HERR, meine Seele schreit nach dir!
Reihe: Psalmen – Gespräche mit Gott (3/5)
Einleitende Gedanken
Ich sass in einer kleinen Kirche in Zürich, Tränen liefen über meine Wangen. Wenige Monate zuvor war ich Christ geworden. Ich hatte mich nach einer Zeit des Suchens nach einer kleinen Evangelisation bekehrt. Kurz danach musste ich in die Rekrutenschule. Diese Zeit in der Rekrutenschule hatte mir unglaublich zugesetzt und im Glauben war ich jung und unreif. Niemand hatte mich in dieser Zeit geistlich unterstützt. So sass ich in dieser kleinen Kirche und hörte von der Kanzel: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“ Ps.42,2-3. Besser hätte ich nicht ausdrücken können, was ich empfand und tiefer hätten mich diese Worte nicht treffen können. Seither ist mir klar, dass Psalmen Gebete sind. In den Psalmen finden wir Worte, die unseren innersten Gefühlen und Gedanken Ausdruck geben. Gefühle und Gedanken, für die wir keine eigenen Worte fänden. Wer mit Psalmen betet, der betet übrigens mit dem Heiligen Geist, denn es gehört zu unseren fundamentalen Überzeugungen, dass die Worte in der Bibel von Menschen unter der Leitung des Geistes Gottes niedergeschrieben wurden. So beten wir eigentlich mit den Worten Gottes zu Gott. Psalmen sind kunstvoll gestaltete Lieder, das verrät uns die Überschrift des Psalms, den wir heute betrachten. Es heisst da: „Für den Dirigenten. Ein kunstvoll gestaltetes Lied. Von den Korachitern.“ Ps.42,1. Die 150 Psalmen bilden das Gesangbuch der Bibel. Leider sind uns die Melodien nicht überliefert worden, wobei ich nicht so sicher bin, ob sie uns gefallen würden. Jedenfalls laden uns die Psalmen zum Gespräch mit Gott ein. Sie wollen nicht zuerst analysiert, sondern sie wollen gebetet werden. Einige Psalmen bewundern die grossen Taten Gottes, deren Grundton ist die Freude und die Dankbarkeit. Andere Psalmen, wie die Psalmen 42 und 43, wurden aus einer Notlage heraus geschrieben und wenden sich emotional und leidenschaftlich an Gott. Die Psalmen 42 und 43, die wir heute betrachten, gehören zusammen. Es sind drei Strophen, die mit einem Refrain abgeschlossen werden.
Lesen wir zuerst diese Psalmen: Wie der Hirsch nach frischem Wasser lechzt, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott. Meine Seele dürstet nach Gott, ja, nach dem lebendigen Gott. Wann endlich werde ich wieder zum Heiligtum kommen und dort vor Gottes Angesicht stehen? Tränen sind meine einzige Speise Tag und Nacht. Ständig fragt man mich: »Wo ist denn nun dein Gott?« Ich erinnere mich an frühere Zeiten, lasse meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf: Wie schön war es doch, als ich mein Volk zu Gottes Heiligtum führte, begleitet von Jubel und Dank, im feierlichen Festzug mit vielen Menschen! Warum bist du so bedrückt, meine Seele? Warum stöhnst du so verzweifelt? Warte nur zuversichtlich auf Gott! Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken, dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft. Mein Gott, tiefe Trauer bedrückt meine Seele. In der Ferne des Jordanlandes und des Hermongebirges denke ich an dich. Vom Berg Misar aus gehen meine Gedanken zu dir. Gewaltige Wassermassen brausen und tosen, so als riefe eine Flut die andere herbei. Du hast sie geschickt; deine Wellen und Wogen rollen über mich hinweg. Und dennoch: Am Tag wird der Herr mir seine Gnade schenken, und in der Nacht begleitet mich sein Lied, ein Gebet zu dem Gott meines Lebens. Zu Gott, meinem Fels, will ich sagen: »Warum nur hast du mich vergessen? Warum muss ich so traurig meinen Weg gehen, bedrängt von meinem Feind?« Der Hohn meiner Feinde zerfrisst mich wie eine tödliche Krankheit. Den ganzen Tag spotten sie: »Wo ist denn nun dein Gott?« Warum bist du so bedrückt, meine Seele? Warum stöhnst du so verzweifelt? Warte nur zuversichtlich auf Gott! Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken, dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft. Ja, er ist mein Gott. Verschaffe mir Recht, o Gott, und führe du meinen Rechtsstreit gegen ein Volk, das keine Güte mehr kennt! Rette mich vor dem Mann, der betrügt und Unrecht übt! Du bist doch der Gott, bei dem ich Zuflucht finde. Warum nur hast du mich verstossen? Warum muss ich so traurig meinen Weg gehen, bedrängt von meinem Feind? Sende mir dein Licht und deine Treue, damit sie mich leiten und mich zurückbringen zu deinem heiligen Berg, zu deiner Wohnung! Dann werde ich vor Gottes Altar treten, ja, ich will zu Gott kommen, der mich mit Jubel und Freude erfüllt. Dich will ich loben beim Spiel auf der Harfe – dich, meinen Gott. Warum bist du so bedrückt, meine Seele? Warum stöhnst du so verzweifelt? Warte nur zuversichtlich auf Gott! Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken, dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft. Ja, er ist mein Gott. Ps.42,2 - 43,5.
I. Wann endlich stehe ich vor Gottes Angesicht?
Die Welt des Dichters ist offensichtlich nicht mehr in Ordnung. Weit weg von Jerusalem wird er gefangen gehalten. Er sagt: „In der Ferne des Jordanlandes und des Hermongebirges denke ich an dich. Vom Berg Misar aus gehen meine Gedanken zu dir.“ Ps.42,7. Dieses Bergmassiv erhebt sich im Dreiländereck Israel, Syrien und Libanon. Die Ausläufer reichen bis nach Israel hinein. Warum der Dichter sich dort aufhält wird leider nicht ersichtlich. Jedenfalls lebt er unfreiwillig dort. Vermutlich wurde er verschleppt und dort gefangen gehalten. Er sehnt sich nach der Nähe Gottes. „Wie der Hirsch nach frischem Wasser lechzt, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott.“ Ps.42,2. Er ist völlig ausgelaugt. Wäre er in Jerusalem gewesen, so wäre seine Sehnsucht nicht so stark, aber hier, weit weg vom Tempel, schien es ihm unerträglich zu sein. „Meine Seele dürstet nach Gott, ja, nach dem lebendigen Gott.“ Ps.42,3. Er wollte unbedingt zum Tempel. Einige von uns kennen diese Sehnsucht, wenn sie über eine längere Zeit den Gottesdienst nicht besuchen konnten. Plötzlich wächst der Wunsch, endlich wieder zum Gottesdienst zu gehen und mit anderen Christen Gott anzubeten. Ja – er denkt an die früheren und schöneren Zeiten zurück. Er lässt seinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf: „Wie schön war es doch, als ich mein Volk zu Gottes Heiligtum führte, begleitet von Jubel und Dank, im feierlichen Festzug mit vielen Menschen!“ Ps.42,5. Er vermisst diese Tage. Vielleicht ist es für uns etwas schwierig, diese starke Sehnsucht nach dem Tempel zu verstehen. Wollen wir das begreifen, müssen wir die Bedeutung des jüdischen Tempels kennen. Die Juden hatten im Gegensatz zu andern Religionen nur diesen einen Tempel in Jerusalem. Das war die einzige Opferstätte. Wer Gott ganz Nahe sein wollte, der musste zu diesem Tempel kommen, denn dort hatte sich Gott niedergelassen. Dort war Gottes Präsents greifbar. Dort konnte man vor Gottes Angesicht treten. Der Tempel war das sichtbare Zentrum des jüdischen Glaubens. Als der Tempel eingeweiht wurde, erbat der König Salomo von Gott folgendes: „Wenn dein Volk auszieht in den Krieg gegen seine Feinde auf dem Weg, den du sie senden wirst, und sie beten werden zum HERRN nach der Stadt hin, die du erwählt hast, und nach dem Hause hin, das ich deinem Namen gebaut habe, so wollest du ihr Gebet und Flehen hören im Himmel und ihnen Recht schaffen.“ 1.Kö.8,44-45. Deshalb betete das jüdische Volk in Richtung des Tempels in Jerusalem, so die Moslems heute in Richtung Mekka beten. Das praktizierte auch Daniel, als er nach Babel verschleppt wurde. „Daniel hatte an seinem Obergemach offene Fenster nach Jerusalem, und er fiel dreimal am Tag auf seine Knie, betete, lobte und dankte seinem Gott.“ Dan.6,11. Nun verstehen wir hoffentlich die Sehnsucht des Dichters besser. Die Sehnsucht nach Jerusalem, um in die Nähe Gottes zu kommen. „Wann endlich werde ich wieder zum Heiligtum kommen und dort vor Gottes Angesicht stehen?“ Ps.42,3. Tag und Nacht weint er, weil ihm das im Moment verwehrt bleibt und zudem muss er sich ständig den Spott seiner Feinde anhören, die ihn höhnisch fragen: „Wo ist denn nun dein Gott?“ Ps.42,4. Wir können diese Sehnsucht nicht nachempfinden, denn unsere Begegnungen mit Gott sind nicht auf den Tempel in Jerusalem ausgerichtet, der ohnehin nicht mehr steht. Der Tempel in Jerusalem hat mit dem Tod von Jesus am Kreuz seine zentrale Funktion in der Anbetung Gottes verloren. Das machte Gott durch ein beeindruckendes Ereignis deutlich, das geschah, als Jesus am Kreuz starb. „Im selben Augenblick riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei.“ Mt.27,51. Jeder musste verstehen, dass Gott dadurch gezeigt hat, dass er den Tempel endgültig verlassen hat und eine neue Zeit anbricht. Eine Zeit, in der Gott nicht mehr im Tempel wohnt, sondern in einem jeden Menschen, der Jesus nachfolgt. Wir sind nun zum Tempel Gottes geworden, denn Gott lebt durch den Heiligen Geist in einem jeden wiedergeborenen Christen. Aber wir können die Sehnsucht trotzdem nachempfinden, denn je schlechter es uns geht, je schwieriger unsere Situation ist, desto stärker sehnen wir uns ganz und gar bei Gott zu sein. Paulus schreibt über diese Sehnsucht den Christen in Rom: „Wir, denen Gott doch bereits seinen Geist gegeben hat, den ersten Teil des künftigen Erbes, sogar wir seufzen innerlich noch, weil die volle Verwirklichung dessen noch aussteht, wozu wir als Gottes Söhne und Töchter bestimmt sind: Wir warten darauf, dass auch unser Körper erlöst wird.“ Röm.8,23. Zum Schluss dieses Gedankengangs ruft sich der Dichter die Tatsache in Erinnerung, dass er sich auf Gott ganz und gar verlassen kann. Eigentlich könnte er ganz gelassen sein! „Warum bist du so bedrückt, meine Seele? Warum stöhnst du so verzweifelt? Warte nur zuversichtlich auf Gott! Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken, dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft.“ Ps.42,6.
II. Warum muss ich so traurig meinen Weg gehen?
Tiefe Trauer bedrückt ihn. Die erheblichen Niederschläge am Hermon, die drei Quellflüsse des Jordans speisen, scheinen ihm ein Abbild seiner Gefühlsverfassung zu sein. Er meint: „Gewaltige Wassermassen brausen und tosen, so als riefe eine Flut die andere herbei. Du hast sie geschickt; deine Wellen und Wogen rollen über mich hinweg.“ Ps.42,8. Doch trotz dieser ungemütlichen Situation erfährt er weit weg vom Tempel Gottes Gegenwart, denn er bezeugt: „Dennoch: Am Tag wird der Herr mir seine Gnade schenken, und in der Nacht begleitet mich sein Lied, ein Gebet zu dem Gott meines Lebens.“ Ps.42,9. Doch Freude löst das bei ihm nicht aus. Seine Gemütsverfassung bleibt düster. Die Traurigkeit überschattet sein Leben und er fragt Gott, den er als seinen Fels bezeichnet: „Warum muss ich so traurig meinen Weg gehen, bedrängt von meinem Feind?“ Ps.42,10. Warum erlöst du mich nicht von meinen Feinden? Siehst du nicht, wie sie mich durch ihre Attacken krank machen? Der Hohn meiner Feinde zerfrisst mich wie eine tödliche Krankheit. Den ganzen Tag spotten sie: „Wo ist denn nun dein Gott?“ Ps.42,11. Wir wissen selber, wie verletzend es ist, wenn uns Menschen verspotten. Wir kennen den fast körperlichen Schmerz, wenn sie unseren Glauben belächeln und so tun, als wären wir nicht zurechnungsfähig. Aus lauter Angst vor diesem Schmerz halten wir uns oft bedeckt und lassen nicht erkennen, dass wir Jesus lieben. Aber solche schwierigen Erfahrungen gehören zu unserem Glauben. Wer Gott treu bleiben will, der wird früher oder später dem Spott ausgeliefert sein. Der Spott machte auch vor Jesus keinen Halt. Als er am Kreuz für unsere Sünden starb, schrien die Leute: „Wenn du der König der Juden bist, dann hilf dir selbst!“ Lk.23,37. Jesus hätte sich tatsächlich selber helfen können, wenn er gewollt hätte. Doch aus Liebe zu uns, blieb er am Kreuz, denn er wollte nicht sich selber helfen. Er wollte uns helfen! Wer verspottet wird, der weiss, wie tief das in uns nagt. Spott kann uns wie eine tödliche Krankheit innerlich zerfressen. Spott kann uns einschüchtern und tief traurig machen. Aber egal wie traurig wir unseren Weg gehen. Die Hauptsache ist, dass wir auf diesem Weg weitergehen. Und das war für den Dichter ganz selbstverständlich. Nie überlegte er, sich von Gott loszusagen – im Gegenteil. Er ruft sich immer wieder in Erinnerung, dass seine Niedergeschlagenheit theoretisch nicht nötig wäre. „Warum bist du so bedrückt, meine Seele? Warum stöhnst du so verzweifelt? Warte nur zuversichtlich auf Gott! Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken, dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft. Ja, er ist mein Gott.“ Ps.42,12. Gott wird mir helfen und dafür werde ich ihm einmal danken! Deshalb bleibt er Gott treu, selbst wenn er im Moment traurig ist.
III. Warum hast du mich verstossen?
Nun fordert er Gott zur konkreten Hilfe auf: „Verschaffe mir Recht, o Gott, und führe du meinen Rechtsstreit gegen ein Volk, das keine Güte mehr kennt! Rette mich vor dem Mann, der betrügt und Unrecht übt!“ Ps.43,1. Er fragt Gott, der seine Zuflucht ist und bleibt: „Warum nur hast du mich verstossen?“ Ps.43,2. Warum hältst du mich von deinem Tempel fern? Warum lässt du es nicht zu, dass ich wie früher zu dir kommen kann? „HERR sende mir dein Licht und deine Treue, damit sie mich leiten und mich zurückbringen zu deinem heiligen Berg, zu deiner Wohnung! Dann werde ich vor Gottes Altar treten, ja, ich will zu Gott kommen, der mich mit Jubel und Freude erfüllt. Dich will ich loben beim Spiel auf der Harfe – dich, meinen Gott.“ Ps.43,3-4. Herr lass es zu, dass ich wieder vor deinen Altar im Tempel treten darf und lass mich nicht länger verstossen sein. Und wieder schliesst er diesen Gedanken mit dem Refrain ab, in dem er sich selber daran erinnert, dass er sich eigentlich gar nicht so durcheinander bringen lassen müsste. „Warum bist du so bedrückt, meine Seele? Warum stöhnst du so verzweifelt? Warte nur zuversichtlich auf Gott! Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken, dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft. Ja, er ist mein Gott.“ Ps.43,5. Wir sehen hier die Spannung, in der wir oft selber leben. Eigentlich wüssten wir, dass wir uns nicht einschüchtern lassen müssen. Wir wissen, dass wir uns auf Gott verlassen können. Aber wenn wir in Schwierigkeiten kommen, werden wir trotz besserem Wissen unruhig. Dieser Psalm zeigt uns, dass Gott damit kein Problem hat. Wichtig ist nur eines, dass wir uns immer wieder die geistlichen Tatsachen in Erinnerung rufen: „Warte nur zuversichtlich auf Gott! Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken, dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft. Ja, er ist mein Gott.“ Ps.43,5
Schlussgedanke
Wir haben gesehen, wie der Dichter trotz seiner Sehnsucht und Traurigkeit weiss, dass Gott alles so führen wird, dass er ihm dafür einmal von ganzem Herzen danken wird.Auch wir kennen Durststrecken im Glaubensleben. Die Sehnsucht näher bei Gott zu sein. Wir schreien nach mehr Wasser und es gibt dieses Wasser, denn Jesus ruft uns zu: „Wer Durst hat, soll zu mir kommen und trinken!“ Joh.7,37. Bei Jesus finden wir das Wasser, das unseren Durst nachhaltig löscht. So sagte er der Samariterin: „Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr durstig sein. Das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm zu einer Quelle werden, die unaufhörlich fliesst, bis ins ewige Leben.“ Joh.4,14. Wir müssen zu keinem Tempel laufen, wie das zur Zeit des Dichters der Fall war. Jesus lebt in mir!