
So eine junge Generation, wie wir sie gerade hier vorne stehen sehen, hat, wie wir manchmal sagen, die Zukunft noch vor sich. Wenn wir jedoch in die Weltgeschichte blicken und manche Konflikte vor Augen haben, kommt oft eine gewisse Beklommenheit und Unsicherheit in uns auf, weil wir nicht wissen, wie es weitergehen soll.
Man fragt sich: Was ist das für eine Welt, in der ihr Fuß fassen sollt? Meine Kinder sind noch wesentlich jünger. Als Eltern fragt man sich, wohin das alles führt.
Auf der anderen Seite muss ich mir manchmal bewusst machen, dass es wahrscheinlich nie eine Generation gab, die sich nicht solche Sorgen gemacht hat. Jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Trotzdem gibt es Menschen, die immer nach hinten schauen. Man kennt ja von Älteren auch die Aussage: „Früher war alles besser.“ Ob sie das immer ernst meinen, weiß ich nicht – manchen wahrscheinlich schon.
Da blickt man auf die gute alte Zeit. Die Vision einer besseren Welt ist für sie nicht etwas, das in der Zukunft liegt, sondern in der Vergangenheit. Diese bessere Welt ist das, was sich bewährt hat oder in der man selbst aufgewachsen ist. Manchmal blendet man natürlich auch die negativen Aspekte der guten alten Zeit aus. Da wird manches glorifiziert und schöner dargestellt, als es in Wirklichkeit war.
Trotzdem wollen wir nach vorne schauen. Wir wollen hören, was Jesus über diese bessere Welt zu sagen hat – über das Reich, von dem er immer wieder gesprochen hat: das Reich Gottes. Viele seiner visionären Geschichten beziehen sich auf dieses Reich Gottes.
Jene Gleichnisse, durch die wir diese Tage hier predigen, stammen aus dem Lukasevangelium.
Es geht heute Abend um Traditionen, um das Festhalten an Bewährtem aus der Vergangenheit. Auch im Blick auf Kirche und Gemeinde gibt es manche Traditionalisten. Darüber wollen wir heute Abend sprechen und das Thema etwas näher betrachten – und zwar anhand eines Textes aus dem Lukasevangelium.
Ich selbst liebe Bücher, das haben Sie vielleicht hier und da schon bemerkt. Manchmal lese ich auch eines, manchmal sogar bis zur letzten Seite. In der Regel hat ein gutes Buch auch einen guten Schluss. Die letzten Sätze großer Werke, die sich die Autoren ausgedacht haben, haben oft noch einmal eine besondere Wirkung.
Es gibt viele berühmte letzte Sätze, die am Ende großer, bedeutender und bekannter Werke stehen. Tolkien zum Beispiel lässt den dritten und letzten Band von Der Herr der Ringe, „Die Rückkehr des Königs“, mit dem Satz enden: „Ja, ich bin zurück, sagte er.“ Dieser Satz passt gewissermaßen auch zum Ende des Gleichnisses vom verlorenen Sohn: „Ja, ich bin zurück.“ Allerdings würde dieser Satz dem Ausgang der Geschichte nicht ganz gerecht werden.
Wir haben uns gestern mit Lukas Kapitel 15 beschäftigt und darüber geredet, wie Jesus überhaupt dazu kam, diese drei Geschichten zu erzählen: vom verlorenen Schaf, der verlorenen Münze und vom verlorenen Sohn.
Dabei haben wir uns in die Rolle des Vaters hineinversetzt, der die zentrale Figur im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist. Zwei weitere Rollen, eher Antihelden, nehmen die beiden Brüder ein. Da diese nicht mit Namen genannt werden, habe ich sie einmal betitelt.
Ich spreche hier von Bruder Bruch, dem Bruder, der mit dem Vater gebrochen hatte und der uns gestern beschäftigt hat. Und dann gibt es noch Bruder Braff, den wir heute betrachten. So gibt es also Bruder Bruch und Bruder Braff.
Bruder Bruch schreibt den Ausgang der Geschichte auf seine Weise. Zunächst einmal seine Fassung: Wir haben uns gestern vorgestellt, wie er nach Hause schleicht. Er war im Schweinestall gelandet, nachdem er alles ausgegeben hatte, was der Vater ihm als Erbe ausgezahlt hatte. Er war am Ende, am Ende seiner Kräfte.
Als er als Schweinehirte arbeitet, kommt er zu sich und nimmt sich vor: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen. Ich will ihm sagen, ich bin nicht wert, dein Sohn zu heißen. Mach mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Das ist der Ausgang der Geschichte, an den er glaubt. Er möchte neu anfangen, aber sehr bescheiden – als Knecht im Haus seines Vaters.
Nun, zu Hause angekommen, erzählt er diese Geschichte. Doch sie wird sofort korrigiert: Er bekommt das beste Gewand angezogen, einen Ring auf den Finger gesteckt, neue Sandalen an die Füße und einen guten Kalbsbraten vorgesetzt. Seine Vision der Geschichte ist schnell zu Ende.
Zum einen, weil ihm die Sprache verschlägt, und zum anderen, weil die Version des Vaters die weitaus schönere ist. Es ist die Geschichte von Rückkehr, Versöhnung und Angenommensein – nicht bescheiden, wie er es sich vorgestellt hat, sondern in wunderschöner Weise. Es ist eine Geschichte darüber, dass er wieder Sohn ist.
Der Junge spricht von Tagelohn, der Vater vom geliebten Sohn. Und das ist ein großer Unterschied. Bruder Bruch muss sich entscheiden, welcher Fassung der Geschichte er vertrauen will.
Außer der freudestrahlenden Reaktion des Vaters auf die Rückkehr des Sohnes wissen wir nicht genau, was in dem Jungen vorgegangen ist, wie er das Fest empfunden hat und wie er wieder in seine alte Rolle hineingefunden hat.
Ich möchte sagen: Er muss entscheiden, ob er seiner eigenen Version oder der seines Vaters vertraut. Will er Tagelohn oder will er Vollzeitsohn sein? Will er ganz dazugehören, als dieser zur Familie gehörige Junge, der erbberechtigt ist, vom Vater geliebt wird und wo ein vertrauensvolles, gutes Verhältnis in der Familie herrscht?
Es gibt aber noch jemanden, der eine klare Vorstellung vom Ausgang der Geschichte hat. Wer gestern schon ein wenig nachgedacht hat, als ich zum heutigen Abend eingeladen habe – Tradition aus Gewohnheit gut – der wird vielleicht schon auf den Gedanken gekommen sein, dass es nun um den zweiten Teil dieses Gleichnisses geht.
Der erste Teil ist schon durchaus in sich geschlossen, so haben wir es gestern auch empfunden. Manche waren berührt von dieser Geschichte. Es gab Menschen, die gestern Abend einen Neuanfang mit Jesus gemacht haben. Solche, die sozusagen als verlorene Söhne heimgekehrt sind, die sich an den Herrn Jesus gewendet haben und gesagt haben: „Vergib mir das, was gewesen ist. Ich bereue es, ich kehre um heute und ich möchte wieder in deiner Nähe leben oder ich möchte überhaupt erst einmal den Weg mit dir beginnen.“
Das ist eine wunderbare Geschichte, die die Gnade Gottes so herrlich darstellt wie vielleicht kaum eine andere Geschichte unter den Gleichnissen zumindest. Aber die Geschichte geht weiter, und ich möchte jetzt mal von Vers 25 aus Lukas 15 den zweiten Teil vorlesen.
Da heißt es: „Sein älterer Sohn aber war auf dem Feld, und als er kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Reigen. Und er rief einen Diener herbei und erkundigte sich, was das sei. Der sprach zu ihm: ‚Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder erhalten hat.‘ Er aber wurde zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber ging hinaus und redete ihm zu. Er aber antwortete und sprach zu dem Vater: ‚Siehe, so viele Jahre diene ich dir, und niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten. Und du hast mir niemals ein Böckchen gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Da aber dieser dein Sohn gekommen ist, der deine Habe mit Huren durchgebracht hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.‘ Er aber sprach zu ihm: ‚Kind, du bist alle Zeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Aber muss man jetzt nicht fröhlich sein und sich freuen, denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden und verloren und ist gefunden worden.‘“
Bruder Braff ist ein wirkliches Gemeindekind. Er ist der Ureinwohner des christlichen Abendlandes, könnte man sagen. Einer, der in einem frommen Kontext groß geworden ist, der zur Sonntagsschule geschickt worden ist, der die biblischen Geschichten von klein auf kennengelernt hat. Er ist ein Hüter der Tradition, gewissenhaft, fleißig und beständig. Er hat einen Vater, den wir kennen gelernt haben, und Freunde, von denen er hier erzählt. Er hätte gerne mal mit seinen Freunden gefeiert.
Sein soziales Netzwerk unterscheidet sich deutlich von dem eher asozialen Netzwerk seines Bruders. Nun, der ältere Bruder kommt also gerade vom Feld, und er weiß daher: Wer sät, wird auch ernten. Das ist so ein kausaler Zusammenhang. Wer etwas investiert, der kann auch erwarten, dass das Ganze Ertrag bringt. Wer arbeitet, soll auch essen. Wer Gott dient, der wird dafür belohnt – so die Vorstellung von Bruder Braff vom Schluss der Geschichte und dem, den man daraus ziehen kann.
Er ist nämlich überzeugt, dass sein Bruder wegen des Prinzips von Saat und Ernte keine Annahme und keine Vergebung verdient hat. Wer sein Erbe und damit seine Chance verspielt – wie oft soll man denn ein Erbe ausgezahlt bekommen? Es ist Einerbe. Wenn das dann ausgegeben ist, dann ist man eben bankrott. Wer also seine Chance verspielt, der endet im Schweinestall. Kausalregel: Jeder kriegt das, was er verdient.
Und rein menschlich würden wir sagen, so ist es. Die Erfahrung haben wir selber auch gemacht. Damit muss eben einer leben, der vorher nicht richtig nachgedacht hat oder falsch kalkuliert hat oder einfach verschwenderisch gelebt hat, weil er nicht mit Geld umgehen kann.
Nun, das ist also die Geschichte und die Theologie von Bruder Braff. Aber jetzt schauen wir uns diese Begebenheit noch etwas näher an.
Der Bruder kommt von der Feldarbeit, nähert sich dem Haus und stutzt erst einmal. Warum parken da so viele Autos? Die Musik ist bis hinten aufgedreht. Da muss ja irgendetwas Wichtiges passiert sein. Er hat nichts mitbekommen. Ist der Vater Bürgermeister geworden? Oder haben wir im Lotto gewonnen? Vielleicht hat der Papa bei Facebook aus Versehen ein paar Freunde zu viel zum Abendessen eingeladen – soll ja alles schon vorgekommen sein.
Als ihm dann ein Küchengehilfe über den Weg rennt, pfeift er ihn herbei. „Was ist denn da los? Sind dem alten Herren die Sicherungen durchgegangen? Oder habe ich irgendetwas verpasst?“ Dann bekommt er die Antwort in Vers 27: „Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder erhalten hat.“
Ich muss an Häger den Schrecklichen denken, der erfährt, dass seine Schwiegermutter übers Wochenende zu Besuch gekommen ist. Der Tag ist nicht mehr zu retten. Und sein Vater scheinbar auch nicht.
Das Gesicht des Bruders versteinert, die untere Hälfte steht weit offen, er kann es nicht fassen. Es ist wie bei einer offenstehenden Kühlschranktür: Der Inhalt wird sauer. Stinksauer wird der Bauer.
Sein Bruder hätte ihn am liebsten mit Fusstritten dahin zurückgejagt, wo er hergekommen ist. Er hat ihn seinerzeit mit der ganzen Arbeit alleine gelassen. Dem Vater hat er den Lebensabend versaut. Hat er mitbekommen, wie er jeden Abend am Fenster saß, voller Sehnsucht?
Der Vater war von der Traurigkeit übermannt und nicht mehr wiederzuerkennen. Das war nicht mehr dieser fröhliche Vater, wie er ihn vorher kannte. Nie hat sein Bruder es für nötig gehalten, auch nur einmal anzurufen. Und jetzt, wo er pleite ist, da kommt er angekrochen und will wahrscheinlich wieder Geld haben.
Und sein Vater fängt an zu kochen – aber nicht etwa so, wie sich der Ältere das gewünscht hätte und wie er das selber tut, der ja innerlich brodelt. Nein, der Vater kocht ein Festessen.
Während der eine das Bankett ausrichtet, richtet sich der Zorn des anderen gegen den Veranstalter. „Er aber wurde zornig und wollte nicht hineingehen“, und damit ist er der Nächste, der sich vom Vaterhaus löst. Damit haben wir es auf einmal mit dem zweiten verlorenen Sohn zu tun.
Das, was Bruder Braff zu Hause antrifft, passt so gar nicht zu seinen Überzeugungen. Der Vater hält sich nicht an die Regeln. Er hält sich nicht an das Gesetz von Saat und Ernte. „Wenn ich nach Hause komme“, sagt er sich, „dann erwarte ich kein Fest, sondern ein festes Gehalt, nämlich das, was mir zusteht, den gerechten Lohn, das ist Gerechtigkeit. Und mein Bruder soll ebenfalls seinen gerechten Lohn bekommen, nämlich nichts.“
Großzügigkeit scheint in so einer Situation völlig unangemessen zu sein. Womöglich bekommt der kleine Stinker nicht nur Mitleid vom Vater, sondern er kriegt auch noch ein zweites Erbteil, das, was eigentlich dem Älteren zugestanden hätte. Das ist der Hintergrund seines Zorns, dass ihm die Hutschnur hochgeht.
Im Haus wird getanzt, gelacht und gefeiert. Die Stimmung könnte nicht besser sein, und der Patriarch genießt das Fest. Er freut sich, hat das vorher zu seinen Dienern gesagt, und später seinem älteren Sohn: „Man muss sich einfach freuen und fröhlich sein, der Verlorene ist wiedergefunden worden.“
Der Patriarch, der Vater, ist überglücklich. Auf einmal kommt ein Bote in den Saal und flüstert dem Vater zu: „Draußen steht dein älterer Sohn, er ist zornig auf dich und auf den Bruder.“ „Ja, er soll reinkommen.“ Doch er will nicht reinkommen.
Da steht der Vater auf. Da steht der Vater auf. Gott kommt.
Die meisten Ärzte, Rechtsanwälte, Therapeuten und so weiter schätzen sich selbst sehr hoch ein. Sie erwarten, dass ihre Klienten zu ihnen kommen – nicht so Gott. Man kann sagen: Er ist schon gegangen, den unendlich weiten Weg vom Gottsein zur Menschwerdung.
Er ist nicht der erhabene Gott, der über allem steht und ungerührt vielleicht mal einen Blick auf die Erde wirft. Sondern er ist einer, der Mitleid hat mit dieser Welt. Wir haben Visionen einer besseren Welt, sind selbst voller Sorge. Doch die Sorge Gottes ist weitaus größer als unsere. Wir denken meist nur daran, dass es uns möglichst gut geht, vielleicht auch an unsere Kinder. Aber Gott denkt an den Menschen an sich.
So ist er in diese Welt gekommen. Er ist abgetaucht in das Leid dieser Welt. Jesus Christus hat sich erniedrigt. Lesen wir dazu den Philipperbrief Kapitel 2, wo es heißt, dass Jesus Christus nicht daran festhielt, Gott gleich zu sein. Stattdessen erniedrigte er sich. Er nahm Knechtsgestalt an, wurde zunächst ein Mensch wie wir. Doch dann erniedrigte er sich noch eine Stufe tiefer: Er wurde ein Diener, ein Diener für Menschen. Und er wurde gehorsam bis zum Tod – bis zum Tod am Kreuz.
Nein, Gott ist nicht jemand, der erhaben darübersteht und dann kommt der ältere Bruder herein, sagt etwas, wird nicht gehört und feiert einfach nur im Himmel. Dort ist es schön, auf der Erde ist es ihm egal – so ist es eben gerade nicht.
Es heißt hier: Der Vater steht auf und geht dem Sohn entgegen. Gott ist uns entgegengekommen. In Jesus Christus ist er gekommen und hat den Retter gesandt, Jesus Christus. Nach den vielen Verheißungen des Alten Testaments, als die Zeit erfüllt war, wurde er gesandt. Lesen Sie die prophetischen Bücher im Alten Testament durch: Alles deutet darauf hin, dass dieser Messias, der Erlöser, kommen würde. Und in Jesus Christus ist er gekommen.
Das ist der Grund, warum wir Weihnachten feiern. Gott geht den Sündern entgegen. Diese Geschichte zeigt uns, dass Gott beide liebt – die Braven nicht weniger als die Bösen. So wie er dem Bösen entgegenlief.
Vielleicht haben Sie gestern Abend die Szene noch vor Augen, in der der Vater seinem Sohn entgegenrannte, während der Junge schlich. Wir erinnern uns an Jakobus 4,8, wo es heißt: "Naht euch zu Gott, so wird er sich euch nahen." Gott kommt uns entgegen.
So, wie er dem Bösen, also dem jüngeren Sohn, entgegenlief, so kommt er auch dem Guten entgegen. "Sein Vater aber ging hinaus und redete ihm zu." Wie viel Sorge hat Gott um die Bösen wie auch um die Guten!
Ich weiß nicht, wo Sie sich da einordnen würden. Wahrscheinlich zählt sich hier jeder eher zu den Guten. Die Bösen sind für viele Verbrecher, die im Gefängnis sitzen. Wir haben uns ja nichts zu Schulden kommen lassen. Aber Gott sorgt sich sowohl um die Sünder, die ganz offensichtlich Sünder sind, als auch um solche, denen man das nicht auf den ersten Blick ansieht.
Wie viel Sorge hat Gott um die Frommen und um die Selbstgerechten, um die Sünder und um die Gerechten! Der Bruder wollte nicht hineingehen, doch sein Vater ging hinaus und redete ihm zu. Der Vater appelliert an ihn, seinen Willen zu ändern und hereinzukommen. Der Bruder wollte nicht.
Jetzt bittet der Vater eindringlich. Manchmal hört man Menschen sagen, sie könnten nicht glauben. Sie würden es gerne, bewundern andere, die es annehmen können, aber selbst können sie nicht glauben. Wir haben uns in diesen Tagen schon bewusst gemacht, dass eine Variante sein könnte, dass man in Wirklichkeit gar nicht will. Zumindest sollte man sich diese Frage stellen: Willst du?
Hier wird gesagt, dass der Bruder nicht hineingehen wollte. Manche gefallen sich in der Rolle des Außenseiters, des Kritikers oder der beleidigten Leberwurst. Vielleicht haben sie schlechte Erfahrungen mit Frommen gemacht und sagen sich: "Damit will ich nichts mehr zu tun haben. Kirche, Gottesdienst usw. kann hier gestohlen bleiben." Manche nutzen das als willkommenes Argument, um sich nicht weiter mit dem Evangelium und der biblischen Botschaft auseinanderzusetzen.
Außenseiter geworden – willst du das so? Wir sollten ehrlich sein, wenn wir uns dem Wort Gottes stellen. Diese Fragen müssen Sie mir nicht beantworten. Ich werde hier niemanden vorne abfragen.
Doch wir können zumindest schon mal ehrlich werden vor uns selbst und vielleicht einen Schritt weitergehen und auch ehrlich werden vor Gott. Wenn Sie mit Gott im Zwiegespräch sind, wenn Sie beten, müssen Sie nichts vertuschen. Denn Gott weiß ganz genau Bescheid über Ihre Motive, über die dunklen Seiten in Ihrem Leben, über Ihre Sünden.
Vor Menschen versuchen wir oft, besser dazustehen, als wir sind, weil Menschen nicht alles wissen. Mein Gegenüber kann mir nur bis zur Stirn schauen. Doch vor Gott zu heucheln ist zwecklos, denn er durchschaut uns.
Wenn wir ehrlich geworden sind vor uns und dann auch ehrlich werden vor Gott, ist schon ein wesentlicher Schritt getan. Die Bibel spricht auch davon, dass wir es vor Menschen bekennen sollen, wenn es nötig ist und wenn wir uns an Menschen schuldig gemacht haben. Auch dort sollten wir reinen Tisch machen.
Ich kann Ihnen sagen: Es ist so erleichternd, wenn man diese Masken ablegt. Es ist anstrengend, ständig nach außen besser wirken zu wollen, als man in Wirklichkeit ist. Wenn diese Fassade bröckelt und die Maske Löcher und Risse bekommt, kann die Gnade Gottes eindringen und einen Menschen verändern.
Es gibt eine erschreckende Bibelstelle, in der Jesus sagt, dass der Tag kommen wird, an dem gewisse Leute, die er als Heuchler bezeichnen muss, vor ihm stehen werden. Am Ende der Zeit wird er ihnen dann sagen: „Ich habe euch nie gekannt, geht von mir, ihr Übeltäter!“
Wir haben den Herrn Jesus in diesen Tagen immer als den lieben Herrn und gnädigen Vater kennengelernt. Doch es gibt auch diese Bibelstelle, in der er sagt: „Weicht von mir, ihr Übeltäter, ich kenne euch nicht.“ Das ist befremdlich.
Kann es damit zu tun haben, dass es Menschen gibt, die sich ihm nie zu erkennen gegeben haben? Vielleicht liegt der Hintergrund dieser Aussage „Ich kenne euch nicht“ darin, dass sie sich nie wirklich so gezeigt haben, wie sie sind. Jesus sagt: „Ich kenne euch, ihr habt euch mir nie geöffnet.“
Nochmal: Die Gnade Gottes kann nur da eindringen, wo wir unsere Fassade ablegen. Wo wir das „So tun als ob“ loslassen. Wenn diese Fassade Löcher bekommt, kann die lebensverändernde Kraft Gottes unser Herz erreichen. Dann werden wir zu neuen Menschen.
Ich wünsche mir, dass viele ehrlich werden. Dabei schließe ich mich selbst mit ein. Oft versuche auch ich, vor anderen Menschen etwas anderes darzustellen. Ich wünsche mir, dass wir, auch wenn wir solche Gespräche führen, ehrlich sind.
In diesen Tagen haben manche gesagt: „Ich erkenne mich manchmal selbst nicht wieder.“ Sie haben offen über ihre Charakterschwächen gesprochen. Darüber freue ich mich – nicht über die Schwächen, sondern über die Ehrlichkeit.
Ehrlichkeit ist immer der erste Schritt – nicht zur bloßen Besserung, indem wir uns zusammenreißen, sondern der erste Schritt zur Heilung. Denn dann vergibt uns Gott unsere Sünden, wenn wir sie bekennen.
Das gilt auch für Christen. Im ersten Johannesbrief am Anfang steht: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.“
Wenn wir gereinigt sind, fühlen wir uns wohl – so wie nach einer Dusche. Geistlich ist das noch viel stärker: Wenn du innerlich von dieser Sauberkeit und Reinheit durchdrungen bist, bist du froh über die Vergebung, die dir in Jesus Christus begegnet ist.
Lesen wir weiter: „Der Vater redete ihm zu.“ Im griechischen Text steht hier eine Mischung aus „bitten“ und „ermahnen“.
Manchmal lassen sich Worte aus dem Neuen Testament, das vorwiegend auf Griechisch geschrieben ist, nicht eins zu eins übersetzen. Das ist bei jeder Sprache so. Wenn man einen englischen Text übersetzt, würde der eine Übersetzer ein anderes Wort wählen als der andere.
Deshalb ist es oft hilfreich, verschiedene Übersetzungen miteinander zu vergleichen.
„Er redete ihm zu“ bedeutet hier ein Bitten, aber mit starkem Nachdruck, auch eine Ermahnung. Und das steht einem Vater zu – dass er seinen Sohn ermahnt.
Dasselbe Wort kommt im Neuen Testament noch einmal vor, und zwar im 2. Korintherbrief, Kapitel 5. Dort schreibt der Apostel Paulus: „So sind wir nun Gesandte an Christi statt, indem Gott gleichsam durch uns ermahnt.“ Das heißt, Gott bittet durch uns nachdrücklich und ermahnt.
Paulus sagt: „Wir bitten für Christus: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Wir bitten eindringlich und herzlich an der Stelle von Jesus Christus.
Steh nicht als Außenstehender da mit verschränkten Armen und manchmal beschränkten Argumenten wie: „Es geschehen so schreckliche Dinge und Gott schweigt dazu.“ Manche kommen mit vorgefertigten Argumenten, um sich die Botschaft vom Hals zu halten: „Wie kann Gott das alles zulassen?“
Gott schweigt nicht. Er tritt hervor und bittet: „Lass dich versöhnen!“ Er steht nicht abseits vom Leid.
In Jesus Christus sind alle Wellen des Leids und des Gerichts Gottes sogar am Kreuz zusammengeschlagen worden.
Aufgrund dieses stellvertretenden Opfers, das Jesus am Kreuz gebracht hat, ist es möglich, dass Menschen Vergebung erfahren. Denn er hat für uns die Schuld getragen, das Gericht Gottes auf sich genommen, damit wir Vergebung bekommen können.
Jesus hat am Kreuz mit seinem Leben bezahlt, dort, wo wir vor Gott zahlungsunfähig sind. Das ist das Evangelium.
Man muss mitansehen, wie der Bruder alles so einfach hinterrücks bekommt, was er sich selbst im Schweiße seines Angesichts erarbeitet hat. Dann passiert es: Plötzlich entlädt sich sein jahrelang angestauter Frust, und er schleudert ihn seinem alten Vater entgegen.
Vers 29: „Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe niemals ein Gebot von dir übertreten.“ Das heißt: Ich habe so viel getan, worüber du dich freuen könntest. Gleichzeitig habe ich anderes gelassen, so wie du es erwartet hast. Von klein auf habe ich für dich geschuftet, mein Nervenkostüm und mein Knochengerüst verschlissen, Hirnschmalz verbraten und Ideen aus allen Poren geschwitzt. Doch nie habe ich ein Wort des Dankes erhalten – nicht einmal eine Einladung zu einer Grillparty mit meinen Freunden, du alter Ziegenbock. Das ist nicht fair!
Und seien wir doch mal ehrlich: Irgendwie kann man den braven Bruder auch verstehen. Gerecht im Sinne dessen, wie wir Gerechtigkeit normalerweise verstehen, ist das Ganze tatsächlich nicht. Die Söhne, die sich richtig verhalten, werden links liegen gelassen. Der ältere Bruder bleibt außen vor, während bei der Rückkehr des jüngeren Bruders eine große Party gefeiert wird.
Was soll uns die Geschichte sagen? Dass es das Beste ist, sich schlecht zu benehmen? Ist das die Konsequenz, die wir daraus ziehen sollen? Ist das das, was Jesus uns lehren möchte?
Der Vater definiert Gerechtigkeit tatsächlich neu. Gnade und Großzügigkeit sind in unserem Sinn wirklich nicht fair und nicht gerecht. Noch einmal: Gnade und Großzügigkeit sind in unserem Sinn nicht fair und gerecht – das ist nun einmal das Wesen der Gnade. Sie widerspricht dem, was wir erwarten, nämlich der Kausalität: Was man sät, das wird man auch ernten.
Gott liebt die Menschen nicht aufgrund dessen, wer wir sind, sondern aufgrund dessen, wer er als Gott ist – nämlich ein gnädiger Gott. Nicht aufgrund dessen, was wir an guten Werken vorzuweisen haben. An uns stellt die Gnade Gottes überhaupt keine Bedingungen.
Das beweisen uns auch die beiden Brüder in dieser Geschichte.
Das ist jetzt ein wichtiger Punkt: Lassen Sie sich nicht von dem Zug ablenken.
Diese beiden Brüder beweisen, dass die Gnade Gottes keine Bedingungen stellt. Erstens der jüngere Bruder. Er zeigt uns, dass es nichts gibt, was Gottes Liebe zu uns vermindert.
Mama Reinhard ist gerade rausgegangen, um den Zug anzuhalten – vielen Dank! Aber jetzt fährt er doch weiter. Es ist gleich vorbei, dann können Sie mich wieder verstehen. So ist das eben: Wenn der Zug abgefahren ist, ist es zu spät.
Sehen Sie das auch als ein Bild, als ein kleines Gleichnis, das Sie da aus dem Fenster beobachten können. Gott lädt Sie ein, er kommt Ihnen entgegen und sagt: „Komm rein!“ Wenn man Nein sagt, ist es zu spät. Irgendwann ist es so weit. Jetzt steht der Zug noch einmal, und heute Abend haben Sie die Gelegenheit, aufzuspringen. Gleich wird er weiterrollen.
So, jetzt sind wir wieder da, und wir können uns verständigen. Wir waren dabei, ich habe versucht zu erklären: Die Gnade Gottes stellt keine Bedingungen. Das ist eine Definition von Gnade – bedingungslos. Wenn ich ein Adjektiv gebrauchen sollte, um Gnade zu definieren, würde ich einfach sagen: bedingungslos.
Und das zeigen die beiden Brüder. Erstens der jüngere Sohn zeigt, es gibt nichts, was wir tun könnten, damit Gott uns weniger liebt. Das heißt: keine Frechheit, kein rausgeschmissenes Geld, kein ausschweifendes Leben, kein Ehebruch – nichts, was wir tun können, damit Gott uns weniger liebt.
Der daheim gebliebene Sohn zeigt die andere Seite: Es gibt auch nichts, was wir tun könnten, damit Gott uns mehr liebt. Sprich: Kein besonderer Verzicht, wie er meinte, ihn geübt zu haben, oder kein besonderer Einsatz, den er zweifellos gebracht hat, auch kein exzellentes Bibelwissen.
Es gibt nichts, was wir tun können, damit Gott uns weniger liebt – so der jüngere Sohn. Und es gibt auch nichts, was wir tun können, damit Gott uns mehr liebt – so der ältere Sohn. Wir können es uns nicht erarbeiten. Das wäre Gesetzlichkeit, also die Vorstellung, dass wir aufgrund unserer guten Werke bei Gott besser abschneiden und mehr Lohn verdient haben als andere.
Nichts, was wir tun können, damit Gott uns weniger liebt. Und nichts, was wir tun können, damit Gott uns mehr liebt. Ist das nicht befreiend? Es ist nicht meine oder unsere Leistung, die mich oder uns vor Gott angenehm macht, sondern allein seine Gnade. Und es ist auch nicht mein häufiges Versagen.
Auch als Christ versage ich, falle auf die Nase, bin enttäuscht von mir selbst und manchmal sehr niedergeschlagen. Aber Gott lässt mich nicht durchfallen, weil seine Gnade weiter reicht. Wenn die Sünde groß ist, sagt der Apostel Paulus im Römerbrief, dann ist die Gnade noch größer, noch überschwänglicher geworden (Römer 5,20).
Das ist eine wunderbare Botschaft. Martin Luther hat diese große Befreiung im Römerbrief gerade entdeckt. Sie war letztendlich auch der Anstoß für die Reformation.
Und selbst wenn ich das Gegenteil verdient habe, bin ich eingeladen, meinen Platz am Tisch in Gottes Familie einzunehmen.
Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Sie sind sich bewusst, dass Sie alles andere als Gnade verdient haben, dass Sie eine Bestrafung verdient haben. Manche leiden darunter und werden krank. Sie denken: Das muss ein Gericht Gottes sein, weil ich damals das und das getan habe.
Gnade Gottes heißt, dass ich trotz allem, was gewesen ist, diese Gunst Gottes erfahre. Dass er mir entgegenkommt, mir die Hand entgegenstreckt und mich aufnehmen möchte. Er will versöhnt mit mir in der Ewigkeit den Himmel teilen.
Wir wären ja auch merkwürdige Eltern, wenn wir sagen würden: Wir lieben unsere Kinder nur, wenn etwas aus ihnen wird, wenn wir stolz auf sie sein können, wenn sie groß sind.
Unsere Kinder haben jetzt noch nicht so viel geleistet. Tilda hat es noch nicht einmal geschafft, die Straße zu kehren. Ich warte seit zwei Jahren darauf, dass ich da ein bisschen Entlastung bekomme. Aber ich liebe sie trotzdem.
Eltern lieben in der Regel ihre Kinder, weil es ihre Kinder sind – nicht aufgrund von Leistungen. Vielleicht gibt es solche Eltern hier, die sagen: Ich liebe meine Kinder nur, wenn etwas aus ihnen wird. Nein, da ist doch ein ganz anderer Bezug zu den Kindern da.
Und so ist die Liebe Gottes zu uns nicht abhängig von unserer Leistung. Seine Gnade ist völlig einseitig, nicht abhängig von mir.
Der Ältere war so routiniert, dass ihm vor lauter Arbeit das wahre Wesen seines Vaters gar nicht mehr aufgefallen war. Zu Hause lief alles irgendwie aus reiner Gewohnheit. Es war immer schon so gewesen.
Wenn wir an die Reformation denken – 500 Jahre, das ist eine lange Tradition – dann gewöhnt man sich an manche Formen so sehr, dass man sich nichts anderes mehr vorstellen kann. Dabei sind natürlich auch Dinge eingeflossen, die biblisch schwer zu begründen sind, aber man hält dennoch daran fest.
Traditionen sind wie Straßenlampen, die uns den Weg erhellen. Wir sind auf Traditionen angewiesen. Ich möchte nichts gegen Traditionen sagen, denn die Bibel selbst ist eine Tradition. Tradition bedeutet Überlieferung – eine Überlieferung derer, die es erlebt und aufgeschrieben haben, und die an die nächste Generation weitergegeben wird.
Nichts gegen Traditionen, wie Straßenlampen, die uns den Weg erhellen. Aber Betrunkene halten sich an diesen Straßenlampen fest. Es gibt einen Unterschied zwischen Tradition und Traditionalismus. Traditionalismus ist Tradition um der Tradition willen. Tradition ist der lebendige Glaube derer, die tot sind – also der Väter der Vergangenheit. Traditionalismus hingegen ist der tote Glaube derer, die noch leben.
Es kann der Tod unseres Glaubens sein, wenn wir vergessen, welche Gnade uns errettet hat und welches Vorrecht es ist, Gott Vater nennen zu dürfen. „Aber lieber Vater“ ist ein Kosename, den wir zu Gott sagen können, so lehrt es uns Jesus.
Um Annahme zu erleben, muss man nicht erst in die Fremde gehen und fleißig sündigen, um das Wunder der Heimkehr zu erfahren. Es genügt, sich jeden Morgen bewusst zu machen, welch ein Vorrecht es ist, überhaupt mit Gott reden zu dürfen. Das ist eine wunderbare Gnade, die uns immer wieder neu erfrischen soll.
Das wollen wir nicht aus purer Gewohnheit tun. Es gibt gute Gewohnheiten, aber auch abgestumpfte, kalte und leblose Gewohnheiten. In manchen Gemeinden und im Leben einzelner Menschen funktioniert alles nur noch mechanisch.
Das Schlimmste, was uns Christen passieren kann, ist, wenn unser Glaube uns zu etwas Selbstverständlichem wird. Es ist nicht selbstverständlich, dass Gott uns gnädig war, dass er uns in Jesus Christus aus dieser verlorenen Welt herausgerettet hat, dass wir Visionen einer besseren Welt haben, dass uns der Himmel verheißen ist und dass wir Kinder Gottes heißen dürfen, wenn wir an Jesus Christus glauben.
Das ist nicht selbstverständlich. Für den älteren Sohn war das alles völlig normal, und er war nicht dankbar. Das ist sein Problem. Der ältere Bruder trägt das Dasein im Vaterhaus wie eine alte, verschlissene Jeans. Er trägt sie, und er trägt sie ab.
Danke Gott für seine Güte, danke ihm für seine Gnade, danke ihm für seine Großzügigkeit. So wirst du das Wunder der Vaterliebe Gottes im Bewusstsein behalten. Dann bleibt dein Glaube frisch, du bleibst täglich und nächtlich froh und zudem frei von Kritik.
Gott ist nicht nur reich an Gnade, sein Vermögen ist auch sonst nicht zu verachten. In 2. Mose 19 lässt er uns nebenbei mitteilen: „Mir gehört die ganze Erde.“ Das ist nicht mehr steigerungsfähig. Sein Vermögen ist wirklich nicht zu verachten.
Und hier sagt der Vater zum Kind: „Du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein.“ Im Alten Testament sagt Gott: „Mir gehört die ganze Erde.“ Und jetzt sagt er zu seinem Sohn: „Was mein ist, ist dein.“ Stell dir das vor!
In Jeremia 3 heißt es: „Mein Volk soll meiner Gaben die Fülle haben“, spricht der Herr. Mein Volk soll Anteil haben an diesem gewaltigen Besitz. „Was mein ist, ist dein“, sagt er zum Vater.
Vielleicht kennen Sie den Satz anders: „Was dein ist, ist mein, und was mein ist, geht dich nichts an.“ So reden wir oft und denken an das, was wir kriegen können und auch behalten wollen, nicht teilen wollen.
Im Blick auf Gott sind viele von uns sehr viel bescheidener. Sein Sohn hätte viele Böcke schlachten können und mit seinen Freunden feiern, aber er hat es nicht gemacht.
Vergiss nicht, dass du als Gotteskind ein Königskind bist. Er ist der Herr aller Herren und der König aller Könige. Ein Gotteskind ist ein Königskind.
Ich habe vor einigen Jahren eine liebe, alte Glaubensschwester aus Dillenburg beerdigen müssen oder dürfen. Sie ist 91 Jahre alt geworden – ein gesegnetes Alter, vieler Mengen. Ich habe sie sehr geschätzt. Sie war mir ein großes Glaubensvorbild. Ich habe mich gerne mit ihr unterhalten und habe sie manches Mal mit nach Karlsruhe im Auto genommen, wenn ich unterwegs Richtung Süden war. Dort wohnte ihre Tochter, und wir hatten viele gute Gespräche miteinander.
Sie erzählte mir einmal, wie ihre Tante im Zweiten Weltkrieg, als sie ausgebombt war und nichts mehr hatte, für ihren Sohn um eine alte Hose gebetet hat. Diese Tante war eine gläubige Frau. Sie betete darum, dass ihr Sohn etwas zum Anziehen bekommt – eben eine alte Hose. Es hat gedauert, aber in derselben Woche erhielt sie tatsächlich eine alte Hose. Allerdings musste sie diese an mehreren Stellen flicken und reparieren.
Hela, die damals noch ein Kind war, fragte dann ihre Tante: „Warum hast du nicht um eine neue Hose gebetet? Dann hättest du jetzt nicht so viel Arbeit.“ Das ist dieser kindliche Glaube eines Königskindes. Warum sind wir oft so bescheiden? Warum beten wir nicht um Außergewöhnliches? Wenn wir jetzt eine Zeltevangelisation haben, bei der Scharen zum Glauben kommen könnten, beten wir manchmal: „Herr, wenn sich nur einer bekehrt, dann hat sich der Aufwand gelohnt.“ Das ist alles richtig, aber es ist auch ein bescheidenes Gebet. Ich erwarte viel mehr.
Ich wünsche mir, dass sich der Himmel öffnet und dass Gott sich neu in unserer Zeit offenbart. Dass neue Gemeinden erweckt werden und Christen mobilisiert werden, wieder neu hinzugehen. In der letzten Zeit haben wir sehr wenig Zeit, um das Evangelium von der Gnade Gottes denen zu sagen, die es hören müssen. Warum sind wir so bescheiden? Als Söhne und Töchter sind wir im Prinzip Prinzessinnen und Prinzen, und wir sind reich. Wenn wir beten, brauchen wir nicht bescheiden zu sein.
Den Schluss der Geschichte schreiben nicht die Söhne, sondern der Vater. Es ist ein Happy End mit offenem Ausgang. In Vers 32 heißt es: „Aber man musste doch jetzt fröhlich sein und sich freuen, denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden.“
Freust du dich, wenn andere aus dem Schlamassel herausfinden? Ist es dir ein Anliegen, dass Menschen zurechtkommen, die ihr Leben an die Wand gefahren haben? Setzt du dich vielleicht sogar dafür ein? Der Vater ist überglücklich, als er seinen abgemagerten, bandwurmbesetzten, nach Schweinestall stinkenden Sohn wiederhat. Der Vater platzt fast vor Freude.
Und sein Ältester? Merkt er gar nicht, wie er sich in seiner Bravheit gerade von seinem Vater entfremdet und wie sein Herz inzwischen in einem ganz anderen Takt schlägt? Wer nicht mehr mitgerissen wird, wenn ein Mensch umkehrt und eine Seele gerettet wird, der entfremdet sich vom Vater. Auch wenn er noch so entschlossen im Haus des Vaters seine frommscheinenden Traditionen pflegt, entfremdet er sich vom Vater.
Die Verbindung zum Vater ist gestört, wenn wir uns nicht mehr da freuen können, wo Gott sich freut, und wenn wir nicht mehr trauern, wo Gott trauert und leidet. Dann schlägt unser Herz in einem anderen Takt. Und ein Herz, das den Vater verliert, verliert auch bald den Bruder und die Schwester. Es sieht in dem anderen nur noch den Lumpen, aber nicht mehr die verlorenen Kinder Gottes, die in diesen Lumpen stecken und für die Christus gestorben ist.
Das Ende der beiden Brüder ähnelt sich auffällig. Beide wollen sich damit begnügen, Tagelöhner zu sein. Der eine will seine Schuld abarbeiten, der andere will sich Anerkennung erarbeiten. So unterschiedlich uns die beiden Söhne im ersten Moment vorkamen, so ähnlich sind sie sich plötzlich doch in ihrem Verhalten und in ihrer Einstellung.
Das Ende von Bruder brav klingt nicht gerade nach einem Sohn und nach einem Erben, dem ohnehin alles gehört, sondern nach einem Knecht, der auf das pochen muss, was er sich verdient hat. Das wahre Ende dieser Geschichte aber schreibt der Vater. Und das ist ein Happy End. „Man musste doch jetzt fröhlich sein und sich freuen.“
Trotzdem bleibt das Ende irgendwie offen. Wir erfahren nämlich nicht, wie der ältere Bruder reagiert. Ob er wutentbrannt weggeht – das wäre eine Möglichkeit – oder ob er sich doch vom Vater überreden lässt und mit reinkommt, sich von der Feierlaune anstecken lässt. Die Reaktion bleibt den zuhörenden Pharisäern und Schriftgelehrten überlassen.
Die Reaktion wird den Zuhörern überlassen, und letztendlich auch dir als Zuhörer. Wie reagierst du, nachdem du das gehört hast? Vielleicht konntest du den einen oder anderen Gedanken nachvollziehen und zustimmen. Was soll jetzt werden, wenn du als Außenseiter weitermachst? Wird sich nichts ändern, wenn du dabei bleibst bei deiner Haltung, dich mit dem älteren Sohn zu identifizieren?
Die Alternative wäre, dass du reinkommst und dich mit Gott versöhnen lässt. Ich bitte darum für Christus.