Gottes Hand

Konrad Eißler
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Sorgenbeladenen sagt der Apostel Petrus: Gottes starke und bewahrende Hand Gottes hält uns. In Jesus Christus bietet er sie uns an. An seiner Hand ist der aufrechte Gang möglich. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Wir haben Lasten, liebe Gemeinde, die sind mit dem Morgen verknüpft. Wir wissen einfach nicht, wie das mit der Familie oder dem Beruf oder der Krankheit weiterläuft. Wir haben Gewichte, die sind mit dem Gestern verknüpft. Wir sehen einfach nicht, wie der Abschied vom Vater oder die Trennung vom Mann oder die Gemeinheit von Freunden verkraften werden könnte. Wir haben Beschwernisse, die sind mit dem Heute verknüpft. Wir packen die täglichen Aufgab­en nur noch mit letzter Kraft. Kurzum, wir haben Sorgen und deshalb ein Leiden.

Es ist ein sorgenspezifisches Leiden, das in weitestem Sinne zu den Wirbelsäulenleiden zählt. Die Lasten, Gewichte, Beschwernisse sind uns nämlich entweder um den Hals gehängt, dann öffnen sie die Wirbel nach vorne und verursachen das krumme Kreuz. Lordose, sagen die Mediziner, und meinen jene Leute, die nach vorne gebeugt ihres Weges ziehen. Oder die Lasten, Gewichte, Beschwernisse sind uns auf den Buckel geladen, dann öffnen sie die Wirbel nach hinten und verursachen das hohle Kreuz. Kyphose, sagen die Mediziner, und meinen jene Leute, die nach hinten gebeugt ihren Weg gehen.

Lastträger haben es im Kreuz. Gewichtträger bekommen es mit dem Kreuz zu tun. Beschwernis­träger können Kreuzschmerzen nicht vermeiden. Die Sorge verursacht ein krummes oder hohles Kreuz.

Deshalb die bange Frage: Wie bekommen wir den Bettel vom Hals? Wie bekommen wir die Zentner vom Buckel? Wie bekommen wir wieder den aufrechten Gang?

Der Psychochirurgiker sagt: “Das wird schon wieder. Nach meiner Diagnose besteht überhaupt kein Grund zur Aufregung. Die Wirbel­säule hat keinen ernsten Schaden davongetragen. Sie müssen nur die Kilos von der Schulter herunternehmen und die Sache in die Hand nehmen, dann können Sie es tragen und wieder aufrecht gehen.” Und der Psychosomatiker sagt: “Das klappt schon. Dank wissenschaftlicher Fortschritte bin ich in der Lage, Ihnen mit ein paar Tabletten entscheidend zu helfen. Kleine, unschädliche Tranquiler stellen Sie ganz ruhig und helfen Ihnen, die Dinge wieder vom Hals in die Hand zu bekommen. Kreuzleiden sind heute medizinisch heilbar.” Und der Psychotherapeut sagt: “Sie sind o.k. Sie müssen sich nur Zeit für ein paar Sitzungen nehmen. Ich möchte Ihnen mit Gesprächs- und ein bisschen Spieltherapie zeigen, wie man die Sorge in den Griff bekommt. Der aufrechte Gang ist wieder möglich.”

Nun sage ich nicht, dass Psychologen überhaupt nichts zu sagen hätten. Wie dankbar sind wir für viele Seelenärzte, die diesen wichtigen Dienst tun. Viele seelisch Kranken haben durch sie entscheidende Hilfe erfahren. Aber die Sorge können sie nicht therapieren. Denn wenn wir die Lasten vom Hals und vom Buckel in die Hand bekommen, haben wir sie immer noch nicht los. Sie ziehen und zerren und drücken nach unten. Am Boden zerstört, das sind viele Sorgenbeladene.

Und deshalb bleibt die bohrende Frage: Wie bekommen wir den Bettel los? Wie bekommen wir die Zentner weg? Wie bekommen wir den aufrechten Gang?

Der Apostel Petrus gibt seiner weitverstreuten Gemeinde drei Antworten, die an Aktualität nichts eingebüßt haben. Hören wir deshalb auf ihn.

1. Seht alle auf Gottes Hand

Vor mir steht Marie Durand, jene unvergessliche hugenottische Frau. Wegen ihres unbeugsamen Glaubens wurde sie zu einer Kerkerstrafe verurteilt, die 38 Jahre lang gedauert hat. Eine ungeheure Last beugte diese französische Bekennerin im Tour de Constance von Aigues-Mortes. Immer wieder sah sie die Hand des Schenken, der sie als Fünfzehnjährige aus dem elterlichen Haus in Le Bouchet zerrte. Immer wieder sah sie die Hand des Polizeioffiziers, der ihr auf Schloss Beauregard den Haftbefehl unter die Nase hielt. Immer wieder sah sie die Hand des Kommandanten, der eigenhändig die Turmtür hinter ihr verriegelte. Immer wieder sah sie diese zerrenden, schlagenden, reißenden, wehtuenden Hände, aber darin nichts anderes als die gewaltige Hand Gottes, die im Spiel war. Und von dieser Hand wusste sie seit dem Studium der Geschichte Israels, dass diese Hand sowohl schlagen als auch trösten, sowohl drücken als auch erlösen, sowohl gefangennehmen als auch herausretten kann. Deshalb hatte sie ein ganzes Ja zu dieser Hand und wollte dem Herrn auf keinen Fall aus der Hand laufen.

So wie der Reformator Johannes Calvin, der nach Jahren des Leidens auf seinem entsetzlich langen Todeslager sagte: “Ich leide es gerne, denn es ist ja deine Hand, die mich schlägt.” So wie ein Märtyrer Dietrich Bonhoeffer, der nach Jahren der Gefangenschaft 1944 aus der Todeszelle schrieb: “Gottes Hand ist mir so gewiss, dass ich hoffe, immer in dieser Gewissheit zu bleiben.” So wie Pfarrer Adolphe Monod, der nach Jahren des Krankseins mit einer von Krebs zerfressenen Zunge noch lallte: “Mit dem Rest meiner Zunge will ich das Lob des Herrn singen, weil seine Hand mich hält.” So wie jeder Glaubende, der unter der Last buchstabieren soll: “Es kann mir nichts gescheh­en, als was er hat ersehen und was mir nützlich ist.”

Denn die gewaltige Hand Gottes ist identisch mit der jenes Mannes, der in unserer Welt Hand angelegt hat. Er legte sie auf die Stirn der Kinder und segnete sie. Er legte sie auf die Augen der Blinden und öffnete sie. Er legte sie auf die Zunge der Stummen und heilte sie. Er legte sie auf die Ohren der Tauben und machte sie gesund. Und obwohl sie eines Tages von blutigen Henkern langgezogen und von einem Zimmermannsnagel durchbohrt wurde, zog er sie nicht zurück. Nach Ostern streckt er sie dem Thomas entgegen: “Lege deine Hände in meine Nägelmale.”

Die gewalt­ige Hand Gottes ist die segnende Hand Jesu, und was wir Schicksal nennen, ist nur der Handschuh an dieser Hand. Sie streckt sich uns entgegen. Sie legt sich auf unsere Köpfe. Sie ist unser Schicksal. Sie allein. Deshalb lässt sie der Demütige dort liegen, beugt sich darunter und sagt: “In allen Dunkelheiten, deine Hand ist da. In allen Schwierigkeiten, deine Hand ist drin. In allen Belastungen, du hast deine Hand im Spiel.”

Seht alle auf Gottes Hand.

Und das andere:

2. Legt alles in Gottes Hand

Marie Durand hatte niemanden, der ihr an die Hand gehen konnte. Der Vater schmachtete als Ketzer in einem dunklen Verlies. Die Mutter kehrte nicht mehr aus dem Gefängnis zurück. Bruder Pierre wurde als Untergrundpfarrer gefasst und in Montpellier am Galgen hochgezogen. Alle Freunde waren ins Ausland geflohen und verbrachten ihr restliches Leben in der Galeere. Da war keiner, der eine Hand freihatte. Da war niemand, der mit anfassen konnte. Jeder hatte mit seiner eigenen Last genug.

Warum warten wir immer auf einen andern, der mit anpackt? Warum hoffen wir immer auf einen andern, der mit zupackt? Warum setzen wir auf Kinder, Freunde, Verwandte oder Bekannte? Alle haben ihre Packen weg. Ich kenne keinen, der nicht schon genug hat an dem, was er zu tragen hat.

Gepäckträger gibt es nicht, aber einen Kreuzträger. Dem packten sie auf. Dem luden sie drauf. Dem sattelten sie den ganzen Buckel voll. Und als damit am Kreuz hing, brach ihm nicht das Kreuz, sondern nur das Herz über so viel andere Kreuzträger, die am Ende sind. Deshalb streckte er seine Hände noch einmal aus. Der römische Hauptmann erkannte: Das sind Gottes Hände. Der kluge Ratsherr merkte: Das sind Gottes starke Hände. Die betrübte Maria Magdalena erfuhr: Das sind Gottes tröstende Hände. Unzähligen gingen die Augen auf.

Das sind Gottes gewaltige Hände, die auch die Tragkraft für meine Lasten haben. Deshalb sagt der Psalmist: “Wirf dein Anliegen auf den Herrn.” Deshalb sagt der Apostel: “All eure Sorge werfet auf ihn.” Deshalb mahnt der Reformator Martin Luther: “Wer nicht lernt solch Werfen, der muss bleiben ein Verworfener, Unterworfener, Zerworfener, Ausgeworfener, Abgeworfener und Umgeworfen­er.” Marie Durand hat es getan. Weder das Gerede der Mitgefangenen noch die Müdigkeit des eigenen Körpers konnten sie davon abhalten, jeden Morgen in einer Ecke ihres Verlieses niederzuknien, um dort mit betenden Händen ihre Last in andere Hände zu legen. Dietrich Bonhoeffer hat es getan. Nachdem er einmal wieder seine Sorge dem Herrn gegeben hatte, schrieb er befreit: “Dankbar und froh gehe ich den Weg, den ich geführt werde.”

Viele tun es und wir tun gut daran, es auch zu tun. Alle Sorge sollen wir nicht sortieren, so wie den Hausmüll: Der gehört in die grüne Tonne und der in die schwarze Tonne. Alle Sorgen sollen wir nicht halbieren, so wie einen Apfel: Diese Hälfte gehört dir und die andere Hälfte behalte ich für mich. Alle Sorge sollen wir nicht bagatellisieren. Alle Sorge, alle Sorge insgesamt, alle Sorge brutto werfet, wälzet, stemmt, schleudert auf ihn.

Natürlich braucht das Übung. So wie ein Steinwurf oder Hammerwurf oder Diskuswurf ständiger Übung bedarf, so muss der Sorgenwurf täglich geübt werden. Diese Disziplin am frühen Morgen, am späten Abend, am hellen Tag ist gut für den aufrechten Gang.

Der Sorgenwurf muss täglich geübt werden. Diese Disziplin am frühen Morgen, am späten Abend, am hellen Tag ist gut für den aufrechten Gang.

Legt alles in Gottes Hand.

3. Bleibt allezeit in Gottes Hand

Es gibt noch eine ganz andere Hand, die sich ausstreckt und uns anbietet. Petrus spricht vom Teufel, auch wenn wir dabei nur noch an eine holzgeschnitzte Kasperlfigur denken, die im Puppentheater auftritt. Der Apostel spricht vom Teufel, auch wenn wir nur noch an eine mythologische Gruselfigur denken, die durch unsere Märchen geistert. Der Apostel spricht vom Teufel, auch wenn wir längst die Planstelle in unserem theoretischen Denken gestrichen haben. Petrus spricht vom Teufel als einer personalen Macht des Bösen, die überall auf der Lauer liegt und uns in die Hand bekommen will. Leider ist der Böse nicht leicht auszumachen, das ist der berühmte Pferdefuß. Er pflegt keine Visitenkarte abzugeben und seine Kleider riechen nicht nach Schwefelgestank. Er verstellt sich sogar als Engel des Lichts und operiert gerne mit Bibelsprüchen. “Der Teufel ist ein hoher Geist”, hat Albrecht Bengel gesagt.

Deshalb gilt es in unserer Welt, in der der Teufel los ist, hellwach zu sein. Es genügt nicht, frei nach Dürers berühmtem Gemälde sich aufs hohe Ross zu schwingen und über Tod und Teufel hinwegzugaloppieren. So einfach liegen die Dinge nicht. Petrus sagt: “Wider­steht!” Das ist kein Schlachtruf, sondern ein Aufruf: “Bleibt in Gottes Hand! Lass sie keinen Augenblick los! Mit ihr seid ihr allezeit in guten Händen.”

Marie Durand hat in langer und intensiver Arbeit mit der Spitze ihrer Schere ein Wort in die steinerne Umfassungsmauer des Licht- und Luftschachtes eingekratzt, nämlich: “Récister!” “Widersteht!” Noch heute ist es in Aigues-Mortes zu sehen. Die Jahrhunderte haben es nicht ausgelöscht.

Die be­scheidene Frau hat es uns vorgemacht. Sollten wir es ihr nicht nachmachen? Vielleicht nicht mit der Schere, aber mit einem Kuli oder Bleistift oder einer Kreide. Auf dem Schulhof sollte es stehen: Widerstehet dem schmutzigen Geschwätz. Über dem Ar­beitsplatz sollte es stehen: Widerstehet dem Kampf nach Macht und Geld. An unseren Litfasssäulen sollte es stehen und über unsere Bildschirme laufen: Widerstehet den Gurus aller Schat­tierungen. Es gibt keine Stelle, wo diese Mahnung nicht notwendig wäre, denn überall will uns der Böse in Griff bekommen und end­gültig das Kreuz brechen.

Allein seine Hand hält uns, ich meine diese gewaltige, starke und bewahrende Hand Gottes. In Jesus Christus bietet er sie uns an, jetzt. Keiner muss freihändig den Gratweg seines Lebens gehen. An seiner Hand ist der aufrechte Gang wieder möglich.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]