Liebe Gemeinde, es ist so nötig und heilsam, dass uns der Karfreitag jedes Jahr aufs Neue zur Vorsicht mahnt. So dürfen wir uns niemals an das gewöhnen, was damals geschehen ist – niemals.
Es gab schon seltsame Vorschläge, wie man mit dem Kreuz umgehen sollte. Zum Beispiel hat die sogenannte Bischöfin der Nordelbischen Kirche, Frau Jepsen, angeregt, das Kreuz als Symbol der Christen durch eine Krippe zu ersetzen. Das sei ein viel positiveres Symbol. Doch das Problem liegt woanders.
Manfred Siebald hat in einem seiner Lieder gezeigt, dass das Problem nicht darin besteht, dass das Kreuz für uns zu anstößig oder grausam geworden ist, sondern dass es zu harmlos geworden ist. So beschreibt er in seinem Lied das kleine Kreuz an deinem Hals: Es steht dir gut, man sieht es, wie es zwischen Knopf und Kragen blinkt, dieses kleine Kettchen. Es müssen ja nicht immer Perlen sein, oft tut es auch ein Kreuz, das an einem Kettchen schwingt.
Was ist mit dem Kreuz passiert? Wer hat es blank poliert? Wer hat es klein gemacht, handlich und süß? Was ist mit dem Mann geschehen? Wer hat den Mann gesehen, der sich für alle dort kreuzigen ließ?
Genau das wollen wir heute Morgen miteinander tun. Wir wollen den Mann genau ansehen, wie er dort für uns gekreuzigt wurde. Dabei wollen wir einen zentralen Text aus dem Markus-Evangelium miteinander studieren.
Als Gemeinde beschäftigt uns dieses Markus-Evangelium schon seit vielen Monaten, weil wir es in der Liebestunde fortlaufend auslegen. In unserer Passionsandacht in der vergangenen Woche haben wir bereits einen Text aus diesem Evangelium, ebenfalls aus dem fünfzehnten Kapitel, betrachtet.
Jetzt wollen wir den zentralen Kreuzigungstext des Markus-Evangeliums gemeinsam lesen. Sie finden ihn auch auf Ihrem Predigtzettel: Markus 15.
Die Bedeutung des Karfreitags und die Herausforderung des Kreuzes
Die Soldaten führten ihn in den Palast, das heißt ins Prätorium, und riefen die ganze Abteilung zusammen. Sie zogen ihm einen Purpurmantel an, flochten eine Dornenkrone und setzten sie ihm auf. Dann begannen sie, ihn zu grüßen: „Gegrüßet seist du, der Judenkönig!“
Sie schlugen ihn mit einem Rohr auf das Haupt, spuckten ihn an und fielen auf die Knie, um ihn zu huldigen. Nachdem sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Purpurmantel aus und kleideten ihn wieder in seine eigenen Kleider.
Anschließend führten sie ihn hinaus, um ihn zu kreuzigen. Dabei zwangen sie einen Mann namens Simon von Kyrene, der vom Feld kam und der Vater des Alexander und des Rufus war, das Kreuz für Jesus zu tragen.
Sie brachten Jesus zur Stätte Golgatha, was übersetzt „Schädelstätte“ bedeutet. Dort gaben sie ihm Myrrhe in Wein zu trinken, doch er nahm es nicht an. Dann kreuzigten sie ihn.
Herr Jesus Christus, lehre uns jetzt, dein Leiden richtig zu bedenken. Lass es durch dein Wort geschehen, dass wir dein Kreuz in seiner Klarheit sehen und erkennen, wie wir es noch nie zuvor gesehen haben. So wollen wir dich ehren, Herr, und dir danken. Amen.
Die Demütigung Jesu als erster Schritt des Leidens
Das Erste, was wir hier sehen, ist, was mit dem Herrn geschieht: seine Demütigung. Darum ist das unser erstes Stichwort, das wir festhalten: gedemütigt.
Die Soldaten treten hier in Kohortenstärke an. Eine Kohorte bestand aus etwa 400 bis 600 Mann, also einem ziemlich großen Trupp. Zum großen Teil waren diese Soldaten aus verschiedenen römischen Provinzen zusammengezogen, zum Beispiel aus Syrien. Nun traten sie dort an, um ihren Dienst zu verrichten. Die meisten von ihnen wussten sicherlich überhaupt nicht, was sie da taten.
Die Szene, wie sie uns beschrieben wird, erinnert an das Drama der vergangenen Nacht. Wenn man Markus 14 liest, sieht man bereits, wie die ehrwürdigen Gerichtsmitglieder, also die hoch angesehenen Theologen des Synhedriums, zu einem Mob geworden sind. In Markus 14,65 wird diese grausige Szene berichtet: Einige von den Schriftgelehrten, den Hohenpriestern, den Theologen und den Juristen fingen an, Jesus anzuspucken, sein Angesicht zu verdecken, ihn mit Fäusten zu schlagen und ihm zu sagen: "Weissage uns!" Das ist der Mob des Synhedriums.
Jetzt sind es plötzlich in Markus 15 die römischen Soldaten. Zunächst waren sie mit der Geißelung beauftragt worden, das steht in Vers 15, also unmittelbar vor unserem Text. Dort heißt es: Pilatus ließ Jesus geißeln.
Die Geißelung konnte auch als eigenständige Strafe angewendet werden, nicht nur als Vorbereitung einer Kreuzigung. Sie war auch für sich genommen schlimm genug. Man verwendete eine kurze Peitsche, das sogenannte Flagrum, mit Lederriemen. Am Ende dieser Lederriemen waren Bleikugeln und Schafsknochen befestigt.
Die Schafsknochen wirkten wie Widerhaken auf der nackten Haut. Wenn dann auf den nackten Körper eingedroschen wurde, riss die Haut oftmals auf. Es entstanden tiefe Striemen und ein hoher Blutverlust.
Josephus, der Geschichtsschreiber, berichtet von einer Geißelung, bei der die Knochen des Gegeißelten richtig sichtbar wurden. Es konnte passieren, dass so Geschlagene schon ohnmächtig wurden oder bereits bei der Geißelung starben.
Jesus wird gedemütigt.
Die Verspottung und das seelische Leid
Damit nicht genug: Nach der Misshandlung im Sanhedrin und der Geißelung im Inneren des Prätoriums, also in diesem Gerichtsgebäude, veranstalten sie mit Jesus so etwas wie ein seelisches Spiessrutenlaufen. Wenn man die Verse 16 und 17 nimmt, heißt es: „Die Soldaten aber führten ihn hinaus in den Palast, das ist ins Prätorium, riefen die ganze Abteilung zusammen, zogen ihm einen Purpurmantel an, flochten eine Dornenkrone, setzten sie ihm auf und fingen an, ihn zu grüßen: ‚Gegrüßet seist du, der König der Juden!‘“
Sie schlugen ihm mit einem Rohr auf das Haupt, spuckten ihn an und fielen auf die Knie, um ihn zu huldigen. So verspotten sie den König. Sie werfen seinem zerschundenen Körper einen roten Mantel um und flechten ihm aus Zweigen eine Krone – wie wir es eben in der Arie von der Krone gehört haben.
Purpurmantel und Krone waren die Insignien eines hellenistischen Vasallenkönigs. Und so spielen sie jetzt mit Jesus den hellenistischen Vasallenkönig. Die Huldigung ist wahrscheinlich ein Anklang an das „Ave Caesar“, also „Gegrüßet seist du“, eine Parodie dieses Grußes für den Kaiser. Im nächsten Moment schlagen sie Jesus mit einem Rohr auf den Kopf, spucken ihm ins Gesicht und fallen dann zum Zeichen der Huldigung wieder vor ihm auf die Knie.
Es läuft einem wirklich kalt den Rücken herunter, wenn man diese Beschreibung liest. Diese Mischung aus Hohn und Bösartigkeit, Übermut und blanker Brutalität ist erschreckend. Der, den diese primitiven Schläger hier schinden und drangsalieren dürfen, ist Gott. Und Gott lässt es mit sich geschehen. Es kommt keine Zurechtweisung, keine Klage über seine Lippen.
Der, dem alle Machtmittel zur Verfügung stehen, lässt sich zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden zusammenschlagen und entehren von einem Mob. Zu Pilatus wird Jesus sagen: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht gegeben wäre.“
Er wird gedemütigt. Dann nehmen die entkräfteten Häftlinge – und dann nehmen sie diesen entkräfteten Häftling, der sich wahrscheinlich kaum mehr auf den Beinen halten kann. Er muss ja sein Partibulum tragen, diesen Querbalken zum Kreuz.
Die Last des Kreuzes und der Weg nach Golgatha
Und dann finden sie einen, der das Kreuz tragen kann. Sie schnappen sich den Erstbesten, der vorbeikommt, nämlich Simon von Kyrene. Das lesen wir in Vers 21: „Sie zwangen einen, der vorüberging, Simon von Kyrene, der vom Feld kam, den Vater des Alexander und des Rufus, dass er ihm das Kreuz trage.“ Die Familie wurde später in der Gemeinde bekannt, deshalb finden wir hier die Erwähnung ihrer Namen.
Jeder römische Soldat konnte damals einen Zivilisten zwingen, einen Gegenstand eine Meile weit zu tragen. Wenn wir also in dieser Zeit gelebt hätten, hätte irgendein Soldat kommen können und sagen: „Trage mir diese Tasche oder diesen Koffer oder eben dieses Partibulum eine Meile weit.“ Dann musste der Betreffende das tun. So geschah es hier mit Simon von Kyrene.
Bei der Kreuzigung gehörte es immer zum Ritual, dass der Verurteilte aus Abschreckungsgründen durch die Stadt getrieben wurde. Wenn man das in manchen Filmen sieht – die ja teilweise sehr fragwürdig sind –, wie der zur Kreuzigung Geführte durch die johlende Menge getrieben wird, ist das in der Regel authentisch und historisch korrekt. Man wollte damit abschrecken und sagen: So geht es denen, die sich gegen diesen Staat, gegen dieses Reich erheben. So machten sie es auch mit Jesus.
In Vers 22 kommen sie dann an die Kreuzigungsstätte. „Sie brachten ihn zu der Stätte Golgatha.“ Das heißt übersetzt „Schädelstätte“ auf Aramäisch. Das ist der Ausdruck Golgotha, was „Schädel“ bedeutet. Markus übersetzt das gleich. Dieser Hügel hatte die Form eines Schädels. Inzwischen sind sich Archäologen weitgehend einig, dass das Kreuz in dem Bereich stand, wo sich heute die Grabeskirche befindet. Wenn Sie Bilder davon gesehen haben oder mal dort gewesen sind, stand das Kreuz wahrscheinlich dort, wo heute die Grabeskirche ist. Damals lag dieser Ort noch außerhalb der Stadtmauer, inzwischen liegt er innerhalb der Stadtmauer.
Dann geben sie Jesus in Vers 23 diese seltsame Mischung aus Myrrhe und Wein zu trinken. Das galt allgemein als Beruhigungsgetränk und war ein jüdischer Brauch. Damit wollte man einerseits die Schmerzen etwas erträglicher machen, andererseits konnte es auch dazu dienen, den Verurteilten ruhigzustellen, damit man ihn besser ans Kreuz schlagen konnte. Jesus nimmt dieses Getränk nicht an, weil er den Kelch des Vaters ganz bewusst bis zur Neige trinken will. Er weiß, dass er diesen Weg gehen muss, und lehnt dieses Betäubungsgetränk ab.
Die Kreuzigung und die öffentliche Verspottung
In Vers 24 hat das Hinrichtungskommando seine Arbeit fast vollendet. Dort steht der kurze Satz: „Und sie kreuzigten ihn.“
Jetzt scheint der Bericht noch näher an das Kreuz heranzugehen. Es folgen zwei wichtige Punkte: Erstens wird Jesus gedemütigt, zweitens gekreuzigt.
„Und sie kreuzigten ihn und teilten seine Kleider und warfen das Los, wer was bekommen solle.“ Es war die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. Über ihm stand geschrieben, welche Schuld man ihm gab, nämlich: „Der König der Juden.“
Mit ihm wurden zwei Räuber gekreuzigt, einer zu seiner Rechten und einer zu seiner Linken. Die Vorübergehenden lästerten ihn, schüttelten ihre Köpfe und sprachen: „Ha, der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen wieder aufbaust, hilf dir nun selber und steig herab vom Kreuz!“
Ebenso verspotteten ihn die hohen Priester untereinander zusammen mit den Schriftgelehrten. Sie sagten: „Er hat anderen geholfen, doch kann er sich selbst nicht helfen. Wenn er der Christus, der König von Israel ist, dann steige er jetzt vom Kreuz, damit wir sehen und glauben.“
Auch die mit ihm gekreuzigten Räuber schmähten ihn.
Im Lukas-Evangelium erfahren wir, dass später einer der beiden Räuber aufhörte, Christus zu schmähen, und ihn als den Sohn Gottes erkannte. Hier jedoch wird dies noch nicht erwähnt.
Zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land, die bis zur neunten Stunde andauerte.
Die Herkunft und Wirkung der Kreuzigungsmethode
Wir wissen, dass die Römer diese brutale Hinrichtungsart nicht selbst erfunden haben. Sie haben sie von den Karthagern übernommen. Die Römer hatten die Karthager in den Punischen Kriegen besiegt, etwa 250 bis 150 vor Christus. Dabei übernahmen sie von den Karthagern das Grausamste, was diese zu bieten hatten: die furchtbare Kreuzigungsstrafe.
Im römischen Reich war die Kreuzigung dann ausschließlich für Sklaven und Nicht-Römer reserviert. Ein römischer Staatsbürger durfte nicht gekreuzigt werden, selbst wenn er ein Kapitalverbrechen begangen hatte. Von Cicero, dem Staatsmann, ist der Ausspruch überliefert, dass es unter der Würde eines römischen Bürgers sei, bei einer Kreuzigung auch nur hinzusehen.
Cicero fährt fort und sagt, Henker und schon das bloße Wort „Kreuz“ sollten fernbleiben – nicht nur vom Leib der römischen Bürger, sondern auch von ihren Gedanken, ihren Augen und ihren Ohren. Das war sozusagen das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte. Es galt als der Abschaum, als eine moralische Unmöglichkeit.
Cicero hätte bestimmt großes Verständnis gehabt für jenes Ehepaar, das sich den Anthroposophen zurechnet und Mitte der Neunzigerjahre gegen das Kruzifix in Schulräumen protestierte und prozessierte. Sie wollten ihrem Kind einen so grausamen Anblick nicht zumuten. Auch Cicero hätte es sicherlich für pädagogisch unverantwortlich gehalten, römischen Schülern diesen grausamen, unkultivierten Anblick eines Kreuzes zuzumuten.
Und doch hat Gott dieses Folterinstrument für seinen eigenen Sohn ausgesucht.
Die medizinischen Folgen der Kreuzigung und ihre biblische Vorwegnahme
Wir haben die Lesung von Psalm 22 gehört. Dieser Psalm, der etwa tausend Jahre vor Christus geschrieben wurde, kündigt bereits viele Einzelheiten an. Zum Beispiel in Vers 19 wird das Loswerfen um sein Gewand erwähnt, wie es auch in Vers 24 unseres Textes steht. Ebenso wird die Kreuzigung selbst mit ihren medizinischen Auswirkungen in erstaunlicher Deutlichkeit vorgeschattet.
Man weiß heute ziemlich genau, was medizinisch bei einer Kreuzigung passiert ist. In der Regel wurden lange Nägel verwendet, die zwischen dreizehn und achtzehn Zentimeter lang und etwa einen Zentimeter dick waren. Diese Nägel trieb man in das Handgelenk, und zwar zwischen Handwurzelknochen und Speiche. Dabei wurden keine großen Blutgefäße verletzt oder Knochen gebrochen, jedoch wurden Nerven und Bänder zerstört. Diese Prozedur war relativ blutarm, aber furchtbar schmerzhaft, besonders durch das Einreißen der Knochenhaut.
Anschließend wurden die Füße unten am Stamm befestigt, wie wir es aus manchen Darstellungen kennen. Die Kreuzesdarstellungen, die wir kennen, zeigen meist höhere Kreuze als im Original, denn die waren in der Regel nicht ganz so hoch. Die Füße wurden übereinandergelegt, und der Nagel wurde in der Regel zwischen dem zweiten und dritten Mittelfußknochen eingeschlagen. Auch hier wurden keine Blutgefäße zerstört, aber Knochenhaut und Nerven.
Jetzt kommt das Entscheidende: Warum war die Kreuzigung so quälend und schmerzhaft? Der Haupteffekt dieser Hinrichtungsmethode bestand in der Behinderung der Atmung. Der Gekreuzigte konnte nicht mehr ausatmen – das war das eigentliche Problem. Man muss sich das so vorstellen: Der Körper hängt an den ausgestreckten Armen, der Brustkorb dehnt sich, und irgendwann ist keine passive Ausatmung, die für uns alle ganz normal ist, mehr möglich. Das bedeutet, das Blut wird mit Kohlendioxid überladen. Es kommt zu furchtbaren Muskelkrämpfen, der Körper spürt das und will ausatmen. Wenn er dennoch ausatmen will, muss er sich abstützen und den Körper anheben. Dabei stützt er sich jedoch auf die angenagelten Füße.
Jeder Atemzug ist qualvoll, und irgendwann ersticken die Gekreuzigten in der Regel. Häufig wird als Todesursache Ersticken, ein Kreislaufschock oder Herzrhythmusstörungen genannt, die zu einem Herzbeutelerguss führen können. Aus medizinischer Perspektive sind dies häufige Todesursachen bei einer Kreuzigung.
Es ist furchtbar, wie dies im Psalm 22 bereits vorgeschattet wird. Auch das Zuwenig an Flüssigkeit und das Austrocknen werden in Vers 16 angedeutet, wo es heißt: „Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen.“ Ebenso das Auseinanderreißen der Körperstatik, eines Körpers, der sich nicht mehr halten und nicht mehr wehren kann, wird in Vers 15 beschrieben: „Alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst.“ Und dann das Herzrasen und die Rhythmusstörung: „Mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs.“ Es ist erstaunlich, wie all dies hier schon angedeutet wird.
Wir müssen uns klar machen, dass dieser Psalm etwa tausend Jahre vor Christus entstand. Das heißt, zu einer Zeit, als es noch keine Karthager gab, von denen die Römer das Kreuzigen später lernten – etwa zweihundertfünfzig bis hundertfünfzig Jahre vor Christus. Hier hat Gott also schon tausend Jahre vor Christus diese Kreuzesstrafe angedeutet und angekündigt.
Das bedeutet auch, dass der Herr Jesus Christus, als er auf die Erde kam, das Wort Gottes vollkommen kannte. Er kannte natürlich auch diesen Psalm 22 und wusste genau, was auf ihn wartete und was er durchmachen musste.
Die Kreuzigung als Erfüllung göttlicher Vorsehung
Und dann liest sich im Folgenden dieser Bericht wie ein Protokoll: Vers 25, es war die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. In der Regel beginnt man etwa um sechs Uhr morgens zu zählen, also war es etwa neun Uhr. Um neun Uhr vormittags wird das Kreuz aufgerichtet.
Über diesem Kreuz wird der sogenannte Titulus angebracht, die Anklageschrift, gewissermaßen: „König der Juden“. Das war einerseits die Verspottung durch das Synhedrium, also die jüdische Gerichtsbarkeit. Für Unwissende war das jedoch der Vorwurf, Jesus hätte eine Revolte anzetteln wollen, was überhaupt nicht der Fall war.
Dieser Titulus „König der Juden“ suggerierte denen, die keine Ahnung hatten, dass sich hier jemand zum Aufrührer und Volksführer gegen die Römer gemacht habe – Hochverrat!
In Vers 27 heißt es: „Und sie kreuzigten mit ihm zwei Räuber, einen zur Rechten, einen zur Linken.“ Jesus hängt dort also in schlechter Gesellschaft.
Dann bricht in Vers 29 noch einmal massiv alles auf: die Lästerung, das Verspotten, die Verschmähung, das Schütteln der Köpfe, wie es dort berichtet wird. Das war ein Ausdruck der Verachtung. Es war nicht einfach nur Staunen, sondern wenn man jemanden deutlich öffentlich verachten wollte, stellte man sich vor ihn und schüttelte den Kopf. Das war auch ein Teil der Schmähung, die Jesus zugedacht war.
Beim Lesen dieser Verse hat man den Eindruck, dass Jesus verhöhnt wird, als ob der Teufel mit aller Macht und Massivität die letzten Register ziehen würde. Diese dämonische Dimension des Kreuzes finden wir auch angedeutet in Psalm 22, wo von den Hunden die Rede ist, die den Leidenden umgeben, und von der Macht der Finsternis, die sich um dieses Kreuz zusammenwallet.
Das Zynische daran ist, dass sie von Jesus gerade das fordern, was er könnte – worauf der Herr aber bewusst verzichtet. Hierauf kommt es an: bewusst verzichtet Jesus auf den Einsatz seiner Macht.
Verstehen Sie, es wäre für Jesus ein Leichtes gewesen, vom Kreuz zu steigen und die Leute mit seiner Macht zu beeindrucken. Doch sie rufen hier: „Er hat anderen geholfen, kann sich selber nicht helfen. Ist er der Christus, dann beweise er seine Macht, dann steige er vom Kreuz!“
Aber der Herr lässt sich binden. Er kann nicht hinabsteigen vom Kreuz – da haben sie Recht. Denn er will uns ja retten. Er hat anderen geholfen, kann sich selber nicht helfen, weil er für uns sterben muss und sterben will. Darum kann er sich selber nicht helfen.
Die Finsternis als göttliches Zeichen und Gericht
Nachdem Jesus drei Stunden in der immer drückenderen Hitze am Kreuz gehangen hatte – es war etwa neun Uhr morgens, und die Sonne wurde immer heißer, da die Zeit immer mehr in die Mitte des Tages vorrückte – spitzte sich die Lage nochmals zu. Plötzlich wurde es stockfinster.
In Vers 33 heißt es: „Und zur sechsten Stunde, also mittags um zwölf, kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.“ Überlegen Sie, welchen Schrecken das ausgelöst haben muss. Die Menschen, die um die Mittagszeit dabei standen, erlebten plötzlich stockfinstere Dunkelheit. Gerade dort, wo die Sonne eigentlich am höchsten steht, zog sich der Himmel zu. Es waren nicht nur ein paar Gewitterwolken, sondern drei Stunden tiefe Finsternis.
Dies ist Gottes erster Kommentar zu dieser Kreuzigung: Eine Welt, die Gott tötet, eine Welt, die Jesus ablehnt, stürzt sich selbst in die Finsternis. Das ist Gottes Reaktion auf das Kreuzgeschehen.
Interessant ist, dass wir aus jener Zeit – abgesehen vom Neuen Testament – nicht viele Schriften besitzen. Dennoch gibt es außerhalb der Bibel einen Hinweis auf dieses Naturereignis, nämlich durch den Geschichtsschreiber Thallus. Thallus schrieb seine Geschichte etwa zwanzig Jahre nach diesen Ereignissen und berichtet von einer großen Finsternis. Er erklärt diese als Sonnenfinsternis, was jedoch nicht stimmen kann, da damals Vollmond war und bei Vollmond keine Sonnenfinsternis möglich ist. Trotzdem ist der Hinweis wertvoll, denn auch Thallus wusste von dieser Finsternis. Selbst ein römischer Geschichtsschreiber musste diese Tatsache festhalten.
Nun überlegen Sie, was Jesus gesagt hat: Er hatte erklärt, er sei das Licht der Welt. In dem Moment, in dem das Licht stirbt, in dem Moment, in dem das Licht ausgepustet wird, in dem Moment, in dem das Licht von der Welt genommen wird, bleibt nur noch die Finsternis ohne Jesus. Nimm Jesus weg, und du hast nur noch Finsternis.
Unser heutiges Problem ist, dass die Finsternis in unserem Leben und in unserem Herzen ohne Jesus nicht so sichtbar und greifbar wird wie in jener Stunde. Doch die Wahrheit bleibt dieselbe. In dieser Situation geht ein Riss durch die Schöpfung – vor den Augen aller Menschen. Gottes sichtbarer Kommentar lautet: Lösche das Licht, und du hast nur noch Finsternis.
Wichtig ist jetzt zu sehen: Dieses Gericht trifft auch Jesus. Die Finsternis steht nicht nur als Gottes Strafe für das, was die Menschen getan haben, sondern sie bedeckt auch Jesus. Das Kreuz steht nicht auf einem erleuchteten Hügel, während ringsum alles finster ist. Nein, die Finsternis bedeckt das Kreuz mit Jesus. Auch er ist eingehüllt in die Finsternis. Jesus steht unter dem Gericht des Vaters.
Das ist der dritte Aspekt, den wir hier sehen: gedemütigt, gekreuzigt und jetzt kommt das Schlimmste – drittens getrennt. Getrennt von Gott, getrennt vom Vater.
Die Gottverlassenheit Jesu am Kreuz
Und darum dieser furchtbare Aufschrei Jesu zur neunten Stunde. In Vers 34 rief Jesus laut: „Eli, Eli, Lama Sabachtani“, das heißt übersetzt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Einige, die dabei standen, als sie das hörten, sagten: „Siehe, er ruft den Elija.“
Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. Er sprach: „Halt, lass sehen, ob Elija komme und ihn herabnehme.“
Verstehen Sie, das Gericht dieses Tages trifft nicht die Fräuler, es trifft nicht die Gleichgültigen, es trifft nicht einmal die Henker, sondern es trifft Gottes Sohn am eigenen Leibe. Was in diesen furchtbaren Stunden geschieht, haben später die Apostel immer wieder erklärt. Sie haben es so erklärt, wie Jesus es ihnen selbst erklärt hatte.
Paulus schreibt etwa in 2. Korinther 5,21: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht.“ Das heißt, Jesus hat unsere Sünde nicht nur getragen, sondern er wurde zu unserer Sünde gemacht. Er ist zur Sünde geworden, obwohl er in seinem Leben, in seinem Denken, Handeln und Reden ohne jede Sünde war.
Aber jetzt wird er zur Sünde gemacht. Bitte verstehen Sie das richtig: Das ist keine abstrakte Theologie, die ich hier behandle. Das ist nicht das, was manche den Sühnegedanken der Bibel nennen, sondern das ist die knallharte, grausame Realität.
Gott packt jetzt die Gottlosigkeit und die Schuld aller Zeiten auf seinen Sohn drauf, und der bekommt sie zu spüren mit voller Wucht ihrer Schuld – und meiner Schuld. Für Jesus war das noch viel schlimmer, weil er ja nie Sünde am eigenen Leib gekannt hat.
Wenn jemand immer Schmerzen im Fuß hat, gewöhnt er sich daran. Aber wenn jemand nie Schmerzen erleidet und plötzlich trifft ihn die Schmerzattacke mit voller Wucht, dann empfindet er das noch viel härter. Und der Herr Jesus, der nie Sünde gehabt hat, den trifft jetzt unsere aller Schuld.
Das ist nicht mehr zu erfassen und zu erklären, aber so geschieht es hier. In diesen Stunden am Kreuz hat Gott etwas getan, was wir nie ganz ausloten werden. Er hat wirklich deine Schuld und meine Schuld genommen und sie auf das Herz seines Sohnes gelegt.
Ich weiß nicht, wie das im Einzelnen geschehen ist, aber es ist so geschehen, dass Jesus zur Sünde wurde, dass er durch und durch sündig wurde – er, der nie eine Sünde hatte. Paulus sagt an anderer Stelle in Galater 3,13, dass der Herr Jesus zum Fluch wurde für uns.
An Jesus hat sich bewahrheitet, was im fünften Buch Mose 21,23 steht: „Verflucht ist, wer am Holz hängt.“ Das war in Israel so bei einer Steinigung. Jemand wurde zu Tode gesteinigt und dann aus Abschreckungsgründen an einen Baum gehängt, die Leiche ausgestellt als Zeichen des Fluches.
Daran knüpfen jetzt die Hohenpriester an. Vielleicht wollten sie deshalb Jesus auch so ausstellen – hängend an diesem Baum –, damit deutlich wird: Er ist verflucht, er ist von Gott verflucht.
Jetzt wird klar, warum Jesus vom Vater verlassen sein musste. Diesen Ausruf hat der Herr wahrscheinlich auf Aramäisch getan. Auf Aramäisch heißt es: „Eloi, Eloi, Lama Sabachthani.“ Bei Matthäus finden wir auch die hebräische Übersetzung: „Eli, Eli, Lama Sabachthani“ – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Wir müssen diesen Ausspruch Jesu richtig verstehen. Das war kein Anflug von Zweifel, der den Herrn plötzlich überkam, so als ob Jesus am Kreuz in Gefahr stand, den Mut zu verlieren. Das war es nicht. Jesus hat nicht den Mut verloren. Jesus hat sich nicht vom Vater verlassen gefühlt in einem Anflug von Zweifel, sondern Jesus war vom Vater verlassen.
Was Jesus hier ausruft, ist keine Empfindung, sondern eine Tatsache. Jesus war von Gott verlassen. Was Jesus in die Finsternis hinausschreit, das ist seine Situation: Gott von Gott verlassen, der Vater trennt sich vom Sohn.
Natürlich hatte Herr Jesus in diesen Stunden nicht aufgehört, Gott zu sein. Am Kreuz starb nicht ein Mensch, sondern Gott. Aber eines hat Jesus in diesen Augenblicken nicht gehabt, was er sonst immer hatte in jeder Sekunde seines Lebens auf dieser Erde: Er hatte nicht die enge, unverbrüchliche Gemeinschaft mit dem Vater.
Deshalb wurde der Sohn auf eine geheimnisvolle Weise, die wir nicht ergründen können, von der Verbindung zum Vater abgeschnitten. Und wissen Sie, wodurch das noch unterstrichen wird? Durch die Anrede, mit der Jesus den Vater in diesen Momenten anspricht.
Hier steht plötzlich nicht „mein Vater, warum hast du mich verlassen?“, sondern „mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus hat den Vater sonst immer „Vater“ genannt, und hier sagt er „Mein Gott!“
Ich habe versucht, mir das mit einem schwachen Vergleich klarzumachen: Stellen Sie sich vor, ein Vater geht mit seinem kleinen Sohn unter eine große Menschenmenge und hält ihn fest. Solange der Sohn merkt, dass er an der Hand des Vaters ist, weiß er, es kann ihm nichts passieren.
Wenn es schlimm wird, nimmt der Vater ihn hoch, setzt ihn auf den Rücken oder bringt ihn irgendwie durch. Die beiden sind zusammen. Plötzlich kommen Raudis, drängen sich dazwischen, und der Sohn geht in der Menschenmenge verloren. Er schreit „Vater!“, und der Vater ruft nach dem Sohn. Sie verlieren sich aus den Augen und finden sich nicht mehr.
Das ist ein schwaches Beispiel, um nachzuempfinden, was Vater und Sohn empfinden, wenn sie so gewaltsam getrennt werden.
Die Verbindung zum Vater war für den Herrn Jesus das Ein und Alles. Er hat immer wieder betont: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30). Auch während Jesus auf der Erde war, ist diese Verbindung niemals abgerissen.
Nur jetzt, an diesem schrecklichen Karfreitag, als der Vater ohnehin schon die Sünde aller Zeiten auf den Sohn legt, in dieser grausamen Situation, als es schlimmer nicht mehr kommen kann für Jesus, gerade dort, wo er durch die tiefste Tiefe geht, ist die Verbindung zum Vater getrennt.
Und es muss so sein, sagt die Schrift. Das heißt, die Sünde, mit der Jesus nie persönlich verbunden war, darf ihn jetzt packen, und der Vater, von dem Jesus nie getrennt war, muss ihn jetzt verlassen.
Es gab maßlose Theologen, die sagten: „Was kann so schlimm sein für einen zu sterben, der doch weiß, dass er aufersteht?“ Die haben nichts verstanden. Sie haben nicht ansatzweise begriffen, was in diesen Stunden geschah.
Spurgeon hat diese Notwendigkeit dieses Risses zwischen Gott und Gott sehr gut beschrieben. Er sagte: „Jesus trug die Sünden der Sünder, darum musste er wie ein Sünder behandelt werden, obwohl er kein Sünder war.“
Der große oberste Richter, sagt Spurgeon, kann dem, der die Schuldigen vertritt, kein Lächeln schenken. Gott verabscheut die Sünde. Selbst wenn der Sohn sie trägt, um sie aus der Welt zu schaffen, bleibt die Sünde als solche abscheulich.
Und der, der sie trägt, kann nicht gleichzeitig in froher Gemeinschaft mit Gott stehen. Das war eine bittere Notwendigkeit. Gott wurde von Gott getrennt für kurze Zeit, damit der Mensch nicht für alle Ewigkeit von Gott getrennt bleiben muss.
Diese Gottverlassenheit Jesu redet sehr laut zu uns. Gott zeigt uns an dieser Stelle, wie grausam und schrecklich Sünde ist. Wie ernst der heilige Gott Sünde sieht – auch meine Sünde und Ihre Sünde.
Darum sollten wir nicht mit der Sünde spielen. Wir sollten Sünde jeglicher Art nicht auf die leichte Schulter nehmen, sondern sehen, was sie den Herrn gekostet hat.
Die Soldaten verhöhnen dann dieses Zitat „Eli, Eli“ oder „Eloi, Eloi, Lama Sabachthani“ und machen sich über den Anklang an Elija lustig. Sie sagen: „Ach, ruft er den Elija als Beistand?“ Und dann geben sie ihm wenigstens etwas gegen den Durst, diesen Sauerwein.
Das war so etwas wie die Bierflasche der Soldaten – Wasser, etwas billig mit Wein gemischt, aber gut gegen den Durst. So ist die Lage.
Am Kreuz hat der Vater die Gemeinschaft mit dem Sohn wiederhergestellt. Er hat diesen Riss wieder heil gemacht. Denn hier steht am Ende, dass Jesus schrie (Vers 37): „Jesus schrie laut und verschied.“
Markus berichtet nicht, was Jesus schrie, aber das erfahren wir Gott sei Dank durch Johannes 19,30 und Lukas 23,46. Was hat Jesus noch geschrien? Er hat geschrien: „Es ist vollbracht!“ Und der Herr hat geschrien: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“
Da hat er wieder „Vater“ gesagt. Wir wissen durch die anderen Evangelisten, was der Herr Jesus geschrien hat. Daraus sehen wir, dass diese Trennung nur für eine kurze, furchtbare Zeit geschah.
Noch am Kreuz, als die Schuld gesühnt und die Sünde getragen war, schloss der Herr den Riss wieder. So beginnt hier der Durchbruch.
Das lesen wir dann am Schluss im letzten Vers, als das passierte (Vers 38): „Und der Vorhang im Tempel, also im Zentrum in Jerusalem, zerriss in zwei Stücke von oben bis unten.“
Der zerrissene Vorhang und der offene Weg zu Gott
Gedemütigt, gekreuzigt, getrennt – aber jetzt, viertens, geöffnet: der Weg zu Gott. Stellen Sie sich das so vor: Im Tempel herrschte wahrscheinlich zu dieser Zeit Hochbetrieb. Viele standen draußen auf dem Hügel und erlebten die Hinrichtung mit. Doch im Tempel selbst waren zu jeder Zeit zahlreiche Menschen – Tausende von Pilgern zum Passafest und zahllose Priester im Einsatz.
Nur in diesen wichtigsten Raum, das Allerheiligste, durfte niemand hineinschauen oder gar eintreten. Nicht einmal die Priester hatten Zutritt. Dieser Raum war verschlossen. Von Josephus wissen wir, dass ein dicker, blauer Vorhang das Allerheiligste verschloss. Er war kunstvoll verziert und aus sehr dickem Stoff gefertigt – eine ehrfurchtsvolle Schranke, die signalisierte: Der Weg zu Gott ist nicht frei.
Das Allerheiligste war das besondere Zeichen für die Gegenwart Gottes. Natürlich wussten die Menschen, dass Gott nicht körperlich in diesem Raum sitzt. Aber dieser Raum erinnerte sie daran, dass Gott ein heiliger Gott ist, ein lebendiger Gott. Wir können es uns nicht leisten, ohne Opfer vor ihm zu treten. Und selbst mit Opfern durften wir nicht direkt in seine Gegenwart treten. Deshalb durfte nur der Hohepriester einmal im Jahr hineingehen.
Diese Predigt wird plötzlich zerrissen. Verstehen Sie: Als Jesus die Sünde in sich aufnahm, als der Herr die Sünde wegtrug und die Strafe für dich und mich büßte, als er rief: „Es ist vollbracht!“, da zerriss dieser Vorhang von oben bis unten.
Das heißt: Gott greift ein. Gott greift von oben her ein, macht den Weg frei, beseitigt die Schranke, reißt das Gitter auf und ruft einen Tag der offenen Tür aus – und dieser gilt von da an für immer. So laut, wie der geschlossene Vorhang vorher gepredigt hat, predigt jetzt der zerrissene Vorhang. Er sagt: Der Weg zu Gott ist frei. Der Weg zu dem heiligen Gott ist frei, endgültig zerrissen und von oben bis unten geöffnet.
Damit ist endgültig die neue Zeit angebrochen. Das ist die Wende der Weltgeschichte in jenen Stunden an jenem Tag. Dieser zerrissene Vorhang begegnet uns auch im Abendmahl. Das Abendmahl nimmt genau diese Botschaft auf und sagt: Komm zum Kreuz, der Weg ist frei. Christi Leib wurde für dich gegeben, Christi Blut für dich vergossen. Kommt, denn es ist alles bereit.
„Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“, werden wir uns gleich in der Liturgie zurufen. Freundlich – der Heilige freundlich, weil er alle Sünde auf den Herrn Jesus Christus geladen hat. Und weil jetzt alle, die sich zu Jesus hinflüchten, die ihn um Vergebung anflehen und ihn als Gott und Herrn anbeten, gerettet sind – für ewig.
Sie haben freien Zugang zum heiligen Vater im Himmel. Das ist Karfreitag. Unsere große Gefahr ist manchmal, dass wir das hören, vielleicht beeindruckt sind, wenn wir es lesen – und anderthalb Stunden später sitzen wir wieder beim Karfreitagsbraten, als wäre nichts geschehen. Dreißig Minuten später reden wir wieder miteinander, als wäre nichts geschehen.
Lasst uns Gott darum bitten, dass das, was hier geschehen ist, wirklich unser ganzes Leben prägt. Dass wir es nicht vergessen und dass es bis in die letzten Winkel unseres Alltags hinein uns nicht mehr loslässt, was der Herr für uns getan hat. Er hat alles getan für dich und für mich. Er wurde gedemütigt für dich und für mich, er wurde gekreuzigt für dich und für mich, er wurde vom Vater getrennt für dich und für mich – und er hat den Vorhang zum Vater geöffnet, auf ewig, für dich und für mich.
Die persönliche Antwort auf das Kreuz
Wie kann man anders darauf antworten als Friedrich von Bodeschwing in seinem Karfreitagslied? Nun, unsere Herzen gehören ganz dem Mann von Golgatha – das ist die Frage.
Man kann auch nach diesem Kreuz weiterleben, ohne dem Herrn sein Herz zu geben. Man kann sein Herz selbst behalten – mit all der Schuld, der Bockigkeit, der Grobheit und dem Trotz. Wir können unser Herz selbst behalten und ohne den Gekreuzigten weiterleben.
Doch er ruft uns, lädt uns ein und sagt: Gib mir dein Herz! So kannst auch du dieses von Herzen mitsingen: Nun gehören unsere Herzen ganz dem Mann von Golgatha. Gehört dein Herz ganz dem Mann von Golgatha? Amen.