Einführung in das Gleichnis vom verlorenen Schaf
Wir lesen aus dem Lukasevangelium, Kapitel 15, Verse 4 bis 7:
Jesus sprach immer sehr bildhaft und anschaulich, so auch hier: „Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste zurück, wenn er eins von ihnen verliert? Er geht dem Verlorenen nach, bis er es gefunden hat.
Und wenn er es gefunden hat, legt er es voller Freude auf seine Schultern. Wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ‚Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.‘
Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ (Lukas 15,4-7)
Die Herausforderung der Sprache und des Glaubensverständnisses
Liebe Gemeinde,
wenn Sie oben in Dägerloch den Trimmdichpfad entlanggehen, stehen dort verschiedene Tafeln, an denen man tolle Übungen machen kann.
Aber es gibt auch eine Tafel, bei der ich immer wieder mit meinen Gedanken hängenbleibe, wenn ich dort vorbeikomme. Dort steht nämlich eine Warnung, die sich an Menschen mit einer habituellen Schultergelenksluxation richtet.
Sie wissen vielleicht, was das ist? Nein? Ich auch nicht so genau. Ich verstehe nur, dass es etwas mit der Schulter zu tun hat. Irgendwie ist da etwas mit der Schulter verrutscht oder ausgekugelt. Ach, diese Fremdwörter sind wirklich eine Herausforderung.
Heute, an diesem Konfirmationstag, denke ich an unsere Konfirmanden. Vielleicht ging es ihnen manchmal ähnlich. Viele, die längst aus der Konfirmation herausgewachsen sind, sagen: „Ich habe zwar viel gehört, aber das waren immer so schwierige Worte und Begriffe.“
Je mehr man darüber nachdenkt und grübelt, desto mehr Fragen tauchen auf. Ganz genau weiß ich immer noch nicht, was damit gemeint ist.
Darum soll es heute nicht um Begriffe gehen, nicht um schwierige Worte, nicht um Grübeln und auch nicht um Spindisieren – so wie wir es oft tun, wenn es um die Fragen des Glaubens geht. Dann flüchten wir uns gerne in dunkle Gedanken: Wer ist Gott? Wo ist Gott? Wie ist Gott?
Wie gut ist es da, dass Jesus uns Klarheit bringt. Soweit wir es wissen müssen, sagt er es uns. Die Bibel ist so ein kostbarer Schatz, da wird vieles plötzlich ganz einfach.
Wir machen es kompliziert, die Theologen machen es schwierig, und oft reden die Pfarrer so, dass man es kaum versteht. Aber Jesus redet so einfach.
Auch unsere Konfirmanden können das heute verstehen. Wenn Jesus nur sich selbst zeigt, so ist Jesus. Und das ist Glauben: Jesus kennen, ihn sehen und auf ihn blicken.
Das Ziel des Glaubens: Jesus erkennen
Man kann eine lange Wegstrecke zurücklegen, bis man alt wird, und viele haben immer wieder die Vorstellung, dass sie vielleicht einmal zunehmen in der Erkenntnis. Sie sagen: „Ich will immer weiter in die Geheimnisse des christlichen Glaubens eindringen, ich will immer mehr verstehen.“
Paulus war ein großer Theologe. Am Ende seines Lebens konnte er sagen: „Ich habe nur noch ein Ziel: Ich will Jesus erkennen, ihn immer mehr sehen und immer mehr vor Augen haben.“ Sein ganzes Denken sollte sich nur um Jesus drehen. Er wollte nur noch von ihm reden.
Man kann es gar nicht simpel genug in die Mitte seines Glaubenslebens stellen: „Mir geht es um Jesus.“ Es geht nicht um Menschen, nicht um Kirchen und Konfessionen, nicht um diese oder jene Lehre und auch nicht um bestimmte Geheimnisse. Paulus wollte Jesus kennen, ihn so verstehen, wie er ist, und seinen Worten nachlauschen. Durch diese Worte wollte er Jesus besser verstehen.
Die Bedeutung jedes Einzelnen für Jesus
Was zeigt uns Jesus heute? So wichtig sind wir ihm – so wichtig bist du ihm.
Unsere Konfirmanden sind heute gefeiert. Sie stehen einmal im Mittelpunkt der Feier. Das ist für sie etwas Besonderes, denn oft erleben sie das nicht. Sie leiden darunter, dass sie, wie Eltern oder Geschwister manchmal sagen, noch so klein sind. Und es ist gut, wenn man einmal merkt: Ich bin wichtig, um mich kreist das Fest.
Doch das ist nicht nur für Konfirmanden wichtig. Das ganze Leben hindurch wird man oft geschubst und an die Seite gedrängt. Man erlebt Benachteiligung, und manchmal ist daran auch etwas Wahres. Wenn heute viele Frauen von ihren Verletzungen sprechen, erzählen sie, wie oft sie erlebt haben, dass Männer sie nicht gewürdigt haben. Obwohl sie mindestens genauso viel leisten, werden sie oft beiseitegeschoben. Wenn der Wert nicht geachtet wird, tut das weh.
Ein alter Mann in einem Pflegeheim erzählte mir einmal etwas, das mich tief berührte. Ich wollte mit ihm reden und dachte, vielleicht kann ich ihm auf seinem letzten Weg noch etwas mitgeben. Wissen Sie, wovon er sprach? „Meine Schwester hat mich das ganze Leben immer unterdrückt.“ Lebt seine Schwester noch? „Nein, aber ich komme nicht los von den alten Wunden.“ Es ist schlimm, wenn Menschen unter ihrem verletzten Selbstwertgefühl leiden. Sie fragen sich: Was bin ich eigentlich?
Darum kämpfen wir immer wieder darum, dass wir etwas darstellen, dass wir etwas sind. Ich halte alle menschlichen Versuche, unserem Leben einen Wert zu geben, für sehr gekünstelt. Ich weiß auch nicht, ob sie uns wirklich viel helfen. Auch Titel sind sicher schön, wenn man sie vor seinen Namen schreiben kann. Aber ob sie uns wirklich ein neues Selbstgefühl geben? Wenn wir manche Sprosse auf der Karriereleiter erklommen haben, ob uns das wirklich etwas gibt?
Die größte Anerkennung, die Menschen je erfahren können, ist, dass Jesus mich und dich für wichtig und brauchbar hält. Er geht dir nach und sucht dich. Er braucht dich. Er mag dich, du gefällst ihm, und er will dich haben.
Die radikale Liebe des Hirten
Diese Worte kann ich oft nicht verstehen: Es heißt, der Hirte lässt neunundneunzig Schafe in der Wüste zurück, nur um das eine Verlorene zu suchen. Jesus hat es sogar noch merkwürdiger ausgedrückt. Er sagte: Wer unter euch macht es nicht so?
Ich möchte sagen: So macht es keiner von uns. Neunundneunzig Schafe sind uns wichtiger als das eine Verlorene. Und wenn das schon passiert, dann muss man aufpassen, dass man von den neunundneunzig nicht noch ein paar mehr verliert. Darum muss man erst recht bei den neunundneunzig bleiben. So ist unsere Wertordnung.
Vielleicht denkt man sich: Es wäre besser gewesen, man hätte eine Versicherung abgeschlossen, man hätte sich vor diesem Notfall geschützt. Aber so, wie es hier steht – wer unter euch macht es nicht so?
„Es ist doch bloß ein Schaf“, würden wir sagen. Das ist unvergleichlich an Jesus: Er schreit niemanden an, er vergisst niemanden. Und es läuft kein Mensch über diese Erde, den Jesus nicht sucht und den Jesus nicht liebt.
Und das geht ja noch viel weiter: Selbst wenn dieser Mensch alles Furchtbare, Unerdenkliche, Grausame und Böse in seinem Leben zusammengeballt hat, gibt Jesus ihn nicht auf.
Das soll ja die Hirtenliebe auch von uns beflügeln. Das soll immer wieder unser Denken sein, dass wir nicht über Menschen den Stab brechen, sondern wie Jesus uns gerade solchen Menschen annehmen und sie suchen. Denn Jesus gibt keinen auf, weil Jesus jeden für wichtig und für wertvoll hält.
Die Würde des Menschen und die Suche Jesu
Bei uns drüben beim Bäcker hing ein Zettel, auf den ein Kind geschrieben hatte: Vor acht Tagen ist mein Kanarienvogel entflogen. Wer hat ihn gesehen?
Dann wurde der Vogel beschrieben: gelb, ungefähr so groß und mit so einem Schnabel. Es ist immer etwas Rührendes, wenn so ein Zettel hängt. Das gibt es doch bei uns – diese große Liebe, während der andere vielleicht die Achseln zuckt und sagt: „Ach, was ist schon ein Vogel?“ Vielleicht sagt er sogar noch ein wenig ironisch: „Lass ihm doch die Freiheit!“
Doch da steht ein Kind mit verheulten Augen und sagt: „Der braucht mich doch, mein Peter, der braucht mich doch!“
Das ist nur ein ganz schwaches Abbild der Hirtenliebe Jesu. Wenn wir schon Haustiere lieben, ob es ein Hund oder ein Hamster ist, wie viel mehr liebt doch der ewige Gott Menschen, die er geschaffen hat.
Das ist die Würde, die über jedem Menschen steht, solange Menschen leben: Jesus sucht sie. Es gibt kein verlorenes Leben, es gibt kein unwertes Leben. Es gibt kein unnützes Leben.
Und wenn ein Leben noch so verderbt ist, sucht Jesus Menschen. Er will unser Leben verändern und neu machen.
Freiheit und Verlorensein
Jetzt möchte ich Ihren Blick auf etwas anderes lenken. Jesus spricht vom Verlorensein, von einem Schaf, das verloren ist. Man kann die Geschichte auch ganz anders lesen und sagen: So ein Schaf fühlt sich ganz glücklich. Endlich ist es der Vormundschaft des Hirten entflohen. Endlich kann es sich selbst verwirklichen, und der blöde Hund, der immer wieder in die Füße beißt, ist nicht mehr da.
Jetzt kann man einmal leben, wie man selbst leben will. Ist es nicht unser Lebenstraum? Gehört es nicht zu unseren höchsten Lebenszielen, dass man sich selbst verwirklichen kann und sein Leben so gestalten kann, wie man es möchte? Ich gestehe Ihnen, dass mich das auch immer lockt. Das ist das Größte aus unseren Gedanken und Vorstellungen heraus: frei zu leben.
Der Mensch ist frei, duldet niemanden über sich, er braucht keinen Gott und kein höheres Wesen. Warum sollte ich mich einengen lassen? Doch in der Bibel steht immer wieder eine grausige Wahrheit: Wir sind verloren, wenn wir dem guten Hirten davonlaufen.
Es hat nie an Versuchen gefehlt, in der Theologie und in der Christenheit dieses Wort ein wenig zurechtzubiegen. Achten Sie mal darauf, dass heute kaum noch Menschen von diesem schrecklichen Gedanken befallen sind, dass sie verloren gehen können. Verloren heißt doch einfach, umsonst gelebt zu haben, dass alles vergeblich war – verlorenes Leben.
Jesus hat seine ganze Sendung, sein ganzes Kommen in diese Welt darin beschrieben, dass er gekommen ist, um zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, was ohne ihn zugrunde geht, was keine Zukunft und keine Hoffnung mehr hat.
Das wahre Ziel des Lebens und die Gefahr des Verlorenseins
Nun kann es ja sein, dass wir große Lebensziele haben. Es gibt Menschen, die in ihrem Leben wirklich alles erreichen, was sie sich erträumt haben: Sie wohnen in einem schönen Haus, verdienen gut und sind bis ins hohe Alter gesund. Sie haben alles, was man sich wünschen kann – eine nette Familie, liebe Kinder, gute Freunde, Anerkennung und Ehre.
Jesus sagt jedoch, dass all das verlorenes Leben ist, wenn man die Ewigkeit verloren hat. Ich will das den Konfirmanden später viel kürzer sagen, aber heute habe ich gedacht, dass ich ihnen diese Wahrheit genau so vermitteln muss.
Diese Wahrheit hat Jesus mit seinem Tod bestätigt und uns so wichtig gemacht. Menschen, die ihn ablehnen, die ihn verweigern und nicht in ihr Leben lassen, sind Leute, die alles verloren haben. Jesus fügt hinzu: Was würde es einem Menschen helfen, wenn er die ganze Welt gewinnen würde? Wenn er all den Aktienbesitz hätte, wenn er die Industriebetriebe sein Eigen nennen könnte? Wenn er an der Spitze der Kulturerfolge stünde und die ganze Welt gewinnen würde – was würde es ihm nützen, wenn er Schaden an seiner Seele nähme?
Mit der Seele meint Jesus das, was Gott in unser Leben gegeben hat. Was ist das? Dass ich heimfinde zum ewigen Gott, der mich geschaffen hat, dass ich sein Kind bin vor ihm. Wenn man das verliert und nicht hat, ist das Leben arm, leer und verloren.
Die Gefahr und Realität des Verlorenseins
Ein solches Schaf, das davonläuft, kann nicht einfach nur seine Freiheit genießen. So stellt es sich das Schaf natürlich vor, weil es ein dummes Schaf ist. In der Sonntagsschule, in der Lemmergruppe der Kinderkirche, hat man den Kindern früher erzählt, wie dieses Schäflein abstürzt. Es fällt einen steilen Felsen hinunter und liegt dann unten in den Dornen. So kannten die Kinder es aus den Bilderbüchern.
Die Wirklichkeit dieser Welt ist nicht nur, dass man jeden Tag herrlich und in Freude lebt – das gibt es zwar auch. Aber eine erschütternde Wirklichkeit ist, dass so viele Menschen trotz des Überflusses, wie wir ihn heute haben, innerlich leer sind. Und sie fragen sich lachend: Was soll eigentlich dieses Leben noch? Warum?
Im Leben gibt es viele Wunden. Man ist schuldig geworden und spürt, dass man das Leben versäumt hat. Man hatte hohe Ideale, doch konnte sie nicht leben. Dann kommt die Überdruss am Leben.
Die Bibel spricht oft hart davon, dass in dieser Welt nicht nur wilde Tiere umherstreifen, die über das Schäflein herfallen, sondern dass der Teufel umhergeht wie ein brüllender Löwe.
Ich habe das aus bitteren Erfahrungen erkannt: Ich kann mein Leben keine Minute ohne den Schutz und die Bewahrung Jesu leben. Ich brauche seine gnädige Zuwendung. Man kann verloren gehen. Man kann verloren gehen.
Die große Freude des Hirten über das gefundene Schaf
Und darum ist das Letzte die große Freude, dass dieser eine gute Hirte sich aufmacht und dieses eine verlorene Schäflein sucht.
Wir Menschen mögen ganz anders denken und sagen: „Das lohnt sich doch gar nicht mehr, dass ich mich um den oder jenen kümmere.“ Bei Jesus ist das anders. Er vergisst keinen.
Und wenn unter uns auch immer wieder Menschen sitzen, die sagen: „Ich bin enttäuscht, dass sich niemand von der Gemeinde um mich annimmt“ – mir tut das immer weh. Es zeigt, dass wir selbst so blind sind und nicht genug feinfühlig.
Aber ich darf Ihnen sagen: Jesus vergisst Sie nie. Bis er es findet, hat er sich aufgemacht und läuft und läuft und läuft, bis er das verlorene Schäflein findet. Dann nimmt er es auf seine Arme, trägt es und verbindet die Wunden.
Das Wesen des Glaubens: Jesus als guter Hirte
Ich möchte Ihnen heute nichts anderes vor Augen stellen als Jesus und das, was er tut. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass man in seiner Theologie und in seinem Denken nie weiterkommt, als dass man immer mehr Jesus erkennt.
Der Inhalt unseres Glaubens und Lebens wird dann nichts anderes mehr sein, als dass er mich trägt, mich leitet, meine Wunden verbindet, mir Kraft gibt, mich schützt und mich aufrichtet.
Ich wünsche mir, dass Sie das erkennen und sagen: Ja, ich will zu ihm, dem guten Hirten, ich will mich von ihm führen lassen. Das beschreibt meinen ganzen Glauben.
Ich kann es mit wenigen Worten sagen: Er hat mich geholt, als ich ganz weit von ihm entfernt war. Er hat mein Leben neu gemacht, mich geheilt. Jetzt möchte ich nur noch bei ihm bleiben und mich von ihm führen und leiten lassen. Amen!
