Einführung in das Gleichnis und Kontextualisierung
Ich lade euch herzlich ein, mit aufzuschlagen. Ich will jetzt ein Gleichnis aus dem Lukasevangelium lesen, Lukas 18, Verse 9 bis 14.
Heute geht es mal um ein Gleichnis, das nicht von einem Gegenstand handelt – wie es gestern der Fall war mit Licht und Finsternis oder den Augen und dem Leib – sondern um zwei Personen, die einander gegenübergestellt werden.
Eine dieser Personen könnte eigentlich genau das gesungen haben, was wir gerade gesungen haben. Also: „Ich bin ungerecht“ oder wie war das? „Der Herr ist dennoch bei mir“ – es geht nämlich um den Pharisäer und den Zöllner, die in den Tempel kommen, um dort zu beten. Das ist die Geschichte und wie sie sich verhält.
Ich werde sie erst einmal vorlesen, dann wollen wir schauen, was davor und danach steht, und anschließend einige Gedanken dazu weitergeben.
Also, der Pharisäer und der Zöllner, Lukas 18, Verse 9-14:
„Dann richtete er dieses Gleichnis an gewisse Leute, die von sich selbst überzeugt waren, gerecht zu sein, und die die anderen verachteten. Zwei Menschen stiegen zum Tempel hinauf, um zu beten. Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
Aufrechtstehend betete der Pharisäer bei sich selbst so:
‚O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie der Rest der Menschen, wie die Räuber, Rechtsbrecher, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche, ich gebe den Zehnten von allem, was ich erwirtschafte.‘
Der Zöllner hielt sich auf Distanz und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel richten, sondern er schlug sich an die Brust und sagte:
‚O Gott, sei mir Sünder gnädig!‘
Ich sage euch: Dieser stieg als der, der Recht bekommen hat, wieder hinunter nach Hause, nicht jener. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, aber jeder, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“
Verbindung zu vorherigen und nachfolgenden Texten
So weit – eigentlich eine ganz einfache Angelegenheit. Gibt es hier einen Bezug zum Vorher und Nachher? In gewisser Weise würde ich sagen, ja. Denn Jesus beginnt hier nicht ganz neu zu reden; er spricht vorher nämlich auch schon. Es handelt sich also nicht um ein einzelnes Ereignis, sondern um eine Rede Jesu, die wir am Anfang von Kapitel 18 finden. Dabei geht es um den ungerechten Richter, oder wir könnten auch sagen, um die bittende Witwe.
Was uns auffällt, ist, dass es gewisse Parallelen zwischen diesen beiden Texten gibt. In beiden Fällen geht es um das richtige Gebet. Beim ersten Mal geht es darum, das Gebet nicht aufzugeben, auch wenn das gewünschte Ereignis nicht sofort eintritt. Es geht darum, treu dabeizubleiben. Dabei ist nicht gemeint, dass der Richter nicht hört – genauso wenig wie Gott uns nicht hört. Im Gegenteil, wir wissen, dass Gott unsere Anliegen schon kennt, noch ehe wir sie aussprechen. Es geht hier vielmehr um das Pädagogische, also um die Wirkung dessen, der die Bitten immer wieder vorträgt – also ums Gebet selbst.
Und auch im zweiten Fall spielt das Gebet eine Rolle. Dort sind Pharisäer und Zöllner im Tempel. Direkt danach sehen wir die kleinen Kinder, die zu Jesus gebracht werden. Jesus sagt: „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht“ (Markus 10,16). Ich habe den Eindruck, dass auch das kein Zufall ist, sondern ebenfalls einen Bezug herstellt.
Denn in dem Gleichnis, das wir vorher lesen, gibt es auch jemanden, der von allen anderen verachtet wird – denjenigen, dem man am liebsten den Zugang zu Gott verwehren möchte. Das ist der Zöllner. Der Pharisäer entspricht demjenigen, den wir alle erwarten würden.
Ich glaube also, die Verbindung zum ersten Teil, zum Vorherstehenden, ist das gemeinsame Thema des Gebets: Wie stehen wir richtig vor Gott im Gebet? Das Thema des zweiten Teils, also des Nachher, ist die Frage, ob wir nach unseren eigenen Maßstäben Menschen vom Zugang zu Gott ausschließen wollen. Das ist die Gefahr, die darin besteht, dass wir einteilen, wer zu Gott kommen darf und wer nicht.
Ähnlich geschieht es bei den Kindern, die die Jünger und andere von Jesus fernhalten wollen. Jesus sagt jedoch: „Wehret ihnen nicht, lasst sie zu mir kommen.“ Insofern glaube ich, dass ein gewisser Bezug zwischen den Teilen besteht.
Vergleich mit anderen biblischen Texten und Figuren
Wenn wir uns die beiden Personen anschauen, die hier eine Rolle spielen – den Pharisäer und den Zöllner –, erinnert uns das auch an andere Aussagen Jesu, die wir im Lukasevangelium finden. Zum Beispiel an Lukas 10,38, wo es um das Verhältnis zwischen Maria und Martha geht. Das scheint ähnlich zu sein.
Da ist der eine, der sich auf seine großen Taten beruft: „Ich bin ja der Vorbildliche, der alles Mögliche erledigt“, nämlich Martha, die tatsächlich viel tut. Auf der anderen Seite steht Maria, die wir vielleicht zunächst als faul ansehen. Doch später zeigt sich, dass Maria das gute Teil erwählt hat. Das ist keine Rechtfertigung für Faulheit – das sollte nicht falsch verstanden werden –, sondern es zeigt, dass die Rollen zunächst verteilt scheinen, sich im Angesicht Jesu aber anders darstellen, als wir es vorher gedacht haben.
Wenn wir Maria und Martha in unserer Gemeinde als Mitarbeiter hätten – der eine sitzt immer nur da, der andere arbeitet viel –, würden wir wahrscheinlich zuerst sagen, dass derjenige im Vordergrund steht, der viel tut. Und bei Zöllner und Pharisäer würden wir wohl sagen: „Der Pharisäer, wie toll und fromm ist der!“ Viele von uns sind allerdings schon misstrauisch, weil sie schon lange Christen sind und wissen, dass die Pharisäer in der Bibel oft negativ dargestellt werden. Wenn wir den Pharisäer aber erst im Alter kennenlernen würden, wäre er wahrscheinlich ein sympathischer, frommer Mann, der viel von Gott redet und so handelt. Sofern man ihm nicht zu nahe kommt, denn dann merkt man seinen schwierigen Lebensstil.
Das erinnert mich auch an Lukas 10,30 und folgende, wo die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt wird. Das scheint ähnlich zu sein. Da fällt ein Mann unter Räuber. Ein Priester und ein Levit kommen vorbei, und wir denken, die werden doch das Richtige tun. Aber sie tun es nicht. Dann kommt der Samariter, von dem wir wissen, dass er eigentlich nicht der Fromme ist. Er wird von den Juden oft verachtet, weil er ein Halbjude ist. Doch er tut das, was Gott will.
Wir sehen also, dass Lukas mehrfach aus den Predigten Jesu auswählt, um uns zu zeigen: Schau nicht nur auf das, was äußerlich sichtbar ist, sondern schau auf das Herz. Gott hat andere Maßstäbe als die, die uns plausibel erscheinen. Oder wir können es auch so sehen: Tu nicht zu fromm, sondern achte darauf, was in deinem geistlichen Leben wirklich wichtig ist. Diese Unterscheidung zwischen äußerer Frömmigkeit und dem innerlichen geistlichen Zustand spielt immer eine Rolle.
Das fordert uns alle heraus. Es geht nicht darum, dass wir heute Abend um uns schauen und sagen: „Wo ist denn der Pharisäer?“ Vielmehr geht es darum: Bin ich es vielleicht? Oder du? Wo habe ich Züge, die der Pharisäer hat? Und wo vielleicht Züge des Zöllners? Dabei geht es nicht darum, dass wir uns jetzt gehen lassen und sagen: „Hauptsache, ich wirke nicht zu fromm.“ Dann werden wir vielleicht ausfällig und pampig zu allen, damit niemand denkt, ich sei ein Pharisäer oder Priester. Nein, darum geht es nicht.
Es geht vielmehr darum, ob wir in unserem Leben und Alltag fromm und gut leben. Niemand hat etwas dagegen, wenn der Pharisäer, wie er hier genannt wird, den Zehnten gibt. Das ist gut. Dass er fastet, ist auch gut – wenn auch unter wenigen Bedingungen. Das ist dann das Problem, und das müssen wir noch etwas näher betrachten.
Zielgruppe und Intention Jesu mit dem Gleichnis
Auch bei Lukas finden sich Parallelen, und zwar etwas früher im Evangelium. Was wir hier sehen, ist, dass Jesus eine Antwort gibt – oder wir könnten sagen, dass er sich direkt an Menschen wendet. Ganz zu Beginn wird uns nämlich gesagt, dass Jesus dieses Gleichnis an gewisse Leute richtete. Das bedeutet, er hat das nicht einfach nur so freierzählt, sondern hatte ein bestimmtes Publikum im Blick, das uns allerdings nicht direkt genannt wird.
Jesus ist bereit, mit seinen Gegnern zu sprechen. Ich habe den Eindruck, dass er sich in erster Linie hier an die Pharisäer wendet. Woher kommt dieser Eindruck? In den beiden Kapiteln davor werden die Pharisäer zweimal erwähnt, nämlich in Lukas 16,14 und Lukas 17,20. Dort sind sie als Zuhörer Jesu anwesend. Jesus wählt den Pharisäer hier wahrscheinlich nicht zufällig aus, sondern bewusst, um sich an jene Leute zu wenden – wie es dort etwas verklausuliert heißt. Irgendwie soll uns zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um ein ganz konkretes Publikum handelt, ohne dieses Publikum genau zu benennen.
An dieser Stelle beginnt ein gewisser neuer Abschnitt. Das erkennen wir daran, dass Jesus zunächst scheinbar zum großen Publikum sprach, etwa mit dem Gleichnis von der bittenden Witwe. Jetzt wendet er sich an eine kleinere Auswahl der Anwesenden und will ihnen etwas vor Augen führen. Dabei hat er offenbar vor allem die Selbstgerechtigkeit im Blick. Selbstgerecht sind vor allem diejenigen, die fromm sind – entweder von klein auf oder schon lange. Das waren damals die, die sich zur religiösen Elite Israels zählten. Heute sind es diejenigen, die fest zu einer christlichen Gemeinde gehören oder sich zugehörig fühlen.
Es ist durchaus gut, gut zu sein. Das Problem entsteht jedoch, wenn man sich zu sehr auf seine eigene Gerechtigkeit etwas einbildet. Das scheint Jesus hier sagen zu wollen. Es ist die Sünde des geistlichen Stolzes. Dabei wendet sich Jesus mit keinem Wort gegen das, was der Pharisäer tut. Das wird nicht in Frage gestellt. Auch das Fasten wird nicht kritisiert. Es geht vielmehr um Menschen, die in Bezug auf sich selbst überzeugt sind.
Wenn ich den ersten Vers lese, dann heißt es, dass Jesus dieses Gleichnis an gewisse Leute richtete, die von sich selbst überzeugt waren, gerecht zu sein, und die die anderen verachteten. Das eine Problem ist also, dass sie von sich und ihrer Sache überzeugt sind. Hier gibt es keine Unsicherheit mehr. Nicht einmal mehr der Dank gegenüber Gott, der alles ermöglicht hat, ist vorhanden. Stattdessen vertrauen sie vollkommen auf sich selbst.
Es sind Menschen, die nicht nur meinen, vor anderen Menschen gerecht zu sein, sondern sogar vor Gott. Vor anderen Menschen gerecht zu sein, ist ja noch verhältnismäßig einfach, weil andere Menschen nicht immer unsere Motive sehen oder alles, was wir im Leben tun. Aber vor Gott gerecht zu sein – das müsste doch eigentlich diesen Pharisäer und die Menschen, an die Jesus sich wendet, bewusst sein: Gerecht vor Gott zu sein, ist gar nicht möglich.
Wenn diese Pharisäer schon den Römerbrief gekannt hätten, wüssten sie, dass es keinen Gerechten gibt, nicht einmal einen. Das wäre relativ klar. Doch selbst wenn wir solche Verse kennen, heißt das nicht automatisch, dass wir sie auch innerlich verinnerlicht haben. Hier gibt es eine Art Selbstvertrauen, eine Art Arroganz, die sich sogar noch dadurch nährt, dass andere kritisiert werden.
Was wir hier lesen, ist nicht nur, dass sie meinen, gerecht zu sein, sondern gleichzeitig verachten sie die anderen. Das kann ein gefährlicher Nebeneffekt sein, wenn wir zu hoch von uns selbst denken. Und das kann auf ganz verschiedenen Ebenen passieren: andere zu verachten.
Beziehe ich das auf unsere heutige Situation, dann könnten es zum Beispiel die „anderen bösen Ungläubigen“ sein. Ich fühle mich richtig gut, weil ich nicht so böse bin wie alle anderen um mich herum. Tatsächlich gibt es manche Christen, die ihr gesamtes Selbstbewusstsein nur darauf aufbauen, dass sie eben nicht so sind wie die anderen Ungläubigen. Vielleicht gehe ich nicht auf Schützenfest, ich betrinke mich nicht, ich scheide mich nicht, ich lüge nicht so viel, was weiß ich.
Ehrlich gesagt müssen wir das schon etwas einschränken, sonst wäre die Heuchelei noch größer. Und darauf baue ich mein Selbstverständnis auf: Das bin ich, das ist meine Frömmigkeit. Dagegen wendet sich Jesus ganz stark. Deshalb müssen wir uns immer wieder selbst überprüfen.
Manchmal kann es auch sein, dass wir unsere Frömmigkeit im Vergleich zu anderen Christen aufbauen. Wir schauen herab auf andere Christen, die ja eigentlich gar keine echten Christen sind, weil nur die Mitglieder der Brüdergemeinde wahre Christen seien. Alle anderen hätten ja noch nicht begriffen, dass der Heilige Geist im Gottesdienst führt und dass man keinen Pfarrer braucht.
Oder ich könnte auch sagen, die einzig wahren Christen sind die Mitglieder der evangelischen Landeskirche, weil sie begriffen haben, dass die Taufe rein aus Gnade geschieht und nichts mit den Werken des Menschen oder seiner Bekehrung zu tun hat. Weil nur bei dieser Kirche die Vollzahl der Sakramente zu finden sei, und so weiter.
Oder wir könnten sagen, allein die Baptisten sind die wahren Christen, weil nur sie wissen, wie wichtig die Taufe ist, und so weiter. Letztlich ist es egal. Es ist die Gefahr jeder christlichen Gruppe, dass sie von sich denkt, sie sei der Nabel der Welt, Gott ganz besonders nah, und alle anderen stünden darunter.
Manchmal genügt schon dieses Selbstbewusstsein, um nichts mehr tun zu müssen. Im Alltag brauchen wir uns nicht mehr anzustrengen. Nur weil wir auf die anderen schauen und sehen, wie schlecht sie sind, fühlen wir uns schon richtig gut.
Ihr wisst, wie das läuft: Nach jeder Wahl ist es genauso. Im ersten Jahr nach einer Wahl zieht die neu gewählte Partei ihre Stärke daraus, dass sie die Vorgänger niedermacht. Denn sie können ja nichts dafür, dass die Arbeitslosenzahl steigt oder sinkt – je nachdem liegt das an den Vorgängern. Steigen die Arbeitslosenzahlen, dann natürlich an den Vorgängern, sinken sie, dann nicht. Wenn die Steuern nicht sprudeln, dann liegt es an den Vorgängern, wenn sie steigen, dann natürlich an uns.
Es ist genau dasselbe: Man profiliert sich dadurch, dass man die anderen niedermacht. Und als Christen können wir manchmal genauso fallen.
Es gibt Christen, mit denen ich wirklich gerne zusammenarbeite, die aber fast immer nur den Blick auf das Schlechte in der Welt und auch im christlichen Bereich haben. Wenn ich ihre Zeitschriften oder Rundbriefe lese, geht es immer darum, was alles schief läuft und kaputtgeht. Die Welt sei kurz vor dem Untergang, die Christenheit kurz vor dem Abfall. Egal, was passiert, sie sind die Einzigen, die noch treu sind.
Ich sage das nicht, um diese Menschen als „böse“ zu brandmarken. Nein, das sind meine lieben Geschwister, die ich namentlich nennen könnte, aber nicht nenne, weil ich sie nicht fertig machen will und weil ich sie wirklich gerne habe und mit ihnen zusammenarbeite.
Aber das ist ein Schwachpunkt. Das heißt nicht, dass wir keine Kritik üben sollen – das ganz und gar nicht. Aber wenn sich unser Selbstbewusstsein in der Frömmigkeit darauf gründet, dass wir, wie hier mehrfach gelesen, von uns überzeugt sind, gerecht zu sein, und andere verachten, dann ist das falsch.
Dann ist das, wir könnten sagen, pharisäisch. Dann ist das ungeistlich. Am Ende der Geschichte, die wir hier lesen, müssen wir sogar sagen, dass diese Menschen ein strenges Urteil von Gott zu erwarten haben. Aber das sind wir ja noch nicht.
Hier können wir sagen: Wer im Vertrauen auf seine eigene Gerechtigkeit Unrecht tut, wird aufgrund seiner Ungerechtigkeit verurteilt. Es geht nämlich nicht darum, dass Gott sich nur darüber freut, was wir Gutes getan haben. Wir müssen uns immer wieder bewusst sein, dass wir aufgrund unserer Ungerechtigkeit verurteilt werden.
Nur wenn wir keinen Rest Ungerechtigkeit in unserem Leben hätten, könnten wir mit Stolz vor Gott treten. Das war schon im Alten Testament so, beispielsweise in Hesekiel 33,13. Dort wird genau davor gewarnt, dass damals Leute auftraten, die ihre Frömmigkeit groß an die große Glocke hängten. Gott warnt davor, sie zu verurteilen aufgrund ihrer Ungerechtigkeit.
Wer einen so hohen Anspruch stellt, muss ihm auch genügen. Und wir werden sehr schnell merken: Wir können dem gar nicht genügen. Wir können eigentlich nur von uns sagen – wenn es ganz positiv ist: Ich bemühe mich, ein guter Christ zu sein, ich bemühe mich, bibeltreu zu sein, ich bemühe mich, ehrlich zu sein, und hoffentlich gelingt das häufig.
Wir müssen aber einen realistischen Blick auf uns behalten.
Hier steht auch, dass sie die anderen für nichts hielten, sie verachteten sie. Das Wort, das hier gebraucht wird, ist dasselbe, das wir in Kapitel 23, Vers 11 finden. Dort, wo Jesus vor Herodes steht, heißt es, Herodes achtete Jesus für nichts oder verachtete ihn. Es ist dasselbe Wort, das hier verwendet wird.
Die beiden Betenden im Tempel: Äußere Haltung und innere Einstellung
Kommen wir zum zweiten Vers dieses Gleichnisses, nämlich zum Vers 10. Zwei Menschen stiegen zum Tempel hinauf, um zu beten. Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
Das Hinaufsteigen ist ein beliebter Ausdruck, den wir häufig gerade im Lukasevangelium finden. Dort begegnen uns entweder „hinauf“ oder „hinab“. Zum Beispiel steigt ein Mann von Jerusalem hinab nach Jericho, oder Jesus steigt hinauf nach Jerusalem. Dieses Hinaufgehen ist natürlich einerseits rein örtlich gemeint, weil Jerusalem im jüdischen Bergland liegt.
Ich glaube aber, es ist noch mehr gemeint, denn hier steht „hinauf zum Tempel“. Sicherlich ist damit der Tempelberg gemeint. Wir wissen ja auch, dass es dort verschobene Stufen gibt, auf denen Stufenzählerlieder gesungen wurden. Das könnte damit gemeint sein.
Ich denke aber, das ist auch in gewisser Weise übertragen gemeint. Denn das Gehen zum Tempel heißt auch, sich Gott zu nähern. Nach alttestamentlicher Vorstellung wohnte Gott im Tempel, und davon gingen die Juden aus. Sie verlassen hier ihren Alltag, um sich Gott zu nähern. Deshalb heißt es „sie gehen hinauf zum Tempel“ – nicht nur örtlich, sondern auch im übertragenen Sinn. Das soll hier zum Ausdruck gebracht werden.
Hier wird uns zunächst eine gewisse Parallelität vor Augen geführt. Äußerlich wirken diese Menschen einander ähnlich. Es ist nicht so, dass der eine fromm ist und zum Gottesdienst geht, während der andere nicht hingeht. Sondern hier ist es sogar so, dass beide zum Gottesdienst gehen. Modern gesprochen: Beide gehen zum Tempel und wollen dort anbeten. Das ist relativ ähnlich.
Wir wissen nicht genau, wo sie sich aufhalten, aber wir wissen, dass das Allerheiligste nur den Priestern zugänglich war – und das auch nur einmal im Jahr. Ringsherum gab es den Vorhof der Priester, den Vorhof der Männer, der Frauen und der Heiden. Irgendwo in diesen Vorhöfen halten sich die beiden auf.
Was wir hier gleichzeitig sehen, ist, dass sie sich in einer Öffentlichkeit befinden. Wir dürfen den Tempel nicht mit der Gemeinde von heute verwechseln. Die Parallelen gehen zu weit. Damals war der Tempel ein Ort, an dem man lebte, feierte und handelte.
Wir sehen das ja: Jesus vertreibt die Händler, Opfer werden gebracht, Eltern kommen mit ihren kleinen Babys, die schreien, um sie segnen zu lassen. Frauen vollziehen Waschungen in der Mikwe und Ähnliches. Im Tempel ist viel los, viele Menschen sind dort. Das müssen wir auch für die Art der Frömmigkeit berücksichtigen, die uns hier begegnet.
Es geht also nicht nur um ein stilles, heimliches Gebet irgendwo im stillen Kämmerlein oder in der Gemeinde. Hier ist das Gebet und die Annäherung an Gott in der großen Öffentlichkeit gemeint.
Wahrscheinlich befinden sie sich im Vorhof der Männer, also relativ nah am Allerheiligsten. Interessant ist, dass die Begegnung mit Gott im Tempel, vor der Öffentlichkeit, in gewisser Weise mit dem Privatleben verglichen wird.
Der Pharisäer scheint kein Privatleben zu haben, denn das wird nicht erwähnt. Beim Zöllner wird es jedoch erwähnt: Es heißt später, er ging nach Hause – wörtlich: „er ging in sein Haus und war gerechtfertigt“.
Das ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass wir unsere Frömmigkeit in der Öffentlichkeit leichter leben und profilieren können, besonders wenn sie heuchlerisch ist, als wenn es darum geht, zuhause gerechtfertigt zu sein. Das ist ein großer Unterschied.
Deshalb wird hier darauf hingewiesen, dass der Zöllner zuhause gerechtfertigt war. Vielleicht war er in der Öffentlichkeit im Tempel nicht die große Nummer – das war der Pharisäer. Was beim Pharisäer wirklich echt ist, wird hier ausgeklammert und scheint keine Rolle zu spielen. Die Gerechtigkeit des Zöllners wird ihm dagegen am Ende des Gleichnisses attestiert.
Auch hier wird also die öffentliche Darstellung mit der privaten verglichen.
Wir wissen außerdem, dass bei den Juden damals allein das Gebet einen sozialen Status ausdrücken konnte. Jesus spricht in der Bergpredigt darüber, dass manche Pharisäer an den Ecken und auf den Plätzen stehen, um laut zu beten und zu zeigen, wie fromm sie sind.
Heute würde man das nicht so machen – zumindest nicht in der breiten Öffentlichkeit. Man könnte es mal ausprobieren: Geht irgendwo in eine Fußgängerzone und betet laut, hebt die Hände und sagt zum Beispiel: „Ja, vielen Dank, dass du mich besser gemacht hast als diese Sünder hier ringsherum, als diesen Händler da und diesen Schwulen dort.“ Mal sehen, wie die Leute reagieren. Ich vermute, dass das zumindest nicht euer Ansehen bei diesen Leuten steigert.
Damals aber, in der frommen jüdischen Umgebung, war das so: Wer so auftrat, wurde als fromm angesehen. Zumal dieser Pharisäer sich durch seine Kleidung und sein Verhalten als Pharisäer zu erkennen gab – als jemand, der es ganz genau nimmt.
Wenn wir das auf heute übertragen, entspricht das vielleicht dem Verhalten, das wir untereinander in der Gemeinde zeigen, wo wir als Fromme miteinander zu tun haben. Da gibt es denselben Effekt: Bestimmte Worte, Verhaltensweisen oder Dinge, von denen alle wissen, dass sie Pluspunkte bringen.
Wenn ich das und das mache, steige ich ein paar Stufen auf und komme irgendwann auf den Ehrenplatz ganz vorne. Das wissen wir. Die Gefahr ist groß, dass wir nur auf die entsprechenden Knöpfe drücken, aber letztlich ist das Ausdruck von Selbstgerechtigkeit, äußerem Schein und geheuchelter Frömmigkeit – nicht echter Frömmigkeit.
Wie sich das ausdrückt, wissen wir alle: durch bestimmte Slogans, Verhaltensweisen oder was man eben nicht tut, wie man schaut und sich bewegt – von der Kleidung bis zu den Worten kann alles festgelegt sein.
Diese ganze Sache ist umso wichtiger, weil wir sehen, dass die Leute eigentlich Gott anbeten wollen.
Übrigens: Wenn wir uns wundern, dass hier der Zöllner zum Tempel geht – das ist gerechtfertigt, denn Zöllner waren nicht gut angesehen – was hat er im Tempel zu suchen? Wird er da nicht ausgelacht? Uns müsste auch ein bisschen erstaunen, dass der Pharisäer im Tempel war.
Das ist vielleicht nicht so naheliegend. Die Pharisäer waren sehr häufig in den Synagogen anzutreffen, im Tempel aber nicht so sehr. Denn zur Zeit Jesu waren die Pharisäer starke Kritiker der Sadduzäer und der Priester.
Die Pharisäer warfen den Priestern vor, mit den Römern zu kollaborieren. Die Hohepriester wurden nämlich unter der Leitung des Prokurators eingesetzt. Deshalb gingen die Pharisäer nicht gerne in den Tempel. Wenn es sein musste, ja, aber sonst nicht.
Die Priester waren natürlich im Tempel, die breite Bevölkerung auch. Die Pharisäer beteten lieber in ihren eigenen Kreisen oder in der Synagoge. Im Tempel gab es Vorwürfe gegen sie.
Wenn Jesus diese beiden Gruppen erwähnt, haben sich seine Zuhörer damals über beide gewundert: Was macht der eine, und was macht der andere da? Der eine war zu wenig fromm, um zum Tempel zu gehen, der andere war zu fromm, um dort zu beten.
Wenn wir das heute vergleichen, wäre es so, als ob jemand in eine große Kirche in Lemgo, zum Beispiel die Nikolai-Kirche, geht. Ein sehr frommer Mensch betet dort, und dann kommt ein Penner dazu. Die einen würden sagen: „Was machst du denn da in der Landeskirche? Die haben doch alles falsch gemacht, da kann man nicht beten.“ Beim anderen würde man sagen: „Du bist viel zu schlecht.“ So ähnlich sind diese beiden auch – wenn auch etwas übertrieben.
Der eine ist zu fromm, der andere zu wenig fromm.
Übrigens: Hier steht „sie stiegen hinauf“. Das ist ein Infinitiv Präsens. Das sagt euch wahrscheinlich nichts, aber die Konsequenz ist folgende: Jesus beschreibt hier ein Verhalten, das regelmäßig stattfand. Es signalisiert eine Gewohnheit, nicht eine einmalige Handlung.
Sie stiegen also regelmäßig oder immer wieder zum Tempel hinauf, um zu beten. So müssen wir das eigentlich übersetzen.
Das soll uns noch mehr vor Augen führen, dass hier kein einmaliger Ausrutscher gemeint ist, wie sie beten, sondern dass das ihrer Lebenswirklichkeit entspricht. Es zeigt ihre Wahrnehmung, wie sie sich vor Gott sehen – nicht als einmalige Sache, sondern als eine, die sich wiederholt.
Die Gebetshaltung des Pharisäers: Selbstinszenierung und Abgrenzung
Vers elf: Aufrecht stehend betete der Pharisäer bei sich selbst: „O Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie der Rest der Menschen bin – wie die Räuber, Rechtsbrecher, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.“
Der Pharisäer wird hier eigentlich nur ganz kurz vorgestellt – wir müssten eigentlich sagen, er wird gar nicht wirklich vorgestellt. Von ihm wissen wir nichts, außer dass er Pharisäer war. Beim Zöllner erfahren wir ein kleines bisschen mehr. Ich habe ja schon erwähnt, dass von seinem Haus die Rede ist, und noch mehr, das werden wir gleich lesen. Es scheint so, als sei der Pharisäer in seiner Frömmigkeit weniger fassbar, er ist nur eine äußere Hülse – so könnten wir fast davon ausgehen.
Dann steht er da, er stellt sich auf, so aufrecht. Das scheint so, als ob er sich jetzt richtig präsentiert. Es ist nicht so, als ob er nur steht – er nimmt eine Pose ein, um jetzt sein Gebet sprechen zu können. Dadurch merken wir noch mehr, wie sehr es ihm darum geht, von seiner Frömmigkeit Nutzen zu ziehen, von denjenigen, die umher sind.
Damals gab es bei den Juden vorgeschriebene Kniebeugen. Man musste sich erst mal beugen, so wie das heute in der katholischen Kirche noch ist, wenn man hineinkommt – erst mal eine Verbeugung, ein Knicks. Das ist aus dem Alten Testament übernommen. Danach beteten die Juden damals normalerweise stehend, insbesondere im Tempel, mit dem Blick nach oben und den Armen zum Himmel gerichtet.
Wir könnten sagen, die Juden der damaligen Zeit und auch die ersten Christen waren die ersten Charismatiker. Jedenfalls war diese Gebetshaltung üblich: Man wollte sich Gott gegenüber ausstrecken, Gott loben und blickte empor – das war das Normale. Und so ähnlich tut es der Pharisäer hier auch, nur etwas übertrieben. Dieses „aufrecht stehend“ wird ja noch ergänzt durch „bei sich selbst“. Das heißt, er spricht bei sich selbst.
Jetzt stellt sich die Frage, wie wir das richtig einordnen. Es klingt fast so, als ob er gar nicht zu Gott spricht, sondern eher ein Selbstlob ausspricht. Er hat Gott gar nicht im Blick, ist sich nicht bewusst, dass er vor Gott steht. Was er sich sagt, ist eher das, was er selbst über sich denkt. In diesem Moment isoliert er sich eigentlich von Gott, weil er bei sich selbst spricht, eben nicht zu Gott. Und er isoliert sich auch von anderen Menschen.
Warum? Er grenzt sich ab: „Gut, dass ich nicht bin wie alle anderen, alle Menschen ringsherum.“ Mit den Menschen habe er nichts zu tun. Und mit Gott? Na ja, der ist irgendwie da, aber eigentlich nur, damit er sich sein Selbstbewusstsein aufbauen kann – damit er weiß, wie gut und toll er ist. Das scheint hier dahinterzustecken.
Außerdem müssen wir davon ausgehen, dass er laut betete, denn leise Gebete waren damals sehr unüblich. Im Normalfall beteten die Menschen in Israel so, dass andere zuhören konnten. Stellen wir uns vor, da ist der Zöllner in der Nähe, etwas entfernt, und der Pharisäer sagt laut: „Gott, danke, dass ich nicht so bin wie dieser Zöllner!“ Dabei schwillt die Brust. Wie muss sich der Zöllner dabei fühlen? Wie der letzte Kerl.
Hier merken wir wieder: Dieses Abgrenzen von anderen, eine falsche Frömmigkeit verbindet uns nicht mit den Menschen, sondern trennt uns von allen anderen – von denen, die sich die Mühe geben, Jesus nachzufolgen, oder von denen, die sowieso in der Welt sind. Wenn wir wissen, wie schlecht sie sind, und es ihnen noch vor den Kopf knallen, werden wir sie bestimmt nicht für Jesus erreichen können.
Ich weiß nicht, ob dieses Gebet dazu geführt hat, dass der Zöllner endlich erkannt hat, wie sehr er Gott braucht. Wahrscheinlich eher nicht. Wenn er das ernst genommen hätte, wäre er depressiv geworden, hätte den Tempel verlassen, vielleicht Selbstmord begangen oder Ähnliches. Und hätte sich vielleicht von mir wissen lassen, Gott nicht, die Pharisäer nicht, die Frommen nicht – keiner will etwas.
Hier zeigt sich die vollkommene Trennung von Gott und auch von den Menschen. Der Pharisäer stellt sich richtig in Positur, inszeniert sich. Die Frömmigkeit dient nur dazu, sich herauszukehren und sich zu inszenieren. In Vers 13 lesen wir, dass er auch auf Distanz zu dem Zöllner ging. Vielleicht ist das hier eine Karikatur pharisäischer Frömmigkeit. Ganz so waren sie wahrscheinlich doch nicht, aber es ist ein Gleichnis und soll eine Aussage überspitzt rüberbringen. Wahrscheinlich waren die Formulierungen nicht ganz so.
Übrigens, durch die Art, wie Lukas hier schreibt, sollen wir noch mehr in die Dramatik hineingenommen werden. Jesus erzählt erst einmal, dass zwei Menschen hinaufstiegen. Dann wird das, was der Pharisäer sagt, sogar in wörtlicher Rede wiedergegeben. Da steht dann: „O, ich danke dir.“ Plötzlich sind wir mitten dabei, hören direkt zu. Wir stehen neben dem Pharisäer und hören, was er sagt. Hier soll uns noch etwas mehr von der Dramatik vor Augen geführt werden.
Vers zwölf: „Ich faste zweimal in der Woche, ich gebe den Zehnten von allem, was ich erwirtschafte.“ Er geht hiermit über das hinaus, was damals in Israel gefordert war – nämlich das zweimalige Fasten. Wir wissen aus der Didache, einer frühchristlichen Schrift, und auch aus jüdischen Schriften der damaligen Zeit, dass die frommen Juden in jenem Jahrhundert am Montag und am Donnerstag fasteten. In der Bibel finden wir diese Gewohnheit nicht.
Im Alten Testament ist lediglich vorgeschrieben, dass die Juden am Jom Kippur, also am großen Versöhnungstag, fasten sollen. So finden wir es beispielsweise in Sacharja 8,18-19. Die Pharisäer wollten es noch strenger nehmen, und fromme Juden auch. Sie überbieten das, was Gott eigentlich fordert, um zu zeigen, wie fromm sie sind.
Deshalb kommen die Pharisäer zu Jesus und sagen: „Wir fasten, und deine Jünger essen – wie geht das?“ Das ist ja nicht an dem Tag, den das Alte Testament fordert. Das heißt, die Jünger verstoßen nicht gegen das Alte Testament, sondern gegen die Frömmigkeit, die man selbst aufgestellt hat. Und dafür will man sie zur Rechenschaft ziehen.
Darüber hinaus spricht der Pharisäer auch von seinem Zehnten, den er gibt. Wir erinnern uns: Jesus sagt an anderer Stelle, dass sie Dill und Minze verzehnten. Und irgendwie verschlucken sie Elefanten oder Kamele – also große Tiere. Sie achten darauf, dass in den kleinen Details alles stimmt, aber beim Wesentlichen nicht. Das ist das Hauptproblem.
Dass dieser Pharisäer fastet, ist nicht schlecht. Dass er den Zehnten gibt, auch nicht. Aber was wir am Rande merken: Das Wesentliche hat er nicht begriffen. Sowohl in Bezug auf seine Person als auch auf das, was er tun sollte. Und was wir hier sehen – ich sage es noch einmal – er tut mehr, als er eigentlich tun müsste.
Er spricht vom Erwirtschaften, und das Verb meint, dass er den Zehnten auch von dem gibt, was er in der Zukunft erwirtschaften wird. Er macht es noch strenger. Nicht nur von dem, was er hat oder besitzt, sondern auch von dem, was noch kommt. Er übertreibt es.
Jesus sagt an anderer Stelle: Sie verzehnten sogar Dill und Minze. Stellt euch vor, ihr streut ein bisschen Salz aufs Ei und gebt den zehnten Teil davon wieder weg, ein bisschen Pfeffer ins Essen und den zehnten Teil wieder weg. Das ist total überspannt.
Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir heute als Christen manchmal auch in solch einer Situation sind – dass wir „päpstlicher als der Papst“ sein wollen, oder „baptistischer als die Baptisten“, also noch strenger als Jesus. Wir müssen auch in unseren Gemeinden darauf achten, dass wir nicht Regeln aufstellen, die so in der Bibel eigentlich gar nicht drinstehen.
Ich kann euch Beispiele nennen, die wahrscheinlich eure Gemeinden nicht betreffen. Vor ein paar Jahren sprach ich mit einem Gemeindeleiter hier aus der Gegend, der ernsthaft daran festhält, dass eine Frau, die keine Röcke trägt, verloren geht. Das ist ganz eindeutig, meinte er. Und das ist natürlich klar. „Nein, nicht die Gemeinde“, sagte er, „die geht generell verloren.“ Aber das wäre vielleicht eine zutreffende Interpretation.
Er meinte tatsächlich, dass eine Frau, die keinen Rock trägt, verloren geht. So etwas gibt es manchmal. Vielleicht ist das alles klar, „Ja, das kann doch nicht sein.“ Ich habe nichts dagegen, wenn eine Frau einen Rock trägt, und auch nichts dagegen, wenn der Pharisäer zweimal fastet – das wäre durchaus in Ordnung.
Aber das ist nicht der Kern des christlichen Glaubens. Wir müssen immer wieder darauf achten, ob wir nicht zu viel Wert auf äußere Dinge legen, auf Gesetze, die wir selbst aufstellen, und danach andere beurteilen. Zum Beispiel: „Je öfter ich in der Gemeinde bin, desto heiliger bin ich, desto mehr bin ich gerettet.“ Oder: „Ich bin besser, weil ich keinen Alkohol trinke.“
Ich will euch nicht verführen, heute Abend alle zu trinken, ganz im Gegenteil. Ich gehöre eher zu denen, die sagen: „Ich trinke möglichst keinen Alkohol.“ Aber ich glaube nicht, dass ich deshalb ein besserer Christ bin.
Zu Hause hatten wir Gespräche, als unsere Kinder noch klein waren. Sie sahen jemanden auf dem Parkplatz, der zur Gemeinde kommen wollte und dort rauchte eine Zigarette. Die Kinder sagten sofort: „Der kann kein Christ sein.“ Danach sprachen wir mit ihm und erklärten, dass das nicht unbedingt so sein muss.
Natürlich kann man diskutieren, ob Rauchen gut oder schlecht ist. Ich würde eher sagen, als Christ tut man gut daran, nicht zu rauchen, weil man nicht abhängig sein und den Körper, der Tempel des Heiligen Geistes ist, nicht zerstören sollte. Wir sind manchmal bei solchen Dingen sensibel, aber bei anderen vielleicht nicht.
Was ist zum Beispiel mit dem Schlemmer, dessen Gott sein Bauch ist? Das ist unter Christen kein Problem. Übrigens, zum Rauchen: Ich bekam gestern eine E-Mail, dass in den Niederlanden eine neue Kirche eröffnet wurde – die Kirche der Raucher. Ich dachte erst, das sei ein Witz.
Aber es war mehr oder weniger ein Witz. In den Niederlanden ist Rauchen in öffentlichen Restaurants verboten. Die Restaurant- und Kneipenbesitzer nutzten die Religionsfreiheit, um die Religion der Raucher zu gründen. So kann man rauchen als Kult betreiben. Sie beten an die himmlische Trinität in Rauch und Asche und noch etwas anderes.
Natürlich total absurd, aber das war nur eine Randbemerkung. Ich würde sagen, als Christ sollte man dieser Kirche nicht beitreten und besser darauf verzichten. Aber ich bin kein perfekter Christ, weil ich nicht rauche und nicht trinke.
Manche Dinge sind gut, wie Fasten oder den Zehnten geben. Aber das macht uns nicht zum Top-Christen. Das Wichtigste, worauf Gott uns aufmerksam machen will, ist das, was fehlt.
Was sagt Jesus als das höchste Gebot? Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst. Wo ist die Liebe zu Gott hier zu finden? Nirgends. Der redet nur über sich selbst.
Wo ist die Liebe zum Nächsten? „Gut, dass ich nicht so bin wie dieser Verkommene da neben mir.“ Kein Ausdruck großer Liebe.
Das heißt nicht, dass wir sagen sollen: „Liebe, schwamm drüber, alles egal, jeder soll leben, wie er will.“ Nein, wir sollen das schon sagen. Aber Menschen müssen merken, dass wir es in Liebe tun.
Man könnte erst mal zum Zöllner gehen, ihm den Arm umlegen und sagen: „Wir sind doch beide schuldig vor Gott, jetzt sollen wir gemeinsam zu Gott kommen. Toll, dass uns Gott vergibt.“ Das wäre eine Möglichkeit. Aber das kommt beim Pharisäer nicht vor.
Er kümmert sich um Kleinigkeiten, die ihn nach außen gut erscheinen lassen, aber um das eigentlich Wichtige im geistlichen Leben kümmert er sich nicht.
Das ist auch eine Aufforderung an uns, unser geistliches Leben immer wieder zu überprüfen: Wo sind wir in Gefahr, uns zu veräußern? Wo bauen wir auf Dinge, die wir uns selbst zusammengestellt haben und für das Entscheidende im christlichen Leben halten? Wo legen wir besonderen Wert darauf und beurteilen andere danach? Und wo achten wir kaum auf das Wesentliche, das Gott uns gibt?
Eine große Gefahr kann sein, dass wir in Gemeinden sind, wo wir uns gegenseitig auf die Schulter klopfen, weil wir die Geretteten sind, und die anderen sind mehr oder weniger egal. Vielleicht sehen wir die anderen als das Brennmaterial für die Hölle.
Ganz so würden wir es vielleicht nicht ausdrücken, aber so ist die Haltung oft. Hier ist ein Punkt, den wir überprüfen sollten.
Wir würden wahrscheinlich alle bekennen, dass Menschen ohne Gott verloren gehen. Aber wir als Christen müssen uns auch selbst überprüfen: Wo sagen wir den Menschen, die verloren gehen, dass sie Jesus brauchen? Und zwar nicht nur in böser, verurteilender Weise.
Ich erinnere mich an ein Traktat, das ich mal in Basel bekam. Es fing an mit: „Du verkommener Mensch, gebe zu, du feierst Karneval nur, weil du hinter der Maske Sünde machen willst.“ So ging das weiter.
Das mag auf einige zutreffen, aber es ist eine grobe Verallgemeinerung. Die Menschen, die so etwas lesen, fühlen sich nicht von der Liebe Gottes angesprochen. Das ist nachvollziehbar.
Ich glaube auch, dass der Schreiber des Traktats nicht den verlorenen Menschen vor Augen hatte. Es schimmert vielmehr durch: „Wie gut bin ich doch und wie schlecht bist du.“ Das ist kein guter Weg, um andere zu erreichen.
Es ist auch nicht richtig zu sagen: „Sündige ruhig weiter.“ Nein, das nicht. Wir müssen auf Sünde aufmerksam machen, aber wie? Der andere muss die Liebe spüren, so wie die Ehebrecherin die Liebe Jesu gespürt hat.
Jesus sagte ihr nicht: „Ehebruch ist in Ordnung, mach weiter, du bist geliebt.“ Nein, er sagte: „Deine Sünden sind dir vergeben, sündige nicht mehr.“ Die Sünde wird angesprochen, aber im Mittelpunkt steht die Liebe zum anderen Menschen.
Das ist die Herausforderung, die auch uns als Christen in Deutschland ganz besonders gilt. Nicht nur intern unsere gegenseitige Frömmigkeit zu bestärken, uns darüber zu freuen und uns auf die Schulter zu klopfen oder andere fertig zu machen, damit wir besser dastehen.
Sondern das Eigentliche: Die Liebe zu Gott – wo drückt sie sich aus in meinem Alltag, in meinem Reden, meinem Handeln, in dem, wie ich mein Geld ausgebe, meine Zeit investiere, wie ich mit anderen Menschen umgehe?
Und wie drückt sich die Liebe zum Nächsten aus – zu den Menschen in meiner Umgebung?
Das ist gerade das, woran der Pharisäer Mangel hatte. Sonst war er ein frommer Kerl, wie viele Gläubige in Deutschland – ganz fromme Leute, hoch anständig, gute Mittelstandsbürger. Aber das Wesentliche fehlte ihnen.
Wir würden es natürlich nie so übertreiben wie der hier karikiert dargestellte Pharisäer, der fragt: „Wie böse sind die, und wie gut bin ich?“ Das tun wir ja nicht. Wir haben alle gelernt, dass das ungeistlich ist, wenn wir das tun.
Aber die Motivation dahinter kann dieselbe sein. Und das spricht Jesus hier an.
Jesus kritisiert hier nur das übertriebene Geben des Zehnten, weil das andere fehlt.
Übrigens haben die Christen das Fasten übernommen – hier nur ganz am Rande. Sie haben im ersten Jahrhundert angefangen, sich nichts von den Juden schenken zu lassen, aber natürlich nicht an denselben Tagen zu fasten.
Sie fasteten am Mittwoch und am Freitag. So ist es bis heute in vielen Köpfen: Das Freitagsfasten, insbesondere. Deshalb gibt es am Freitag Fisch – zumindest in katholischen Gegenden.
Denn am Fastentag hat man nicht ganz gefastet, sondern nur kein Fleisch gegessen. Fisch ist kein Fleisch, deshalb durfte man Fisch essen.
Da muss man natürlich erst mal definieren, wie das so ist. Aber man merkt daran wieder die typische Frömmigkeit: „Ich faste.“ Und was heißt Fasten? Fisch essen.
Ich mag Fisch gern, also faste ich vielleicht jede Woche, jeden Tag in der Woche. Bin ich besonders fromm, viel frommer als ihr, wenn ihr Steak oder Kotelett esst?
So merken wir, wie Fasten und Frömmigkeit häufig eine Veräußerlichung sein können, die das Wesentliche außer Acht lässt.
Nun, dann weiter.
Die Haltung und das Gebet des Zöllners: Demut und Einsicht
Der Zöllner hielt sich auf Distanz und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel richten. Stattdessen schlug er sich an die Brust und sagte: „O Gott, sei mir Sünder gnädig.“
Der Zöllner verhält sich hier ganz anders. Er ist zwar auch im Tempel, sogar in der Nähe, doch hier steht, dass er sich auf Distanz hielt. Nun müssen wir die Frage stellen: Auf Distanz zu was denn? Möglicherweise war es die Distanz zum Pharisäer oder zu den anderen Menschen, vielleicht wollte er sagen: „Ich will mit euch nichts zu tun haben.“
Ich glaube das nicht. Meiner Meinung nach ist hier mit Distanz gemeint, dass er sich vom Heiligtum fernhielt. Warum? Weil die Juden davon ausgingen, dass in diesem Heiligtum Gott wohnt. Dieser Mann war sich seiner eigenen Unzulänglichkeit und Schlechtigkeit bewusst. Deshalb wollte er nicht zu nah an Gott herankommen, weil er wusste, dass er dort nicht bestehen kann.
Gerade Menschen, die Distanz suchen, tun das nicht, weil sie sich besser fühlen oder ungeistlich sind, sondern weil sie sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit bewusst sind. Allerdings nicht so stark, dass sie gar nicht zu Gott kommen. Es gibt ja auch Christen, die sich ständig bemitleiden und sagen: „Ich bin so schlimm, Gott hört gar nicht mehr auf mich, ich gehe in keine Gemeinde mehr, ich bete nicht mehr, gar nichts.“ Das ist auch falsch. Der Zöllner tut das nicht. Er geht ja in den Tempel, er sucht die Nähe Gottes, aber er ist sich bewusst, dass er eigentlich kein Anrecht darauf hat. Eigentlich dürfte er das gar nicht, aufgrund seiner Unheiligkeit. Vielleicht fühlt er sich ähnlich wie Petrus nach dem Fischfang, der sagt: „Geh von mir hinaus, ich bin ein unreiner Mensch“, als Jesus zu ihm kommt.
Das ist eigentlich die Haltung, mit der wir Gott begegnen sollten. Nicht in einem „Wir schlagen uns auf die Brust und schwingen die großen Reden mit der Sprache Kanaans“, sondern mit dem Bewusstsein: „Ich bin eigentlich nichts vor dir.“ Das ist es, was der Zöllner hier hat und was uns als Vorbild dienen sollte.
Der Zöllner stand in der damaligen Berufshierarchie ziemlich weit unten, nicht nur bei den Juden, sondern auch bei den Heiden. Denn auch die Heiden mochten die Zöllner nicht, erstens weil man sie häufig als Kollaborateure ansah, und zweitens, weil man Steuereintreiber zu keiner Zeit gern hatte. Ich meine, auch heute sind sie nicht unbedingt beliebt. Man wusste damals, dass es besonders gewinnsüchtige und oft sture Leute waren, die das Geld eingetrieben haben. Deshalb wollte man mit ihnen nichts zu tun haben.
Jesus hingegen schwimmt gegen den Strom. Wir lesen sogar, dass er einen dieser Zöllner als seinen Jünger beruft, was in die damalige Zeit überhaupt nicht passte. Hier nimmt er wieder einmal einen Zöllner als denjenigen, der das Positive tut, im Gegensatz zu denen, die sonst als fromm gelten.
Was hier eigentlich passiert, ist, dass der Zöllner an die Brust schlägt und sagt: „O Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Er erkennt seine reale Stellung vor Gott. Damit soll nicht gesagt werden, dass dieser Zöllner moralisch besser sei. Wenn ich vorhin den Pharisäer kritisiert habe, dann müssen wir sagen: Rein äußerlich hat der Pharisäer viele positive Dinge getan. Rein äußerlich hat der Zöllner wahrscheinlich wirklich negative Dinge gemacht. Wie wir wissen, war es damals üblich, dass Zöllner andere betrogen, mit Leuten zu tun hatten, mit denen man besser nichts zu tun haben sollte. Oft haben sie ordentlich gefeiert, was nicht gerade lobenswert war.
Doch hier sehen wir die Einsicht in die eigene Schuldigkeit. Das erstaunt mich immer wieder bei den großen Helden des Alten Testaments. Viele von ihnen würde ich in meiner Gemeinde gar nicht aufnehmen. Stellt euch mal vor: David – ein mehrfacher Mörder, Ehebrecher und Lügner. Was für ein Typ ist das? Natürlich könnten wir sagen, wir würden ihn aufnehmen, weil er König war. Aber abgesehen von seinem hohen Ansehen war er doch ein totaler Sünder.
Warum wird er dann als Mann nach dem Herzen Gottes bezeichnet? Müssen wir also alle Ehebrecher sein, um so zu sein? Nein, ganz und gar nicht. Er ist ein Mann nach dem Herzen Gottes trotz seiner Sünden. Warum? Weil er nicht lange herumgeredet hat, sondern seine eigene Schlechtigkeit eingestanden und um Vergebung gebeten hat. Er hat sich vor Gott gedemütigt.
Wir merken hier, dass Gott oft andere Dinge im Blick hat als wir. Nicht das Abhaken äußerer Frömmigkeit, wie ich mehrfach erwähnt habe, sondern das ehrliche Eingestehen des Schlechten. Es geht nicht darum, es zuzudecken oder zu heucheln, sondern es ehrlich zu bekennen und immer wieder umzukehren.
Nebenbei wird uns hier gesagt, dass der Zöllner nicht einmal die Augen zum Himmel aufheben wollte. Das ist das Gegenteil dessen, was die normalen Juden taten. Sie beteten mit erhobenen Händen und Blicken zum Himmel. Sie fühlten sich in der Nähe Gottes, feierten und jubelten. Der Zöllner tut das bewusst nicht. Warum? Weil es ihm nicht zum Jubeln zumute ist. Er merkt: „Ich bin vor Gott nichts.“ Es ist keine Party mit Gott, sondern er spürt seine eigene Unzulänglichkeit und weiß, dass Gott ihn nicht einfach so akzeptieren kann.
Im Griechischen steht sogar eine doppelte Verneinung, die ausdrückt, dass er in keinem Fall nach oben schauen wollte. Er wollte durch seine Haltung seine Demut vor Gott ausdrücken. Er wusste, dass er nicht von sich aus bei Gott bestehen kann. Das steht hier im Hintergrund.
Er hat Respekt vor Gott, demütigt sich selbst und senkt den Kopf. Er spricht Gott wie der Pharisäer mit „O Gott“ an, aber dann kommt etwas vollkommen anderes als beim Pharisäer: „Sei mir Sünder gnädig.“ Diese Passiv-Imperativ-Struktur drückt gleichzeitig eine Bitte und eine Aufforderung aus. Im Deutschen verstehen wir das ohne griechische Analyse.
Was hier geschieht, ist eigentlich eine Bekehrung. Es ist der Inhalt einer Bekehrung, die nicht nur eine einmalige Handlung beschreibt, sondern eine Haltung, die immer wieder eingenommen wird. Es ist die Haltung dessen, der wirklich in Gemeinschaft mit Gott lebt und sich bewusst ist, was Jesus für uns getan hat.
Das Gebet „Sei mir Sünder gnädig“ ist nicht nur für die Bekehrung am Anfang, sondern ein ständiges Gebet. Genau das beten wir, wenn wir zu Jesus kommen: Nicht, dass wir bessere Menschen werden, reicher, gesünder oder erfolgreicher, sondern dass Gott uns gnädig ist – auch für das, was wir heute falsch gemacht haben.
Selbst hier, an einem frommen Ort wie der Bibelschule, können wir Fehler machen. Auch in der Freizeit, wo uns wenige ärgern, können wir Dinge falsch machen. Diese Fehler vor Gott zu bekennen, hilft nicht, indem wir unsere Frömmigkeit aufrichten, wie der Pharisäer es tat. Dann sagen wir: Punkt eins, zwei, drei habe ich nicht gemacht, ich habe heute keine Bank überfallen, keine Ehe gebrochen und niemanden ermordet, also bin ich heilig. Das ist nicht schlecht, wenn wir diese Dinge nicht tun, aber es kommt auf ganz andere Dinge an, die wir gerne übersehen.
Keiner von uns mag es, sich selbst schlecht darzustellen. Wahrscheinlich geht es euch so wie mir: Ich mache mich selbst nicht gern fertig. Doch wenn wir im Angesicht Gottes stehen, muss das so sein. Es ist auch hilfreich, damit wir nicht abheben und echte Veränderung möglich wird.
Leider kann es auch so sein, dass wir als Christen nach der Bekehrung in der ersten Liebe alles verändert sehen, aber zehn Jahre später nichts mehr passiert. Wir bleiben stehen, ruhen uns auf dem aus, was wir erreicht haben, etwa mit dem Gedanken: „Ich faste zweimal, gebe den Zehnten, alles klar.“
Doch die Tiefe des Bewusstseins, mit der wir vor Gott stehen, bleibt wichtig. Wir sind gerechtfertigte Sünder, nicht die Heiligen oder Perfekten – nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Das drückt der Zöllner hier aus und bittet Gott um Vergebung.
Dann kommt der Kommentar Jesu dazu, mit dem wir abschließen: „Ich sage euch, dieser ging gerechtfertigt nach Hause, jener aber nicht. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“
Hier geht es nicht um eine falsche Erniedrigung, bei der wir schlechter von uns reden, als wir sind. Nein, wir sollen uns ehrlich einordnen. Es gibt genug Schlechtigkeit, aber auch das Gute. Beides muss benannt werden.
Nur so können wir gerechtfertigt nach Hause gehen. Wer seine Sünden nicht bekennt – nicht nur bei der Bekehrung, sondern auch später – kann keine Rechtfertigung erfahren. Wenn wir nicht um Verzeihung bitten, gibt es keine Entschuldigung.
Der erste Schritt ist immer, ehrlich vor Gott und anderen zu sein. Alles andere hilft nur kurzzeitig und nur für die Augen der anderen. Letztlich isolieren wir uns dadurch, wie der Pharisäer, vor Gott und den Menschen. Gott weiß sowieso, wer wir sind und will uns zeigen, wer wir sind. Vor den anderen isolieren wir uns, weil niemand mit einem „super heiligen“ Menschen zu tun haben will. Man hat Angst, dass er den schwarzen Punkt bei einem entdeckt, oder man empfindet ihn als unnahbar und unreal.
Wir sollen nicht in Sünde verharren, aber die Realität ehrlich zum Ausdruck bringen. Der Zöllner steht hier dem Pharisäer gegenüber.
Wenn von Rechtfertigung die Rede ist, hat das mehrere Aspekte. Rechtfertigen ist erst einmal etwas Juristisches. Wenn jemand gerechtfertigt ist, bedeutet das, dass die Schuld, die auf ihm liegt, neutralisiert oder aufgehoben ist. Oder eine falsche Anklage wird zurückgewiesen. Hier geht es aber nicht um eine falsche Anklage, sondern um eine gerechte. Die Schuld ist in gewisser Weise aufgearbeitet.
Sie ist erst vergeben, wenn wir vor Jesus stehen und es ihm so benennen. Die Leute, die überzeugt waren, gerecht zu sein, wie jener Pharisäer, waren vielleicht wirklich gerechter als der Zöllner. Aber verurteilt werden wir vor Gott nicht für das Gute, das wir getan haben, sondern für das Böse, das immer noch in uns ist.
Der Pharisäer hat gute Werke, der Zöllner aber das, was Gott will. Er bereut, sieht seine eigene Stellung, und Gott will nicht den Tod des Sünders. Er will auch nicht, dass wir ein schlaffes Christsein führen, das nur an der Oberfläche bleibt. Gott will, dass wir ehrlich zu ihm und zu anderen sind, damit wir vergeben werden und neu anfangen können.
Das ist es, was Gott an dieser Stelle will. Mit dieser Herausforderung lasse ich euch nun mehr oder weniger allein. Ihr könnt selbst überlegen, wo in eurer Umgebung oder bei euch selbst das zutrifft: Eure Position zu anderen in Überheblichkeit, eure Position zu Gott in Selbstgerechtigkeit, eure Position in einem Katalog von Punkten, die euch zum guten Christen machen sollen.
Sind das wirklich die Dinge, die Jesus will? Liebe Gott über alles und den Nächsten wie sich selbst? Gibt es Bereiche, in denen wir uns präsentieren oder andere herabsetzen? Gibt es Sünden, die wir uns nicht eingestehen, um besser dazustehen? Gibt es Phasen, in denen wir uns zur Schau stellen, um Anerkennung zu erlangen?
All das sind Merkmale des Pharisäers. Haben wir aber auch in unserem Leben den Zöllner? Und hoffentlich nicht nur vor zwanzig Jahren, als wir gläubig wurden, sondern auch zwischendurch, wenn uns die Tränen über unsere Sünden kommen und wir zu Jesus gehen können, um Vergebung zu erfahren?
Dann müssen wir auch keine Angst haben, anderen einzugestehen, dass wir unvollkommen sind – nicht nur grundsätzlich, sondern auch ganz konkret. Das heißt nicht, dass wir jedem unsere Sünden auf die Nase binden müssen. Das ist hier nicht der Fall. Der Zöllner nennt auch keine lange Liste von Sünden, wo alle anderen zuhören. Aber er bekennt sie ehrlich.
Hier ist keine Show, weil er merkt, dass es gut ankommt, sondern es ist das genaue Gegenteil von politischer Korrektheit. Das darf nicht nur eine formale Geste sein, ein „Ich demütige mich vor Gott“.
Manchmal gibt es das bei christlichen Showstars oder großen Sängern, die beklatscht werden und dann nebenbei noch so tun, als demütigten sie sich vor Gott. Doch man merkt in Interviews und Auftritten, dass sie viel von sich halten. In der christlichen Szene weiß man, dass man das nicht so machen darf, und dann gibt es noch einen kleinen Seitenhieb.
Das ist nicht das, was Jesus will. Jesus will viel mehr. Er will nicht nur eine äußere Geste, sondern dass das Leben das widerspiegelt.
Wir können uns nicht freikaufen, indem wir sagen: „Okay, jetzt sage ich auch mal, ich bin Sünder, abgehakt, jetzt kann ich weitermachen wie bisher.“ Es geht um die Lebensrealität, und da werden wir herausgefordert.
Schlussgebet
Gut, ich möchte an dieser Stelle gerne noch mit euch beten.
Herr Jesus, vielen Dank dafür, dass du uns in Gleichnissen wichtige Wahrheiten weitergeben willst. Vielen Dank auch für das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner. Du stellst uns damit heute als Christen genauso in Frage wie die Frommen der damaligen Zeit.
Ich danke dir, dass du das tust, weil du es gut mit uns meinst. Du willst nicht, dass wir irgendwo in eine falsche Richtung laufen und dort bleiben, ohne es zu erkennen. Am Ende würden wir merken, dass alles vergebens war, dass alles nur Schein gewesen ist.
Ich möchte dich bitten, dass du uns hilfst, ehrlich zu uns selbst zu sein. Hilf uns auch, darauf zu achten, welche Prioritäten du in unserem Leben haben willst. Zeige uns, wo wir Prioritäten gesetzt haben, die nur auf unserer eigenen Privatfrömmigkeit oder der unserer Gemeinde beruhen. Zeige uns auch, welche Kriterien von Frömmigkeit du in unserem Leben sehen möchtest.
Zeige uns, wo vielleicht Veränderung nötig ist oder wo das Bekenntnis nötig ist – dir Schuld zu bekennen. Ich danke dir dafür, dass du bereit bist, dann auszuräumen.
Ich bitte dich, dass du uns hilfst, ehrlich zu sein und nicht einfach zu verdrängen. Lass das, was wir mit dir erleben, nach außen scheinen. So können andere Menschen durch uns erkennen, nicht wie toll wir sind, sondern wie großartig du bist – dass du Schuld vergibst und veränderst.
Vielen Dank dafür, dass du das tust. Amen.