinde haben. Dafür müssen wir uns bemühen, ein bisschen auf andere einzugehen. Das ist unheimlich schwer.

Ihr werdet sehen: Wahrscheinlich ist ein Großteil von euch Mittelstandsbürger. Ein kleines Häuschen, zumindest irgendwo draußen im Grünen, die Familie geht es gut, man hat einen festen Job, die Kinder machen es einigermaßen gut – mindestens Abitur, sozusagen als Ideal. In manchen Gemeinden muss man sich schon rechtfertigen, wenn die Kinder kein Abitur machen, weil das ja als selbstverständlich gilt – mindestens Abitur und studieren.

Ist ein Mensch keiner, wenn er nur Hauptschule hat? Kann jemand in der Gemeinde ein Nachfolger sein, wenn er zum Beispiel Müllkutscher ist? Klar! Aber häufig spürt man, dass das irgendwie anders gesehen wird. Keiner würde das so ausdrücken, aber es ist oft so.

Und das ist, glaube ich, auch das, was wir hier sehen: Es ist bunt, es ist vielfältig und es soll auch so sein.

Die soziale und kulturelle Vielfalt im Reich Gottes

Nun, unsere Zeit ist jetzt fast abgelaufen, aber ich möchte noch ein paar Minuten auf den zweiten Teil dieses Gleichnisses verwenden. Dort heißt es nämlich wieder: „Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen?“ Es ist einem Sauerteig ähnlich, den eine Frau genommen und unter drei Maß Mehl verborgen hat, bis sich alles ganz durchsäuert hat.

Dieses „und wieder, was soll ich dem Reich Gottes vergleichen?“ muss ich nicht extra erklären. Ich sage ja, das ist eine rhetorische Frage, die den Lehrcharakter noch einmal betonen soll. Die Leute sollen aufmerksam zuhören. Wie ist das? Ah, so ist das. Das ist der Hintergrund, keine reale Frage.

Nun, es gibt ja Sauerteig und Hefe. Den Frauen brauche ich das nicht zu erzählen, die kennen das alles. Normalerweise nimmt man Sauerteig eher für Brot, manchmal auch Hefe. Hefe hatte man früher nicht so einfach, das sind ja solche kleinen Pilze, mikroskopisch klein, die sich durch Sprossung verbreiten und dann das ganze Teigvolumen aufgehen lassen.

Sauerteig ist mehr etwas, das durch den Kontakt mit der Luft fermentiert. Man nimmt meistens ein altes Stück Sauerteig, gibt es in einen neuen Teig – beziehungsweise in Mehl mit etwas Wasser – und mit der Zeit geht das ganz durch. Es entsteht eine Säuerung, die den Teig aufbläht. Dadurch erhält man kein kompaktes Brot, sondern ein lockeres Brot, im Idealfall.

Das Gleichnis vom Sauerteig: Ein Bild der Veränderung

Was wir hier für ein kleines Problem haben, ist, dass in Israel Sauerteig normalerweise immer als negativ angesehen wurde. Sauerteig wird ja auch von den Pharisäern als etwas Negatives betrachtet. Sie sagen, dass sie wie ein Sauerteig sind und alles negativ beeinflussen.

Interessant ist auch, dass im Alten Testament häufig gefordert wird, bei besonders heiligen Festen nichts Gesäuertes zu essen. Vor dem Passa musste die ganze Wohnung ausgefegt werden, damit kein Krümelchen Sauerteig mehr übrig blieb. Beim Passa und während der Feier der ungesäuerten Brote sollte man diese Matzen ungesäuert essen. Das heißt, eigentlich galt das Ungesäuerte im Judentum als rein.

Warum ist das so? Die Juden gingen davon aus, dass Sauerteig die Substanz verändert. Etwas, das die Substanz verändert, gilt als unrein. Im Alten Testament wird auch der Aussatz beschrieben, der sogar Häuser befallen kann. Wenn ein Pilz an einer Hauswand wächst und sich verändert, ist das falsch. Ein Stoff soll rein bleiben. Das war für die Juden sehr wichtig, weshalb sie auch Milch und Fleisch voneinander trennten und solche Regeln befolgten.

Deshalb galt Sauerteig als etwas Anrüchiges. Nicht nur, weil er riecht, sondern weil er das Mehl verändert, das vorher rein war. Deshalb wurde Sauerteig negativ gesehen.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Wenn Jesus das Reich Gottes mit etwas Negativem vergleicht, was will er damit sagen? Ich glaube, wir müssen uns vor Augen halten, dass Jesus dieses Gleichnis bewusst wählt, damit die Leute richtig aufmerksam zuhören. So nach dem Motto: „Das kann doch nicht sein!“ Er will sie herausfordern und provozieren.

Ich habe ja auch schon vorher gesagt: Warum heilt Jesus eigentlich so oft am Sabbat? Er hätte doch genauso gut am nächsten Tag warten können. Ich glaube, manchmal streut Jesus ein bisschen Salz in die Wunde, um die Leute zum Nachdenken zu bringen. Manche Menschen denken erst richtig nach, wenn es einen Schock gibt.

Vielleicht merkt man das auch in der Predigt. Wenn eine Predigt so läuft, dass alles bekannt und altbekannt ist, hört man oft nur halb zu. Aber wenn der Pastor plötzlich etwas sagt, das man nicht erwartet, denkt man: „Das kann doch gar nicht sein!“ Und dann hört man ganz aufmerksam zu.

Ich glaube, genau deshalb wählt Jesus dieses Bild vom Sauerteig. Sauerteig an sich ist nicht negativ, sondern nur die Interpretation im Zusammenhang mit dem Festkalender Israels. Die Juden aßen normalerweise gesäuertes Brot jeden Tag. Es war also nicht generell schlecht oder verunreinigt. Nur an besonderen Tagen wurde der Sauerteig ausgekehrt.

Ich habe den Eindruck, Jesus benutzt das bewusst, um die Leute durch seine unkonventionellen Beispiele und seine Pädagogik mehr zum Nachdenken zu bringen. Er will sie vielleicht ein bisschen herausfordern und provozieren – genauso wie er es vorher mit den Vögeln getan hat.

Vögel waren für die Juden klar die Heiden. „Was machen die Heiden im Reich Gottes? Das geht doch nicht!“ Im Lukasevangelium finden wir das ganz häufig. Dort sagt Jesus zum Beispiel zum Hauptmann von Kapernaum: „Ich wünschte, ich hätte solchen Glauben in Israel gefunden wie bei diesen Heiden.“ Immer wieder zieht Jesus Vergleiche mit den Heiden und hebt sie dabei positiv hervor.

Die provokante Wahl des Sauerteigs als Gleichnisbild

Eine kurze Erwähnung dazu: Wie viel haben wir denn da eigentlich vor uns? Man kann davon ausgehen, dass diese Maßeinheit, wenn hier von dem Maß die Rede ist, nicht einfach ein halber Zentner Mehl bedeutet. Nein, ursprünglich steht hier "drei Maß". Warum hat Luther das nicht übersetzt? Drei Maß heißt es eigentlich, und das griechische Wort, das hier als "Maß" steht, meint etwa dreizehn Liter.

Oder anders gerechnet: Acht Kilo mal drei, dreizehn Liter mal drei – dann sind wir ungefähr bei vierzig Litern. Bei den Kilo sind es acht Kilo mal drei, also vierundzwanzig Kilo. Damals ging man davon aus, dass von diesen vierundzwanzig Kilo etwa hundert Personen gegessen haben.

Bitte? Ah, dann hat Luther doch recht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich schon in einer Generation bin, in der man mit Zentnern nicht mehr viel anfangen kann und deshalb lieber mit Kilos rechnet. Also, wer mit Kilos oder Zentnern rechnen will: Habe ich da etwas Falsches gesagt? Wirklich? Ach so, das hätte ich jetzt nicht erwähnen sollen. Ja, okay.

Ich weiß, es gibt auch noch Doppelzentner und so etwas. Also gut, jetzt wissen wir wieder: Ein Zentner sind fünfzig Kilo. Das heißt, hier ist ein halber Zentner gemeint, also ungefähr 25 Kilo. So viel Brot war das ungefähr in der damaligen Zeit. Davon haben etwa hundert Personen gegessen. Manche sagen auch 120 oder 130. Natürlich haben sie nicht nur Brot gegessen, sondern auch noch andere Speisen dazu.

Das wäre also die Menge Brot. Das heißt, hier ist schon derselbe Ausdruck gemeint. Es geht nicht um ein kleines Brot für die Familie, sondern um das Brot, das für ein Fest, für viele Leute gebacken wird. Hier sehen wir auch wieder den Vergleich: Da ist die kleine Handvoll Sauerteig, und daraus entsteht die große Menge Brot.

Natürlich wurde das Brot damals nicht industriell hergestellt, das gab es ja damals nicht. Das größte, was man damals hatte, wenn man für eine große Gesellschaft backte, war eben diese Menge. Auch hier dasselbe Beispiel: Aus wenig Sauerteig entsteht viel Brot, das durchsäuert wird.

Das Wort, das hier für "verborgen" verwendet wird, heißt "krypto". Ich habe das schon vor ein paar Tagen erwähnt. Später kommt noch "Krypsis" oder eben das Verborgene, das Versteckte. So wie man das Licht nicht verstecken sollte – ihr erinnert euch an das Gleichnis – so wird hier der Sauerteig versteckt.

Dadurch wird noch mehr zum Ausdruck gebracht, dass der Sauerteig unsichtbar wirkt. Man sieht ihn nicht direkt. Das ist für das Reich Gottes sehr wichtig, denn wenn wir heute das Reich Gottes betrachten, sehen wir nicht immer das Handeln Gottes. Es gibt nicht immer große Wunder, nicht plötzlich Jesus, der leibhaftig am Himmel erscheint und uns etwas sagt.

Vielmehr geschieht es oft im Stillen, Heimlichen, im Hintergrund. Das soll hier ausgedrückt werden: Der große Sauerteig kommt zack in das Mehl hinein, und kein Mensch sieht mehr, was da eigentlich stattfindet. Dieses große Brot wird durch dieses kleine bisschen Sauerteig ganz durchdrungen. Das ist hier positiv gemeint.

Brot kannte natürlich jeder, deshalb war dieses Beispiel im Alltag durchaus präsent.

Die unsichtbare und umfassende Wirkung des Reiches Gottes

Nun, wie können wir das für unsere Gegenwart deuten?

Ich glaube, wir können sagen: Das Himmelreich entsteht aus den kleinsten Anfängen, auch kirchengeschichtlich betrachtet. Wenn wir heute ein Buch über Kirchengeschichte lesen, haben wir meist schon die große Kirche im Kopf. Doch diese gab es damals noch nicht. Besonders dieser Aspekt wird gern von Katholiken betont. Sie sagen, das Gleichnis sei eigentlich für die katholische Kirche gedacht. Der große Baum stehe für die katholische Kirche, und natürlich der saure Teil – aber das ist damit nicht gemeint. Hier wird oft vergessen, dass das Reich Gottes größer ist als die katholische Kirche. Das Reich ist also nicht identisch mit ihr.

Was wir aber sagen können: Aus kleinen Anfängen entsteht das Große. Das kann uns herausfordern, in Hingabe zu leben. Es kann uns zeigen, dass wir das Wort Gottes wichtig nehmen sollten. Auch wenn wir als Menschen in der großen Weltgeschichte unscheinbar erscheinen, können wir unseren Beitrag zum Erreichen des Reiches Gottes leisten.

Ich denke, das soll uns ermutigen: Halte dich nicht für zu wenig, um deinen Platz im Reich Gottes einzunehmen. Aus dem Kleinen – dem Senfkorn, dem kleinen bisschen Sauerteig – wird viel erreicht, und das oft sogar unsichtbar. Du siehst es selbst nicht einmal, sondern wirst es meist erst in der Herrlichkeit erkennen können, wie Gott durch dich gewirkt hat – wenn du bereit dafür bist.

Ermutigung zum geduldigen geistlichen Wachstum

Das bedeutet aber auch, dass du natürlich mit kleinen Anfängen beginnen musst. Wenn du den Eindruck hast, dein geistliches Leben läuft nicht so richtig, und jetzt willst du das revolutionieren, indem du dir hier in Brake die Entscheidung stellst: „Jetzt wird alles anders! Ich werde jeden Tag fünf Stunden beten, drei Stunden Bibel lesen, meinen Nachbarn helfen und mindestens zwei Leute jede Woche zum Glauben führen“, dann kann ich dir jetzt schon garantieren, dass du nach ein paar Wochen frustriert das Handtuch werfen wirst.

Deshalb gilt auch hier: Denkt daran, dass Wachstum im geistlichen Bereich nicht durch eine Powersegnung entsteht, bei der dir jemand ein bisschen Öl über den Kopf gießt und du plötzlich sprudelst, ein total anderer Mensch bist. Geistliches Wachstum im Leben eines Christen ist etwas, das langsam und kontinuierlich wächst. Aber wir müssen daran arbeiten.

Echt? Genauso wie der Sauerteig, der arbeitet ja auch nicht von selbst. Das ist der Heilige Geist in uns, könnte man sagen, aber wir müssen uns ihm zur Verfügung stellen. Es muss Berührungspunkte geben. Das ist ein wichtiger Punkt.

Der andere ist, dass das Himmelreich weitgehend unbemerkt wirkt. Es gibt nämlich auch bei uns in der Gesellschaft viele Leute, die das nicht wahrhaben wollen. Eigentlich ist unsere ganze westliche Gesellschaft vom Evangelium durchdrungen – selbst bei den Leuten, die ungläubig sind. Wenn ihr mal genau hinschaut: Unsere ganze Rechtsprechung ist auf biblischen Prinzipien aufgebaut. Unsere Kunstgeschichte, die Geschichte des Abendlandes, ist von biblischen Prinzipien bestimmt. Unsere Musikgeschichte ist von biblischen Prinzipien geprägt, ebenso unsere Familienvorstellungen, auch wenn diese gerade abgebaut werden. Unser Bildungsideal und die Idee der Demokratie, dass alle Menschen gleich sind, weil sie gleich vor Gott sind – das war sonst nie in der Geschichte so.

Selbst bei den alten Griechen, die man manchmal als Vorbilder nennt, durften nur wenige wählen. Das heißt, hier sind ganz viele Dinge, bei denen wir sagen können: Das Reich Gottes durchdringt auch Menschen, selbst wenn sie nicht Christen werden. Der Gedanke, das Leben und das Alltagsleben verändert sich dadurch. Auch da können wir etwas beitragen.

Darüber hinaus merken wir gerade bei diesem Sauerteig, dass die Veränderung von innen heraus geschieht. Also nicht, dass jemand von außen kommt und sagt: „Zack, jetzt bist du plötzlich ganz sauerteigartig“, sondern innerlich passiert etwas.

Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich das darauf deute, dass in uns der Heilige Geist lebt und uns Stück für Stück verändert. Wir haben das ja auch beim ersten Gleichnis erlebt. Dort habe ich euch gesagt, dass ein Teil Licht ist, und dann kann das Ganze Licht werden. Wir merken hier, dass es eine Entwicklung gibt: Der Heilige Geist ist in dir, und wenn du Christ bist, hast du den Heiligen Geist eindeutig. Du hast ihn bekommen, als du gläubig wurdest.

Aber er erfüllt vielleicht noch nicht alle Bereiche deines Lebens. Das ist dann die Frage des Wachstums, dieses „Durchsäuern“, könnte man sagen, das alles bestimmt.

Das Letzte, was ich hier noch erwähnen möchte, ist, dass die Macht, die wir brauchen, die Kraft, die wir brauchen, häufig von außen kommt – so wie das Mehl von außen kommt und der Sauerteig von innen wirkt. Also gibt es einmal eine Wirkung von außen und eine von innen.

Lasst uns dabei einfach abschließen.

Abschluss: Die Kraft Gottes im Wachstum des Reiches

Ich hoffe, ihr könnt etwas davon mitnehmen – sowohl aus der Perspektive des Handelns Gottes in der Welt als auch aus der Perspektive, wie Gott in eurer Gemeinde wirkt. Denkt an die Vielfalt, denkt an die Verbindung zu Israel. Denkt daran, dass alles klein beginnt, sowohl in eurem Leben als auch im Handeln Gottes.

Gott will euch dabei gebrauchen. Er möchte diese Vielfalt zum Ausdruck bringen. Denkt daran, dass das Reich Gottes in eurem Leben schon begonnen hat, wenn ihr Christen seid. Gleichzeitig leben wir darauf hin, dass es in der Herrlichkeit seine volle Erfüllung findet. Und wir können ein kleines bisschen dazu beitragen.

Ich bete noch: Herr Jesus, vielen Dank dafür, dass du uns mit diesen Gleichnissen so bildlich vor Augen führst, was in unserem Leben wichtig ist. Vielen Dank, dass du den Anfang des Reiches Gottes gesetzt hast oder dass du an das anknüpfst, was du schon vorher in Israel getan hast.

Vielen Dank, dass es wächst und dass wir beobachten können, wie weltweit Millionen von Menschen dir nachfolgen. Sie halten dich für die wichtigste Person der Weltgeschichte und wollen sich nach dir und deinem Wort orientieren.

Vielen Dank auch dafür, dass du uns herausgerufen hast aus dem Bereich dieser Welt, aus dem Herrschaftsbereich des Teufels, hinein in deine Welt. Und vielen Dank, dass du uns den Heiligen Geist gegeben hast, der in uns wirkt.

Vielen Dank, dass du uns gezeigt hast: Es kommt nicht nur auf uns an. Du bist derjenige, der pflegt, du bist der Gärtner, der gießt. Du bist derjenige, der den Sauerteig in uns hineingegeben hat, und jetzt kann er sich entwickeln.

Ich möchte dich bitten, dass du uns hilfst, darauf aufmerksam zu werden und uns daran zu freuen. Hilf uns, keine zu großen Erwartungen zu haben, aber wenn möglich günstige Faktoren zu schaffen, damit das Reich Gottes noch mehr wächst und wir noch fruchtbarer werden für dein Reich. So kannst du durch uns wirksam sein.

Hilf uns auch, eine gewisse Offenheit und Toleranz gegenüber Christen zu haben, die anders sind als wir. Gerade diese Vielfalt dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Hilf uns, uns nicht in den Mittelpunkt zu stellen, sondern weise miteinander umzugehen.

Amen.